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Das reiche Haus gegenüber

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1928

Ich war um jene Zeit, in der ich das Folgende erlebt habe, nicht reich und nicht arm. Es ging mir nicht so schlecht, daß ich etwa im Anblick reicher Häuser und Menschen dem Neid anheimgefallen wäre, den man den Trost der Armen nennen könnte. Es ging mir andererseits nicht so gut, daß ich im Anblick des Reichtums gleichgültig hätte bleiben können. Ich befand mich vielmehr gerade in jener Situation, in der man die Nähe des Reichtums freiwillig aufsucht, in einer Art geheimer und sorgfältig vor sich selbst verschwiegener Hoffnung, daß man einmal oder sogar bald selbst sich seiner wird bedienen können. Ich befand mich in einer Lage, in der ich die arme Umgebung, das Viertel der Not, die engen und schmutzigen Gassen nicht mehr ertragen zu können glaubte. Ich beschloß, in eine Gegend zu übersiedeln, deren Name allein schon so glanzerfüllt war wie die Macht ihrer Bewohner. Sooft dieser Name ausgesprochen oder gelesen wurde, schien er nicht ein einziges Stadtviertel zu kennzeichnen, sondern ein ganzes, fremdes und fernes Reich, in dem es unmöglich war, einen Nodeidenden zu finden. Man vergaß, daß auch in diesem Viertel Beamte, Hausbesorger und dienendes Volk, kleine Krämer und Handwerker wohnen mußten. Der Name des Viertels überglänzte die Armut der Armen, und wenn ich damals etwa einen von ihnen getroffen hätte, ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, daß er dort wohnen könnte, wo die großen Herausgeber der Zeitungen, die Bankiers und die Fabrikanten ihre stolzen Häuser hatten.

Ich fand ein kleines Hotel, das sich von all den andern, die ich früher bewohnt hatte, nur dadurch unterschied, daß es in einem reichen Viertel stand. Meine Nachbarn waren herabgekommene Reiche, welche die Nähe des Geldes nicht aufgeben wollten, weil sie offenbar glaubten, sie brauchten in einem geeigneten Augenblick weniger Zeit und Umwege, es wieder zu erreichen. So ähnlich bleibt ein Hund, den man aus einem Zimmer verweist, immer noch in der Nähe der Tür, durch die er das Zimmer hatte verlassen müssen. Meinem kleinen und schmalen Fenster gegenüber stand ein großes und breites Haus. Sein braunes Tor war geschlossen und hatte in der Mitte einen goldenen Knauf, der das Licht der Sonne einfing, verstärkte und widerstrahlte, so daß es aussah, als wäre er keineswegs dazu da, eine Klinke zu ersetzen, sondern einen Scheinwerfer zu spielen, dessen Licht geradewegs zu mir ins Fenster sprühte, so daß ich gleichsam durch seine liebenswürdige Vermittlung die Sonne kennenlernte, die mein Hotel vernachlässigte und sich ganz dem reichen Haus gegenüber zugewendet hatte.

Vor den Fenstern des Hauses hingen verschwiegene Jalousien – den ganzen Tag. Manchmal verwendete ich zwei Stunden und noch mehr darauf, das große, braun gelbe Tor zu überwachen in der Hoffnung, daß ich einen Ein- oder Ausgehenden bemerken könnte. Es schien mir unbedingt wichtig, meine reichen Nachbarn kennenzulernen. Denn ich konnte nicht den ganzen Tag oder gar Tag für Tag meinen Augen gegenüber ein Geheimnis wissen, das eigens, um mir Unruhe zu bereiten, aufgebaut schien. Aber das Tor ging nicht auf. Es wurde Nacht, und ich legte mich schlafen.

In der Frühe erwachte ich von einem fröhlichen und geschäftigen Lärm. Ich blickte zum Fenster hinaus. Das Haus gegenüber hatte alle seine Fenster geöffnet und das Tor auch. Livrierte und weißbeschürzte Männer und Frauen putzten Möbel und Fensterscheiben, klopften Teppiche, lüfteten Polster, rieben Messingstangen und bohnerten die Dielen. Ich sah Fenster, groß und breit wie Portale, ahnte die stille Tiefe reicher und weiter Zimmer, den stillen und vornehmen Glanz kostbarer Gegenstände, glaubte sogar den Duft des Holzes zu riechen, der von den Möbeln kam, und hörte den diensteifrigen Gesang eines Stubenmädchens, das einen alten Gassenhauer hinschmetterte wie einen harten, metallenen Gegenstand.

Eine Stunde später waren Fenster und Tor wieder geschlossen, das Haus war verlassen. Die Diener mußten durch einen rückwärts gelegenen, eigens für sie bestimmten Ausgang fortgegangen sein. Die Jalousien hingen verschwiegen und stolz vor den Fenstern.

Jeden Morgen wiederholte sich dasselbe. Zwei Monate lang. Der Winter verging. Immer strahlender und heißer brannte die Sonne im goldenen Knauf des Tores, ja in der Mittagsstunde war es, als ob er schmelzen wollte, und schon glaubte ich zu hören, wie er in klingenden Tropfen auf das pflaster herunterfiel wie Siegellack auf einen Brief. Aber das Tor blieb geschlossen.

Ich fragte meine Wirtin. Drüben, sagte sie, wohne ein alter Herr, der jedes Jahr für zwei Monate komme. Bald würde er dasein.

Eines Tages war er da. Er glitt langsam in einem großen, schwarzen Auto durch das weitgeöffnete Tor. Am Nachmittag erschien er auf dem Balkon. Er stützte sich auf einen Stock, eine Dogge begleitete ihn langsam, als erfüllte sie ein Zeremoniell, er trug eine weiße Weste und einen braunen Rock, und sein Gesicht war zart, schmal, grau, bartlos. Seine Nase war scharf und hart wie der Rand einer sonderbaren Waffe. Seine Augen waren grau, schmal und sahen geradewegs zu mir herüber, ohne es sich merken zu lassen. Es war, als hätten sie nicht die Bilder der Außenwelt dem Bewußtsein des Alten zu vermitteln, sondern als förderten sie Bilder, die sie im Innern verwahrt hatten, wieder auf ihre eigene Netzhaut. Jeden Nachmittag erschien der Alte auf dem Balkon. Ein Diener brachte ihm einen Mantel. So stand der Herr und sah zu mir herüber.

Eines Tages, es war etwa eine Woche seit seiner Ankunft vergangen, grüßte ich den alten Herrn. Er erwiderte, zögernd, aber deutlich. Wir sahen einander an. Ehe er den Balkon verließ, nickte er mir zu, aber hastig. Und jeden Tag, wieder sieben Tage lang, wiederholte sich dieselbe Szene. Etwa zehn Tage später starb der Herr. Plötzlich. In der Nacht. Meine Wirtin erzählte es mir. In der stillen Straße sprachen die kleinen Leute, ein Schuster, ein Kohlenhändler und die Hausbesorger vom Tod des alten Herren. Ich sah das Leichenbegängnis vom Fenster aus. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich nicht zum Friedhof mitgehen sollte. Aber der feierliche Glanz der kühlen und stolzen Leidtragenden schreckte mich ab.

Das Haus blieb still und geschlossen. Ich dachte gerade an die Grausamkeit des Alten, der so kühl und beinahe unmenschlich heimgekehrt war, weil sein Tod schon auf ihn gewartet hatte, und der wahrscheinlich ohne Liebe gewesen war und nur ein Verwalter seines Reichtums, als sich der bekannte Notar M. bei mir anmelden ließ, dessen Namen ich wußte. Der Notar überreichte mir einen Brief und sagte mir, es sei ein Brief meines Nachbarn, dessen Testament gestern eröffnet worden wäre. Im Testament habe der alte Herr bestimmt, daß der Notar mir persönlich den Brief zu überreichen hätte. »Eine von seinen Marotten! « sagte der Notar und ging. Der Brief lautete:

Sehr geehrter Herr,

ich habe, wie Sie sehen, Ihren Namen in Erfahrung gebracht. Warum? Weil ich Sie liebgewonnen habe. Sie waren der einzige Mensch, der mein Freund hätte werden können. Denn Sie behielten, obwohl ich Ihnen sympathisch war, die Distanz und, obwohl Sie neugierig waren, die Schweigsamkeit. Ich hinterlasse nur Schulden. Sonst wären Sie mein Erbe. Behalten Sie mir ein freundliches Andenken.

Ihr

I. B.

Am nächsten Tag zog ich in eine andere Gasse.

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