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Der Stein des Orisolus

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»Bit­te, bit­te, Se­anair«, bet­tel­te Ni­mue und zog wild an dem Rock­zip­fel ih­res Groß­va­ters. Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen starr­te sie ihn an und be­merk­te, dass sich nun end­lich sei­ne Ge­sichts­zü­ge ent­spann­ten. Sie wuss­te ge­nau, war­um dies ge­sch­ah; es war das Wort Se­anair. Es be­deu­tet auf Gä­lisch Groß­va­ter, die Spra­che ih­rer Ah­nen. Wenn Ni­mue im Ge­gen­satz zu ih­rem Groß­va­ter et­was un­be­dingt woll­te, sprach sie ein paar Wor­te in Gä­lisch und schon be­kam sie bei­na­he je­den Wunsch er­füllt.

»Bit­te, Se­anair, er­zähl mir von mei­nen Vor­fah­ren und ih­rer al­ten Hei­mat«, be­kräf­tig­te sie noch ein­mal ihre Bit­te.

Ihr Groß­va­ter nahm lang­sam in ei­nem ex­tra gro­ßen Oh­ren­ses­sel Platz. Er hol­te tief Luft.

»Nun gut, mei­ne Klei­ne, dann pass auf«, er­wi­der­te Aar und sank da­bei tief in den pur­pur­ro­ten, samt­wei­chen Stuhl.

Ni­mue lieb­te die­sen gro­ßen Ses­sel, in dem sie nie­mals selbst saß. Die brei­ten Arm­leh­nen so­wie auch die Füße wa­ren aus al­tem Ei­chen­holz. Er sah ma­je­stä­tisch aus und trotz­dem ge­müt­lich. Sie setz­te sich auf den Bo­den und lehn­te ih­ren Kopf an die Bei­ne ih­res Groß­va­ters. Da­bei blick­te sie auf das pras­seln­de Feu­er im Ka­min, das den Raum mit ei­nem sanf­ten oran­ge-gel­ben Licht er­hell­te.

Aar leg­te sei­ne Hand auf ih­ren Kopf und strei­chel­te sanft über ihr Haar. Da be­gann er mit wei­cher Stim­me zu er­zäh­len: »Dei­ne Vor­fah­ren stam­men aus dem schot­ti­schen Hoch­land, wel­ches in Gä­lisch A‘Ghàid­he­al­tachd ge­nannt wird. Im Wald, am Rand des klei­nen Dörf­chens Crid­he, wuch­sen sie auf. Der Ort war be­son­ders schön ge­le­gen, di­rekt an ei­ner Steil­küs­te der Nord­see.«

Ni­mue ver­such­te sich in Ge­dan­ken Crid­he vor­zu­stel­len. Da­bei ent­deck­te sie Holz­häu­ser, die hoch oben auf ei­nem Fel­sen über dem Meer stan­den. Die­se wur­den schein­bar von ei­nem in die Höhe wach­sen­den, dich­ten Wald be­schützt, der nur we­ni­ge grü­ne Flä­chen frei­gab. Das sich zu Wel­len auf­bäu­men­de Was­ser der Nord­see glit­zer­te im Son­nen­licht. Mit ei­ner Wucht prall­te es ge­gen die Fel­sen und doch ließ sich das alte Ge­stein nicht da­von be­ein­dru­cken. Die Vor­stel­lung ei­ner der­ar­tig schö­nen Na­tur lös­te eine Wär­me in Ni­mue aus, die die wei­te­ren Wor­te ih­res Groß­va­ters noch tie­fer in sie sin­ken lie­ßen.

»Sie wa­ren gro­ße Ge­stal­ten mit lan­gen blon­den oder brau­nen Haa­ren und so hübsch, wie du es bist.«

Ni­mue grins­te ihn fröh­lich an und frag­te: »Sie wa­ren grö­ßer als wir, nicht wahr, Opa?«

Er nick­te. »Ja, grö­ßer als wir es heu­te sind. Auf­grund der lan­gen und be­schwer­li­chen Rei­se durch Land und Was­ser ha­ben sich un­se­re Vor­fah­ren den Um­stän­den ent­spre­chend an­ge­passt und sind da­her in ih­rer Grö­ße um meh­re­re Zen­ti­me­ter klei­ner ge­wor­den.«

Er­staunt über die­se Tat­sa­che lehn­te sie ih­ren Kopf zu­rück an sein Bein und lausch­te wei­ter sei­nen Wor­ten.

»Wäh­rend sie in der Tie­fe des Mee­res ent­lang­zo­gen, wur­de die Be­weg­lich­keit im­mer wich­ti­ger. Sie woll­ten so schnell wie mög­lich eine neue Hei­mat fin­den. Eine ge­rin­ge­re Grö­ße un­ter­stütz­te ihre Fort­be­we­gung im Was­ser. Trotz­dem dau­er­te es Hun­der­te von Jah­ren bis sie den Oze­an durch­quert hat­ten« – kurz hielt er inne und at­me­te tief ein, um die wei­te­ren Wor­te weich und sanft aus der Tie­fe sei­nes Kör­pers glei­ten zu las­sen – »vor­her je­doch, da wa­ren sie gro­ße Wal­del­fen, die über Jahr­tau­sen­de fried­lich in ih­rem Kö­nig­reich ge­lebt hat­ten. Da­mals re­gier­te Kö­nig Aar, der, wie du weißt, dein Ur-Ur-Ur­groß­va­ter war. Mei­ne Mut­ter hat mir aus ih­rer tie­fen Ver­bun­den­heit her­aus sei­nen Na­men ge­ge­ben.«

Ni­mue nick­te, ohne sei­ne Aus­sa­ge mit Wor­ten zu be­stä­ti­gen.

»Ich habe ge­hört«, schwärm­te er dar­auf­hin, »dass die Blu­men fort­wäh­rend blüh­ten, und die Bäu­me wa­ren das gan­ze Jahr über vol­ler Blät­ter. Nur die Fa­r­ben ver­ri­e­ten die je­wei­li­gen Jah­res­zei­ten. Der Früh­ling zeig­te sich hell- bis sma­ragd­grün, der Som­mer ver­misch­te das Grün mit Gelb und Oran­ge, der Herbst färb­te es braun ein und der Win­ter ver­wan­del­te die Blät­ter lang­sam wie­der zu ei­nem strah­len­den Grün.«

»Oh, wie schön, Opa.«

»Ja, das war es«, stimm­te er Ni­mue zu. Da än­der­te sich sei­ne Ton­la­ge, die nun einen Ernst und eine Trau­rig­keit ent­hielt und da­mit sei­ne nächs­ten Wor­te mit ih­rer Schick­sals­schwe­re un­ter­strich: »Bis die Dun­kelel­fen ka­men und un­ser Volk ver­trie­ben.«

»War­um ha­ben sie das ge­tan?«

»Der Kampf um Macht und Herr­schaft trieb sie an. Weißt du, wer die Dun­kelel­fen sind?«

Ni­mue hat­te na­tür­lich be­reits über die­se We­sen et­was ge­hört, den­noch woll­te sie ihr Ge­dächt­nis auf­fri­schen. Sie schüt­tel­te ih­ren Kopf, um ihre Un­wis­sen­heit an­zu­deu­ten.

»Die Dun­kelel­fen sind vom glei­chen Urel­fen­stamm, wie wir es sind, und so sind wir Schwes­tern und Brü­der. Die Ge­burt un­se­rer Ur­vä­ter hat ein Gleich­ge­wicht auf der Erde ge­schaf­fen, in­dem das Uni­ver­sum dem Gu­ten und dem Bö­sen als Zwil­lings­paar zu glei­chen Tei­len das Le­ben schenk­te. Wir ge­hö­ren zu den Lich­tel­fen, wie du weißt. Den­noch sind die Dun­kelel­fen mit uns ver­wandt. Ihre We­sen­heit ist je­doch grund­ver­schie­den. Sie sind hin­ter­häl­tig und böse. Ich kann dir ra­ten, ih­nen im­mer aus dem Weg zu ge­hen. Lass dich nie­mals von ih­nen täu­schen« – sei­ne Stim­me wur­de aus­drucks­voll tief – »denn auf den ers­ten Blick wir­ken sie ge­win­nend und freund­lich. Man merkt ih­nen ihre wah­ren Ab­sich­ten nicht so­fort an.«

Ni­mue spür­te, wie sich ein ei­gen­ar­ti­ges, un­an­ge­neh­mes Ge­fühl in ih­rer Brust aus­brei­te­te.

»Wie kann ich wis­sen, ob eine Elfe eine Licht- oder eine Dun­kelel­fe ist?«, wun­der­te sie sich.

Er lä­chel­te sie lie­be­voll an und strich ihr da­bei sanft übers Haar.

»Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben. Ver­traue dei­nem in­ne­ren Ge­fühl und es wird dir nichts pas­sie­ren. Die Men­schen nen­nen es In­tu­i­ti­on. Sie wird dich im­mer gut und si­cher lei­ten.«

Ni­mue war nicht ge­ra­de zu­frie­den mit die­ser Ant­wort. Was soll­te das hei­ßen: in­ne­res Ge­fühl? Und wie konn­te sie die­ses ak­ti­vie­ren? Sie be­schloss, erst sei­nen Wor­ten wei­ter zu lau­schen und dann spä­ter noch ein­mal dar­auf zu­rück­zu­kom­men.

»Nach­dem sie Crid­he ver­las­sen ha­ben, wan­der­ten sie öst­lich der Küs­te ent­lang nach Eng­land. Weißt du, was Crid­he be­deu­tet?«

Sie schüt­tel­te ih­ren Kopf, so­dass ihr lan­ges Haar leicht im Wind weh­te.

»Crid­he ge­hört der Spra­che dei­ner Vor­fah­ren an und heißt über­setzt: das Herz. Es be­zeich­net auch den Ur­sprung, also den Kern ei­ner Sa­che, und trägt in sich die Fä­hig­keit, mu­tig zu sein. Als Dorf­na­me ver­kör­per­te es das Herz des Vol­kes, das in die­sem Ort ge­mein­sam leb­te, also das Ge­mein­schafts­herz des El­fen­stam­mes Shen­ja. Alle dort le­ben­den El­fen wa­ren gute We­sen. Die­se po­si­ti­ve Ener­gie ließ das Ge­mein­schafts­herz stark und kräf­tig schla­gen.«

Ein Mo­ment der Stil­le trat ein, in der Aar nach­denk­lich wirk­te. »In die­sem Dorf leb­ten nicht nur El­fen, son­dern auch Men­schen. Der klei­ne Bru­der von Kö­nig Aar ver­lieb­te sich in ein Men­schen­mäd­chen und hei­ra­te­te sie. Ihr Name war Jo­se­phi­ne und bei­de leb­ten im Kö­nigs­schloss. Sie wa­ren ein glü­ck­li­ches Paar, das am Tage ih­rer Hoch­zeit in eine präch­ti­ge Zu­kunft blick­te. Die­ses Schick­sal soll­te sich je­doch wen­den und so muss­ten sie mit ih­rem Volk flie­hen, um ihr Le­ben zu ret­ten. Auf der Rei­se ge­bar Jo­se­phi­ne zwei ge­sun­de Kin­der, die sie an der Küs­te von Corn­wall mit ih­rem Mann wei­ter durchs Was­ser zie­hen ließ.«

»War­um hat sie das ge­tan? Hat­te sie ihre Kin­der nicht lieb, Opa?«

Aar schüt­tel­te leicht den Kopf und mein­te: »Nein, nein, das war nicht der Grund. Ganz im Ge­gen­teil. Es war viel zu ge­fähr­lich, die Kin­der zu­rück­zu­las­sen, und so gab Jo­se­phi­ne sie frei, um sie zu schüt­zen.«

»Wie meinst du das?«

»Um durch das Was­ser zie­hen zu kön­nen, brauch­te sie die fein­stoff­li­che Hül­le ei­ner El­fen­haut. Als Mensch war es ihr nicht mög­lich, sich der schwie­ri­gen Um­ge­bung an­zu­pas­sen so­wie so lan­ge un­ter Was­ser zu blei­ben. Durch die Schwan­ger­schaf­ten mit El­fen­kin­dern hat­te sich ihre Haut be­reits ver­wan­delt, den­noch nicht ge­nug, um die Rei­se zu über­ste­hen.«

Sei­ne Wor­te ver­stumm­ten, so­dass Ni­mue auf­sah und in sein nach­denk­li­ches Ge­sicht blick­te.

»Viel­leicht«, sag­te er hoff­nungs­voll und strich mit sei­nem Zei­ge­fin­ger über ihre Nase, »ist sie noch am Le­ben. Durch die Schwan­ger­schaf­ten hat sie vie­le Fä­hig­kei­ten und Ei­gen­schaf­ten der El­fen über­nom­men. Die Men­schen re­a­gie­ren al­ler­dings sehr in­di­vi­du­ell dar­auf.«

Da be­schleu­nig­te sich Ni­mu­es Herz­schlag und sie frag­te auf­ge­regt: »Wo könn­te Jo­se­phi­ne jetzt sein? Soll­ten wir sie nicht su­chen? Sie ge­hört doch zur Fa­mi­lie.«

»Ja, das tut sie. Trotz­dem ist es sehr un­wahr­schein­lich, dass sie noch lebt. Ihr Ehe­mann hat die Hoff­nung bis zu sei­nem letz­ten Atem­zug nicht auf­ge­ge­ben. Er hat mit al­len Mit­teln ver­sucht, sie zu fin­den; ver­ge­bens. Man glaubt, dass die Dun­kelel­fen sie ge­tö­tet ha­ben.«

Ni­mue lief bei die­sem Ge­dan­ken ein kal­ter Schau­er über den Rü­cken.

Aar be­merk­te dies und er­wähn­te so­gleich: »Weißt du, dass sie da­mals die Grup­pen­see­le un­se­res Vol­kes ganz schön durch­ein­an­der­ge­bracht hat?«

»Grup­pen­see­le?«

»Ja. Ein Volk hat nicht nur ein ge­mein­sam schla­gen­des Herz, son­dern auch eine See­le. Die­se wird bei El­fen so­wie bei Men­schen durch Emo­ti­o­nen be­rührt, und Jo­se­phi­ne war ein sehr emo­ti­o­na­ler Mensch. Da­her be­ein­fluss­te sie die Grup­pen­see­le über­aus stark und das be­weg­te das gan­ze Kö­nig­reich. Wenn sie wein­te, fühl­te je­der ihre Trau­rig­keit und um­ge­kehrt, wenn sie lach­te, ihre Fröh­lich­keit. Ihr gro­ßer Ein­fluss war ei­gen­ar­tig, den­noch war er deut­lich zu spü­ren.«

Er hielt einen Mo­ment lang inne.

Ni­mue wand­te sich ihm zu und be­merk­te den lee­ren Aus­druck sei­ner Au­gen. Sie konn­te sich die­se Lee­re nur der­art er­klä­ren, dass er tief in sei­nen Ge­dan­ken ver­sun­ken war.

»Wo wa­ren wir ste­hen ge­blie­ben?«, un­ter­brach er die Stil­le, »eh, ge­nau, sie wa­ren auf der Su­che nach ei­ner neu­en Hei­mat. Ur­sprüng­lich woll­ten sie sich an der Küs­te von Corn­wall an­sie­deln, da die­se Halb­in­sel ein be­son­ders schö­ner Teil der Erde ist. Die dor­ti­gen Volks­s­täm­me je­doch mach­ten es ih­nen un­mög­lich. Sie ver­tei­dig­ten ihr Land um je­den Preis. Da un­se­re Vor­fah­ren schon im­mer ein fried­lie­ben­des Volk wa­ren, ent­schlos­sen sie sich wei­ter­zu­zie­hen und zwar nach Frank­reich. Die Ent­schei­dung über oder un­ter Was­ser zu rei­sen war ein­fach, da die Pi­ra­ten­geis­ter eine grö­ße­re Ge­fahr als die ein­zel­nen Mee­res­be­woh­ner dar­stell­ten.«

Ni­mue mein­te auf­ge­wühlt: »Da hat Jo­se­phi­ne ihre Fa­mi­lie zum letz­ten Mal ge­se­hen?«

»Ja, mei­ne Klei­ne, dort pas­sier­te es. Das Ziel war nun der an­de­re Teil von Eu­r­o­pa. Der Teil, den sie noch nicht kann­ten. Sie hat­ten von den vor­bei­zie­hen­den Vö­geln viel über des­sen Schön­heit ge­hört. Aus die­sem Grund wa­ren sie vol­ler Hoff­nung, dort ein neu­es und schö­nes Zu­hau­se zu fin­den. Es dau­er­te je­doch Hun­der­te von Jah­ren, bis sie an der fran­zö­si­schen Küs­te an­ka­men.«

»War­um dau­er­te es so lan­ge, Opa?«, frag­te Ni­mue er­staunt.

»Weil der eng­li­sche Ka­nal dicht be­sie­delt ist und die Be­woh­ner nicht ge­ra­de er­freut wa­ren, von ei­ner Her­de El­fen ge­stört zu wer­den. Es kos­te­te vie­le an­stren­gen­de Ver­hand­lun­gen mit den je­wei­li­gen Stam­mes­füh­rern, um die Er­laub­nis der Durch­rei­se zu er­hal­ten. Sie muss­ten Kom­pro­mis­se ein­ge­hen und sich den stän­di­gen Ver­än­de­run­gen der Um­ge­bung an­pas­sen. Dies al­les kos­te­te Zeit. Trotz al­le­dem ha­ben sie letzt­end­lich ihr Ziel ver­wirk­licht und für ihre Nach­fah­ren ein neu­es Reich auf­ge­baut, in dem Frie­den und Har­mo­nie herr­schen.«

»Du meinst das Reich Shen­ja und un­ser tol­les Schloss?«

Er nick­te zu­stim­mend. »Ja, das mei­ne ich. Ha­ben wir es hier nicht be­son­ders schön?«

Sie lä­chel­te ihn zu­frie­den an. »Das ha­ben wir, Opa. Aber wie sind sie den wei­ten Weg hier­her­ge­kom­men?«

»Erst ein­mal sind sie an der Küs­te in Frank­reich ge­lan­det. Frank­reich hat ih­nen sehr gut ge­fal­len, da die dor­ti­ge Le­bens­wei­se fast ei­nem Hof­ze­re­mo­ni­ell äh­nel­te. Sie ge­nos­sen das gute fran­zö­si­sche Es­sen und ihre zu­meist klas­si­sche Mu­sik. Die Men­schen fei­er­ten fröh­lich und dies auf eine so schö­ne, re­spekt­vol­le Art und Wei­se, dass sie sich ger­ne an­schlos­sen. Nach dem lan­gen Was­ser­auf­ent­halt woll­ten sie wie­der an Land le­ben und so durch­fors­te­ten sie die Wäl­der nach ei­nem Ort, an dem sie ihr Reich auf­bau­en könn­ten. Die Su­che war je­doch ver­ge­bens, denn dort leb­te be­reits eine gro­ße An­samm­lung von Men­schen. Kein Platz war mehr frei und so muss­ten sie wei­ter­zie­hen. Dar­auf­hin tra­fen sie auf ein Land na­mens Ita­li­en. Erst wa­ren sie be­geis­tert von dem gu­ten Es­sen und auch der Wein war dort be­son­ders rein und da­her für El­fen gut ver­träg­lich. Doch die Men­schen spra­chen so laut mit­ein­an­der, dass es ih­nen un­ge­müt­lich er­schien. Sie ent­schlos­sen sich, wei­ter­zu­zie­hen. Zu die­ser Zeit be­geg­ne­ten sie kurz vor ei­ner Stadt na­mens Rom freund­li­chen Wald­geist­be­woh­nern. Die­se lu­den sie ein, bei ih­nen ein­zu­keh­ren, um sich für die wei­te­re Rei­se aus­zu­ru­hen und zu stär­ken. Der Geis­ter­kö­nig nann­te sich Rory, was so viel wie ro­ter Kö­nig be­deu­te­te und rot war er auch im­mer. Ich mei­ne, er lieb­te ro­ten Wein und nach ein paar Glä­sern färb­te sich sei­ne Geis­ter­hül­le ge­nau­so rot wie die Fa­r­be des Weins. Noch heu­te hört man die Men­schen über die ei­gen­tüm­lich rote Fa­r­be spre­chen, die manch­mal über den Dä­chern von Rom wie ein Schlei­er schwebt. Kö­nig Aar er­zähl­te, dass Rory ein fre­cher, aber lie­bens­wer­ter Ge­sel­le war und oft Scha­ber­nack mit den Men­schen trieb. Da­bei hat er Kir­chen­uh­ren mehr­fach zu un­ge­wöhn­li­chen Zei­ten läu­ten las­sen oder Uh­ren ver­stellt. Am liebs­ten je­doch hat­te er die Glä­ser Fei­ern­der aus­ge­trun­ken, schnell und heim­lich. Dies ver­wirr­te vie­le Men­schen und führ­te zu un­g­lü­ck­li­chen Zei­ten, denn sie dach­ten, dass die Ver­wir­rung krank­haf­ter Na­tur sei.«

Ni­mue ver­stand nicht. »Und dann?«

»Dann gin­gen sie in Hos­pi­tä­ler und lie­ßen ihre schwe­re Er­kran­kung be­han­deln.«

Aar lach­te laut­stark, was Ni­mue auch zum La­chen brach­te. Trotz­dem hat­te sie kei­ne Ah­nung, was dar­an so lus­tig war.

Nach ei­ni­gen Freu­den­trä­nen wur­de er wie­der ernst und er­zähl­te sei­ne Ge­schich­te wei­ter: »Der rote Kö­nig sprach oft und viel mit Kö­nig Aar. Ei­nes Ta­ges er­klär­te er mei­nem Ur­groß­va­ter, wie sehr er hoff­te, dass un­ser Volk eine schö­ne Hei­mat fin­den wür­de. Dort, wo gu­ter Wein wächst und die Men­schen ger­ne fei­ern. Dort, wo das Reich der Geis­ter und El­fen Früch­te trägt und das Dunk­le kei­nen Zu­gang hat.« Da klopf­te er sanft auf Ni­mu­es Kopf und er­klär­te: »Üb­ri­gens, Kö­nig Aar war da­mals schon sehr alt. Er hat­te das üb­li­che El­fe­n­al­ter schon weit über­schrit­ten. Al­ler­dings wuss­te er, dass er sich erst auf­lö­sen kann, wenn sich sein Volk in Si­cher­heit an ei­nem schö­nen Platz an­ge­sie­delt hat. Er war wild ent­schlos­sen, eine neue Hei­mat für sein Volk zu fin­den, und so in­for­mier­te er sich über die nächst­lie­gend an­gren­zen­den Län­der zu Ita­li­en. Bei ei­nem sei­ner all­abend­li­chen Ge­sprä­che mit Rory er­zähl­te ihm die­ser von Bay­ern. Der rote Kö­nig selbst war noch nie dort ge­we­sen, al­ler­dings hör­te er von Vor­bei­rei­sen­den im­mer nur Gu­tes dar­über. Zu­dem lie­fen die Han­dels­ge­schäf­te zwi­schen Ita­li­en und Bay­ern be­son­ders in­ten­siv, und so kann­te der Geis­ter­kö­nig einen Han­dels­weg zu Lan­de, der von Ve­ne­dig über Inns­bruck nach Bay­ern führ­te. Auf die­sem Pfad konn­ten sie es nicht ver­feh­len, so war er sich si­cher. Aus ei­nem mir un­be­kann­ten Grund je­doch ka­men sie in Ös­ter­reich vom Weg ab und über­quer­ten die Al­pen der­art, dass sie di­rekt am Fuße des Chiem­sees die baye­ri­sche Vor­al­pen­land­schaft be­tra­ten, und da pas­sier­te es.«

»Was, Opa, was pas­sier­te da?«, rief Ni­mue auf­ge­regt.

»Kö­nig Aar traf auf den Ur-Ur-Ur­groß­va­ter dei­nes Freun­des Hub­si.«

»Oh, und dann?«

»Dann hat die­ser mit dei­nem Ur-Ur-Ur­groß­va­ter Aar Freund­schaft ge­schlos­sen und ihm den frei­en Raum am Bo­den des Sees an­ge­bo­ten. Erst woll­te er sein Volk nicht im Was­ser an­sie­deln, da wir ja ur­sprüng­lich ein Wald­volk wa­ren. Des­halb bist du nicht nur eine See-, son­dern auch eine Wal­del­fe.« Er stups­te mit sei­nem rech­ten Zei­ge­fin­ger auf ihre Nase. »Nach vie­len Ge­sprä­chen und Be­sich­ti­gun­gen der Ge­gend ent­schied er sich den­noch für das Land Bay­ern und das Le­ben hier. Der Schutz, den das Was­ser zwi­schen un­se­rem Reich und der Was­ser­o­ber­flä­che mit sich brach­te, über­zeug­te ihn au­ßer­dem von ei­nem Le­ben am Bo­den des Chiem­sees. Dar­auf­hin ha­l­fen alle zu­sam­men. Die Was­ser­geis­ter, eine Troll­fa­mi­lie, die oben auf der Frauen­in­sel leb­te, und vie­le an­de­re Licht­we­sen bau­ten ge­mein­sam un­ser Kö­nig­reich Shen­ja auf. Nach ein paar Mo­na­ten war es fer­tig und alle über­le­ben­den Wald- und See­el­fen konn­ten ein­zie­hen. Da­mals wa­ren es nur noch 123 El­fen, samt dem Heer.«

»So we­ni­ge, Opa«, wun­der­te sie sich. »Was pas­sier­te da­nach mit un­se­rem Kö­nig?«

»Als al­les fer­tig auf­ge­baut und das gro­ße Ein­wei­hungs­fest in vol­lem Gan­ge war, rief er sei­ne äl­tes­te Toch­ter Cara, sei­nen ers­ten Sohn Tad­gh, sei­nen zwei­ten Sohn Oi­sin und sei­ne jüngs­te Toch­ter Anna zu sich. Die Kö­ni­gin versta­rb wäh­rend der an­stren­gen­den Rei­se und so war die engs­te Fa­mi­lie voll­stän­dig. Er er­klär­te, dass Tad­gh, mein Groß­va­ter, sein Nach­fol­ger wer­den soll­te. Zu­dem mein­te er, dass es nun an der Zeit sein wür­de, zu ge­hen, um Platz für neue We­sen sei­ner Art, also Nach­kom­men, zu schaf­fen.«

»War­um, Opa? War­um kön­nen wir hier nicht ein­fach alle zu­sam­men wei­ter­le­ben?«

»Weil der Raum zu eng wird, die Ener­gi­en zu dicht und wie auch bei den Men­schen ir­gend­wann der Platz aus­ge­hen wür­de. Je en­ger der Le­bens­raum, umso mehr Rei­be­rei­en ent­ste­hen und das er­schwert je­des Le­ben. Je­des We­sen braucht sei­nen na­tür­li­chen Be­reich, um frei und kre­a­tiv exis­tie­ren zu kön­nen. Zu­dem wird die Wei­ter­ent­wick­lung ge­för­dert, da Al­tes durch Neu­es er­setzt wird, auch wenn es uns schwer­fällt, das Alte los­zu­las­sen. Un­se­re See­len sind je­doch im­mer mit­ein­an­der ver­bun­den, auch wenn wir kei­ne Kör­per mehr mit un­se­ren El­fe­n­au­gen se­hen kön­nen.«

»Ja, Opa, das weiß ich«, ant­wor­te­te Ni­mue er­leich­tert über die­ses Be­wusst­sein. Trotz­dem woll­te sie an eine der­ar­ti­ge Ver­än­de­rung in ih­rer Fa­mi­lie noch nicht den­ken, denn ihr Ur­groß­va­ter war be­reits 999 El­fen­jah­re alt, und was das zu be­deu­ten hat­te, war ihr klar. Ir­gend­wann wür­de auch er sie ver­las­sen.

»Was hat Kö­nig Aar dann ge­macht?«, frag­te sie neu­gie­rig.

»Er hat al­len sei­ne Lie­be ver­si­chert und auch ei­nes je­den zu­künf­ti­ge Auf­ga­ben er­läu­tert. Dann küss­te er die Wan­gen sei­ner Kin­der, dreh­te sich um und ver­schwand hin­ter der di­cken Ei­chen­tür. Der da vor­ne!« Er zeig­te auf die nächst­lie­gen­de Tür ge­gen­über dem Oh­ren­ses­sel. »Sei­ne Kin­der hör­ten ihn kurz dar­auf die knar­ren­de Holz­trep­pe zum Süd­turm hin­auf­ge­hen. Da­nach wur­de er nie mehr ge­se­hen.«

Ni­mue stell­te sich den Süd­turm bild­lich vor. Sie dach­te an die obers­te Kam­mer, ihr Lieb­lings­zim­mer, in dem sie mit ih­ren Ge­schwis­tern schon oft ge­spielt hat­te. An die­sem Ort muss­te sei­ne El­fen­see­le sei­nen Kör­per ver­las­sen ha­ben. Kein an­de­rer Raum kam da­für in­fra­ge.

Da er­klan­gen die Wor­te ei­ner wei­chen, den­noch durch­drin­gen­den Frau­en­stim­me: »Aar, wo bleibst du nur?«

Es war ihre Groß­mut­ter Oona, die be­reits seit vier El­fen­stun­den auf ih­ren Mann war­te­te, der ihr im Ge­wächs­haus bei der Pfle­ge der Pflan­zen hel­fen soll­te.

Oona stamm­te aus dem El­fen­reich Lara. Die­ser El­fen­stamm leb­te und lieb­te die Ein­sam­keit im Schut­ze ei­nes Zau­ber­wal­des, wel­che sie nach ih­rer Hoch­zeit kom­plett auf­ge­ben muss­te. Trotz­dem fühl­te sie sich im Reich Shen­ja sehr wohl. Dies er­klär­te sie sich aus den Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten ih­res Va­ters, der von ei­ner be­son­ders wil­den und aus Feu­er be­ste­hen­den El­fen­fa­mi­lie ab­stamm­te. Er litt sehr un­ter der Zu­rück­ge­zo­gen­heit und Stil­le des Fa­mi­li­en­stam­mes sei­ner Frau und doch ver­zich­te­te er auf sei­ne Lei­den­schaf­ten aus Lie­be zu ihr. Sein El­fen­stamm moch­te, ge­nau­so wie der El­fen­stamm Shen­ja, die Mu­sik, das Es­sen und das Tan­zen. Bei­de glaub­ten an den be­son­de­ren Zau­ber der fei­er­li­chen Ma­gie und die vie­len klei­nen Ge­schen­ke dar­in. So ver­kör­per­te Oona in ih­rer neu­en Hei­mat aus ih­rer Na­tür­lich­keit her­aus das ge­erb­te Feu­er ih­res Va­ters. Oo­nas Mut­ter da­ge­gen wies eine Be­son­der­heit auf. Ihr Volk war ur­sprüng­lich ein Feen­volk und hat­te nur we­ni­ge El­fe­n­an­tei­le, auch wenn an der Spit­ze ih­res Stamm­bau­mes eine Elfe stand. Sie war eine sehr licht­vol­le Fee. Ihr Cha­rak­ter zeich­ne­te sich durch Lie­bens­wür­dig­keit und eine Art kind­li­cher Ver­spielt­heit aus. Die­se Ei­gen­schaf­ten hat­te auch Oona, wel­che Ni­mu­es Groß­va­ter sehr an sei­ner Frau lieb­te.

Oona hat­te hell­blaue Au­gen und wei­ße lan­ge Haa­re, die sie ge­floch­ten oder in ei­nem Dutt trug. Sie glich op­tisch den schot­ti­schen El­fen, al­ler­dings mit nur an­ge­haucht spit­zen Oh­ren. Ihr Ge­sicht glich ei­nem har­mo­ni­schen Kunst­werk, das durch schö­ne, gleich­mä­ßi­ge Ge­sichts­zü­ge be­son­ders hübsch aus­sah. Sie war groß, ein paar Zen­ti­me­ter grö­ßer als ihr Ehe­mann.

Nachts schwamm sie oft an die Was­ser­o­ber­flä­che und setz­te sich ans Ufer der Frauen­in­sel, um dort die At­mo­sphä­re zu ge­ni­e­ßen. Die Men­schen konn­ten dann im Mond­licht ein Glit­zern und Fun­keln am Was­se­ru­fer be­ob­ach­ten, denn ihre Schön­heit durch­brach den ma­gi­schen Schlei­er zwi­schen den Wel­ten, auch wenn sie sich ih­rer Um­ge­bung nicht zeig­te. Tat sie es den­noch, konn­te sie durch ihre Er­schei­nung Paa­re zu­sam­men­füh­ren und Ver­ei­ni­gun­gen al­ler Art mit Glück be­schen­ken. Auch die­se Ei­gen­schaf­ten lieb­te ihr Ehe­mann an ihr.

»Komm ja schon, Oona«, er­wi­der­te Aar, wor­auf Ni­mue zur Sei­te rück­te, um Aar Platz zu ma­chen. Kurz dar­auf ver­schwand er hin­ter der gro­ßen Ein­gangs­tür mit den Wor­ten: »Bis bald, mei­ne Klei­ne.«

Ru­hig und ge­dan­ken­ver­lo­ren saß sie nun al­lein im Ka­min­zim­mer. Sie dach­te an Oona und an die vie­len Er­zäh­lun­gen ih­rer Cou­si­ne Cara, die von ih­rer ge­mein­sa­men Oma spra­chen.

Cara leb­te seit ih­rer Ge­burt auf ei­ner klei­nen Zau­be­r­in­sel, nahe an der Frauen­in­sel ge­le­gen. Ihre El­tern woll­ten nicht im Was­ser le­ben. Des­halb hat­ten sie sich dort in ei­ner Höh­le an ei­nem Hü­gel an­ge­sie­delt. Ihre Nach­barn wa­ren vie­le ver­schie­de­ne We­sen, wie Wich­tel, Ko­bol­de, eine Fa­mi­lie der Wald­schra­te und klei­ne an­de­re We­sen, die sich mit ih­ren Fa­mi­li­en vor Tau­sen­den von Jah­ren dort an­ge­sie­delt hat­ten.

Ni­mue hat Cara oft be­sucht. Da­bei hat­te Cara ihr von Oo­nas Er­schei­nun­gen und ih­ren Aus­wir­kun­gen auf Men­schen er­zählt. Auf dem Land sprach man viel über die­se un­ge­wöhn­li­che Frau, die aus dem Nichts er­schien und wie­der dar­in ver­schwand. Da sie im­mer nur Gu­tes be­wirk­te, hat­te man kei­ne Angst vor ihr und so wur­de sie über die Jah­re hin­weg zu ei­ner Le­gen­de.

Ni­mue lä­chel­te stolz, als sie mur­mel­te: »Das ist mei­ne Oma.«

Da fiel ihr die so­eben er­zähl­te Ge­schich­te wie­der ein und sie staun­te in Ge­dan­ken: »Was ha­ben mei­ne Vor­fah­ren nur al­les er­lebt? Die gan­ze Welt ha­ben sie ge­se­hen. Ich möch­te auch so ger­ne die Welt er­kun­den und all die Aben­teu­er er­le­ben, die dar­in ste­cken.«

Sie dach­te da­bei an das le­cke­re Es­sen in Ita­li­en, die ge­ho­be­ne Le­bens­phi­lo­so­phie der Fran­zo­sen, an die schot­ti­sche Hei­mat ih­rer Vor­fah­ren und wie schön es wäre, die­se ste­tig blü­hen­de Na­tur ein­mal zu se­hen. Doch dann er­in­ner­te sie sich an die Dun­kelel­fen und ihre zer­stö­re­ri­sche Macht. So­gleich über­fiel sie ein kal­ter Schau­er und über­schat­te­te ihre freu­di­ge Auf­re­gung. Sie setz­te sich zum Ka­min und streck­te ihre Hän­de über das Feu­er. Die­ses wärm­te nicht nur ih­ren Kör­per, son­dern ver­trieb auch ihre Ängs­te.

»Sláin­te!«, hör­te Ni­mue ih­ren Ur­groß­va­ter Seo­ras im gro­ßen Ta­fel­saal ru­fen, wäh­rend sie den Ar­ka­den­gang ent­lang dar­auf zu ging. Da­nach klan­gen vie­le Stim­men im Raum durch­ein­an­der. Ni­mue nahm es als einen woh­lein­ge­stimm­ten Ge­sang wahr. Dar­auf­hin pros­te­ten sich die an­we­sen­den El­fen zu und er­öff­ne­ten da­mit das Fes­tes­sen.

Dies war ein abend­li­ches Ri­tu­al, wel­ches stets vom Kö­nig selbst, Ni­mu­es Ur­groß­va­ter, er­öff­net wur­de. Nicht an je­dem Abend pfleg­ten sie die­ses Ri­tu­al, son­dern haupt­säch­lich an den un­ge­ra­den Ta­gen. Der Sinn dar­in lag nicht al­lein im Ver­zehr von Nah­rung, son­dern der Eh­rung des Ge­mein­schafts­geis­tes. Und so soll­ten an die­sen Aben­den so vie­le Wald- und See­el­fen wie mög­lich zu­sam­men­kom­men, um ihre Ge­mein­schaft zu fei­ern.

Ni­mue kam an die­sem Abend zu spät, da sie nicht auf­hö­ren konn­te, ih­rer Fan­ta­sie frei­en Lauf zu las­sen und ge­dank­lich durch auf­re­gen­de Pfa­de in Rich­tung Schott­land zu rei­sen. Lang­sam schlich sie sich in den Saal hin­ein, in dem sich be­reits vie­le Schloss­be­woh­ner tum­mel­ten. Dort hör­te sie Stim­men durch­ein­an­der­spre­chen, hie und da eine Elfe laut la­chen, Be­cher auf­ein­an­der fal­len und Mu­sik, die im Hin­ter­grund eine fest­li­che Stim­mung ver­brei­te­te. Es dau­er­te nicht lan­ge und sie er­reich­te ih­ren Platz am Haupt­tisch, an dem auch der Kö­nig saß. Denn Ni­mue war eine di­rek­te Nach­kom­min des der­zei­ti­gen Kö­nigs Seo­ras. Dar­über hin­aus mun­kel­te man be­reits, dass ihr Groß­va­ter Aar bald den Thron be­stei­gen wür­de. Da­nach – und da be­stand Ei­nig­keit un­ter al­len El­fen – soll­te sie die ers­te Kö­ni­gin des Rei­ches Shen­ja wer­den. Sie war noch sehr jung mit ih­ren 129 Jah­ren und muss­te bis da­hin noch viel ler­nen, und doch schien sich das Reich be­reits dar­auf ein­zu­stel­len. Sie selbst war sich als jüngs­te von vier Töch­tern dar­über nicht im Kla­ren. Es war un­üb­lich, dass die Jüngs­te auf den Thron nach­fol­gen soll­te, und dann wa­ren da ja noch die Söh­ne von Ni­mu­es Tan­ten und On­keln. Da es im Reich Shen­ja noch nie eine Kö­ni­gin ge­ge­ben hat­te, lag es nahe, dass nach Aar ei­ner von ih­nen das Kö­nig­reich über­neh­men soll­te.

Ni­mue mach­te sich über eine Re­gent­schaft kei­ne Ge­dan­ken. Sie lieb­te das Le­ben und hat­te einen auf­ge­weck­ten, eher wil­den Cha­rak­ter. Ihre Gro­ß­el­tern nann­ten sie oft Rao’ra, was für den Ti­ger und des­sen Wild­heit stand. Zu­dem un­ter­schie­den sich Ni­mu­es Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten von de­nen ih­rer Ge­schwis­ter, Cou­si­nen und Cous­ins. Sie war aben­teu­er­lus­tig, wiss­be­gie­rig und konn­te nicht lan­ge still­hal­ten. Sie lieb­te die Na­tur und die Tie­re und lern­te schnell, die Fä­hig­kei­ten ih­res El­fen­stam­mes best­mög­lich zu nut­zen. Und das wa­ren so ei­ni­ge, denn die El­fen aus dem Reich Shen­ja wa­ren in der Lage, ih­ren fest­stoff­li­chen Kör­per in einen fein­stoff­li­chen um­zu­wan­deln, so­dass die Men­schen sie nicht se­hen konn­ten. Dazu hat­te die­ser El­fen­stamm be­son­ders ge­schärf­te Sin­ne, wie un­ter an­de­rem Hell­hö­rig­keit. Wenn sie woll­ten, konn­ten sie selbst von der tiefs­ten Stel­le des Sees die Men­schen am See­u­fer spre­chen hö­ren. Au­ßer­dem wa­ren sie in der Lage, Ge­rü­che stark wahr­zu­neh­men. Egal, ob an Land oder in der Tie­fe des Sees, sie konn­ten auf meh­re­re Ki­lo­me­ter Ein­zel­hei­ten ei­nes Ge­ru­ches be­stim­men. Dann wa­ren da noch ihre spe­zi­el­len Au­gen. Ge­schärft wie ein Pfeil konn­ten sie über Mei­len hin­weg se­hen und da­bei Klei­nig­kei­ten ex­akt de­fi­nie­ren; und dies bei Tag und bei Nacht, im Was­ser oder an Land. Sie wa­ren in je­der Hin­sicht an­pas­sungs­fä­hig und doch re­a­gier­ten sie sehr sen­si­bel auf ihre Um­welt. Sie lieb­ten das Fei­ern, doch die­se Fes­te wa­ren nicht laut oder un­sitt­lich. Auch wenn sie ger­ne aßen und tran­ken, schos­sen sie nie­mals über das Ziel hin­aus, denn Völ­le­rei mach­te ihre Kör­per krank.

Das El­fen­volk aus dem Reich Shen­ja gab sich stets ru­hig und fried­voll, was nicht hei­ßen soll, dass sie ohne Mut und Stär­ke ge­we­sen wä­ren. Sie stell­ten sich un­ver­meid­ba­ren Krie­gen und sieg­ten, ge­nau­so wie sie ei­ni­ge Schlach­ten ver­lo­ren. Ihr Fa­mi­li­en­be­wusst­sein schloss alle Schloss­be­woh­ner mit ein und ihr Zu­sam­men­halt war au­ßer­ge­wöhn­lich. Op­tisch ver­än­der­ten sie sich im Ge­gen­satz zu ih­ren Vor­fah­ren be­trächt­lich. Ihre frü­her leicht grü­ne Haut­fa­r­be wech­sel­te über die Jahr­tau­sen­de in eine braun-blaue Mi­schung, so­wie ihre Haa­r­fa­r­be von Blond bis Brü­nett reich­te. Je mehr eine Elfe das Land be­such­te, des­to mehr färb­te sich ihre Haut bräun­lich.

Ihre An­pas­sungs­fä­hig­keit war ein­zig­ar­tig un­ter den El­fen­stäm­men. Böse Zun­gen be­haup­te­ten, dass sie gar kei­ne ech­ten El­fen wa­ren, son­dern ein kun­ter­bun­ter Mix aus an­de­ren, klei­ne­ren We­sen, wie zum Bei­spiel Wich­ten. Tat­säch­lich galt dies in der El­fen­welt als un­mög­lich, da sich El­fen nur mit ih­res­glei­chen oder Men­schen ver­mähl­ten. So­mit war es eine Un­ter­stel­lung, die auf ihre ge­rin­ge und un­üb­li­che Grö­ße be­grün­det wur­de. Zu­dem wa­ren Wich­te für ihre star­ken Sin­nes­wahr­neh­mun­gen be­kannt. Auch hier un­ter­schied sich Ni­mu­es Fa­mi­lie von den an­de­ren El­fen­stäm­men. Ihre aus­ge­präg­ten Sin­ne stell­ten je­doch eine Fol­ge der jahr­zehn­te­lan­gen aben­teu­er­li­chen Rei­se dar und die da­bei le­bens­er­hal­ten­de Not­wen­dig­keit zur An­pas­sung. Der stän­di­ge Ein­satz trai­nier­te ihre Sin­ne nicht nur, son­dern ver­bes­ser­te ihre Gene so­zu­sa­gen und in­ten­si­vier­te ihre Fein­heit und Stär­ke.

Die Kri­tik an ih­ren be­son­de­ren Fä­hig­kei­ten stör­te nie­man­den im Reich Shen­ja, denn »was küm­mert einen schon das dum­me und un­wah­re Ge­schwätz von Nei­dern«, be­merk­te Ni­mu­es Groß­va­ter im­mer mit ei­nem Lä­cheln auf sei­nen Lip­pen. »Neid ist ein bö­ser Feind, doch ge­währt man ihm kei­ne Macht, wen­det er sich wie­der ab und schenkt sei­ne Auf­merk­sam­keit de­nen, die da­ge­gen an­kämp­fen. Mei­ne Klei­ne, wich­tig ist«, be­ton­te er stets, »dass du ehr­lich und gut zu an­de­ren bist. Da­bei musst du dir nicht al­les ge­fal­len las­sen, aber denk im­mer dar­an: So wie du von an­de­ren be­han­delt wer­den möch­test, so ver­fah­re auch du mit ih­nen. Ach­te vor al­lem auf dich selbst«, er­klär­te er da­nach für ge­wöhn­lich. »So oft muss ich se­hen, wie Men­schen sich selbst ver­leug­nen, um Ide­a­le oder all­ge­mei­ne Mei­nun­gen an­de­rer nach­zu­ah­men. Oder sie sind von Selbst­zwei­feln be­fan­gen, so­dass sie sich dar­in ver­lie­ren, dar­un­ter lei­den und da­durch einen falschen Weg ein­schla­gen. Krank­heit, Elend und Trau­er re­sul­tie­ren dar­aus und zer­stö­ren das schö­ne, ur­sprüng­lich strah­len­de Ich des Lei­den­den. Du selbst, mit al­lem was da­zu­ge­hört, bist wich­tig, mei­ne Rao’ra, denn wer dir im­mer er­hal­ten bleibt, bist du dir selbst. So pfle­ge dein Ich, so wie du dei­ne Lieb­lings­blu­me müt­te­r­lich pflegst, und du wirst auf die glei­che, wun­der­schö­ne Wei­se er­b­lü­hen, wie sie es im­mer tut.«

Ni­mue konn­te sich nicht jede Le­bens­weis­heit ih­res Opas auf An­hieb er­klä­ren. Es soll­ten je­doch noch Zei­ten auf sie zu­kom­men, in de­nen sie das eine oder an­de­re ver­ste­hen lern­te, ohne da­nach zu fra­gen.

Ni­mue war mit ei­ner Grö­ße von etwa 1,64 Me­ter für ihr Al­ter sehr statt­lich ge­wach­sen und über­rag­te da­mit die meis­ten gleich­alt­ri­gen El­fen. Ihre Haut­fa­r­be war Hell­braun mit ei­nem leich­ten blau­en Schim­mer. Sie hat­te lan­ges, dun­kel­brau­nes Haar und trug schon als Kind oft jun­gen­haf­te Klei­dung. Die Schloss­be­woh­ner wa­ren sich ei­nig, dass ihre El­tern an der bur­schi­ko­sen Ent­wick­lung schuld sei­en, denn die­se hat­ten sich nach drei Mäd­chen einen Jun­gen ge­wünscht. Trotz­dem, das vier­te Kind wur­de er­neut ein Mäd­chen und so er­klär­te es sich von selbst, dass sie einen klei­nen Jun­gen dar­aus mach­ten. Dies ent­sprach je­doch nicht der Wahr­heit. Wenn ihre El­tern zu die­ser Ent­wick­lung einen Bei­trag leis­te­ten, dann nur der­art, dass sie ihr die Frei­heit ga­ben, so sein zu dür­fen, wie sie es woll­te, und sie lieb­te jede Art von Klei­dung. Sie zog Klei­der an, wenn es die Tra­di­ti­on ver­lang­te, wie zum Bei­spiel zum tra­di­ti­o­nel­len Abend­es­sen. An­sons­ten be­vor­zug­te sie Ho­sen, vor al­lem, wenn sie durch den Wald rann­te oder ritt. Sie ver­fin­gen sich nicht in den Äs­ten und er­leich­ter­ten da­mit jede Be­we­gung. An ih­rem gro­ßen Ge­burts­tag wür­de sie ganz be­stimmt ein Kleid tra­gen.

Ni­mue freu­te sich schon sehr auf das Fest, da der Kö­nig die­sen ma­gi­schen 130s­ten Ge­burts­tag be­son­ders ehr­te. Seit Ta­gen konn­te sie vor Auf­re­gung nicht mehr schla­fen, denn in elf El­fen­ta­gen war es so weit. An die­sem Tag hat­te sie einen gro­ßen Wunsch frei und die­ser war be­reits in ih­ren Ge­dan­ken ma­ni­fes­tiert: die Er­laub­nis ih­res Ur­groß­va­ters, ih­res Groß­va­ters und ih­res Va­ters für eine Zeit bei ih­rer Cou­si­ne auf der Zau­be­r­in­sel zu le­ben und da­bei die Welt der Men­schen zu ent­de­cken. Sie hat­te vie­le tol­le Ge­schich­ten von ih­rer Cou­si­ne ge­hört und woll­te nun ein Teil da­von wer­den.

Ihre El­tern, Ya­vi­ra und Hu­bert, fühl­ten schon lan­ge, dass ihre Toch­ter bald auf Rei­sen ge­hen wür­de. Ei­ner­seits freu­ten sie sich für Ni­mue und an­de­rer­seits stell­ten die Dun­kelel­fen eine Ge­fahr für Ni­mue dar. Au­ßer­halb des Schlos­ses war die­se nicht zu kon­trol­lie­ren, was die Welt ober­halb des Chiem­sees ge­fähr­lich für Ni­mue mach­te.

Ach ja, der Name ih­res Va­ters war für El­fen na­tür­lich sehr un­ge­wöhn­lich. Oona wähl­te ihn we­gen ei­nes Men­schen, der Hu­bert hieß und ur­sprüng­lich auf der Frauen­in­sel leb­te. Als Ni­mu­es Groß­mut­ter mit Hu­bert schwan­ger war, hat­te sie gro­ße Pro­ble­me, das Kind zu ge­bä­ren. Sie schrie laut und dies war un­ge­wöhn­li­cher­wei­se auch für einen Men­schen am Ufer der Frauen­in­sel zu hö­ren. Er mach­te sich gro­ße Sor­gen, dass je­mand ge­ra­de er­trin­ken wür­de, und sprang ins Was­ser, um die­se sich in ver­meint­li­cher Not be­fin­den­de Per­son zu ret­ten. Nach­dem er tie­fer und tie­fer ge­taucht war, ver­lor er das Be­wusst­sein. Doch Schank­ti, die Me­di­zi­nel­fe, ret­te­te ihn. Durch die Hei­lung durch­flu­te­ten sei­nen Men­schen­kör­per et­li­che El­fen­stof­fe und so wur­de er ein Hal­bel­fe. Von die­sem Tag an leb­te er im Reich Shen­ja. Sein Name war Hu­bert. Das Be­son­de­re lag je­doch in dem Er­eig­nis, das wäh­rend sei­ner Hei­lung und so­mit Trans­for­ma­ti­on pas­sier­te. Es schien, als ob sei­ne Ver­wand­lung auch Ni­mu­es Groß­mut­ter heil­te, denn es ging ihr schlag­ar­tig bes­ser. Kurz dar­auf ge­bar sie einen ge­sun­den männ­li­chen El­fen. Alle glaub­ten, dass er Oona durch sei­ne selbst­lo­sen und warm­her­zi­gen Ener­gi­en ge­ret­tet hat­te, und so wur­de Ni­mu­es Va­ter nach ihm be­nannt.

Ni­mue wur­de am sieb­ten Tag des drit­ten Ster­nen­mo­nats ge­bo­ren. Da der zwei­te Ster­nen­mo­nat in vol­lem Gan­ge war, lie­fen die Vor­be­rei­tun­gen für das Fest be­reits auf vol­len Tou­ren. Bei­na­he je­der Schloss­be­woh­ner hat­te eine oder meh­re­re Auf­ga­ben, denn die­se Fei­er soll­te et­was ganz Be­son­de­res wer­den. Zum einen, weil Ni­mue die Ur­en­ke­lin des Kö­nigs war. Zum an­de­ren, weil der Tag der Ua­ne­a­la-Ver­wand­lung einen be­son­de­ren Stel­len­wert im Le­ben ei­ner je­den Elfe hat­te. Er sym­bo­li­sier­te die Ent­wick­lung von ei­nem ver­spiel­ten Lamm in einen auf­ge­hen­den Schwan. Von die­sem Tag an wur­den El­fen nicht mehr als Kin­der an­ge­se­hen, son­dern als an­ge­hen­de Er­wach­se­ne. Da­nach rich­te­te sich ihr Fo­kus noch in­ten­si­ver auf das Ler­nen, je­doch nun nicht mehr aus­schließ­lich auf spie­le­ri­sche Art und Wei­se, son­dern deut­lich mehr zu­kunfts­o­ri­en­tiert. Zur Un­ter­stüt­zung dien­ten eine El­fen­schu­le und die Er­fah­run­gen der Vor­fah­ren, die stets von be­son­de­rer Be­deu­tung wa­ren. Da­bei lern­ten die jun­gen El­fen un­ter an­de­rem die Un­ter­schie­de zwi­schen ih­rem Ster­nen­ka­len­der und dem Men­schen­ka­len­der ken­nen. Auch die El­fen hat­ten Fei­er­ta­ge, an de­nen jede Elfe ihre Ar­beit nie­der­leg­te. Es wa­ren die ma­gi­schen Tage der El­fen, näm­lich je­weils der drit­te, sieb­te und 13te ei­nes Mo­nats. Die Zahl 13 war für die El­fen nicht nur eine ma­gi­sche Zahl, son­dern auch ihre Glücks­zahl.

Trotz der Un­ter­schie­de war der Ster­nen­ka­len­der dem Men­schen­ka­len­der sehr ähn­lich, da auch die El­fen die Zeit über die Mond­pha­sen be­rech­ne­ten. Den­noch hat­ten sie 13 Ster­nen­mo­na­te. Neun Mo­na­te hat­ten 27 Tage, denn es hieß, dass sich je­weils am 27s­ten Tag Son­ne und Mond tref­fen, um ihre Be­stim­mung zu tei­len.


Die El­fen des Rei­ches Shen­ja wur­den viel äl­ter als Men­schen und hat­ten so­mit einen ganz an­de­ren Über­blick über die Tier- und Pflan­zen­welt. Die Na­tur lehr­te sie über die Jahr­tau­sen­de hin­weg viel über das Le­ben selbst und vor al­lem über das Le­ben mit ihr. Das alte Wis­sen ih­rer Vor­fah­ren, die im Wald be­hei­ma­tet wa­ren, ver­bun­den mit ih­rer neu­en Le­bens­wei­se un­ter Was­ser, mach­ten sie zu sehr wei­sen und er­fah­re­nen Ge­schöp­fen. So wur­de die Na­tur, egal wel­cher Art, zum Le­bens­eli­xier ei­ner Elfe, ohne die sie nicht zu über­le­ben fä­hig ge­we­sen wäre.

Ni­mue leb­te bis zu die­sem Tag bei­na­he aus­schließ­lich un­ter Was­ser. Sie war stets nur für kur­ze Zeit auf dem Land ge­we­sen, um die Fa­mi­lie ih­res On­kels auf der Zau­be­r­in­sel zu be­su­chen. Da­nach tauch­te sie im­mer wie­der ab. Die­se an­de­re Welt, die­ses an­de­re Da­sein woll­te sie ken­nen­ler­nen. Sie wuss­te, dass nach dem Ua­ne­a­la-Fest die Auf­ga­be ei­ner je­den Elfe die aus­ge­gli­che­ne Ent­wick­lung von Kör­per, Geist und See­le sein soll­te, wo­bei das Ler­nen von Wis­sen und Kön­nen im Vor­der­grund stand, um sich dann, vie­le El­fen­jah­re spä­ter, eine ei­ge­ne Exis­tenz auf­zu­bau­en oder in die Fuß­stap­fen ih­rer Vor­fah­ren zu tre­ten. Und Ni­mue woll­te gleich da­mit an­fan­gen, das Le­ben in ih­rer Viel­falt zu ent­de­cken.

Am 25s­ten Tag des zwei­ten Ster­nen­mo­nats lag Ni­mue am Mor­gen ge­müt­lich auf ih­rem Lie­ge­so­fa in ih­rem Zim­mer. Sie stu­dier­te ein Buch über Kräu­ter und ihre Heil­kräf­te, als sie plötz­lich El­fen­schrit­te auf dem Ar­ka­den­gang au­ßer­halb ih­res Zim­mers hör­te. Un­ru­hig fie­len sie schnell auf­ein­an­der und ver­mit­tel­ten ihr ein Ge­fühl von Ner­vo­si­tät. Da sprang sie neu­gie­rig auf und öff­ne­te die Tür. Auf dem Gang rann­ten ei­ni­ge El­fen has­tig an ihr vor­bei oder schweb­ten in ra­sen­der Ge­schwin­dig­keit in Rich­tung Ein­gangs­hal­le. Da­bei ent­deck­te sie eine jun­ge Kam­me­rel­fe, die sie mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an­sah. Ihre Wan­gen wa­ren tief­rot. Se­kun­den spä­ter war sie hin­ter dem Bo­gen in Rich­tung der gro­ßen Schloss­sä­le ver­schwun­den.

»Was geht hier nur vor?«, wun­der­te sich Ni­mue.

Ach ja, die El­fen vom Reich Shen­ja hat­ten einen Kör­per, wie auch der Mensch ihn be­sitzt. Der Un­ter­schied war nur der­art, dass die El­fen auch schwe­ben konn­ten. Das heißt, sie konn­ten in der ma­gi­schen Was­se­r­ener­gie des Rei­ches Shen­ja ihre Füße so mit­ein­an­der ver­schmel­zen, dass sie eins wur­den. Da­mit wa­ren sie schnel­ler als zu Fuß. Die­se Fä­hig­keit hat­ten sie al­ler­dings nur im Was­ser. An Land wa­ren sie ge­nau­so be­weg­lich wie Men­schen, ob­wohl sie flin­ker, wen­di­ger und schnel­ler wa­ren als sie. Den­noch konn­ten sie dort we­der über dem Bo­den schwe­ben, flie­gen oder ir­gen­d­et­was Der­ar­ti­ges tun.

Auf dem Gang nahm das Trei­ben ste­tig zu, so­dass Ni­mue ihr Zim­mer ver­ließ und ei­ner Kam­me­rel­fe hin­ter­her­rann­te. Ni­mue ver­such­te mit ihr zu spre­chen, doch die­se wink­te mit den Wor­ten ab: »Kei­ne Zeit.«

Nun war Ni­mu­es Neu­gier­de voll­kom­men ge­weckt und so schweb­te sie schnell in das Büro ih­res Groß­va­ters. Als sie dort an­kam, fand sie das Zim­mer ohne Aar vor, da­für mit ih­rer gro­ßen Schwes­ter So­phia. Die­se saß auf der Couch ge­gen­über dem Ka­min und las see­len­ru­hig ein Buch.

»So­phia«, platz­te es aus Ni­mue her­aus.

So­phia blick­te sie mit gro­ßen Au­gen an. »War­um er­schreckst du mich so? Du weißt, ich kann das nicht lei­den!«

»Was ist hier los? War­um geht es hier plötz­lich so hek­tisch zu?«, frag­te Ni­mue un­be­ein­druckt von der tie­fen Ton­la­ge ih­rer Schwes­ter.

»Ach so, das meinst du«, er­wi­der­te So­phia nun mit sanf­ter Stim­me, »wir be­kom­men Be­such. Der hat sich sehr kurz­fris­tig an­ge­kün­digt.«

Ni­mue schloss die Tür hin­ter sich und ging schnell auf So­phia zu.

»Wer ist es denn?«

»Rate mal?«

Ni­mue fing an, sich alle El­fen, Men­schen und an­de­re We­sen, die sie kann­te, bild­lich vor­zu­stel­len. Sie frag­te sich, wer einen sol­chen Wir­bel durch sei­nen Be­such ver­ur­sa­chen könn­te. Doch sie hat­te kei­ne Ah­nung und ver­mu­te­te: »Tan­te Hauch und Cara von der Zau­be­r­in­sel?«

»Nein«, er­wi­der­te So­phia gleich dar­auf mit ei­nem Kopf­schüt­teln.

»Ste­fan?«

»Nein. Wie du weißt, ist er ein Mensch und kann nur be­dingt bei uns blei­ben. Also, denk mal nach. Bald ist dein Ge­burts­tag und da be­kommst du …«

»Der Be­such kommt we­gen mir?«, un­ter­brach sie ihre Schwes­ter er­staunt.

»Yep, we­gen dir.«

Ni­mue streng­te sich nun noch mehr an, so­dass ihre Stirn Fal­ten zog. »Wer kann das nur sein?«, frag­te sie sich in Ge­dan­ken. Nach ei­ner Wei­le schoss es aus ihr her­aus: »Ka­tar, der Bru­der un­se­res Ur­groß­va­ters?«

So­phia sah sie zu­frie­den an. »Ge­nau, Ni­mue. Er kommt ex­tra we­gen dir und dei­nem Ua­ne­a­la-Tag. Es sieht so aus, als ob sie Gro­ßes mit dir vor­ha­ben.«

»Wie meinst du das, So­phia?«, woll­te Ni­mue ir­ri­tiert wis­sen.

»Na ja, Ka­tar hat Frank­reich noch nie ver­las­sen, um uns zu be­su­chen. Jetzt kommt er auf Bit­ten un­se­res Kö­nigs und das nur we­gen dei­nes Ge­burts­tags. Das soll doch et­was hei­ßen, oder?«

»Kö­nig!«, är­ger­te sich Ni­mue, ohne So­phia da­mit zu be­ein­dru­cken, denn sie moch­te es ganz und gar nicht, wenn ihre Ge­schwis­ter ih­ren Ur­groß­va­ter stets »Kö­nig« nann­ten. Für Ni­mue klang dies kalt und un­per­sön­lich. Er war ihr Ur­groß­va­ter und da­bei war es ihr egal, wel­chen Rang er in­ne­hat­te.

Ni­mue setz­te sich ne­ben ihre Schwes­ter auf die Couch und dach­te über Ka­tar nach. »Was hat mir Groß­va­ter al­les über ihn er­zählt?«, mur­mel­te sie vor sich hin. Dann ar­bei­te­te sie ge­dank­lich die be­reits er­hal­te­nen In­for­ma­ti­o­nen über Ka­tar ab. Sie wuss­te, dass er auf der gro­ßen Rei­se in Frank­reich ste­cken blieb, weil er eine Frau ken­nen- und lie­ben lern­te. Ka­tar leb­te von dort an mit Men­schen zu­sam­men und das in ei­nem klei­nen Häus­chen di­rekt am Meer. Ni­mue war sich si­cher, dass dies eine wun­der­schö­ne Ge­gend sein muss­te, da ihr Ur­groß­va­ter manch­mal da­von ge­schwärmt hat­te. Dort gab es viel Son­ne, das of­fe­ne Meer vor der Nase und gu­ten Käse. Alle El­fen lieb­ten gu­ten Käse und den fran­zö­si­schen moch­ten sie ganz be­son­ders gern.

»Weißt du et­was über Ka­tar, So­phia?«, frag­te Ni­mue.

So­phia war wie­der in ihr Buch ver­sun­ken und sah nur kurz auf, um zu er­wäh­nen: »Na­tür­lich, je­der weiß et­was über ihn.«

»Er ist Ur­groß­va­ters Lieb­lings­bru­der und muss ganz nett sein, oder?«

»Er ist der Bru­der un­se­res Kö­nigs, und viel­leicht ist er auch ganz nett. Aber jetzt lass mich end­lich le­sen, du Ner­ven­sä­ge«, for­der­te So­phia ihre klei­ne Schwes­ter ge­reizt auf.

»Wann kommt er bei uns an?«, frag­te sie den­noch und be­kam die knap­pe Ant­wort: »Mor­gen, glau­be ich.«

Ni­mue un­ter­drück­te noch wei­te­re Fra­gen, denn der scha­r­fe Blick ih­rer Schwes­ter zeig­te ihr, dass sie ein­deu­tig nicht mehr ge­stört wer­den woll­te. Auf Ze­hen­spit­zen ging sie in Rich­tung Tür, als die­se plötz­lich auf­sprang.

Ni­mue zuck­te zu­sam­men. Zur glei­chen Zeit kam ihre Groß­mut­ter Oona her­ein.

»Hal­lo, ihr bei­den.«

»Hal­lo«, hall­te Ni­mu­es und So­phi­as Stim­me syn­chron im Raum.

»Oma«, frag­te Ni­mue so­gleich, »be­sucht uns Ka­tar wirk­lich we­gen mei­nes Ge­burts­tags?«

»Ja, mei­ne Klei­ne, das tut er. Ist das nicht wun­der­schön?«

»Ja, Oma, das ist es.«

»Ich kom­me, um mit dir zu spre­chen, Ni­mue. Es ist an der Zeit, dass du dir über dei­nen Ge­burts­tags­wunsch ernst­haf­te Ge­dan­ken machst. Du weißt ja, dass du ihn ge­nau um 13 El­fen­stun­den nach Null vor al­len Gäs­ten aus­spre­chen darfst?«

»Ja, Oma, ich weiß«, be­merk­te Ni­mue auf­ge­regt. Ihre Wan­gen rö­te­ten sich leicht.

Da sprang die Tür noch ein­mal auf und Ni­mu­es Ge­schwis­ter Ma­rie und Aoi­fe ka­men her­ein.

»Hey, Ni­mue«, sag­te Aoi­fe, »eh­ren­vol­le Fei­er, huh? Die ha­ben wohl Gro­ßes mit dir vor.«

Nun hör­te Ni­mue die­se Aus­sa­ge das zwei­te Mal in der glei­chen Stun­de, was sie zu­neh­mend ir­ri­tier­te. »Was hat das zu be­deu­ten? Gro­ßes! Was ist eh­ren­voll groß oder mei­nen sie et­was ganz an­de­res?«, grü­bel­te sie nach, wäh­rend Oona mit Aoi­fe sprach.

Dann wand­te sich Oona wie­der Ni­mue zu. Sie setz­ten sich vor das Fens­ter auf zwei Holz­stüh­le und blick­ten hin­aus, wäh­rend sich die drei Schwes­tern im Hin­ter­grund laut­stark un­ter­hiel­ten.

»Oma, was hat man mit mir vor?«, woll­te Ni­mue wis­sen, fast ängst­lich auf die Ant­wort war­tend.

Oona lach­te. »Kei­ne Angst, mei­ne Klei­ne, nichts, was dir Sor­gen be­rei­ten soll­te.«

Dies war für Ni­mue eine äu­ßerst un­be­frie­di­gen­de Ant­wort. Was soll­te das hei­ßen: sich kei­ne Sor­gen ma­chen? Al­lein das Wort Sor­gen in die­sem Zu­sam­men­hang zu be­nut­zen, be­rei­te­te ihr schon ein un­an­ge­neh­mes Ge­fühl. Sie wuss­te, dass es sich nicht ge­hör­te, wei­ter nach­zu­fra­gen, konn­te ihre gro­ße Neu­gier­de aber nicht im Zaum hal­ten und frag­te un­ge­ach­tet des­sen: »Was ge­nau soll mir kei­ne Sor­gen be­rei­ten?«

»Dar­über wird dir dein Ur­groß­va­ter be­rich­ten, Ni­mue. Hab Ge­duld.«

»Aha«, dach­te sich Ni­mue, »jetzt ist es aus­ge­spro­chen.« Für sie war das eine kla­re Ant­wort, denn wenn sich ihr Ur­groß­va­ter da­mit be­schäf­tig­te, war es et­was Gro­ßes. Was auch im­mer groß be­deu­te­te, war ihr in die­sem Zu­sam­men­hang al­ler­dings nicht be­wusst.

»Lass dei­nen Ge­dan­ken frei­en Lauf, mei­ne Klei­ne. Ein Wunsch soll sich dir zei­gen. Erst, wenn du dir zu hun­dert Pro­zent si­cher bist, mein Kind, lass uns dar­über spre­chen. Ich bin im­mer für dich da.«

»Das ma­che ich, Oma.«

Der Wunsch, zu rei­sen und bei Cara auf der Zau­be­r­in­sel zu le­ben, war na­tür­lich prä­sent. Doch Ni­mue dach­te auf ein­mal, war­um nicht meh­re­re Wün­sche in Be­tracht zie­hen, um die­se dann mit ih­rer Groß­mut­ter zu be­spre­chen.

Als ers­tes kam ihr ein Pferd in den Sinn und zwar ein ganz be­son­de­res We­sen der Zau­ber­welt, das nur we­ni­ge be­sa­ßen. Es war schnel­ler, flin­ker, in­tel­li­gen­ter und grö­ßer als alle an­de­ren Pfer­de. Die El­fen nann­ten die­se Pfer­deras­se Tara, da Tara über­setzt Stern hieß, und ein sol­cher wies die­sen Ge­schöp­fen den Weg, um stets si­cher an ihr Ziel zu kom­men.

Die­se Tie­re wa­ren be­son­de­re Be­schüt­zer ih­rer Be­sit­zer. Durch ihre aus­ge­präg­te Sen­si­bi­li­tät konn­ten sie Emo­ti­o­nen al­ler Art früh­zei­tig auf­spü­ren und bei Ge­fahr han­deln. Sie wa­ren wun­der­schö­ne Pfer­de, die durch ihre leicht grün-bräun­li­che Fa­r­be mit der Na­tur bei­na­he ver­schmol­zen. Ihre Ras­se be­saß die Fä­hig­keit, sich je­der Um­welt an­zu­pas­sen, und wenn sie woll­ten, konn­ten sie sich den Men­schen sicht­bar ma­chen. Das mach­ten sie je­doch nur sehr sel­ten und so wur­de vie­ler­orts auf der Erde von den ge­heim­nis­vol­len Wind­böen ge­spro­chen, die un­sicht­bar an ih­nen vor­bei­rausch­ten.

»Un­er­klär­li­che na­tür­li­che Phä­no­me­ne« nann­te man sie, die die Men­schen mit na­tur­wis­sen­schaft­li­chen For­meln zu deu­ten ver­such­ten. Doch konn­ten sie die­sen Wind­s­tö­ßen nie auf den Grund ge­hen, und so blie­ben sie ih­nen ein ewi­ges Rät­sel.

Das Bild ei­nes Tara-Pferds ver­schwamm vor Ni­mu­es Au­gen, wor­auf ihre Ge­dan­ken ab­schweif­ten. Sie mur­mel­te: »Be­deu­tet das Wort Gro­ßes im­mer et­was Po­si­ti­ves? Oder hat es wo­mög­lich mit mei­ner feh­len­den Dis­zi­plin zu tun, vor al­lem in Be­zug auf die­se dif­fu­sen Re­geln, die man­che Leh­rer auf­stel­len. Mein neu­er Kunst­leh­rer, viel­leicht hat er …?« – Ni­mue stock­te und schüt­tel­te den Kopf – »nein, das kann es nicht sein.«

Ihr wur­de be­wusst, dass sie im Grun­de im­mer flei­ßig war. Au­ßer­halb ih­rer Un­ru­he und ih­rer manch­mal ab­leh­nen­den Art auf die für sie un­sin­ni­gen Schul­re­geln zu re­a­gie­ren, hat­te sie kei­ne Ab­mah­nun­gen er­hal­ten. Die für sie schlüs­si­gen Re­geln be­folg­te sie in der Tat.

»Was kann es nur sein?«, frag­te sie sich dar­auf­hin wie­der und wie­der, ob­wohl sie sich doch ei­gent­lich mit ih­rem Wunsch be­schäf­ti­gen soll­te. Sie fand kei­ne Ant­wort und so fin­gen ihre Ge­dan­ken an, sich wild im Kreis zu dre­hen. Ein Wirr­warr von Mög­lich­kei­ten brei­te­te sich aus. Da­bei be­merk­te sie, dass sie lei­se vor sich hin­plap­per­te. Sie schreck­te auf und sah um sich. Im Raum herrsch­te eine ge­spens­ti­sche Stil­le. Sie dreh­te sich um und blick­te in die Au­gen ih­rer Ge­schwis­ter, die alle auf sie ge­rich­tet wa­ren. So­gar So­phia kon­zen­trier­te sich nicht mehr auf ihr Buch. In die­sem Mo­ment spür­te Ni­mue, wie sich ihr Nacken lang­sam zu­sam­men­zog.

Oona be­merk­te ihre An­span­nung und ver­such­te, sie zu be­ru­hi­gen: »Kei­ne Angst, es wird dir ge­fal­len.«

Die­se Aus­sa­ge be­ru­hig­te Ni­mue tat­säch­lich, denn es war ein­deu­tig kein Mahn­ruf. Trotz­dem war das Wort es im­mer noch un­de­fi­nier­bar. Hat­te sie viel­leicht über den Wunsch und nicht über das gro­ße, eh­ren­vol­le Et­was ge­spro­chen? Ni­mue fühl­te sich in­ner­lich zer­ris­sen, als ihre Groß­mut­ter auf­stand.

Oona leg­te ihre Hand be­hut­sam auf Ni­mu­es lin­ke Schul­ter. »Komm, lass uns ins Ge­wächs­haus ge­hen.«

Ni­mue folg­te ihr so­gleich, wäh­rend sie zu­stim­mend nick­te, denn das Ge­wächs­haus war der Lieb­lings­platz ih­rer Groß­mut­ter. Dort herrsch­ten zwi­schen all den Pflan­zen Stil­le und Ge­bor­gen­heit und so fan­den an die­sem Ort vie­le wich­ti­ge Ge­sprä­che statt.

Im Gar­ten an­ge­kom­men, ent­deck­te Ni­mue mit Freu­de, dass die ver­schie­dens­ten Blu­men­ar­ten be­reits in vol­ler Pracht er­b­lüh­ten. Sie sah Pas­si­ons­blu­men, Ka­me­li­en, Li­li­en, Son­nen­blu­men, Ei­sen­hü­te, Ar­nika­kräu­ter, Glo­cken­blu­men, Stief­müt­te­r­chen und noch vie­le Pflan­zen mehr. Die Fa­r­ben ver­misch­ten sich vor ih­ren Au­gen, als ob ein bun­ter Blu­men­tep­pich vor ihr lie­gen wür­de.

Nach die­ser Blu­men- und Kräu­ter­viel­falt durch­streif­ten sie einen Be­reich des Gar­tens, der ein­zig und al­lein den Ro­sen ge­wid­met war. Auch sie blüh­ten in ih­ren präch­tigs­ten Fa­r­ben. Ni­mue lä­chel­te bei die­sem schö­nen An­blick. Die Rose war ihre Lieb­lings­blu­me, vor al­lem die, die hell­ro­sa­fa­r­be­ne Blü­ten hat­te. Als sie eine sol­che ent­deck­te, blieb sie ste­hen, um an ihr zu rie­chen.

»Dei­ne Blu­men sind so schön, Oma«, be­merk­te Ni­mue.

»Dan­ke! Ich wür­de mich sehr freu­en, wenn du mir öf­ters bei der Pfle­ge hilfst.«

Ni­mue nick­te zu­stim­mend, wäh­rend sie ihr in ein Ge­wächs­haus folg­te, in dem Ge­mü­se an­ge­baut wur­de. Als sie die­ses durch­quer­ten, sah sie durch ein Ab­trenn­glas eine tief­ro­te Fa­r­be schim­mern. Da­hin­ter wa­ren gro­ße To­ma­ten, die an Sträu­chern hin­gen und sie durch ihre Schwe­re nach un­ten drück­ten.

»Oma, die sind aber groß ge­wor­den«, mein­te Ni­mue und deu­te­te auf einen Strauch mit vie­len un­ter­schied­lich gro­ßen To­ma­ten.

»Das stimmt. Die­se be­son­ders saf­ti­ge Fleisch­to­ma­te ha­ben wir ex­tra für dei­nen Ge­burts­tag an­ge­baut«, er­wi­der­te Oona, »und auch den Rest, den du hier siehst. Das wird ein gro­ßes Fest, Ni­mue.« Sie zeig­te mit ih­rer Hand auf die vie­len un­ter­schied­li­chen Ge­mü­se- und Obst­sor­ten rund­her­um.

Der Raum war groß und lang ge­zo­gen und an bei­den En­den mit Glas­schei­ben von an­de­ren Ge­wächs­häu­sern ab­ge­trennt. Auf ei­ner Sei­te er­blick­te Ni­mue in sorg­fäl­tig an­ge­bau­ten Rei­hen Ka­rot­ten, Lauch, Sel­le­rie, Kar­tof­feln und meh­re­re Sa­lat­sor­ten. Auf der an­de­ren Sei­te war das Obst. Klei­ne Bäu­me voll mit Früch­ten rag­ten aus dem Bo­den.

Sie sah so vie­le ver­schie­de­ne Obst- und Ge­mü­se­sor­ten, dass sie staun­te: »Oh, so viel Obst und Ge­mü­se, und das al­les nur für mei­nen Ge­burts­tag.«

Oona nahm der­wei­len an ei­nem klei­nen Tisch in der Mit­te des Rau­mes Platz. Ni­mue tat das Glei­che und hör­te die Wor­te ih­rer Groß­mut­ter, wäh­rend ihre Au­gen wei­ter auf die Fül­le der au­ßer­ge­wöhn­li­chen Früch­te ge­rich­tet wa­ren.

»Also, mei­ne Klei­ne, du weißt, dass du zum 130s­ten Ge­burts­tag einen Wunsch frei hast.«

Ni­mue nick­te und wand­te sich ih­rer Groß­mut­ter zu.

»Pass gut auf, was du dir wünschst, Ni­mue, denn Seo­ras wird es dir ge­wäh­ren. Die Tra­di­ti­on un­se­res El­fen­stam­mes be­sagt, dass je­der Elfe an ih­rem Ua­ne­a­la-Tag ein Wunsch er­füllt wer­den muss. Da gibt es so gut wie kei­ne Aus­nah­men. Also, was ich da­mit sa­gen will, ist ganz ein­fach: Wünsch dir et­was, das du wirk­lich willst, und sei dir im Kla­ren dar­über, dass es in Er­fül­lung ge­hen wird.«

Ni­mue er­wi­der­te freu­dig: »Ja, Oma. Soll ich dir mei­nen größ­ten von al­len Wün­schen sa­gen?«

»Nein, nicht so vor­schnell. Denk dar­über nach. Du hast noch zehn Tage Zeit. Geh in dich und fin­de dort die Wahr­heit dei­ner Wün­sche, denn je nach­dem könn­te er dein Le­ben stark ver­än­dern. Dies ist der ers­te Schritt zum Er­wach­sen­wer­den, Ni­mue. Hand­le wei­se und wohl­über­legt. Stell dir die Fra­gen: was und war­um du es dir wünschst, und da­nach, wel­che Fol­gen es für dich, dein Le­ben und auch für dei­ne Fa­mi­lie ha­ben wird.«

Auf ein­mal fühl­te Ni­mue eine Schwe­re, die sich lang­sam in ih­rer Brust aus­brei­te­te. War es nun so weit, soll­te sie jetzt für ihre Ent­schei­dun­gen al­lein ver­ant­wort­lich sein? War sie schon be­reit da­für? Konn­te sie die vol­le Trag­wei­te be­grei­fen, die ihre Groß­mut­ter von ihr ver­lang­te? Oder ver­stand sie ihre Wor­te falsch?

»Oma, kann ich nicht mit dir und Opa über mei­nen Wunsch spre­chen?«

Oona schüt­tel­te leicht den Kopf.

»Wir müs­sen ja nicht über den einen gro­ßen re­den. Viel­leicht über die vie­len an­de­ren klei­ne­ren?«, schlug Ni­mue dar­auf­hin vor.

»Nein, dein Wunsch und du, ihr sollt eine Ein­heit dar­stel­len. Ich mei­ne, kei­ne äu­ße­ren Ein­flüs­se sol­len da­bei auf dich ein­wir­ken. Ge­nau­er ge­sagt, dein Wunsch soll frei von an­de­ren ge­hegt, ge­pflegt und ge­stellt wer­den.«

Ni­mue ver­stumm­te, wäh­rend sie über die Wor­te ih­rer Groß­mut­ter nach­dach­te.

»Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben. Wenn du dei­ner in­ne­ren Stim­me folgst und dir Zeit gibst, sie zu ver­ste­hen, kann dir nichts pas­sie­ren. Die nächs­ten Tage wer­den sehr wich­tig für dich sein. Nimm dir Zeit und vor al­lem gib dir Ruhe, denn nur in Ruhe kannst du dich rich­tig ent­schei­den.«

»In­ne­re Stim­me?«, dach­te Ni­mue, »Hat mir Opa nicht auch schon da­von er­zählt?«

Ni­mue konn­te sich nicht mehr er­in­nern, wie ge­nau ihre in­ne­re Stim­me klin­gen soll­te und noch dazu hat­te sie den Wunsch zu rei­sen und die Welt zu ent­de­cken. Soll­te sie trotz­dem mit ih­rer in­ne­ren Stim­me spre­chen? Ihr viel­leicht so­gar den Wunsch sa­gen und ihre Mei­nung dazu hö­ren? Viel­leicht ten­diert ihre in­ne­re Stim­me ja mehr zu ei­nem Tara-Pferd, ist sich Ni­mue nun un­si­cher.

Da woll­te sie wis­sen: »Ist die in­ne­re Stim­me die, die mich mei­nem Traum nä­her­bringt oder die, die mir mei­nen Wunsch be­stä­tigt?«

»Dei­ne in­ne­re Stim­me ist die Stim­me dei­ner See­le und sie ent­spricht der höchs­ten Wahr­heit.«

»Aha«, staun­te Ni­mue.

»Du sollst in dich hin­ein­füh­len und ge­nau hin­hö­ren, denn durch un­ge­sun­de Emo­ti­o­nen kann es pas­sie­ren, dass du kei­nen di­rek­ten, rei­nen Zu­gang zu dei­ner in­ne­ren Stim­me hast.« Oona blick­te in Ni­mu­es ir­ri­tier­tes Ge­sicht und er­kann­te, dass sie ihre Aus­sa­ge nicht im De­tail ver­stand. Des­halb hol­te sie ein Bei­spiel her­vor: »Ich mei­ne, und das ist wirk­lich nur ein Bei­spiel, du wünschst dir eine spre­chen­de Pup­pe, al­ler­dings nur, weil alle in dei­nem Al­ter eine sol­che be­sit­zen. Die­ser Wunsch ist von der Emo­ti­on ge­tra­gen, die ei­nem Mus­ter und der dar­aus re­sul­tie­ren­den Vor­stel­lung folgt. Alle ha­ben die­se eine Pup­pe, also willst du auch eine. Das gilt auch dann, wenn die Ei­fer­sucht kei­ne oder nur eine ge­rin­ge Rol­le da­bei spielt. Er­kennst du den Ur­sprung nicht, kann dir der wah­re, tief in dir ver­steck­te Wunsch ver­bor­gen blei­ben. Du denkst an die Pup­pe und kon­zen­trierst dich al­lein dar­auf. Lei­der ist es üb­lich, dass die äu­ße­re Scha­le, also das Ober­fläch­li­che und des­sen Ge­ge­ben­hei­ten, uns oft mehr im Griff ha­ben, als un­ser schö­nes in­ne­res Ich.«

»Aha«, äu­ßer­te sich Ni­mue noch ein­mal vol­ler Ehr­furcht über das gro­ße Wis­sen ih­rer Groß­mut­ter. »Wie kann ich mei­ne in­ne­re Stim­me klar hö­ren? Und vor al­lem, wie weiß ich, ob der Wunsch von au­ßen oder in­nen ge­steu­ert wird?«

»Lass dir Zeit und komm zur Ruhe. Hek­tik und Stress hal­ten dich da­von ab, und ver­su­che jeg­li­che Emo­ti­o­nen von dir fern zu hal­ten. Denk nur an dein in­ne­res Ich und ler­ne es ken­nen.«

Ni­mue zwei­fel­te plötz­lich an ih­rem Wunsch. Woll­te sie wirk­lich bei ih­rer Cou­si­ne auf der Zau­be­r­in­sel le­ben? Oder war es nur, weil es Cara tat und ihr die Ge­schich­ten so im­po­nier­ten? Steck­te da­hin­ter wo­mög­lich eine ver­steck­te Ei­fer­sucht ih­rer Cou­si­ne ge­gen­über? Sie wuss­te es nicht und frag­te ver­zwei­felt: »Oma, was soll ich tun?«

»Geh an Plät­ze der Ein­sam­keit, an de­nen du dich wohl­fühlst und den­ke über dei­nen gro­ßen Wunsch nach. Geh in dich und ver­su­che her­aus­zu­fin­den, ob die­ser oder ein an­de­rer Wunsch es sein soll, und wer­de dir über des­sen Trag­wei­te be­wusst.« Die gro­ßen ver­un­si­cher­ten Au­gen von Ni­mue mach­ten Oona Sor­gen und sie füg­te hin­zu: »Kei­ne Angst, mei­ne Klei­ne, du wirst dein wah­res Ich fin­den. Das Er­wach­sen­wer­den kann ei­ner je­den Elfe Angst ma­chen. Das muss es aber nicht, denn meis­tens sieht al­les viel schlim­mer aus, als es in der Wahr­heit ist.«

»Aber was pas­siert, wenn ich mir et­was wün­sche, das für an­de­re Fol­gen hat, die ich nicht auf An­hieb er­ken­nen kann? Fol­gen für mich und an­de­re hat es doch in je­dem Fall, nicht wahr?«

»So­lan­ge kei­ne bö­sen Ab­sich­ten da­hin­ter­ste­cken und du nie­man­den wil­lent­lich ver­letzt, sol­len die Aus­wir­kun­gen kein hin­der­li­cher Grund sein.« Oona blick­te Ni­mue tief in die Au­gen. Da­bei strich sie ihr sanft über die Wan­ge. Gleich dar­auf wech­sel­te Oona das The­ma: »In ein paar Ta­gen ist hier Ern­te­zeit. Dann wer­den wir ein gro­ßes Mahl für dich und dei­ne Gäs­te vor­be­rei­ten. Ei­nes kann ich dir schon ver­ra­ten: Dei­ne Lieb­lings­nach­spei­se, sü­ßer Ge­mü­se­brei, ist auch da­bei.« Sie lä­chel­te ihre En­ke­lin lie­be­voll an.

»Kommt Ka­tar wirk­lich nur we­gen mir?«, frag­te Ni­mue nun freu­de­strah­lend.

»Ja, das tut er.«

»We­gen et­was Gro­ßem, das er oder wer an­de­res mit mir vor­hat oder mir schenkt, nicht wahr?«

Oona nick­te.

»Was ist et­was Gro­ßes, Oma?«

»Du bist des Kö­nigs Lieb­lings­en­ke­lin und al­lein das ist schon et­was Gro­ßes. Zu­dem bist du et­was ganz Be­son­de­res, mei­ne klei­ne Rao’ra. Dei­ne Auf­ge­weckt­heit und Le­bens­freu­de, dein aus­ge­präg­ter Sinn für Wahr­heit, dei­ne Lie­be zur Na­tur und den Tie­ren, dei­ne Of­fen­heit und fröh­li­che Ener­gie, dein Sinn für Gleich­be­rech­ti­gung und Gleich­heit un­ter al­len, dei­ne Treue zu dei­nen Lie­ben, dei­ne In­te­gri­tät und dein gro­ßer Glau­be an all das, was wir be­sit­zen, all dies und noch vie­les mehr ma­chen dich ein­zig­ar­tig.«

Ni­mue war ver­blüfft über das so­eben Ge­sag­te. »Ist nicht je­der so, Oma?«

Oona lach­te. »Nein, mein Kind, nicht je­der kann die­se We­sens­merk­ma­le sein Ei­gen nen­nen. Siehst du die­se To­ma­ten hier?« Oona zeig­te auf einen Strauch vol­ler ro­ter Pa­ra­dei­ser.

Ni­mue nick­te.

»Sie sind alle vom glei­chen Stamm, aber kei­ne gleicht der an­de­ren.«

Ni­mue nick­te er­neut. Sie hat­te ver­stan­den. Auch wenn man von der­sel­ben El­fen­ras­se ab­stammt, je­der ist ein­zig­ar­tig und hat un­ter­schied­li­che We­sens­ei­gen­schaf­ten, und man­che be­sit­zen die glei­chen An­la­gen, nut­zen sie aber un­ter­schied­lich. Da ent­deck­te sie zwei To­ma­ten, die an ei­nem Zweig ne­ben­ein­an­der hin­gen. Sie sa­hen bei­na­he iden­tisch aus, den­noch hat­te die eine einen klei­nen grü­nen Fleck. Ni­mue grins­te.

»Darf ich bei der Ern­te da­bei sein?«

»Wenn du willst«, er­wi­der­te Oona mit Freu­de, »na­tür­lich.«

Stun­den spä­ter saß Ni­mue in ih­rem Zim­mer und grü­bel­te über die Wor­te ih­rer Groß­mut­ter nach. Sie war un­ge­dul­dig und woll­te so­bald wie mög­lich mit ih­rer in­ne­ren Stim­me spre­chen, um ih­ren wah­ren Wunsch zu er­fah­ren. Doch wie soll­te sie das an­stel­len? Da dach­te sie an ih­ren Lieb­lings­platz im Wald. Schlag­ar­tig sprang sie auf und ver­ließ mit schnel­len Schrit­ten das Zim­mer. Über den Ar­ka­den­gang und die dar­auf­fol­gen­de Ein­gangs­hal­le lief sie in den Schloss­hof hin­aus. Kurz dar­auf pas­sier­te sie die Pfer­de­stäl­le und ei­ni­ge Hun­de­häu­ser und ver­ließ den Hof in Rich­tung Wald. In die­sem hat­te sie ein klei­nes Ver­steck, eine klei­ne Höh­le im Baum­stamm ei­ner präch­ti­gen Ei­che. Klein war sie nur der­art, dass im Ver­hält­nis zur Ge­samt­hö­he des Baum­stam­mes von drei Me­tern eine cir­ca zwei Me­ter hohe Aus­höh­lung ge­rin­ger war.

Die­ser Ort war ihr Rü­ck­zugs­punkt, wann im­mer sie Streit mit ih­ren Ge­schwis­tern hat­te oder an­de­re Sor­gen sie plag­ten. Nie­mand kann­te die­ses Ver­steck, au­ßer ei­ni­ge Wald­be­woh­ner und na­tür­lich der Baum selbst. Sie nann­te ihn Aaro, von ih­rem Groß­va­ter Aar ab­ge­lei­tet, denn die­ser Name gab ihr das Ge­fühl von Stär­ke. Bei­de hat­ten für Ni­mue alte Wur­zeln, einen gro­ßen Stamm­baum und stets kraft­vol­le und wei­se Wor­te. Dem Baum war es egal, wie sie ihn nann­te. Für ihn zähl­te aus­schließ­lich ihre gute Freund­schaft. In Wirk­lich­keit je­doch war sein Name Amur und da nahm er ein­mal schmun­zelnd an: »Aaro äh­nelt Amur so­gar ir­gend­wie. Hm, so ein biss­chen.«

Kurz be­vor Ni­mue ih­ren Freund se­hen konn­te, rief sie laut: »Hal­lo, Aaro.«

»Hal­lo, Ni­mue«, hall­te es im Wald wi­der.

Nur noch ein paar Schrit­te und schon stand sie vor ihm. Sie hol­te tief Luft, als er frag­te: »Wie geht es dir?«

»Ei­gent­lich gut.«

»Was heißt ei­gent­lich?«

»In zehn Ta­gen habe ich doch Ge­burts­tag. Bis da­hin soll ich mir über mei­nen Wunsch im Kla­ren sein.« Sie zuck­te mit ih­ren Schul­tern. »Aber wie soll das ge­hen?«

Ni­mue run­zel­te ihre Stirn der­art tief, dass Aaro lach­te.

Dann fiel ihr Ka­tar ein und ihre Ge­sichts­zü­ge er­hell­ten sich. Mit dem Feu­er der Vor­freu­de spru­del­te es aus ihr her­aus: »Hast du ge­wusst, dass Ka­tar bald zu uns kommt?«

»Die Vö­gel ha­ben mir da­von be­rich­tet. Das ist eine gro­ße Ehre, Ni­mue. Ka­tar war noch nie­mals hier bei uns im Reich Shen­ja.«

»Ich weiß, Aaro. Ich freue mich sehr dar­über. Aber war­um ma­chen alle so ein Tamtam dar­aus?«

»Was meinst du mit Tam Tam?«

»Mei­ne Schwes­tern be­haup­ten, dass Ka­tar nur des­halb kommt, weil mein Ur­groß­va­ter et­was Gro­ßes mit mir vor­hat. Noch dazu hat mich Oma auf mei­nen Wunsch an­ge­spro­chen. Jede Elfe darf doch zu ih­rem 130s­ten Ge­burts­tag einen gro­ßen Wunsch aus­spre­chen.« Ni­mue zog ihre lin­ke Au­gen­braue fra­gend hoch.

»Kla­ro, und was wünschst du dir?«

»Ei­gent­lich woll­te ich …«, stot­ter­te Ni­mue, »ei­gent­lich, du weißt doch, Cla­ra und die Zau­be­r­in­sel, hm, aber jetzt …«

Aaro lach­te, so­dass sich sei­ne Äste wild um­her­be­weg­ten. »So, so, was nun?«

»Ich weiß es jetzt auch nicht mehr. Oma sagt, ich muss erst mit mei­ner in­ne­ren Stim­me spre­chen, um dann her­aus­zu­fin­den, was ich wirk­lich will. Kei­ne Ah­nung, was mir mei­ne in­ne­re Stim­me sagt.«

»Ach so, die in­ne­re Stim­me«, er­wi­der­te der Ei­chen­baum mit ru­hi­gen, lang­schwin­gen­den Tö­nen.

»Kennst du die in­ne­re Stim­me?«, platz­te es aus Ni­mue her­aus, denn sie hat­te das Ge­fühl, dass sei­ne letz­ten Wor­te dar­auf deu­te­ten.

»Ja, die ken­ne ich schon. Mit der spre­che ich im­mer, wenn ich mir mit Ent­schei­dun­gen ganz si­cher sein muss.«

»Mit mei­ner in­ne­ren Stim­me?«, staun­te Ni­mue.

»Nein, mit mei­ner na­tür­lich!«

»Aha, und wie machst du das?«

»Ganz ein­fach: ich gehe in mich und las­se mich von nie­man­den rund­her­um stö­ren.« Dann er­hob er sei­ne Stim­me, so­dass ihn auch die um­lie­gen­den Bäu­me hö­ren konn­ten. »Was hier in die­sem Wald wirk­lich schwer ist, mit all den Plap­per­mäu­lern um mich her­um.« Da­nach senk­te sich sei­ne Stim­me wie­der, als er frag­te: »Des­halb kommst du heu­te zu mir, oder?«

Ni­mue nick­te. »Weißt du, wie ich mit mei­ner in­ne­ren Stim­me spre­chen kann? Das habe ich noch nie ge­macht.«

»Das musst du sel­ber her­aus­fin­den. Je­der hat sei­ne ei­ge­ne Art und Wei­se, mit sei­ner in­ne­ren Stim­me zu kom­mu­ni­zie­ren. Ich habe ge­hört, dass man­che Men­schen ex­tra auf Her­ren­chiem­see fah­ren, um dort zu me­di­tie­ren. Weißt du, Ni­mue, dort ist es be­son­ders still.«

»Me­di­tie­ren, was ist denn das?«

»Sie set­zen sich mit ver­schränk­ten Bei­nen auf den Bo­den. Man­che le­gen die Hän­de auf die Knie und hal­ten ihre ers­ten drei Fin­ger vom Dau­men an zu­sam­men. An­de­re hal­ten sie in Ge­bets­stel­lung, das heißt, ihre fla­chen Hän­de auf­ein­an­der­ge­legt in Höhe der Brust. Ich glau­be, dass der Schnei­der­sitz zu ei­ner bes­se­ren Kör­per­hal­tung bei­trägt. An­sons­ten, den­ke ich, dass dei­ne Sitz­hal­tung egal ist, und auch, wie du dei­ne Hän­de da­bei hältst. Ma­che es ein­fach so, dass du dich wohl­fühlst. An­de­ren­falls wird es schwie­rig.«

»Was wird schwie­rig?«, pack­te sie die Neu­gier­de.

»Na ja, wenn die Men­schen in die­ser Po­si­ti­on am Bo­den sit­zen, dann ge­hen sie in sich, den­ke ich. Des­we­gen tun sie es ja! Da­für ist es wich­tig, dass der Kör­per ih­nen Ruhe ver­schafft und nicht an al­len Ecken und En­den schmerzt.«

»In sich ge­hen«, wie­der­hol­te Ni­mue, »das habe ich jetzt schon öf­ter ge­hört. Was ist denn da in mir?«

»Dei­ne See­le, Ni­mue, das weißt du doch.«

Ni­mue nick­te, nur we­nig über­zeugt, ihre See­le zu ken­nen, und er­wi­der­te: »Viel­leicht. Und sie ist mei­ne in­ne­re Stim­me, nicht wahr?«

»Mehr oder we­ni­ger, so ganz ge­nau weiß ich das auch nicht. Das musst du sel­ber her­aus­fin­den.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Lass den Kopf nicht hän­gen, das ist nicht so schwer, wie du meinst. Pro­bie­re es aus und habe Ge­duld mit dir.«

»Ge­duld?! Ich muss in ge­nau zehn Ta­gen, in der 13ten El­fen­stun­de nach Null, mei­nen Wunsch aus­spre­chen, und was, wenn ich bis da­hin mei­ne in­ne­re Stim­me nicht ge­fun­den habe und sie mir nichts über mei­nen wah­ren Wunsch sa­gen konn­te?«

Aaro lach­te laut auf. Da­bei fin­gen sei­ne Äste an, wie wild um­her­zu­sch­win­gen. Ni­mue muss­te ei­nem aus­wei­chen, in­dem sie einen Schritt zu­rück­sprang.

Ein we­nig ver­är­gert be­ton­te sie dar­auf­hin: »Lus­tig fin­de ich das über­haupt nicht!«

»Geh hin­ein, ich ma­che es dir ge­müt­lich warm.«

»Dan­ke« mur­mel­te sie und ver­schwand in der Höh­le im Bau­min­ne­ren.

Sie be­grüß­te Stúh­ly, die Stuhlda­me, die im In­ne­ren der Baum­höh­le leb­te. Ni­mue deu­te­te an, sich set­zen zu wol­len, doch vor­her muss­te sich Stúh­ly nach rechts und links aus­deh­nen.

Seit Lan­gem war Stúh­ly mehr als ge­nervt, dass sich Ni­mue kei­nen grö­ße­ren Stuhl zu­leg­te. Zum einen mach­te ihr das Deh­nen zu schaf­fen, zum an­de­ren hät­te sie ger­ne einen Spiel­ge­fähr­ten ge­habt. Der Ei­chen­baum je­doch hat­te da et­was Ent­schei­den­des da­ge­gen, und so konn­te auch Ni­mue nicht über sei­nen Kopf hin­weg Ent­schei­dun­gen fäl­len.

Stúh­ly räus­per­te sich und Ni­mue setz­te sich. Da hör­ten sie das Ra­scheln von Blät­tern. Es war Aaro, der sei­nen Stamm von au­ßen schloss, in­dem er Ei­chen­blät­ter auf den Ein­gang leg­te. Dar­auf­hin kehr­te eine Stil­le ein. Nur noch ein paar Wür­mer und Kä­fer un­ter­hiel­ten sich mit­ein­an­der. An­sons­ten war da nichts; nicht ein­mal das Atem­ge­räusch der Ei­che war mehr zu hö­ren.

»Hey«, be­grüß­te Ni­mue un­er­war­tet ein klei­ner ro­ter Kä­fer.

»Hal­lo.«

Aaro hat­te dies ge­hört und so­gleich hall­te sei­ne tie­fe Stim­me im Raum: »Halt dein Maul, Stein­kä­fer Lili! Ni­mue braucht voll­kom­me­ne Ruhe. Sie soll ihre in­ne­re Stim­me fin­den. Da braucht sie dein Ge­schwätz ganz be­stimmt nicht.«

Der Kä­fer ki­cher­te, be­vor er flüs­ternd, den­noch mit ei­nem spöt­ti­schen Un­ter­ton mein­te: »Die in­ne­re Stim­me, haha. Viel Glück, Ni­mue, ich will dich nicht wei­ter stö­ren.«

Ni­mue ant­wor­te­te nicht, denn ei­gent­lich war sie froh, dass Lili da war. Ab­len­kung ist im­mer gut, wenn man nicht wei­ter­weiß.

Als der Kä­fer wie­der ver­schwun­den war, flüs­ter­te sie: »Nun gut, mei­ne in­ne­re Stim­me, ich bin ru­hig und könn­te dir zu­hö­ren.«

Sie war­te­te ein paar Mi­nu­ten, dann eine hal­be Stun­de, und nichts ge­sch­ah. Ein­fach nichts, kei­ne Ant­wort.

»In­ne­re Stim­me«, rief sie in Ge­dan­ken, »wo bist du?«

Es pas­sier­te er­neut nichts, ein­fach nichts. Dann über­wäl­tig­te sie die Un­ge­duld und sie be­schwer­te sich: »War­um sprichst du nicht mit mir?«

Aaro hol­te tief Luft. Das da­durch ver­ur­sach­te lau­te Ge­räusch durch­flu­te­te die klei­ne Höh­le.

Ni­mue wuss­te, dass er we­gen ihr tief at­men muss­te, denn er mach­te dies im­mer, wenn er ihr si­gna­li­sie­ren woll­te, dass sie et­was schon kön­ne und sich nicht so an­stel­len soll­te.

»Gut«, er­mu­tig­te sie sich, »ich schaf­fe es!«

Da hör­te sie ein lau­tes, schnell auf­ein­an­der­fal­len­des Knacken. Ihr Freund lach­te über sie. Nun pack­te sie der Ehr­geiz und sie woll­te ihm be­wei­sen, dass sie es tat­säch­lich konn­te.

Sie for­der­te Stúh­ly auf: »Lie­ber Stuhl, bit­te öff­ne dei­ne Arme, so­dass ich auf­ste­hen kann.«

Gleich dar­auf dehn­ten sich die Stuhlar­me seit­lich weg. Ni­mue stand auf und streck­te ih­ren Kör­per. Da­nach setz­te sie sich auf den Bo­den und ver­schränk­te ihre Bei­ne. Sie ver­such­te die Ge­bets­stel­lung, dann die Drei­fin­ger-Hand­stel­lung und schließ­lich leg­te sie ihre Hän­de im Schoß auf­ein­an­der. Sie spür­te, dass die letz­te Po­si­ti­on die rich­ti­ge für sie war und blieb da­bei. Dann fing sie an, ih­ren Geist zu stär­ken, in­dem sie den gan­zen Fo­kus auf ihre in­ne­re Stim­me rich­te­te. Dies war an­stren­gend, denn es fiel ihr nicht leicht, sich zu sam­meln. Im­mer wie­der schli­chen sich an­de­re Ge­dan­ken ein, die sie ab­lenk­ten. Die­se zu bän­di­gen und da­bei zu kon­trol­lie­ren, fand Ni­mue sehr schwie­rig.


Sie gab nicht auf und so tauch­te sie nach ei­ner Wei­le in sich ein. Sie fühl­te, dass sich et­was in ihr lös­te und sich wohl­wol­lend in ih­rer Brust aus­brei­te­te. Es war warm, hell und über­wäl­ti­gend. Al­les, was sich bis­her schwer an­fühl­te, war nun leicht. Bei­na­he schwe­re­los saß sie in der Stil­le der Höh­le. Wäh­rend­des­sen wa­ren ihre Ge­dan­ken wie aus­ge­blen­det. Da ver­nahm sie wie aus dem Nichts eine ver­zerr­te Stim­me. Sie war laut, un­an­ge­nehm und durch­bohr­te un­sanft ih­ren Kör­per. Dar­auf­hin ver­här­te­te sich das vor­he­rig schö­ne Ge­fühl in ih­rer Brust und fing an zu schwan­ken, als ob eine mit Was­ser ge­füll­te Waa­ge ver­rückt­spie­len wür­de. Die Stim­me wie­der­hol­te sich, doch jetzt ver­stand Ni­mue die Wor­te klar und deut­lich: »Was machst du da?«

Ni­mue sah sich um und ori­en­tier­te sich schnell: Es war die Stuhlda­me. Stúh­ly hat­te sie grob, aus was und von wo auch im­mer, her­aus­ge­holt.

»Ich me­di­tie­re«, er­wi­der­te sie barsch.

»So, so«, stell­te Stúh­ly fest.

Plötz­lich fühl­te sie den wach­sen­den Drang, die Stuhlda­me fest zu schüt­teln. Sie hat­te sie nicht nur aus die­sem be­zau­bern­den Zu­stand ge­holt, son­dern es auf eine solch raue Art ge­tan, dass ihr Kör­per nun leicht vi­brier­te. Den­noch ent­schied sie sich, ih­ren Är­ger im Zaum zu hal­ten und es, an­ge­spornt von dem ein­zig­ar­ti­gen Ge­fühl der in­ne­ren Ruhe, noch ein­mal zu wa­gen. Sie hat­te je­doch kei­nen Er­folg. Ihre Ge­dan­ken lie­ßen sie nicht mehr los.

Sie stand auf und bat den Ei­chen­baum: »Bit­te öff­ne die Tür. Ich will raus.«

Es ra­schel­te und schon wa­ren die Blät­ter vom Ein­gang ver­schwun­den.

»Und?«, frag­te Aaro.

Sie war der­art ver­är­gert über die Stuhlda­me, dass sie Aaro nicht ant­wor­ten woll­te, und doch wuss­te sie, dass es nicht sei­ne Schuld war. Zu­dem hat­te er es Ni­mue heu­te ge­müt­lich warm ge­macht, was er nur an we­ni­gen Ta­gen schaff­te, weil es ihn sehr viel Ener­gie kos­te­te.

»Ich war schon ir­gend­wo tief in mir und dann«, be­schwer­te sie sich, »dann hat mich Stúh­ly her­aus­ge­holt.«

»Oh, du dum­mer Stuhl!«, ta­del­te Aaro die Stuhlda­me nun auch ver­är­gert. Da­bei schnell­te er einen lan­gen Ast ge­gen den of­fen ste­hen­den Ein­gang. »Wir wer­den dich um­tau­schen, du bist eh schon viel zu klein.«

»Hab Er­bar­men, Mae­stro«, er­wi­der­te Stúh­ly sanft, »ich hal­te still in Zu­kunft, denn ich lebe hier gut mit dir.«

Er groll­te laut und be­merk­te: »Dann dehn dich schon ein­mal aus, so­dass Ni­mue in Zu­kunft bes­ser sit­zen kann!«

»Na­tür­lich«, stimm­te Stúh­ly zu und ver­stumm­te wie­der.

»Geh heim, Ni­mue«, schlug Aaro vor, »und schlaf dich aus. Mor­gen ist ein neu­er Tag. Da klappt es be­stimmt.«

Ni­mue lä­chel­te ihn an, wäh­rend sie sag­te: »Dan­ke, lie­ber Aaro, es war su­per an­ge­nehm warm. Bis mor­gen.«

Sie dreh­te sich in Rich­tung Schloss und ver­schwand kurz dar­auf im dich­ten Holz. Von hoch oben be­ob­ach­te­te Aaro, wie ihre Haar­spit­zen im­mer wie­der für Se­kun­den­bruch­tei­le zwi­schen den Bäu­men in der Luft um­her­wir­bel­ten.

»Hey, Stuhl«, brumm­te er, ohne sie aus den Au­gen zu ver­lie­ren.

»Was gibt’s?«

»Gib un­se­rer Ni­mue mehr Ruhe, sonst kracht’s, ver­stan­den?«

»Das tu ich, Mae­stro. Ich ver­sprech’s!«

»Und wenn du mich noch ein­mal Mae­stro nennst, dann …«, warn­te Aaro sie.

»Ich weiß, ich weiß«, er­wi­der­te Stúh­ly ge­hor­sam.

Ni­mue rann­te ge­ra­de durchs gro­ße Schloss­tor, als eine Stim­me nach ihr rief: »Ni­mue, komm zu mir.«

Sie blieb ste­hen und dreh­te sich um. Doch sie konn­te nie­man­den se­hen. Dar­auf­hin dreh­te sie sich ein­mal um ihre ei­ge­ne Ach­se. Trotz­dem ent­deck­te sie nie­man­den. Kei­ne El­fen­see­le war da.

»War das mei­ne in­ne­re Stim­me?«, wun­der­te sie sich.

Zur Kon­trol­le ließ sie ihre Bli­cke noch ein­mal um­her­wan­dern, doch da war nie­mand. Dann hör­te sie er­neut die Wor­te: »Komm zu mir.« Die­ses Mal war die Ton­la­ge lau­ter und die Stim­me klang jetzt stark ver­raucht, bei­na­he hei­ser.

»Nein« – schüt­tel­te Ni­mue den Kopf – »das kann nicht mei­ne in­ne­re Stim­me sein.«

Sie selbst hat­te noch nie ein Räu­cher­ri­tu­al mit­ge­macht oder an­der­wei­tig et­was mit Räu­che­rei­en zu tun ge­habt. Es gab kei­nen Grund, dass ihre in­ne­re Stim­me der­ar­tig klang. Trotz­dem frag­te sie sich, wo­her sie kam.

Ni­mue ging zu­rück zum Tor. »Wer ruft nach mir?«

»Hier un­ten«, er­wi­der­te die Stim­me so­gleich.

Sie senk­te ih­ren Kopf, und da sah sie ihn: einen klei­nen Wich­tel. So win­zig, dass er mit ih­rer gro­ßen Zehe ver­gleich­bar war.

Sie knie­te sich vor ihm auf den Bo­den und frag­te: »Was willst du?«

»Ich habe ge­hört, dass hier bald ein gro­ßes Fest steigt?«, be­merk­te er mit hoch­er­ho­be­nem Kopf.

»Ja, und?«

»Ich möch­te mit­fei­ern und mei­ne Fa­mi­lie auch.«

»Wie bit­te? Eh, wo kommst du her?«

»Von der Frauen­in­sel. Wir le­ben di­rekt am See­u­fer in ei­ner klei­nen Stein­höh­le.«

»Wie groß ist dei­ne Fa­mi­lie?«

»Vier Gro­ß­el­tern«, fing der Wich­tel an auf­zu­zäh­len, »fünf Kin­der, ich und mei­ne Frau.«

»Gut, ihr seid ein­ge­la­den, so­weit ich ein­la­den darf. Ich muss erst mei­nen Groß­va­ter fra­gen.«

»Nein, nein, es ist ja dein Fest. Dein Groß­va­ter hat si­cher­lich nichts da­ge­gen. Dan­ke für dei­ne Groß­zü­gig­keit. Wir kom­men!«

Sie nick­te zu­stim­mend, wenn auch ir­ri­tiert. Eine Se­kun­de spä­ter ver­schwand er im Nichts, wor­aus er schein­bar zu­vor ge­kom­men war. Ni­mue blin­zel­te. Es fiel ihr schwer zu glau­ben, dass er ge­ra­de wirk­lich da ge­we­sen war. Sie zuck­te mit den Schul­tern, ging auf das Schloss zu und öff­ne­te die gro­ße, höl­zer­ne Ein­gangs­tür. Gleich dar­auf schweb­te sie zum Büro ih­res Groß­va­ters, da sie so schnell wie mög­lich mit ihm über die­se Be­geg­nung spre­chen woll­te. Sie klopf­te an und war er­leich­tert, als sie sei­ne Stim­me sa­gen hör­te: »Her­ein, Ni­mue.«

»Wo­her weiß er im­mer, dass ich es bin?«, wun­der­te sie sich, wäh­rend sie hin­ein­ging. »Opa, ich habe ge­ra­de einen Stein­wich­tel­mann ge­se­hen oder so eine ähn­li­che Art von Wicht. Sie le­ben am Ufer der Frauen­in­sel. Ich habe ihn und sei­ne Fa­mi­lie zum Fest ein­ge­la­den.«

»Du kannst nicht je­den, der dich dar­um bit­tet, ein­la­den, Ni­mue. An­sons­ten geht uns der Platz aus.«

»Wo­her weißt du, dass er mich um eine Ein­la­dung ge­be­ten hat?«

Aar lach­te. »Es wer­den noch mehr We­sen auf dich zu­kom­men. Dein Fest ist das Er­eig­nis des Jah­res.«

Ni­mu­es Au­gen wei­te­ten sich vor Ent­set­zen.

»Die Fa­mi­lie der Wich­tel ist mit ih­ren elf Mit­glie­dern be­reits auf un­se­rer Gäs­te­lis­te. Das geht in Ord­nung, Ni­mue.«

»Aber Opa, ich habe doch ge­ra­de erst mit ihm ge­spro­chen?«

Er strich ihr lie­be­voll übers Haar. »Das lernst du auch noch, mei­ne klei­ne Rao’ra.«

»Wie ich Din­ge se­hen kann, die ich gar nicht wirk­lich mit mei­nen El­fe­n­au­gen wahr­neh­me?«

»So ähn­lich. Wie du dei­ne Ener­gi­en der­art ein­setzt, dass dir wich­ti­ge In­for­ma­ti­o­nen so­zu­sa­gen zu­flie­gen. Dazu spä­ter mehr.« Er hielt kurz inne und be­ton­te: »Viel spä­ter.«

»Spä­ter«, hör­te sich für Ni­mue gut an, denn für den Mo­ment reich­te es ihr voll­kom­men aus, ihre in­ne­re Stim­me zu fin­den.

»In ei­ner Stun­de beim Abend­es­sen?«, woll­te Aar sich be­stä­ti­gen las­sen und Ni­mue nick­te.

Kurz dar­auf saß sie auf der Fens­ter­bank in ih­rem Zim­mer und spiel­te mit ih­ren Ge­dan­ken. Da­bei stell­te sie sich vie­le ver­schie­de­ne Wün­sche vor und wie sie in der Re­a­li­tät aus­se­hen wür­den.

»Hal­lo«, be­grüß­te Ni­mue ein ed­les, grün-brau­nes Pferd mit gro­ßen Au­gen, als es di­rekt vor ihr ste­hen blieb. Sie strei­chel­te es am ele­gant ge­bo­ge­nen Hals. Die fei­ne Mäh­ne folg­te da­bei sanft den Be­we­gun­gen ih­rer Hand. Einen Au­gen­schlag spä­ter saß sie im Sat­tel und ritt mit ho­her Ge­schwin­dig­keit durch den Wald. Ni­mue spür­te den Wind auf ih­rer Haut und ge­noss die schö­ne, grü­ne Land­schaft, die sich vor ihr aus­brei­te­te. Sie grüß­te ih­ren Freund Aaro, blieb kurz bei ihm ste­hen und zeig­te ihm ihr schö­nes neu­es Tara-Pferd. Gleich dar­auf ver­schwamm das Bild vor ih­ren Au­gen und än­der­te sich in ein Brett­spiel, das di­rekt vor ihr lag.

Elf-Tier-Zau­ber-The­a­ter war ein Brett­spiel, von dem Cara oft ge­schwärmt hat­te. Ihre Cou­si­ne er­klär­te ihr, dass es ur­sprüng­lich von ei­ner Wach­tel­fa­mi­lie kon­zi­piert wur­de. Die Wach­tel­kin­der hat­ten heim­lich den Men­schen bei ei­nem Spiel na­mens Mensch-är­ge­re-Dich-nicht zu­ge­se­hen und ih­ren El­tern da­von er­zählt. Die­se wa­ren da­von so in­spi­riert, dass sie es mit ver­än­der­ten Re­geln nach­ge­baut ha­ben. Da die Wach­teln viel klei­ner sind als die El­fen, ha­ben sich die El­fen­fa­mi­li­en der Zau­be­r­in­sel zu­sam­men­ge­tan, um das Brett­spiel für ihre Grö­ße zu ent­wer­fen.

Das Spiel äh­nelt dem der Men­schen, wenn auch le­dig­lich in sei­nen Grund­zü­gen. Die Fi­gu­ren sind ein Esel, ein Igel, ein Pferd und ein Kro­ko­dil. Alle vier Fi­gu­ren wer­den le­ben­dig, so­bald sie mit dem Spiel­feld in Be­rüh­rung kom­men. Zu­dem ha­ben sie de­ren na­tür­li­che tie­ri­sche In­stink­te und Ei­gen­schaf­ten. So­mit ist das Pferd schnel­ler als die an­de­ren, das Kro­ko­dil flin­ker und dazu noch hin­ter­lis­tig. Der Igel ist lang­sam und ge­las­sen, und der Esel ist ver­fres­sen. Er ver­weilt da­her ger­ne am Rand, wo die Fut­ter­näp­fe ste­hen. Wenn man die­se Spiel­fi­gu­ren zur Aus­wahl hat, wür­de jede schlaue Elfe das Pferd wäh­len. Der Wunsch al­lein zählt hier­bei je­doch nicht, denn bei die­sem Spiel wählt das Tier den Elf und nicht um­ge­kehrt. Dann erst kann das Spiel be­gin­nen.

Ni­mue stell­te sich den El­fen­wür­fel vor, von dem Cara ihr er­zählt hat­te. »Er sieht ge­nau­so aus wie der der Men­schen«, mur­mel­te sie, »der Un­ter­schied ist der Zau­ber, der im El­fen­wür­fel steckt.« Die Zah­len ver­än­dern sich je nach Lau­ne des Wür­fels und glei­chen so­mit die po­si­ti­ven und ne­ga­ti­ven Ei­gen­schaf­ten der Tie­re aus. Da­bei wird Gut und Böse in eine Waag­scha­le ge­legt. Nur so kann ein wah­rer Ge­win­ner er­mit­telt wer­den, auch wenn am Ende das Glück ent­schei­det.

Ni­mue lach­te bei dem Ge­dan­ken auf, dass manch ein Wür­fel sei­nen Scha­ber­nack trieb und da­bei Spie­ler und Tier zur Weiß­glut brach­te.

Eine Wach­tel ist ein We­sen, das dem Sing­vo­gel auf dem Land sehr äh­nelt, je­doch kein Vo­gel ist. Man weiß nicht ge­nau, war­um die­se klei­nen We­sen zu den Wach­teln ge­hö­ren. Ein Grund da­für könn­te das ähn­li­che Ver­hal­ten und Aus­se­hen sein. Die Sing­vö­gel sind scheu und flie­gen sel­ten auf; ge­nau­so wie die Wach­teln, die sich im­mer in ih­ren Höh­len ver­ste­cken. Bei­de ha­ben ein brau­nes Fe­der­kleid mit ei­ner wei­ßen Längs­strei­fung, mit dem Un­ter­schied, dass Sing­vö­gel Flü­gel und hüh­ner­fuß­ähn­li­che Bei­ne ha­ben und die klei­nen Zau­ber­we­sen Arme und Bei­ne, wie ein Men­schen­kör­per sie be­sitzt. Die Arme sind je­doch dop­pelt so lang wie der Ober­kör­per, und ihre Bei­ne kön­nen sie weit deh­nen, wenn sie an Wän­den hoch­klet­tern und die Brei­te da­für brau­chen. Das Ge­sicht ist un­ter­schied­li­cher Art, denn es gleicht kei­nem Vo­gel. Es wirkt ein we­nig gru­se­lig, wenn man die We­sen nicht kennt. Die Nase ist spitz und lang, und der Mund gleicht ei­nem Fisch­maul mit schma­len Lip­pen. Die Au­gen sind groß und man könn­te mei­nen, dass sie je­den Mo­ment aus der Au­gen­höh­le her­aus­kul­lern. Die Kopf­haa­re sind in der Re­gel nur spär­lich vor­han­den, wo­bei ei­ni­ge we­ni­ge in das Ge­sicht hän­gen. Im Grun­de sind es lie­be We­sen. Trotz­dem soll­te man stets über­legt mit ih­nen um­ge­hen. Sie kön­nen hin­ter­häl­tig han­deln und Wahr­hei­ten zu ih­rem Nut­zen aus­le­gen.

»Ge­fällt mir die­ses Spiel wirk­lich so gut, dass ich es mir an mei­nem Ge­burts­tag wün­schen möch­te?«, be­zwei­fel­te Ni­mue. Sie schüt­tel­te den Kopf und ent­schied sich, einen wei­te­ren Wunsch vor ih­rem in­ne­ren Auge zu vi­su­a­li­sie­ren. Ni­mue dach­te an ein schö­nes Fest. An ei­nes, das an­ders sein soll­te, wie ihr gro­ßes Ge­burts­tags­fest. Sie stell­te sich einen ge­schmück­ten Ta­fel­saal vor und eine Gäs­te­lis­te, die nur sehr kurz war. Als sie sich ge­ra­de ihre Mut­ter in ih­ren Ge­dan­ken her­hol­te, platsch­te et­was laut an ihr Fens­ter. Ni­mue zuck­te hef­tig zu­sam­men. Sie blin­zel­te und das Bild in ih­ren Ge­dan­ken ver­schwand.

Wie­der im Hier und Jetzt blick­te sie auf die Glas­schei­be und ent­deck­te dar­auf einen ei­gen­ar­ti­gen Fleck. »Platsch«, mach­te es noch ein­mal so laut und hef­tig, dass Ni­mue zu­rück­schnell­te. Da sah sie ein klei­nes We­sen auf der äu­ße­ren Sei­te des Fens­ters kle­ben. Sie be­rühr­te die Stel­le mit ih­ren Fin­gern und er­kann­te, dass das Glas noch ganz war. Dann be­ob­ach­te­te sie das We­sen, wie es die Arme und Bei­ne seit­lich bis zum Fens­ter­rah­men aus­dehn­te. Da­nach klet­ter­te es müh­sam den Fens­ter­rah­men hoch. Der klei­ne Kör­per, der sich nun in der Mit­te des Fens­ters be­fand, wirk­te auf sie ver­letz­lich und be­rühr­te Ni­mu­es Herz. Sie über­leg­te, wer das sein könn­te und rieb sich die Au­gen, um es noch kla­rer se­hen zu kön­nen.

»Ist die­ses klei­ne We­sen nicht eine Wach­tel?«, ver­mu­te­te sie un­si­cher. Ge­ra­de hat­te sie an die Wach­tel­fa­mi­lie ge­dacht, die das tol­le Spiel er­fun­den hat. War das Zu­fall?

Als das We­sen lang­sam hö­her klet­ter­te, be­schwer­te es sich: »Du könn­test mir hel­fen, dann gin­ge das al­les hier ein we­nig schnel­ler.«

So­gleich öff­ne­te Ni­mue das Fens­ter und hol­te das klei­ne We­sen her­ein.

»Hal­lo, Ni­mue.«

»Hal­lo! Wer bist du?«

»Ich bin die Wach­tel Co­tur. Ich möch­te mit dir we­gen des Fes­tes spre­chen.«

»Des Fes­tes?«, er­wi­der­te sie er­staunt.

»Ja. Wir ha­ben ge­hört, dass in zehn Ta­gen dein Ua­ne­a­la-Fest steigt. Auch wenn wir das Was­ser nicht ausste­hen kön­nen, wir möch­ten trotz­dem da­bei sein.« Co­tur at­me­te tief durch, be­vor er in­fra­ge stell­te: »Wie hal­tet ihr das hier un­ten nur aus?« Er schüt­tel­te skep­tisch sei­nen Kopf, wo­bei sich sei­ne dün­nen Haa­re wild hin- und her­be­weg­ten. »Egal, wie sieht’s aus?«

»Ich weiß es nicht. Opa hat ge­sagt, dass ich nicht je­den ein­la­den kann, der mich dar­um bit­tet.«

»Pap­per­la­papp, Ni­mue, ich und mei­ne Fa­mi­lie sind doch nicht ein je­der. Wir sind die hoch­fürst­li­che Wach­tel­fa­mi­lie von der Zau­be­r­in­sel Nord.«

»Wie groß ist dei­ne Fa­mi­lie?«

»Ganz klein nur. Wir sind zwölf Wach­teln und so win­zig, dass wir nicht viel Platz brau­chen.«

Ni­mue hat­te noch nie et­was über eine hoch­fürst­li­che Wach­tel­fa­mi­lie von der Zau­be­r­in­sel ge­hört, und doch moch­te sie die­ses klei­ne, häss­lich aus­se­hen­de We­sen auf An­hieb. Sie über­leg­te kurz, ih­ren Groß­va­ter zu fra­gen. Bei dem Ge­dan­ken fiel ihr je­doch auf, dass sie si­cher­lich schon wie­der zu spät zum Abend­es­sen kom­men wür­de.

»Gut, Co­tur, komm mit dei­ner Fa­mi­lie. Wo und wann …«

»Weiß ich al­les«, un­ter­brach er sie, wäh­rend er sich ver­beug­te. »Dan­ke, Eure Ho­heit. Wir freu­en uns auf dein Fest.« Dann sprang er auf den ge­öff­ne­ten Fens­ter­rah­men, und schwupp­di­wupp war die Wach­tel ver­schwun­den.

Ni­mue schloss schnell das Fens­ter und lief zum Saal. Er­neut hör­te sie die El­fen­stim­men sich zu­pros­ten, be­vor sie noch den Saal er­reicht hat­te. Nach­dem sie ein­ge­tre­ten war, schweb­te sie schnell zu ih­rem Tisch.

Dort an­ge­kom­men, er­mahn­te sie Aar: »Ni­mue, das soll­te aber nicht zur Ge­wohn­heit wer­den.«

Sie wuss­te, dass er von ih­ren vie­len Ver­spä­tun­gen sprach und nick­te ihm zu.

»Opa, die hoch­fürst­li­che Wach­tel­fa­mi­lie kommt auch.«

Er kann­te die Fa­mi­lie und nick­te eben­so. Dar­auf teil­te er Ni­mue mit: »Mor­gen, mei­ne Klei­ne, kommt mein On­kel Ka­tar.«

»Ich weiß, Opa«, spru­del­te es freu­dig aus ihr her­aus.

Gleich­zei­tig wur­de es ganz still am Tisch. Alle An­we­sen­den lausch­ten Aars Wor­ten.

»Er kommt we­gen dir und dei­nes Ge­burts­tags.« Aar füg­te für die neu­gie­ri­gen Oh­ren hin­zu: »Und na­tür­lich auch, weil er uns alle wie­der­se­hen möch­te.« Dies rief eine Freu­de her­vor, die er nun in ei­ni­gen Ge­sich­tern le­sen konn­te. Aus die­sem Grund war er froh, es noch er­wähnt zu ha­ben. Da­nach wand­te er sich wie­der Ni­mue zu: »Ich möch­te, dass du zwei Tage vor dei­nem Ge­burts­tag einen Wal­drund­gang mit ihm machst. Geht das in Ord­nung?«

Ni­mue be­weg­te ih­ren Kopf schnell auf und ab, wäh­rend sie übers gan­ze Ge­sicht strahl­te. »Na­tür­lich, Opa, ich freu mich schon dar­auf.«

Der Kö­nig, der dem Ge­spräch ge­lauscht hat­te, lä­chel­te Ni­mue zu­stim­mend an. »Gut, mei­ne klei­ne Ni­mue, das freut mich sehr«, be­merk­te Seo­ras dar­auf­hin be­däch­tig, »mein Bru­der liebt die Na­tur. Be­stimmt wird er das of­fe­ne Meer ver­mis­sen.«

»Meinst du, Ur­o­pa?«

»Er schreibt Au­ßer­ge­wöhn­li­ches über den Oze­an und die Kraft, die das Was­ser ihm zu­kom­men lässt. Man könn­te mei­nen, der Oze­an wäre sei­ne gro­ße Lie­be.« Seo­ras lacht.

»Ich wer­de ihm die schöns­ten Orte in un­se­rem Wald zei­gen. Da be­kommt er be­stimmt kein Heim­weh.«

Seo­ras lä­chel­te zu­frie­den. »Da bin ich mir si­cher, mei­ne klei­ne Ni­mue.«

Dar­auf­hin ver­san­ken alle An­we­sen­den in ihre Ge­dan­ken, die sich haupt­säch­lich um Ka­tar dreh­ten. Die, die ihn nicht kann­ten, stell­ten sich vor, wie er wohl aus­se­hen könn­te. Die, die ihn kann­ten, freu­ten sich und schwelg­ten in Er­in­ne­run­gen an ihn.

Nach dem Es­sen ging Ni­mue lang­sam den Ar­ka­den­gang ent­lang zu ih­rem Zim­mer. Der Mond stand be­reits hoch oben am Him­mel und warf vor ihr die Schat­ten der Säu­len auf den Bo­den. Da mach­te sich eine Vor­freu­de in ihr breit, Ka­tar bald ken­nen­zu­ler­nen. Es pri­ckel­te förm­lich in ih­rer Brust. Dies teil­te sie mit ei­ner auf­kom­men­den Auf­re­gung, weil al­les mit ihr und ih­rem Ge­burts­tag zu­sam­men­hing. Zu­dem ahn­te sie, dass da noch mehr da­hin­ter­steck­te.

»Bin ich dem Un­be­kann­ten ge­wach­sen?«, frag­te sie sich ein we­nig ängst­lich.

»Ni­mue, mach dir über un­be­kann­te Din­ge kei­ne Sor­gen. Das ist wirk­lich eine Ver­schwen­dung der Zeit«, mein­te Oona, wie aus dem Nichts.

Ni­mue stock­te der Atem.

»Weißt du, mei­ne Klei­ne, al­les wird gut. Ka­tar freut sich sehr auf dich. Das al­lein soll dich be­we­gen.«

Ni­mue nick­te und gab ih­rer Groß­mut­ter einen Kuss auf die Wan­ge. »Gute Nacht, Oma.«

»Gute Nacht und schlaf gut.« So­gleich ver­schwand Oona hin­ter ei­ner mas­si­ven Holz­tür.

Da hör­te Ni­mue das Klap­pern von Ge­schirr aus dem Ta­fel­saal. Au­ßer­dem nahm sie die Stim­me ei­nes Hein­zel­chens deut­lich wahr, das dort auf­räum­te: »Das tue ich doch! Ni­mue wird das schon ma­chen.«

Ni­mue wur­de neu­gie­rig und ging zu­rück in den Saal.

»Was wer­de ich ma­chen?«, frag­te sie laut in den Saal hin­ein.

Die ar­bei­ten­den Hein­zel­chen blie­ben ab­rupt ste­hen.

»Uns be­loh­nen«, hör­te sie ein Männ­lein aus den hin­te­ren Rei­hen ru­fen. Lang­sam trat es her­vor und ver­beug­te sich. Es er­klär­te: »Ni­mue, wir wer­den auf dei­nem Ua­ne­a­la-Fest die Ar­beit er­le­di­gen. Sie wird um­fang­reich sein und an­stren­gend wer­den.«

So­gleich er­tön­te die tie­fe Stim­me von Ni­mu­es Schwes­ter Ma­rie, die spot­te­te: »Sei still, da­für seid ihr doch da, oder etwa nicht?«

Ma­rie stand auf ei­nem klei­nen Bal­kon und be­ob­ach­te­te das Ge­sche­hen im Saal. Ni­mue, der Ma­ri­es har­te Wor­te zu­wi­der wa­ren, lief ein un­an­ge­neh­mer kal­ter Schau­er über den Rü­cken.

Sie blick­te zu­rück zu dem Männ­lein und ver­such­te Ma­ri­es Aus­sa­ge wie­der­gutz­u­ma­chen: »Ich dan­ke euch sehr da­für. Ohne euch wäre mein Fest nicht mög­lich.«

»Dank ist gut und schön, aber Stress, Stress, Stress ist ein­fach nicht gut für un­se­re Ge­sund­heit.«

Ni­mue hat­te kei­ne Ah­nung, auf was die­ses Männ­lein hin­aus­woll­te.

Es wie­der­hol­te sich: »Stress, Stress, Stress macht Kopf und Kör­per ka­putt.«

»Willst du an die­sem Tag nicht ar­bei­ten?«, frag­te sie dar­auf­hin ein we­nig ver­wirrt.

Ein Schim­mer von Angst durch­zog sei­ne Au­gen und er schrie mit schril­ler, lau­ter Stim­me: »Nein, nein, nein, ich will, denn da­für bin ich da!«

»Um was geht es dann?«

Ma­rie schüt­tel­te den Kopf und ver­ließ den Raum. Als sie die Bal­kon­tür be­weg­te, konn­te das Männ­lein Aar da­hin­ter­ste­hen se­hen, der das Ge­spräch ver­folg­te. Das Männ­lein ant­wor­te­te nicht mehr. Es ging zum nächs­ten Tisch und nahm ein paar Tel­ler in sei­ne Hand. Da­mit ging es schnell in Rich­tung Kü­che.

Ni­mue ver­stand die Si­tua­ti­on nicht. »Was nun, was willst du?«

Es dreh­te sich um, stell­te die Tel­ler ab und er­wi­der­te: »Wir alle wür­den ger­ne nach dei­nem Ua­ne­a­la-Tag ein Fest fei­ern, bei dem wir be­dient und be­wir­tet wer­den.«

»Nicht, dass ich euch eu­ren Wunsch nicht ger­ne ge­wäh­ren wür­de. Ich kann solch ein gro­ßes An­lie­gen nicht selbst ent­schei­den. Da musst du schon den Kö­nig fra­gen.«

Es ver­beug­te sich und sag­te: »Dan­ke, Eure Ho­heit, das wer­de ich.«

Da­nach nahm es die Tel­ler wie­der an sich und ver­schwand in die Kü­che.

Ni­mue wuss­te nun gar nicht mehr, was sie von die­sem Ge­spräch hal­ten soll­te. Sie ent­schied sich den­noch da­für, es da­bei zu be­las­sen und in ihr Zim­mer zu ge­hen.

Die Hein­zel­chen stamm­ten vom Volk der Hein­zel­männ­chen ab. Im Ge­gen­satz zu den Hein­zel­männ­chen konn­ten sie je­doch auch un­ter Was­ser le­ben. Nach­dem das Reich Shen­ja fer­tig auf­ge­baut war, bo­ten sie ihre Diens­te am Hofe an und Seo­ras nahm sie ger­ne auf. Ihre Ent­loh­nung be­stand haupt­säch­lich aus ei­ner Blei­be und der Nah­rung, die sie be­nö­tig­ten. Im letz­ten Mo­nat des Jah­res be­ka­men sie dazu ein paar Gold­rin­ge, um sich auf dem all­jähr­li­chen Zau­ber­markt auf der Zau­be­r­in­sel Süd et­was kau­fen zu kön­nen.

Der Zau­ber­markt fand im­mer am 13ten Tag des 13ten Mo­nats statt und en­de­te mit ei­nem gro­ßen Fest. Für die­sen einen Tag ver­wan­del­te sich der süd­li­che Teil der In­sel voll­kom­men aus sei­ner ur­sprüng­li­chen Art. Alte Häu­ser stan­den an vor­her lee­ren Plät­zen und Spring­brun­nen rag­ten aus dem Bo­den, die ver­schie­de­ne Fi­gu­ren dar­stell­ten. An den Orts­ein­gän­gen wa­ren Tür­me mit Aus­sichts­punk­ten an­ge­bracht, so­dass der Be­su­cher das gan­ze Ge­sche­hen auch von oben be­trach­ten konn­te. Ca­fés al­ler Art säum­ten die wild ver­zweig­ten Stra­ßen. Da­von ver­kör­per­ten ei­ni­ge eine Le­bens­art der Men­schen. Die be­lieb­tes­ten wa­ren ein fran­zö­si­sches, ein ita­lie­ni­sches, ein baye­ri­sches und ein eng­li­sches Kaf­fee­haus. Die­se wa­ren oft so über­füllt, dass man die Tü­ren nicht mehr schlie­ßen konn­te, wäh­rend die an­de­ren nur we­ni­ge bis kei­ne Be­su­cher hat­ten. Trotz­dem ka­men sie je­des Jahr aufs Neue.

Kei­nes der Zau­ber­we­sen im Um­kreis von hun­dert Ki­lo­me­tern woll­te sich die­sen fest­li­chen Markt ent­ge­hen las­sen, und so tra­fen sie sich jähr­lich auf der Zau­be­r­in­sel. Die­se In­sel war für das mensch­li­che Auge eine klei­ne In­sel auf dem Chiem­see. Nichts­des­to­trotz leb­ten dort vie­le Zau­ber­we­sen. Zu­sätz­lich fand dort der all­jähr­li­che Markt statt. Die Zau­ber­schu­le war eben­falls auf die­ser In­sel in­te­griert. Dies war nur mög­lich, weil dort Raum und Zeit nicht im üb­li­chen Sin­ne exis­tier­ten. Der Raum war im­mer so groß, wie er be­nö­tigt wur­de, und die Zeit konn­te hie und da ver­zau­bert wer­den. Für das Fest be­deu­te­te dies, dass alle Gäs­te aus­rei­chend Platz hat­ten und manch­mal schos­sen bei gro­ßer Nach­fra­ge noch wei­te­re Re­stau­rants oder Ca­fés aus dem Bo­den. Zu­dem ver­lief die Zeit lang­sa­mer, ru­hi­ger und ge­müt­li­cher als sonst. Sie dehn­te sich der­ar­tig aus, dass man ge­fühls­mä­ßig drei Tage fei­er­te und nicht einen, wie ka­len­da­risch be­stimmt.

Es gab dort vie­le Ver­kaufs­s­tän­de, die sich an den mit Kopf­stein­pflas­tern be­leg­ten und manch­mal sehr kur­vi­gen Gas­sen an­ein­an­der­reih­ten. Zu­dem exis­tier­ten vie­le Lä­den mit al­ler­lei Ge­brauchs­wa­ren, Tex­ti­li­en und An­ti­qui­tä­ten. Al­les, was das Herz be­gehr­te, konn­te man an die­sem Tag er­wer­ben.

Man­ches Mal sah man We­sen, die wie wild ein­kauf­ten. Sie ga­ben Men­gen von Gold-, Sil­ber- oder Bron­ze­rin­gen aus, was nicht sel­ten auf einen Zau­ber­spruch des Ver­käu­fers zu­rück­zu­füh­ren war. Dies war al­ler­dings nur mit We­sen mög­lich, die sich da­vor aus Leicht­sinn nicht schütz­ten. Da­bei konn­te der Zau­ber sie di­rekt im Her­zen tref­fen und ihre Ein­kaufs­lust so stei­gern, dass sie al­les nur Mög­li­che mit­nah­men. So nahm der Kauf­rausch kein Ende und der Ver­käu­fer wur­de da­für reich be­lohnt.

Ni­mue konn­te dies nicht pas­sie­ren, da Aar je­des Jahr er­neut eine un­sicht­ba­re Schutz­hül­le über ih­ren Kör­per leg­te. Sie lieb­te vor al­lem die Bü­cher­lä­den. Dort konn­te sie die Welt au­ßer­halb ih­res Kö­nig­reichs er­kun­den. Oft stand sie stun­den­lang in ei­nem die­ser Ge­schäf­te und such­te nach dem rich­ti­gen Buch oder las Zeit­schrif­ten mit den Er­eig­nis­sen des letz­ten Jah­res oder sprach mit den Ver­käu­fern über de­ren Er­leb­nis­se. Ihre Schwes­tern wa­ren wäh­rend­des­sen in Ca­fés oder Be­klei­dungs­ge­schäf­ten und küm­mer­ten sich nur we­nig um die Lei­den­schaft ih­rer klei­nen Schwes­ter. Ihre In­ter­es­sen wa­ren grund­ver­schie­den. Des­halb trenn­ten sie sich meist am Ein­gang und tra­fen sich wie­der am Ende des Ta­ges, wenn der fest­li­che Ort mit all sei­nen schö­nen Häu­sern, Gas­sen und Spring­brun­nen wie­der ins Nichts ver­schwand.

In der Re­gel lief die­ser Fest­tag fried­lich ab und doch ka­men manch­mal böse We­sen, die das gan­ze Fest durch­ein­an­der­brach­ten. Sie zer­stör­ten Ge­schäf­te, die sich nicht schnell ge­nug in Si­cher­heit brin­gen konn­ten, oder ver­gif­te­ten die Spei­sen und Ge­trän­ke der Ca­fés, so­dass sich die Gäs­te über­ge­ben muss­ten. Egal, was an die­sem Tag an­ge­stellt wur­de, es zog be­son­ders har­te Stra­fen nach sich. Der Grund da­für war, dass die Zau­ber­welt die­sen Tag dem Licht wid­me­te und so­mit al­lem, was da­mit ver­bun­den war. Dies war so hei­lig, dass sich nor­ma­le­r­wei­se auch die dunk­len We­sen dar­an hiel­ten, und doch gab es im­mer wie­der Aus­nah­men.

Ni­mue lag schon seit ei­ni­ger Zeit im Bett, als der Mond nach und nach mehr in ihr Zim­mer schien. Die Fens­ter­spros­sen zo­gen da­bei selt­sam aus­ge­frans­te Strei­fen an den Wän­den ent­lang, die sie an die Längs­strei­fung der Wach­tel er­in­ner­ten.

Durch die ma­gi­sche Was­se­r­ener­gie er­reich­ten die Licht­strah­len der Son­ne, des Mon­des und der Ster­ne das Reich Shen­ja in­ten­si­ver als auf dem Land. In die­ser Nacht leuch­te­te der Mond be­son­ders hell und Ni­mue be­ob­ach­te­te die Schat­ten an der Wand, die sich lang­sam nach un­ten be­weg­ten. Da­bei fiel ihr eine La­ter­ne am Ufer der Frauen­in­sel ein, die ihr be­son­ders ge­fiel. Sie kon­zen­trier­te sich dar­auf, schärf­te ihre Sin­ne, um auf die wei­te Ent­fer­nung klar se­hen zu kön­nen und mus­ter­te sie. Da­bei sah sie ein Paar am Ufer ste­hen, das sich un­ter­hielt. Die bei­den hat­ten ih­ren Hund Bel­lo da­bei, der Ni­mu­es Bli­cke spür­te und zu bel­len an­fing.

Das Paar sah sich um und ver­stand nicht, war­um der Hund das Was­ser an­bell­te. Sie ver­such­ten, Bel­lo zu be­ru­hi­gen, je­doch ver­geb­lich, da die­ser in Wahr­heit nicht auf­ge­wühlt bell­te, son­dern mit Ni­mue sprach. Er er­zähl­te ihr laut­stark, dass er ein neu­es Kunst­stück ge­lernt hat­te und wie toll es aus­se­hen wür­de. Er könn­te es ihr je­doch nicht so­fort zei­gen, da sei­ne Be­sit­zer das nicht ver­ste­hen wür­den.

Bel­lo ver­mu­te­te: »Weißt du, Ni­mue, für das Kunst­stück gebe ich ver­schie­de­ne Lau­te von mir. Ei­ner hört sich wohl kla­gend an. Ich glau­be, da den­ken mei­ne neu­en El­tern, dass ich wins­le und Schmer­zen habe. Men­schen ver­ste­hen mei­ne Dar­bie­tung halt nicht.«

Gleich­zei­tig fin­gen sei­ne Be­sit­zer an, ihn vom Ufer weg­zu­zie­hen. Er wehr­te sich noch für ein paar Se­kun­den, um Ni­mue zu­zu­ru­fen: »Gute Nacht, Eure Ho­heit. Bis bald, Ni­mue.«

Dann gab er nach und folg­te ih­nen.

»Gute Nacht, Bel­lo«, ant­wor­te­te sie in Ge­dan­ken, die für Bel­lo hör­bar wa­ren.

Nach­dem er weg war, frag­te sie sich, war­um sie neu­er­dings so vie­le »Eure Ho­heit« nann­ten. Sie war es ge­wöhnt, dass man sie mit ih­rem Vor­na­men an­sprach und aus­schließ­lich da­mit. Doch dies hat­te sich seit ein paar Wo­chen ge­än­dert. Das Durch­ein­an­der in ih­rem Kopf über­for­der­te sie all­mäh­lich. Es er­öff­ne­te sich eine un­ge­klär­te Fra­ge nach der an­de­ren. Ihr wur­de klar, dass sie in die­sem Mo­ment kei­ne Ant­wort auf all ihre Fra­gen fin­den wür­de und so schloss sie ihre Au­gen und schlief ein.

Bald dar­auf hör­te Ni­mue eine ihr un­be­kann­te, wei­che Stim­me ru­fen: »Ni­mue, Ni­mue, komm, sprich mit mir.«

Sie er­wi­der­te: »Ich darf nicht so vie­le zu mei­nem Fest ein­la­den.«

»Ni­mue, Ni­mue, wo bist du?«

Ni­mue ver­stand die Fra­ge nicht und ant­wor­te­te: »In mei­nem Zim­mer, wo denn sonst?«

»Schau um dich und sieh selbst.«

Sie öff­ne­te ihre Au­gen und sah, dass sie nicht in ih­rem Zim­mer war, son­dern auf ei­ner Wie­se, die voll blü­hen­der Blu­men war. Klee­blät­ter reih­ten sich an­ein­an­der, und die Fa­r­ben­pracht der Grä­ser und Blu­men war un­be­schreib­lich in­ten­siv und be­zau­bernd. Er­staunt sah sie um sich und er­kann­te, dass vie­le Tan­nen­zap­fen am Bo­den la­gen und das, ob­wohl kei­ne Tan­nen­bäu­me oder an­de­re Bäu­me weit und breit zu se­hen wa­ren. Eine end­lo­se Wei­te lag vor ihr, die un­be­schreib­lich har­mo­nisch wirk­te. Da spür­te sie ihre nack­ten Füße im Gras. Im­mer stär­ker nahm sie die Be­rüh­rung wahr, bis sie das Ge­fühl hat­te, sich mit der Erde zu ver­bin­den. Da­bei ent­fach­te sich eine Wär­me in ih­ren Fü­ßen, die sich be­hut­sam über den gan­zen Kör­per aus­brei­te­te. Sie ver­mit­tel­te ihr ein woh­li­ges Ge­fühl. Zur glei­chen Zeit fing es an, Blät­ter vom Him­mel zu reg­nen. Ni­mue blick­te nach oben und sah vie­le ver­schie­de­ne Fa­r­ben, die den Him­mel wie einen bun­ten Tep­pich aus­se­hen lie­ßen. Es war, als ob jede Jah­res­zeit ihre Blät­ter auf die Erde her­ab­fal­len las­sen und so­mit mit ihr kom­mu­ni­zie­ren wür­de. Zu­dem fun­kel­ten sie im Son­nen­licht, als ob sie Gold in sich tra­gen wür­den. Ei­ni­ge be­rühr­ten sie weich auf ih­rer Haut, wäh­rend sie den Bo­den an­steu­er­ten. Nach ei­ner Wei­le misch­ten sich Fich­ten- und Lär­chen­zap­fen dar­un­ter, die gol­den schim­mer­ten. Auch die­se be­rühr­ten sie, al­ler­dings so sanft, als ob es Fe­dern wä­ren. Dann ver­mehr­ten sich die Ar­ten, so­dass Ni­mue den Über­blick ver­lor.

Sie öff­ne­te ihre Arme und rief: »Wie schön. Oh, wie schön.«

»Ich bin es, dei­ne gute Fee«, er­klang die Stim­me er­neut, »ich wer­de dich im­mer be­glei­ten und dir auf dei­ner Rei­se bei­ste­hen. Hab kei­ne Angst, Ni­mue. Du wirst mit Gold über­schüt­tet und der Reich­tum des Le­bens wird dein sein.«

Dar­auf­hin be­grüß­te sie der Wind, der sich lang­sam ein­sch­lich und rund­her­um die Blät­ter auf­wir­bel­te. Ni­mue blieb still­ste­hen, wäh­rend die Böen im­mer stär­ker wur­den. Als der Wind so stark um sie her­um weh­te, dass sie sich fast nicht mehr auf den Bei­nen hal­ten konn­te, hör­te sie ih­ren Groß­va­ter sa­gen: »So, so, mei­ne Klei­ne.«

Sie riss ihre Au­gen auf und be­merk­te, dass sie in ih­rem Bett lag. Der Mond war ver­schwun­den und so zeig­te sich die Nacht von ih­rer dunk­len Sei­te. Des­halb konn­te Ni­mue im ers­ten Mo­ment le­dig­lich die Sil­hou­et­te ih­res Groß­va­ters wahr­neh­men, der auf ih­rem Bett­rand saß.

»Die gute Fee hat dich be­sucht und dir ihre Hil­fe an­ge­bo­ten.«

»War das ein ein­fa­cher Traum?«, frag­te Ni­mue er­staunt.

»Ja und nein, Rao’ra. Träu­me be­in­hal­ten dei­ne Emo­ti­o­nen. Man­che da­von sind wich­tig, dass du sie er­kennst. An­de­re wie­der­um sind dazu da, um Er­leb­tes zu ver­a­r­bei­ten. Man­ches Mal je­doch schlei­chen sich an­de­re We­sen in un­se­re Träu­me ein, um un­se­re Auf­merk­sam­keit zu er­hal­ten.«

»War­um tun sie das?«

»Weil sie uns auf die­se Wei­se et­was mit­tei­len möch­ten.«

»So wie die Fee ge­ra­de eben?«

»Ja, so wie die Fee ge­ra­de eben. Mae­ve ist eine krie­ge­ri­sche Licht­fee und steht dei­nem Ur­groß­va­ter und mir bei, so wie sie auch schon dei­nen ver­stor­be­nen Vor­fah­ren half. Sie un­ter­stütz­te sie, die be­schwer­li­che Rei­se zu über­ste­hen und da­bei ge­sund zu blei­ben.«

»Aha, Opa«, staun­te Ni­mue, »was woll­te sie mir mit­tei­len? Ich ver­ste­he nicht, war­um sie mich in mei­nem Traum be­sucht?«

»Weil sie dich aus­er­wählt hat, so wie sie auch dei­ne Vor­fah­ren aus­er­wähl­te.«

Aar ver­schwieg ihr da­bei, dass Mae­ve nur den Kö­ni­gen ih­rer Fa­mi­lie und de­ren Kron­prin­zen mit ih­rem be­son­de­ren Schutz bei­stand. Kron­prin­zes­sin­nen hat­te es ja bis­her noch nicht ge­ge­ben. Für Aar war dies ein wei­te­res Zei­chen, dass die Ho­hen Meis­ter des Lichts, ge­mein­sam mit sei­nen Vor­fah­ren, Ni­mue als zu­künf­ti­ge Kö­ni­gin aus­er­wählt hat­ten, und doch war dies kei­ne end­gül­ti­ge Ent­schei­dung. Nun kam es auf Ni­mue selbst an. War sie wirk­lich dazu be­stimmt, die zu­künf­ti­ge Kö­ni­gin zu wer­den? Aar durf­te sie so lan­ge nicht auf ihre mög­li­che Be­stim­mung hin­wei­sen, bis sie selbst den rich­ti­gen Pfad fin­den wür­de, falls es letzt­end­lich ihre Be­stim­mung war.

Da blick­te Aar in das ir­ri­tier­te Ge­sicht sei­ner En­ke­lin und er­klär­te: »Mae­ve hat sich dir so­zu­sa­gen vor­ge­stellt, mei­ne Klei­ne. Von nun an steht sie dir zur Sei­te. Das be­deu­tet, sie be­schützt dich und hilft dir, wann im­mer du sie brauchst. Sie kann dich hei­len, wenn du dich ver­letzt oder wenn dich dunk­le Ener­gi­en heim­su­chen oder du an­der­wei­tig krank wirst. Sie ist in der Kräu­ter­kun­de ein­zig­ar­tig aus­ge­bil­det. Da­her kannst du ihre selbst ge­brau­ten Zau­ber­trän­ke im­mer zu dir neh­men. An­sons­ten trin­ke nie­mals et­was, das du nicht kennst oder von je­man­dem, dem du nicht ver­traust. Das kann ge­fähr­lich sein, mei­ne Klei­ne, sehr ge­fähr­lich.«

Ni­mue nick­te zu­stim­mend, wäh­rend sie wei­ter sei­nen Wor­ten lausch­te.

»Mae­ve ist eine sehr be­schäf­tig­te Fee. Sie ist die Kö­ni­gin der Feen und hat sich zur Auf­ga­be ge­macht, die Um­welt zu schüt­zen. Sie liebt den Wald und vor al­lem die Blu­men. Du kannst über­all mit ihr spre­chen, aber eine be­son­de­re Freu­de machst du ihr, wenn du sie rufst und da­bei Blu­men um dich ste­hen hast.« Aar lä­chel­te Ni­mue lie­be­voll an. »Du weißt ja, dass die Men­schen die Um­welt im­mer mehr be­las­ten und die­ser im­mer grö­ßer wer­den­den Auf­ga­be stellt sich Mae­ve. Sie flüs­tert Wis­sen­schaft­lern Mög­lich­kei­ten ins Ohr, wie sie um­welt­be­wuss­te Al­ter­na­ti­ven er­fin­den kön­nen, und klärt die Luft mit selbst ge­brau­ten Was­ser­stof­fen. Manch ein Mensch hat ihre kla­ren Ener­gi­en schon spü­ren dür­fen. Man sagt, dass die­se dar­auf­hin ge­sund bis an ihr Le­bens­en­de wa­ren.«

»Wow, Opa, ich bin froh, dass sie mich aus­er­wählt hat.«

»Ja, das bin ich auch, mei­ne Klei­ne.« Er klopf­te sanft auf ihre Schul­ter. »Jetzt schlaf, Ni­mue. Du brauchst die nächs­ten Tage viel Kraft und Ener­gie.«

Sie dreh­te sich auf den Bauch und spür­te, wie ihr Groß­va­ter ihr einen Kuss auf die Wan­ge gab. Kurz dar­auf war er ver­schwun­den. Eine Stil­le kehr­te ein, in der Ni­mue so­fort wie­der ein­sch­lief, als ob al­les nur ein Traum ge­we­sen wäre.

»Nur noch neun Tage«, das wa­ren die ers­ten vier Wor­te, an die Ni­mue an die­sem Mor­gen dach­te. Neun Tage, und es war so weit: vie­le Gäs­te, vor­züg­li­che Spei­sen, ein wun­der­schö­nes Kleid, das be­reits im ver­gan­ge­nen Markt­fest für sie an­ge­fer­tigt wor­den war, Tanz und Mu­sik und, ja, der Wunsch. Das Letz­te­re be­rei­te­te ihr noch Sor­gen. Aus die­sem Grund woll­te sie gleich nach dem Früh­stück zur Ei­che ge­hen.

Sie öff­ne­te ihre Au­gen und setz­te sich auf. Da­bei be­merk­te sie die Un­ru­he au­ßer­halb ih­res Zim­mers. Sie ver­nahm im Gang vie­le Schrit­te auf und ab lau­fen und Stim­men sich Ar­beits­an­wei­sun­gen zu­ru­fen.

Da däm­mer­te es ihr. »Na­tür­lich, heu­te kommt Ka­tar!«

Ni­mue konn­te es kaum er­war­ten, ihn ken­nen­zu­ler­nen. Sie fiel in einen Rausch von Ge­schich­ten über Ka­tar, die ihre Ge­dan­ken voll­kom­men ein­nah­men. Noch wäh­rend sie vor sich hin träum­te, klopf­te es an der Tür.

»Her­ein!«

Aoi­fe beug­te sich mit ih­rem Ober­kör­per neu­gie­rig ins Zim­mer. »Gu­ten Mor­gen, Ni­mue«, be­grüß­te sie ihre klei­ne Schwes­ter und sprang mit ei­nem Satz ins Zim­mer. »Weißt du schon, was du dir wünschst?«

Ni­mue schüt­tel­te den Kopf.

Aoi­fe war­te­te nicht lan­ge auf eine Ant­wort und er­klär­te: »Ich habe da­mals auch lan­ge dar­über nach­ge­dacht. Dann sieg­te mein Traum vom Markt­fest und du weißt ja, ich durf­te durch das Zeit­loch hin­durch das Fest in ei­ner an­de­ren Di­men­si­on er­le­ben. 13 Tage lang habe ich ge­fei­ert. Das war der Ham­mer, Ni­mue.«

Ni­mue ließ sich zu­rück aufs Kis­sen fal­len, als sie un­ter­trieb: »Ja, ich weiß. Du hast es uns schon ein paar Mal er­zählt.«

Aoi­fe setz­te sich zu ihr und schlug vor: »Soll ich dir hel­fen?«

Ni­mue woll­te par­tout nicht, dass ihre Schwes­ter ihr half. Sie hat­ten so gut wie kei­ne ge­mein­sa­men In­ter­es­sen. Trotz­dem ant­wor­te­te sie zu ih­rer ei­ge­nen Über­ra­schung: »Na­tür­lich.«

»Ein Schwein«, schwärm­te Aoi­fe spon­tan.

»Nein«, rief Ni­mue ent­setzt. Nicht, weil sie Schwei­ne nicht moch­te, aber das Ge­läch­ter auf dem Fest konn­te sie jetzt schon hö­ren, auch wenn Schwei­ne Glück in je­der Hin­sicht brin­gen soll­ten.

»Ein Pferd«, schlug Aoi­fe dar­auf­hin vor.

»Viel­leicht …«, ant­wor­te­te sie zö­gernd.

»Aha, du hast also schon dar­über nach­ge­dacht. Dann er­zähl mal!«

Ni­mue wuss­te nicht mehr wei­ter. »Kann uns nicht je­mand stö­ren?«, bat sie in Ge­dan­ken den Him­mel. Sie woll­te nicht über ihre Wün­sche spre­chen, denn hat­te Oona nicht ge­sagt, dass sie dar­über schwei­gen soll­te?

Se­kun­den spä­ter ver­nah­men sie im Zim­mer ein lau­tes Klopf­ge­räusch. Bei­de er­schra­ken hef­tig und so ant­wor­te­te erst ein­mal kei­ner.

»So­was, die alte Bu­che ziert sich ganz, ganz schön hef­tig«, hör­ten sie kurz dar­auf eine hel­le Stim­me em­pört be­mer­ken. Bei­de sa­hen um sich. Da­bei ent­deck­ten sie di­rekt vor ih­nen auf dem Holz­bo­den eine Stel­le, die sich ver­schie­den­ar­tig hoch­wölb­te, wor­auf sie sich zu ei­ner un­de­fi­nier­ba­ren Form ent­wi­ckel­te. Dar­auf­hin platz­te das Holz am obers­ten Ende, als ob ein Vul­kan aus­bre­chen wür­de. Gleich dar­auf sprang ein klei­ner Geist mit ei­nem »Huih« her­aus, und schon fiel das Holz wie­der in sei­nen ur­sprüng­li­chen Zu­stand zu­rück.

Der Geist putz­te sei­nen Man­tel und rief mit ver­är­ger­ter Stim­me: »Die­se Bu­che wird im­mer stör­ri­scher. Es wird im­mer schwe­rer, sie zu durch­drin­gen!«

Aoi­fe und Ni­mue sa­hen sich mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an. Zur glei­chen Zeit hör­ten sie ein lau­tes Ge­räusch, das ei­nem mo­no­to­nen Knur­ren äh­nel­te. Die Bu­che lach­te den klei­nen Geist aus. Der wie­der­um stampf­te mit dem rech­ten Fuß fest auf den Bo­den.

»Da! Lach du nur, du stu­res Holz«, rief er laut.

Doch der Holz­bo­den kon­ter­te mit schau­keln­den Auf- und Ab­wärts­be­we­gun­gen, so­dass der klei­ne Geist ein paar Zen­ti­me­ter hoch in die Luft ge­schleu­dert wur­de. Die­ser war nicht mehr fä­hig zu re­a­gie­ren und krach­te mit ei­nem lau­ten »Aua!« hart zu­rück auf das Holz.

Ni­mue und Aoi­fe lach­ten, da der Geist sich nun wie ein Spiel­ball auf und ab be­weg­te.

Schließ­lich gab der Holz­bo­den nach.

Der Geist putz­te sei­nen Man­tel er­neut und er­klär­te mit fes­ter Stim­me: »Der wird noch was er­le­ben!« Dann wand­te er sei­nen Blick den bei­den zu, än­der­te spon­tan sei­nen ver­är­ger­ten Ge­sichts­aus­druck in einen freund­li­chen und sag­te: »Hal­lo, Eure Ho­hei­ten, wie geht es Euch heu­te, an die­sem so schö­nen Tag?«

Der Geist hob zu ei­nem Sprung auf Ni­mu­es Bett an, je­doch nicht, be­vor er dem Holz­bo­den noch ein­mal einen Tritt ver­passt hat­te. Die­ser war kaum här­ter als ein Fe­dern­schlag hät­te sein kön­nen, und so re­a­gier­te die Bu­che nicht dar­auf. Eine Se­kun­de spä­ter stand er auf dem Bett di­rekt vor den bei­den Mäd­chen und putz­te er­neut sei­nen Man­tel.

»Der Man­tel ist doch to­tal sau­ber«, schmun­zel­te Ni­mue, »muss wohl ein ei­gen­ar­ti­ger Tick sein.«

Sie moch­te den klei­nen Kerl auf An­hieb und über­leg­te, wel­ches We­sen es sein könn­te. Der Sprung auf das Bett war so gar nicht der ei­nes Geis­tes, dem er aber auf­grund sei­nes bei­na­he kris­tall­kla­ren Kör­pers op­tisch äh­nel­te. Es war eher noch der Sprung ei­nes Ko­bolds, aber dann war es eine Ko­bold­art, von der sie noch nie et­was ge­hört oder ge­se­hen hat­te.

Er un­ter­brach ih­ren Ge­dan­ken­gang mit den Wor­ten: »Bald steht ein Fest be­vor. Mei­ne Fa­mi­lie und ich möch­ten dar­an teil­ha­ben. Lädst du uns ein, Ni­mue?«

Aoi­fe wand­te sich ih­rer klei­nen Schwes­ter zu und deu­te­te mit ih­ren Au­gen an, dass sie Nein sa­gen soll­te.

Ni­mue ver­stand ihre An­deu­tung, den­noch frag­te sie: »Wer bist du?«

»Ich bin ein Wald­geist und hei­ße Uku­ku. Wir le­ben mit den Men­schen zu­sam­men auf dem Land; ge­nau­er ge­sagt, le­ben wir auf Her­ren­chiem­see.«

»Wo­her weißt du von dem Fest?«

Der Geist fing an laut zu ki­chern. Er lach­te so fest, dass sein Kör­per vi­brier­te, wäh­rend ihn Ni­mue und Aoi­fe ver­dutzt an­starr­ten.

Nach­dem er sich wie­der be­ru­higt hat­te, mein­te er: »Je­der weiß von dei­nem Fest, Ni­mue.«

Sie nick­te, ohne ver­stan­den zu ha­ben. »Wie vie­le seid ihr?«

Er zähl­te mit sei­nen Fin­gern ab: »Mi­ku­ku, Bri­ku­ku, Eli­ku­ku, Jo­ku­ku …«

Da­bei folg­te Ni­mue sei­nen klei­nen di­cken Fin­gern und ih­rer Be­we­gun­gen. Er hat­te an je­der Hand nur drei da­von. Sie war er­staunt dar­über, denn sie hat­te eine der­ar­ti­ge Hand noch nie zu­vor ge­se­hen. Sei­ne Sta­tur war klein, etwa 30 Zen­ti­me­ter hoch und sei­ne brau­nen Haa­re ver­steck­ten sich un­ter ei­ner lila Müt­ze. Man konn­te nur ein paar dunk­le Spit­zen her­aus­ra­gen se­hen. Uku­ku hat­te win­zi­ge Oh­ren, die man nur bei ge­nau­er Be­trach­tung er­kann­te. Er trug einen brau­nen Man­tel, der sei­nen schwer er­kenn­ba­ren Kör­per ver­deck­te. Nur sei­ne Hän­de und Füße rag­ten her­aus. Er hat­te kei­ne Schu­he an, was sei­ne lan­gen Ze­hen im Ver­gleich zu den klei­nen Fü­ßen über­aus stark her­vor­ste­chen ließ.

Ni­mue ver­glich den klei­nen Geist mit ih­ren gu­ten Freun­den, den See­geis­tern, doch die­se sa­hen ganz an­ders aus. Noch dazu spran­gen sie nie­mals her­um, so wie es Uku­ku tat. Trotz­dem deu­te­te sein Kör­per auf eine Geis­ter­art hin, und so­mit war sich Ni­mue si­cher, er wür­de die Wahr­heit spre­chen. Zu­dem amü­sier­te sie sich über sei­nen Man­tel und des­sen lus­ti­ge Ei­gen­heit um­her­zu­flat­tern, als ob ein star­ker Wind we­hen wür­de. In ei­ni­gen Mo­men­ten sah es da­nach aus, als ob un­ter dem Man­tel gar nichts wäre. Zu­min­dest nichts, was mit El­fe­n­au­gen zu se­hen war.

Da schweif­ten Ni­mu­es Ge­dan­ken voll­kom­men ab, wäh­rend Uku­ku wei­te­re Na­men auf­zähl­te, und sie frag­te sich: »Schwe­ben nicht alle Geis­ter?«

Sie konn­te es sich nicht er­klä­ren, als ihr be­wusst wur­de, dass es von je­dem We­sen ver­schie­de­ne Ar­ten gab und sie na­tür­lich nicht alle Geis­ter­ar­ten ken­nen konn­te. Sie hör­te dem klei­nen Geist wie­der be­wusst zu, als er die Zahl »14« er­wähn­te.

»Es gibt also 14 Wald­geis­ter dei­nes Stam­mes?«, frag­te Ni­mue nach.

Er ver­beug­te sich. »Ja, Eure Ho­heit.«

»Ich freue mich, euch alle auf mei­nem Fest be­grü­ßen zu dür­fen.«

Sie hör­te ein »Huih, hu­di­hui«, und schon war er mit ein paar Sprün­gen aus dem of­fe­nen Fens­ter ver­schwun­den.

Aoi­fe sah sie mit ei­nem un­miss­ver­ständ­li­chen Blick an, sag­te je­doch nichts, wor­auf Ni­mue ent­schlos­sen auf­stand.

»Ich muss weg, Aoi­fe.«

Kurz dar­auf ver­ließ sie ihr Zim­mer.

Ni­mue war auf dem Weg zur Ei­che, um end­lich mit ih­rer in­ne­ren Stim­me zu spre­chen. Wäh­rend sie durch das Di­ckicht des Wal­des ging, hör­te sie Aaro schon von der Fer­ne mit sei­ner Nach­ba­rin laut­stark dis­ku­tie­ren.

Als er Ni­mue ent­deck­te, rief er ihr zu: »Ni­mue, gut, dass du kommst.«

Sie ver­ließ das Di­ckicht und schon be­grüß­te sie Aa­ros Nach­ba­rei­che: »Hal­lo, Ni­mue, ich habe ge­hört, dass du bald Ge­burts­tag hast.«

Ni­mue nick­te.

»Ich bin Ei­kon­dia.«

»Das weiß ich doch?!«, wun­der­te sich Ni­mue.

»Was glaubst du, könn­ten wir mit­fei­ern?«

»Wie soll das ge­hen, ihr könnt euch doch nicht von hier weg­be­we­gen? Das Fest fin­det im Schloss statt.«

»Ja«, ant­wor­te­te Ei­kon­dia und sprach lang­sam und be­dacht wei­ter, »viel­leicht hast du noch eine Idee, wie es doch ge­hen könn­te?«

»Ich kann ja ein­mal dar­über nach­den­ken?«, schlug Ni­mue vor. Doch Ei­kon­di­as Blick senk­te sich und da mein­te Ni­mue: »Ver­spro­chen!«

Aaro nick­te zu­stim­mend. Dann for­der­te er Ni­mue auf: »Nun schnell rein da«, wäh­rend er mit ei­nem Zweig auf sei­nen be­reits of­fen ste­hen­den Baum­stamm deu­te­te. »Du hast heu­te noch ei­ni­ges vor, nicht wahr? Ge­plau­dert wird ein an­der­mal.«

Sie folg­te sei­ner An­wei­sung und ging in die Höh­le. Da­bei be­grüß­te sie die Stuhlda­me, die noch ein we­nig be­lei­digt mit ei­nem lei­sen »Hey« ant­wor­te­te.

Ni­mue setz­te sich auf den Bo­den und kreuz­te ihre Füße, so wie der Ei­chen­baum es ihr er­klärt hat­te. Die Hän­de leg­te sie da­bei auf ihre Ober­schen­kel. Wäh­rend­des­sen hör­te sie lau­te Krach­ge­räu­sche von Aaro, der nun all sei­ne Ener­gie auf die Höh­le kon­zen­trier­te. Dann wur­de es warm um sie her­um. Sie flüs­ter­te: »Dan­ke, Aaro.«

Gleich dar­auf beb­te der Bo­den un­ter ihr sanft, und sie wuss­te, dass dies »Bit­te« hei­ßen soll­te.

Sie woll­te kei­ne Zeit ver­schwen­den und fing so­gleich an, über ihre Wün­sche nach­zu­den­ken. Bei ei­ni­gen Ide­en wur­de ihr Herz­schlag schnel­ler und sie dach­te: »Viel­leicht ist das ein Zei­chen?« Soll­te sie mehr auf Zei­chen ach­ten, an­statt et­was zu su­chen, das sie nicht hö­ren konn­te? Sie war ver­wirrt. Fra­gen über Fra­gen be­gan­nen in ih­rem Kopf zu krei­sen: Wie hört man sei­ne in­ne­re Stim­me? Ist mein gro­ßer Wunsch nicht real?

Da mur­mel­te sie: »Wo­her kommt der Wunsch zu rei­sen? Geht er von mei­ner in­ne­ren Stim­me aus oder will nur eine mei­ner Emo­ti­o­nen das Glei­che wie Cara er­le­ben?«

Sie hat­te kei­ne Ah­nung. Wenn sie nun all die klei­nen und gro­ßen Wün­sche in ih­rem Kopf auf eine Waag­scha­le leg­te, re­a­gier­te die­se un­ter­schied­lich dar­auf. Man­che Wün­sche hat­ten mehr Ge­wicht, weil sie das be­drü­cken­de Ge­fühl der Ver­nunft da­bei spür­te, und an­de­re wie­der­um wa­ren leich­ter. Da­bei fühl­te sie vor al­lem eine auf­re­gen­de Be­geis­te­rung über die Er­fül­lung. Trotz dem in­ten­si­ven Vi­su­a­li­sie­ren hör­te sie je­doch kei­ne Stim­me. Sie kam zu kei­nem Er­geb­nis, und so dach­te sie an das ein­zig­ar­ti­ge Ge­fühl der Leich­tig­keit vom vor­he­ri­gen Tag, aus dem die Stuhlda­me sie un­sanft her­aus­ge­zo­gen hat­te. Was woll­te ihr die­ses Ge­fühl sa­gen? War sie mög­li­cher­wei­se auf dem rich­ti­gen Weg und kurz da­vor, ihre in­ne­re Stim­me zu hö­ren, oder war es nur et­was ganz an­de­res? Et­was, das sie noch nicht kann­te und da­her nicht ver­stand.

Sie seufz­te, denn ihr wur­de im­mer deut­li­cher be­wusst, wie we­nig sie vom Le­ben wuss­te. Die­se Er­kennt­nis be­gann an ihr zu na­gen, wie ein Hund, der sei­nen Kno­chen liebt. Das Ver­lan­gen schaff­te eine Be­reit­schaft, den Mut für das Neue auf­zu­brin­gen. Auch wenn sie die Welt er­obern woll­te, brach­te die da­mit ein­her­ge­hen­de Ver­än­de­rung eine Furcht mit sich.

Nach ei­ner Wei­le be­merk­te sie: »Aaro, ich den­ke und den­ke und fin­de die in­ne­re Stim­me nicht.«

»Ni­mue, nicht den­ken. Schal­te dei­ne Ge­dan­ken aus und gehe in dich. Dei­ne in­ne­re Stim­me kannst du be­stimmt nicht hö­ren, wenn dei­ne Ge­dan­ken lau­ter sind als sie es ist. Ent­spann dich und hör auf zu den­ken!« Er seufz­te. »Im­mer die­ser Kopf, der ist das größ­te Übel.«

»Wie meinst du das?«

Ein un­de­fi­nier­ba­res Ge­räusch ging durch den Raum, das Ni­mue im ers­ten Mo­ment er­schreck­te. Sie hielt den Atem an.

»Es ist so« – er hol­te tief Luft – »dei­ne Ge­dan­ken schwir­ren durch den Kopf und dann, na dann bist du nicht mehr ru­hig und kannst dich nicht mehr auf das kon­zen­trie­ren, was du ei­gent­lich ma­chen willst: dei­ne in­ne­re Stim­me fin­den.«

»Ja, so war es ge­ra­de«, schoss es aus ihr her­aus, denn ihre Ge­dan­ken­gän­ge lie­ßen manch­mal ihr Herz schnel­ler schla­gen. Das be­wirk­te eine in­ne­re Un­ru­he. Gleich­zei­tig fin­gen noch mehr Ge­dan­ken an, sich im Kreis zu dre­hen und lenk­ten sie ab.

»Ver­su­che sie ab­zu­stel­len und über­win­de sie.«

»Über­win­den?«, stell­te Ni­mue in­fra­ge.

»Stell dir die gro­ße Markt­mau­er auf der Zau­be­r­in­sel Süd vor. Wenn du au­ßer­halb stehst, kannst du das Fest nicht se­hen. Trotz­dem ist es da, nicht wahr? So wie die­se Mau­er, ver­sper­ren dir dei­ne Ge­dan­ken die Sicht auf dein in­ne­res Ich, dein See­len­reich, die un­s­terb­li­che Sei­te von dir, dei­ne in­ne­re Stim­me.«

Ni­mue war be­ein­druckt über die Weis­heit ih­res Freun­des und sag­te: »Ich pro­bie­re sie ab­zu­stel­len.«

»Gut, so soll es ge­sche­hen«, er­wi­der­te der Ei­chen­baum.

Ni­mue hat­te je­doch kei­ne Ah­nung, wie man Ge­dan­ken er­folg­reich ab­stellt. Denkt man nicht im­mer, ir­gend­wie, war sie sich si­cher.

Stúh­ly er­kann­te ihre Un­si­cher­heit und schlug vor: »Kon­zen­trie­re dich auf den Fur­chen­stein vor dir. Das wird dir hel­fen.«

Ohne ihre Wor­te in­fra­ge zu stel­len oder ihr zu ant­wor­ten, tat sie dies. Sie fi­xier­te den Kalk­stein, der von schlan­gen­ar­ti­gen Rin­nen durch­zo­gen war. Den­noch ent­stan­den wie­der Ge­dan­ken, denn un­be­wusst fing sie an, den Stein zu be­schrei­ben: sei­ne na­tür­li­che Form, sein Mus­ter, die ver­schie­de­nen Fa­r­ben und sei­ne mi­ne­ra­li­sche Zu­sam­men­set­zung. Es dau­er­te eine Wei­le, bis sie den Stein für sich de­fi­niert hat­te. Sie stopp­te noch im Kern ein paar an­de­re, sich ein­schlei­chen­de Ge­dan­ken, be­vor ihr Kopf all die Schwe­re losließ, die er kürz­lich in­ne­hat­te. Auf die­se Wei­se ver­schwamm der Stein nach und nach vor ih­ren Au­gen. Es war, als ob ihre Seh­kraft sich von au­ßen nach in­nen wand­te und da­bei die äu­ße­re Er­schei­nung im voll­kom­me­nen Dun­keln ste­hen­ließ. Nach­dem sie voll­stän­dig im Meer des Nichts ein­ge­taucht war, schloss sie ihre Au­gen­li­der. Dar­auf­hin fühl­te sie, wie sich ihre Brust all­mäh­lich öff­ne­te und da­bei er­wärm­te und dann, plötz­lich, war sie wie­der in die­sem Zu­stand, der sich so gut an­fühl­te. Kein Ge­dan­ke be­las­te­te sie mehr. Kei­ne Wor­te kreis­ten in ih­rem Kopf. Es be­stand nur noch das Ge­fühl; warm, rund und wohl­wol­lend. Nichts wur­de mehr in­fra­ge ge­stellt, er­klärt oder be­stimmt, son­dern aus­schließ­lich ge­lebt. Sie wuss­te nicht, wie lan­ge die­ser Mo­ment an­hielt, als sich ein Bild vor ihr auf­tat. Gleich­zei­tig nahm der schwe­re­lo­se Zu­stand das nor­ma­le Kör­per­ge­fühl wie­der an. Da­durch fühl­te es sich schwe­rer und an­fangs be­las­tend an.

Ni­mue öff­ne­te ihre Au­gen und sah die Stuhlda­me di­rekt vor ihr ste­hen. Ihre Rü­cken­leh­ne dehn­te sich der­art, dass dar­auf ein la­chen­der Mund sicht­bar wur­de.

»Na, wie war’s?«, woll­te Stúh­ly wis­sen.

»Schön, aber wo war ich?«

Schlag­ar­tig krach­te es um sie bei­de her­um. Der Baum be­weg­te sich wild hin und her: »Du wirst doch nicht, Stuhl?!«

»Nein, nein, ich habe ge­war­tet bis Ni­mue selbst zu­rück­kam.«

»Gut zu hö­ren. Wie war’s, Ni­mue?«, frag­te er dar­auf­hin be­ru­higt.

»Ein­zig­ar­tig toll, Aaro. Ich weiß nur nicht, wo ich war?«

»Du bist auf dem Weg zu dei­nem in­ners­ten Selbst ge­we­sen, also zu dir.«

»Wirk­lich?! Da war aber kei­ne Stim­me«, be­merk­te Ni­mue leicht frus­triert.

»Gib dir Zeit. Es ist noch kein per­fek­ter Sich-Selbst-Fin­den­der vom Him­mel ge­fal­len.«

Ni­mue woll­te ge­ra­de auf­ste­hen und den Ein­gang öff­nen las­sen, als Aa­ros Herz laut und un­ru­hig zu po­chen be­gann. Er flüs­ter­te: »Bleib drin­nen, be­weg dich nicht.«

Er­schro­cken hielt sie sich mäus­chen­still. Da hör­te sie einen sich an­nä­hern­den Tu­mult. Er deu­te­te auf eine wil­de Her­de hin, die laut durch den Wald tram­pel­te. Das dump­fe Ge­räusch ih­rer Schrit­te konn­te man mit kei­nem der zar­ten El­fen­schrit­te ver­glei­chen, also muss­ten es an­de­re We­sen sein. Sie schärf­te ihre Sin­ne und hör­te ei­ni­ge Stim­men durch­ein­an­der­spre­chen. Da­bei ver­such­te Ni­mue, durch den di­cken Baum­stamm hin­durch­zu­se­hen. Es ge­lang ihr je­doch nicht. Gleich­zei­tig wur­de sie auf eine tie­fe Stim­me auf­merk­sam: »Wo ist die Prin­zes­sin? Das Brett hat doch ge­sagt, dass sie im Wald ist.«

»Ich weiß es nicht, Va­ter. Lass uns auf der an­de­ren Sei­te des Wal­des su­chen.«

»Auf kei­nen Fall. Ich rie­che hier El­fen, also muss sie hier sein!«, er­wi­der­te wie­der­um eine an­de­re Stim­me harsch.

Ni­mue konn­te die­se We­sen eben­so rie­chen. Es war ein un­an­ge­neh­mer Ge­ruch, der sie an den Kom­post er­in­ner­te, den die Schwei­ne für ge­wöhn­lich fra­ßen.

Sie ging einen Schritt zu­rück, weg von dem im­mer stär­ker wer­den­den, durch­drin­gen­den Duft und trat da­bei auf das Stuhl­bein.

»Aua«, be­schwer­te sich die Stuhlda­me.

»Da, da war was!«, schrie ei­nes die­ser stin­ken­den We­sen.

Ni­mue strich Stúh­ly sanft über den Arm und ent­schul­dig­te sich da­mit. Da fing das Ei­chen­laub au­ßer­halb der Höh­le an, un­ter der Last von Schrit­ten zu ra­scheln. Ni­mue wur­de klar, dass die We­sen jetzt rund um den Baum­stamm nach ihr such­ten, als es laut klopf­te. Ni­mue zuck­te hef­tig zu­sam­men. Sie kann­te die­se Krea­tu­ren nicht und so über­fiel sie schlag­ar­tig eine Angst. Sie ver­mu­te­te zu­dem, dass die Ei­chen­blät­ter auf dem Höh­len­ein­gang kein Hin­der­nis für sol­che We­sen dar­stell­ten.

»Was wol­len die von mir?«, frag­te sie sich zit­ternd.

Ni­mue hat­te kei­ne Ah­nung, dass Aaro die Blät­ter nur des­halb auf den Ein­gang leg­te, weil sie den In­nen­raum schö­ner aus­se­hen lie­ßen. Das Grün er­hell­te sanft den Raum und kre­i­er­te eine har­mo­ni­sche Stim­mung. Au­ßer­halb je­doch schloss er sich voll­kom­men, so­dass nie­mand auch nur einen klei­nen Spalt se­hen konn­te. Aus die­sem Grund konn­ten die an­kom­men­den We­sen kei­nen Hin­weis auf eine Öff­nung oder Höh­le fin­den. So war Ni­mue voll­kom­men be­schützt in ih­rem Ver­steck, doch war ihr das zu die­ser Zeit nicht be­wusst.

Dann er­tön­te ein wei­te­rer Schlag auf den Baum­stamm. Erst ganz leicht und dann im­mer fes­ter. Dar­auf­hin mehr­ten sich die Schlä­ge und es wur­de im­mer lau­ter im In­nen­raum. Nur einen Mo­ment lang muss­te Ni­mue ihre Oh­ren vor dem Lärm schüt­zen, dann hör­te sie vie­le Stim­men laut durch­ein­an­der­ru­fen. Se­kun­den spä­ter wur­de der Ge­ruch schwä­cher und schwä­cher. Sie hat­te kei­ne Ah­nung, was sich au­ßer­halb ih­res Ver­stecks ab­spiel­te. Es war Aaro, dem die Schlä­ge zu bunt wur­den. Er pack­te mit sei­nen Äs­ten je­des ein­zel­ne die­ser We­sen und schleu­der­te es durch die Luft; mit ei­ner sol­chen Wucht, dass sie erst wie­der vie­le Me­ter wei­ter auf den Bo­den fie­len. An­schlie­ßend war es to­ten­still.

»Ni­mue, sie sind weg«, be­merk­te der Ei­chen­baum.

»Wer war das?«, frag­te sie auf­ge­wühlt. Ihr Herz schlug hef­tig in ih­rer Brust, als ob es her­aus­hüp­fen woll­te.

»Idi­o­ten«, er­wi­der­te Aaro.

»Idi­o­ten?«

»Ja, mach dir kei­ne Sor­gen, die wirst du hier nie wie­der se­hen, zu­min­dest nicht in die­sem Stück Wald.«

»Wer, Aaro?«, wie­der­hol­te sie sich.

»Ich weiß es nicht. Ich glau­be, dass es Prin­gies wa­ren.«

»Was sind Prin­gies?«

»Ich habe ge­hört, dass die furcht­bar stin­ken sol­len und klei­ne, un­an­ge­neh­me Le­be­we­sen sind. Über­all, wo sie auf­tau­chen, ver­trei­ben sie die gu­ten We­sen, und nur die Schat­ten­we­sen kön­nen den üb­len Ge­ruch er­tra­gen. Sie selbst sol­len je­doch harm­los sein.«

Eine kur­ze Stil­le er­füll­te den Höh­len­raum. Kurz dar­auf schüt­tel­te Aaro sich, so­dass sei­ne Äste in der Luft schnell hin- und her­flo­gen. Er be­merk­te da­bei: »Puh, sind die häss­lich!«

Der Baum schüt­tel­te sich nun noch in­ten­si­ver, um das gräss­li­che Bild in sei­nem Kopf los­zu­wer­den. Da­bei schwank­te der In­nen­raum des Baum­stam­mes hef­tig um­her und so rück­te die Stuhlda­me nä­her in die Mit­te, um nicht von der Wucht der Be­we­gun­gen ge­trof­fen zu wer­den.

»Wie ha­ben sie denn aus­ge­se­hen?«, woll­te Ni­mue wis­sen.

»Lan­ge, spit­ze, hun­de­ähn­li­che Na­sen. Kei­ne Haa­re auf dem Kopf. Ihre Haut ist gru­se­lig grau. Sie wa­ren nur mit ei­ner Hose be­deckt. Die­se war so schmut­zig, dass ich kei­ne Fa­r­be er­ken­nen konn­te und auch noch viel zu kurz. Die Oh­ren sind lang und ge­nau­so spitz wie die Nase. Sie ha­ben ganz klei­ne Au­gen, da­für je­doch gro­ße, lan­ge Hän­de und Füße. Ihr Ober­kör­per ist ku­gel­rund, es­sen wohl zu viel Un­kraut.«

Ni­mue stell­te sich die We­sen bild­lich vor. Da­bei ver­zog sie vor Ekel ihr Ge­sicht. »War­um, meinst du, wa­ren die hier?«

»Die ha­ben dich ge­sucht. Wol­len wohl auch auf dei­ne Par­ty«, ver­mu­te­te Aaro.

»Das wäre ja furcht­bar!«, rief sie er­schro­cken.

»Die kom­men nicht wie­der, Ni­mue. De­nen ha­ben wir ge­hö­rig Angst ein­ge­jagt.«

Ni­mue war er­leich­tert, das zu hö­ren. Sie woll­te nur gute We­sen zu ih­rem Fest ein­la­den, und so wie es aus­sah, ge­hör­ten die­se nicht dazu. »Dan­ke, Aaro.«

»Kla­ro«, ant­wor­te­te der Baum schüch­tern.

»Ich gehe heim. Kannst du mir …?«

So­gleich be­weg­ten sich die Ei­chen­blät­ter und öff­ne­ten den Ein­gang.

»Dan­ke.« Sie ging hin­aus und ver­ab­schie­de­te sich bei der Stuhlda­me, bei Aaro und na­tür­lich auch bei Ei­kon­dia. Ihre letz­ten Wor­te wa­ren eine Er­in­ne­rung an ih­ren Wunsch. Ni­mue wuss­te nicht, wie sie ihr den er­fül­len soll­te, und doch war sie fest ent­schlos­sen, es zu tun. Sie woll­te mit ih­rem Groß­va­ter dar­über spre­chen, der be­stimmt eine Lö­sung für ihr Pro­blem hat­te, so war sie sich si­cher.

Ni­mue lief schnell durch das Di­ckicht des Wal­des in Rich­tung Schloss. Der Schock steck­te ihr noch in den Glie­dern, und so wun­der­te sie sich nicht, dass sie das Ge­fühl hat­te, ver­folgt zu wer­den. Mehr­mals dreh­te sie sich um, nur um si­cher zu ge­hen, dass sie es sich nur ein­ge­bil­det hat­te und kein Prin­gies ihr folg­te. An­de­rer­seits roch sie nichts. Also konn­te kein Prin­gies auch nur in der Nähe sein. Er­leich­tert über die­se Tat­sa­che ging sie lang­sa­mer, als sie er­neut ein Ge­räusch hin­ter sich be­merk­te. Ni­mue dreh­te sich um, sah nichts und wie­der nichts, bis sie er­kann­te, dass sich et­was hin­ter ei­nem Baum ver­steck­te.

Dann ging al­les ganz schnell. Sie lief wei­ter, als ob sie nichts be­merkt hät­te, dreh­te sich ge­schwind um und mach­te da­bei einen lan­gen Satz zur Sei­te. Als sie wie­der fest auf ih­ren Bei­nen stand, sah sie ihn vor sich ste­hen. Ein klei­ner Wald­geist, der sich so er­schrak, dass er ängst­lich einen klei­nen Baum um­klam­mer­te. Sei­ne Hän­de und Füße zit­ter­ten und er rief: »Was wollt Ihr?«

»Was wollt ihr? Ihr seid es, der mir folgt.«

Er spür­te, dass in ih­rer Stim­me kein Zorn oder Är­ger lag. Of­fen­sicht­lich er­leich­tert dar­über, ließ er den Baum wie­der los. »Ich woll­te Euch spre­chen, Eure Ho­heit.«

»Gut, dann mal los«, be­merk­te sie un­ge­dul­dig.

»Ich ge­hö­re zu den Baum­geis­tern und oft se­hen wir Euch durch den Wald lau­fen.«

Sie dach­te sich be­reits auf­grund sei­ner Er­schei­nung, dass er zu den Wald­geis­tern ge­hö­ren muss­te. Sein Kopf äh­nel­te durch sei­ne ke­gel­för­mi­ge Kro­ne ei­nem Lär­chen­zap­fen. Der Kör­per glich ei­ner Ho­lun­der­bee­re, aus der lan­ge Bei­ne her­vor­rag­ten. Als er sei­ne Arme auf sei­nen Ober­kör­per leg­te, ver­schmol­zen sie und ver­schwan­den da­bei kom­plett dar­in. Sein brei­tes Ge­sicht hat­te war­me Au­gen und der Mund ließ selbst im ge­schlos­se­nen Zu­stand ein­zel­ne Zäh­ne her­ausste­hen. Er war of­fen­sicht­lich kei­ne Schön­heit, und doch hat­te er für Ni­mue et­was un­be­schreib­lich Schö­nes, was sie be­rühr­te.

»Wir ken­nen Euch schon, seit­dem Ihr ein Baby wart. Der Kö­nig und auch Euer Groß­va­ter Aar ka­men da­mals oft mit Euch in den Wald und zeig­ten Euch all sei­ne Schät­ze. Auch wir wur­den uns schon ein­mal vor­ge­stellt. Dar­an könnt Ihr Euch be­stimmt nicht mehr er­in­nern.«

Ni­mue wuss­te es wirk­lich nicht mehr, woll­te sei­ne Ge­füh­le den­noch nicht ver­let­zen und sag­te: »Ich kann mich an kei­nes mei­ner ers­ten Le­bens­jah­re er­in­nern. Das tut mir leid, klei­ner Geist.«

Die­ser wink­te ab, als Ni­mue für einen kur­z­en Mo­ment einen Arm er­kann­te, der dar­auf­hin wie­der mit sei­nem Kör­per ver­schmolz. »Wie ist dein Name?«, woll­te sie wis­sen.

»Freu­de, da ich mei­nem Volk mit je­dem Lä­cheln Freu­de schen­ke.«

Ni­mue ver­spür­te bei die­sen Wor­ten auch eine Freu­de in ihr auf­stei­gen und frag­te: »Du und dei­ne Fa­mi­lie möch­ten zum Fest kom­men, nicht wahr?«

»Ja, wenn du, ach, Ihr es wollt?«

»Du ist in Ord­nung. Wie vie­le seid ihr?«

»15, Eure Ho­heit.«

»Sonst noch was?«

Er schüt­tel­te den Kopf.

Ni­mue ver­ab­schie­de­te sich mit den Wor­ten: »Bis bald, Freu­de. Ich freue mich, dass ihr zu mei­nem Fest kommt.« Kurz dar­auf ver­schwand sie im Di­ckicht des Wal­des.

Ni­mue er­reich­te das Schloss ohne wei­te­re Vor­komm­nis­se und blieb in der gro­ßen Ein­gangs­hal­le ste­hen, um einen Blick auf die Uhr zu wer­fen. Es war eine be­son­de­re Uhr, näm­lich eine le­ben­de Elfe na­mens Uhri­lia, de­ren Flü­gel­schlag jede Mi­nu­te an­zeig­te. Die­se Elfe war um mehr als einen Me­ter klei­ner als die an­de­ren El­fen. Bei ge­nau­er Be­trach­tung hät­te man mei­nen kön­nen, dass sich schon von Ge­burt an zeig­te, dass sie ein­mal eine Uhr wer­den soll­te.

Uhri­lia öff­ne­te ihre Au­gen nach ei­nem aus­ge­dehn­ten Mit­tags­schlaf und ent­deck­te Ni­mue in der Hal­le. »Bald ist es drei Uhr, Ni­mue, und nur noch zwei Stun­den, bis Ka­tar kommt«, sag­te sie gäh­nend.

Ni­mue be­dank­te sich für die Zeit­an­ga­be und ging in ihr Zim­mer.

»Was soll ich an ei­nem Tag wie die­sem an­zie­hen?«, frag­te sie sich.

Ein Kleid, da war sie sich si­cher, aber wel­ches? Wel­ches ih­rer Klei­der war an­ge­mes­sen für den Bru­der des Kö­nigs? Ni­mue setz­te sich auf ihr Lie­ge­so­fa und stell­te sich ihre Gar­de­ro­be bild­lich vor. Plötz­lich stieg in ihr ein si­che­res Ge­fühl auf, das rich­ti­ge ge­fun­den zu ha­ben. Es soll­te ihr hell­gel­bes Kleid sein. Ihre Emp­fin­dung war un­be­schreib­lich klar, deut­li­cher als je­des aus­ge­spro­che­ne Wort es hät­te sein kön­nen. Sie mach­te sich kei­ne Ge­dan­ken dar­über, wo­her die­ser Im­puls kam, son­dern freu­te sich, eine schnel­le Ent­schei­dung ge­trof­fen zu ha­ben.

Ent­schlos­sen sag­te sie: »Schrank, kann ich bit­te das hell­gel­be Kleid ha­ben?«

Ihre Wor­te wa­ren noch nicht ganz aus­ge­spro­chen und schon öff­ne­ten sich die Tü­ren, be­glei­tet von ei­nem lau­ten, knar­ren­den Holz­ge­räusch. Sie sah das ge­wünsch­te Kleid, das wie von Geis­ter­hand aus der Rei­he her­vor­rag­te, und nahm es an sich.

Der Schrank be­merk­te: »Das Kleid, so edel wie du, mei­ne El­fen­prin­zes­sin. Es soll dich an ei­nem schö­nen Abend schmü­ckend be­glei­ten.« Dar­auf­hin gin­gen die Tü­ren wie­der zu.

»Dan­ke, lie­ber Schrank.«

Se­kun­den spä­ter war Ni­mue hin­ter ei­nem Pa­ra­vent aus Ma­ha­go­ni ver­schwun­den. Dort zog sie sich um. Mit ei­nem woh­li­gen Ge­fühl stell­te sie sich kurz dar­auf vor den Spie­gel. Das blas­se Gelb schim­mer­te im Ker­zen­licht und sie spür­te die edle Baum­wol­le ge­schmei­dig auf ih­rer Haut lie­gen. Das Ober­teil hat­te dün­ne Trä­ger und ver­schmolz bei­na­he mit ih­rem Kör­per. Der Rock war weit und lang. Nur noch ein paar Ze­hen spitz­ten dar­un­ter her­vor. Am Rü­cken wa­ren un­sicht­ba­re El­fen­flü­gel be­fes­tigt, de­ren Er­schei­nung nur im Ker­zen­licht auf­fla­cker­te. Die­ses Kleid hat­te ihre Groß­mut­ter selbst ge­näht. Es stand ihr ein­zig­ar­tig gut und so er­wähn­te die Spie­gelda­me: »Schön siehst du aus, Ni­mue.«

Ni­mue freu­te sich über das Kom­pli­ment und be­dank­te sich bei ihr. Dann ging sie in das Büro ih­res Groß­va­ters. Dort an­ge­kom­men, sah sie ihn an sei­nem Schreib­tisch sit­zen.

»Hal­lo, mei­ne Klei­ne, schon fer­tig, wie ich sehe.«

Sie nick­te. »Ich woll­te mit dir spre­chen, Opa.«

Nach ei­ner leich­ten Kopf­be­we­gung nach un­ten wand­te er sich wie­der dem Buch zu, das di­rekt vor ihm auf dem Schreib­tisch lag. Es war groß und hat­te hell­bei­ge Blät­ter mit schwa­r­zer Tin­te dar­auf.

Ni­mue be­wun­der­te den Rand des Um­schlags, der dick und aus feins­tem brau­nem, sehr al­tem Le­der war. Sie konn­te sich nicht er­in­nern, das Buch schon ein­mal ge­se­hen zu ha­ben, und so wan­der­ten ihre Bli­cke lang­sam über die Sei­ten. Da­bei fin­gen ihre Au­gen an, das Buch zu fi­xie­ren. Ir­gen­d­et­was zog ihre Auf­merk­sam­keit re­gel­recht an. Sie fühl­te, wie sich ihre Bli­cke ver­selbst­stän­dig­ten. Es war ihr ur­plötz­lich nicht mehr mög­lich, ihre Au­gen von dem Werk ab­zu­wen­den.

Aar er­kann­te dies und lä­chel­te. »Um was geht es denn?«

Ni­mue muss­te ih­ren Kopf mit ei­nem hef­ti­gen Ruck weg­zie­hen, um das Buch nicht mehr an­zu­star­ren. Da­nach setz­te sie sich auf einen Stuhl, der ge­gen­über von Aars Oh­ren­ses­sel am Ka­min stand. Von die­sem aus konn­te sie ih­ren Groß­va­ter gut se­hen. Er blick­te im­mer noch auf die ge­öff­ne­ten Sei­ten, und doch wuss­te Ni­mue, dass er ih­ren Wor­ten auf­merk­sam lau­schen wür­de.

»Ich war heu­te im Wald, Opa, bei der Ei­che, und habe me­di­tiert. Aaro mein­te, dass ich auf dem Weg zu mei­nem in­ne­ren Selbst war. Kann das sein?«

»So, so, die Ei­che mein­te das«, be­merk­te er schmun­zelnd. »Was hast du da­bei er­lebt, mei­ne Klei­ne?«

»Ich weiß es nicht, aber schön war es schon. Ich habe ver­sucht, nicht mehr zu den­ken, und ir­gend­wie war das echt schwie­rig, und dann sag­te Stúh­ly, dass ich mich auf einen Stein kon­zen­trie­ren soll­te, der vor mir lag. Da­nach war al­les an­ders. Ich dach­te nichts mehr und fühl­te eine Wär­me, die mei­nen Kör­per ent­spann­te. Es war, als ob ich durch eine traum­haf­te, den­noch mir ver­bor­ge­ne Land­schaft wan­deln wür­de. Dort zeig­te sich mir ein Schwan. Gleich da­nach sah ich auch das Was­ser, in dem er schwamm. Der Schwan war wun­der­schön, Opa.« Sie hielt kurz inne. »Eine Stim­me habe ich aber nicht ge­hört. Wie soll ich nur mei­ne in­ne­re Stim­me fin­den?«

»Wie hast du dich da­bei ge­fühlt?«

»Gut. Es war so ähn­lich wie frü­her, bei Mama und Papa, wenn ich in ih­rem Bett zum Ku­scheln lag oder wenn du oder Oma mich ganz fest drückt. Auf je­den Fall war es schön.«

»Du hast dich be­schützt, ge­liebt und auf­ge­ho­ben ge­fühlt. Du bist dem ur­sprüng­li­chen rei­nen Zu­stand dei­ner See­le nä­her­ge­kom­men. Die­ser be­steht aus wah­rer Lie­be. Seit dei­ner Ge­burt kann ich sie in dei­nen Au­gen strah­len se­hen. Die­se fei­nen Emp­fin­dun­gen wer­den dir ein gu­ter Weg­wei­ser sein.«

»Aber die in­ne­re Stim­me, Opa?«, frag­te sie mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen.

»Die in­ne­re Stim­me ist dein Ge­fühl. Du wirst kei­ne Lau­te in dei­nen Oh­ren hö­ren, wie du mei­ne oder an­de­re Stim­men hörst. Es ist in dir. Manch­mal be­steht aus­schließ­lich das Ge­fühl, und manch­mal fühlst du und ver­wan­delst dei­ne Emp­fin­dun­gen in Wor­te.«

»Das Was­ser, in dem der Schwan schwamm, hat mich an un­ser Brun­nen­was­ser er­in­nert, nur zeig­te es sich viel kla­rer«, spru­del­te es dann aus ihr her­aus.

»Ja, die Quel­le dei­ner See­le.«

»Und der Schwan?«, frag­te Ni­mue.

»Frag ihn doch, viel­leicht ist er dein See­len­tier. Jede Elfe hat ein See­len­tier. Zu un­ter­schied­lichs­ten Zei­ten zei­gen sie sich ih­ren Schütz­lin­gen. Viel­leicht woll­te dir der Schwan mit­tei­len, dass er dein See­len­tier ist. Oder hast du ein an­de­res?«

»Nein, habe ich nicht. Zu­min­dest weiß ich nichts da­von. Ich wuss­te ja bis ge­ra­de eben nicht ein­mal, dass es See­len­tie­re gibt.«

»Du könn­test ihn fra­gen, war­um er sich dir zeigt.«

»Das ma­che ich gleich mor­gen, Opa«, er­klär­te sie ent­schlos­sen.

Ni­mue lehn­te sich zu­rück in den Stuhl und ver­lor sich in ih­ren Ge­dan­ken. »Die in­ne­re Stim­me ist also ein Ge­fühl«, dach­te sie. »Wie kann sie mir dann den rich­ti­gen Wunsch mit­tei­len?« Erst woll­te sie Aar da­nach fra­gen. Dann je­doch sah sie ihn eine auf­ge­schla­ge­ne Sei­te so in­ten­siv stu­die­ren, dass Ni­mue ihn nicht noch ein­mal stö­ren woll­te. Sie ent­schied sich für einen spä­te­ren Zeit­punkt und be­ob­ach­te­te ihn beim Le­sen.

Für sie stell­te er die Voll­kom­men­heit ei­nes El­fen dar. Er war ei­ni­ge Zen­ti­me­ter grö­ßer als sie. Hat­te lan­ges, hell­brau­nes Haar. Sei­ne spit­zen Oh­ren rag­ten über die Haa­re hin­aus und wa­ren an den En­den et­was schrum­pe­lig. Das Haar glänz­te im Ker­zen­licht, wo­bei sie ei­ni­ge Licht­re­fle­xe durch sein Ge­sicht lau­fen sah. Sei­ne Au­gen wa­ren groß und von ei­nem Blau, wel­ches nicht kla­rer und rei­ner hät­te sein kön­nen. Er hat­te eine lan­ge, ge­ra­de Nase und sein Mund war fein, und doch hat­te er kei­ne schma­len Lip­pen, wie es für El­fen üb­lich war. Sei­ne Haut­fa­r­be war bläu­lich, da er nur sel­ten an Land ging, mit ei­nem brau­nen Schim­mer dar­in. Er trug meis­tens einen grü­nen Geh­rock mit Gür­tel, eine brau­ne Hose und al­tes, ge­bun­de­nes Le­der als Schu­he.

»Willst du wis­sen, Ni­mue, was für ein Buch das ist?«

Sie nick­te auf­ge­regt.

»Es ist un­ser Ah­nen­buch, in dem alle dei­ne Vor­fah­ren ste­hen. Es heißt Shen­jam.«

Ihre Au­gen wei­te­ten sich. »Alle?«

»Ja, alle.«

»Du auch, Opa?«

»Ja, ich auch und du auch, mei­ne Klei­ne.«

Ni­mue sprang auf und rann­te zu ih­rem Groß­va­ter, lehn­te sich bei ihm an den Stuhl und be­trach­te­te die auf­ge­schla­ge­ne Sei­te. Dort war sein Va­ter Seo­ras, der Kö­nig, fest­ge­hal­ten. Am obe­ren Rand konn­te sie le­sen »Sohn des Tad­gh, ehe­ma­li­ger Kö­nig des Kö­nigs­reichs Shen­ja – SEO­RAS, Kö­nig des Kö­nig­reichs Shen­ja.« An bei­den Sei­ten be­fand sich eine Pflan­ze, die von un­ten nach oben wuchs.

»Siehst du die Pflan­ze, Ni­mue? Sie wächst, so­lan­ge die Elfe am Le­ben ist. Der Tod be­en­det eben­so ihr Wachs­tum. Da­durch kann man schon beim ers­ten Blick er­ken­nen, ob die Elfe noch am Le­ben ist und, falls nicht, wie alt sie ge­wor­den ist.«

Er blät­ter­te eine Sei­te wei­ter. Auf die­ser war die Pflan­ze nur zur Hälf­te hoch­ge­wach­sen und Ni­mue stell­te fest – im Ge­gen­satz zu der vor­he­ri­gen – sie be­weg­te sich nicht leicht hin und her. Sie las den Na­men Ba­ra­bel und wuss­te so­gleich wie­so. Es war ihre Ur­groß­mut­ter, die auf der lan­gen Rei­se in Eng­land um­ge­bracht wor­den war.

»Was ist das für eine Blu­me?«

»Das ist ein Efeu, Ma­mas Lieb­lings­pflan­ze.«

Er blät­ter­te eine Sei­te wei­ter und da war Ka­tar. Sei­ne Blu­me war ein gel­ber Fin­ger­hut, der sich leicht be­weg­te. »Siehst du, mein On­kel liebt den gel­ben Fin­ger­hut. Be­son­ders sei­ne rei­ne, gel­be Blü­ten­fa­r­be hat es ihm an­ge­tan.« Er blick­te kurz zu ihr auf und be­merk­te: »So wie dein Kleid. Gute Wahl!«

Sie lä­chel­te zu­frie­den. »Und ich, Opa, was habe ich für eine Blu­me?«

Er blät­ter­te wei­ter und wei­ter, bis er auf ihre Sei­te stieß. Mit­tig am obe­ren Rand las sie: »Toch­ter des Hu­bert, des Kö­nigs En­kel – NI­MUE, Ur­en­ke­lin des Kö­nigs.« Dann ent­deck­te sie ihre Blu­me am un­te­ren Rand. Sie war noch ganz klein. Sie mach­te den An­schein, als ob sie ge­ra­de erst zu wach­sen be­gon­nen hät­te.

Er­staunt frag­te Ni­mue: »Wie kann das Buch das wis­sen? Wie geht das? Die­se Blu­me wächst doch seit mei­ner Ge­burt?«

»Ja, das tut sie und ja, es weiß mehr als du ahnst. Wenn du be­reit bist, wirst du es auch le­sen kön­nen.«

»Wie meinst du das?«

»In die­ser Schrift lie­gen dir vie­le Wor­te noch ver­bor­gen. Sie zei­gen sich nur den Aus­er­wähl­ten. Auch ich kann nur be­dingt über un­se­re Vor­fah­ren le­sen.«

»Wer kann dann al­les dar­in le­sen?«

»Seo­ras ist ein Aus­er­wähl­ter. Ihm zei­gen sich alle Wör­ter.«

»Was steht in die­sem Buch?«

»Al­les über den oder die Elfe, de­ren Name oben am Rand steht. Da­bei spie­len Her­kunft, Cha­rak­ter, Kämp­fe, Ver­diens­te, Ehe, Freun­de, Fes­te, be­wuss­te und un­be­wuss­te Ta­ten eine Rol­le; ein­fach al­les, das voll­kom­me­ne Le­ben die­ser Elfe.«

»Wow. Meinst du, dass ich ir­gend­wann mal die Wör­ter le­sen kann?«

»Viel­leicht, Ni­mue, viel­leicht.«

»Kann ich die Blu­men mei­ner El­tern se­hen«, frag­te Ni­mue ein we­nig trau­rig.

Er hol­te ge­ra­de Luft, um zu ant­wor­ten, als ab­rupt die Tür auf­ge­ris­sen wur­de.

Ni­mue er­schrak hef­tig, dann hör­te sie Ma­rie schrei­en: »Ka­tar, Ka­tar!«

Es lag eine Be­dro­hung in ih­rer Stim­me, was Ni­mue be­un­ru­hig­te. Im Grun­de gab es kei­ne Un­ru­hen oder an­de­re be­droh­li­che Er­eig­nis­se in ih­rem El­fen­le­ben, und doch lehr­te ihr Groß­va­ter sie, im­mer acht­sam zu sein. Leicht­sinn konn­te schreck­li­che Fol­gen ha­ben, wie sich an ih­rer Fa­mi­li­en­ge­schich­te be­reits zeig­te.

Aar schloss das Buch und leg­te es in einen Raum hin­ter ei­nem Bild, den Ni­mue bis­her nicht kann­te. Er rück­te das Bild wie­der zu­recht und rief: »Ich kom­me!«

»Was ist los, Ma­rie?«, woll­te Ni­mue wis­sen.

»Geh in dein Zim­mer und war­te, bis ich kom­me«, hör­te sie dar­auf­hin ihre Groß­mut­ter Oona sa­gen, ohne sie da­bei zu se­hen.

Ma­rie und Aar ver­schwan­den durch die Tür, wor­auf Ni­mue wie ver­stei­nert auf dem glei­chen Platz stand.

»Was ist pas­siert?«, frag­te sie sich. »War­um muss ich in mein Zim­mer ge­hen?«

Lang­sam be­weg­te sie sich fort. Als sie dort an­kam, über­fiel sie die Neu­gier­de. »Nein«, sag­te sie be­stim­mend, »ich will wis­sen, was da los ist!«

Ni­mue schlich auf Ze­hen­spit­zen aus dem Zim­mer und sah sich um. Der Gang war el­fen­leer. Dar­auf­hin be­gab sie sich in die gro­ße Ein­gangs­hal­le.

»Uhri­lia, weißt du, was hier vor sich geht?«

»Ich weiß nur, dass vor ge­nau 14 Mi­nu­ten und zehn Se­kun­den Ma­rie schrei­end durch die Hal­le lief. Dann, ge­nau fünf Mi­nu­ten und drei Se­kun­den spä­ter, rann­te die Kam­me­rel­fe Tt­schi el­fen­schnell durch den Raum, ge­folgt von an­de­ren El­fen und ein paar Hein­zel­chen. Ge­ra­de eben, also vor zwei Mi­nu­ten und 59 Se­kun­den, lief dein Groß­va­ter mit Ma­rie durch die Hal­le und ver­ließ sie durch die gro­ße Ein­gangs­tür wie­der.« Uhri­lia at­me­te tief durch. »Also«, be­schwer­te sie sich be­lei­digt, »mir sagt ja kei­ner was. Ich bin ja nur eine klei­ne Uh­re­n­el­fe, die die Zeit für alle im Über­blick be­hält.«

»Dan­ke, Uhri­lia, das bist du be­stimmt nicht. Wir sind alle sehr froh, dich zu ha­ben.«

Die­se un­ge­wöhn­lich net­ten Wor­te freu­ten die Uhr, und so lä­chel­te sie vor sich hin.

Ni­mue ging in den Hof hin­aus und sah al­ler­lei Tie­re, die fra­ßen, mit­ein­an­der kom­mu­ni­zier­ten oder wild um­her­lie­fen. Sie blick­te zu den Pfer­de­stäl­len und ent­deck­te ih­ren Groß­va­ter, der hin­ter ei­ner Stall­tür ver­schwand. Die­se stand einen Spalt weit of­fen und so ver­stand sie die Stim­men der an­we­sen­den El­fen. Ab­rupt blieb sie vor der Tür ste­hen, um ih­ren Wor­ten zu lau­schen. Sie war sich nicht über die Iden­ti­tät al­ler dor­ti­gen El­fen si­cher, doch ihre Groß­mut­ter, Aoi­fe, Ma­rie und auch die lei­se Stim­me ih­res Va­ters hör­te sie mit Ge­wiss­heit.

»Was sol­len wir ma­chen?«, frag­te Oona be­sorgt.

»Wir brau­chen Män­ner, und zwar vie­le«, ver­nahm sie Aars Stim­me.

»Ich kom­me auch mit, Va­ter«, be­stimm­te Hu­bert ent­schlos­sen.

»Nein«, er­wi­der­te Aar, »das ist zu ge­fähr­lich für dich. Du bist zu klein und da­her zu an­greif­bar. Ich möch­te nicht, dass dir et­was pas­siert!«

Dar­auf folg­te ein lau­tes Rau­nen. Ni­mue war zu auf­ge­regt, als dass sie sich auf die ein­zel­nen Wor­te hät­te kon­zen­trie­ren kön­nen. »Was ist da los?«, wun­der­te sie sich zu­neh­mend. »Aar braucht ein Heer an Män­nern?«

Da hör­te sie Oona mit­tei­len: »Ich gehe und läu­te die Glo­cke.«

»Die Glo­cke?«, er­schrak Ni­mue. Man läu­te­te die Glo­cke nur, wenn gro­ße Ge­fahr droh­te. Was soll­te das hei­ßen? War Ka­tar in Ge­fahr? Soll­te das Krieg be­deu­ten oder eine Ret­tungs­ak­ti­on? Sie wur­de im­mer un­ru­hi­ger und riss die Tür zum Stall auf.

»Was ist hier los?«, kreisch­te sie, da ihre Stim­me vor Auf­re­gung zit­ter­te.

Ma­rie warf ihre Hän­de in die Luft, wäh­rend sie mit tie­fer Stim­me er­wi­der­te: »Ni­mue, war­um bist du nicht in dei­nem Zim­mer!«

»Was ist hier los?«, wie­der­hol­te sich Ni­mue nun mit fes­tem Un­ter­ton.

»Ka­tar wur­de über­fal­len. Wir wis­sen nicht, wo er steckt«, mein­te Oona, die ge­ra­de an ihr vor­bei in den Hof hin­aus­ging.

Die Glo­cke läu­te­te drei­mal. Dies war das Si­gnal, dass alle Krie­ger ihre Pfer­de sat­teln muss­ten, um sich im Hof, am Ein­gang­s­tor des Schlos­ses, zu ver­sam­meln.

Aar rann­te an Ni­mue vor­bei, wäh­rend das Ge­tüm­mel im Hof zu­nahm.

Ni­mue folg­te ihm und sah ei­ni­ge El­fen­män­ner hoch oben auf ih­ren Pfer­den sit­zen. Sie be­ob­ach­te­te ih­ren Groß­va­ter, wie er ein Mes­ser in eine Sat­tel­ta­sche ei­nes Krie­ge­relfs steck­te. Bei die­sem An­blick über­kam sie der Wunsch, da­bei zu sein und sie sag­te ent­schlos­sen: »Ich kom­me mit!«

»Nein, Ni­mue, ganz be­stimmt nicht«, er­wi­der­te Aar und ver­schwand in einen na­he­lie­gen­den Tara-Pfer­de­stall.

Un­be­irrt ging Ni­mue zu dem Hengst, mit dem sie nor­ma­le­r­wei­se aus­ritt, und hol­te ihn aus der Box. Sie sat­tel­te ihn ge­schwind und stell­te sich mit­ten un­ter die war­ten­den Män­ner. Mit ih­rem blass-gel­ben Kleid fiel sie auf und so rie­fen ihr ei­ni­ge zu: »Hey, was machst du hier? Bleib im Schloss!«

Auch Aar ent­deck­te Ni­mue und nick­te Oona zu. Es dau­er­te nicht lan­ge und Ni­mue spür­te eine sanf­te Hand auf ih­rem Rü­cken. Wäh­rend sie die­se leicht vom Pferd hob, gab Aar das Start­kom­man­do. Am Bo­den auf­ge­kom­men, wie­her­te ihr Hengst und rann­te den an­de­ren hin­ter­her; ohne Ni­mue.

»Was denkst du dir ei­gent­lich?!«, sag­te Oona ver­är­gert.

»Ich woll­te doch nur …«

»Ja, nur! Das nur kann dei­nen Tod be­deu­ten. Du bist nicht für einen Kampf aus­ge­bil­det.«

Sie wuss­te, dass ihre Groß­mut­ter recht hat­te. Trotz­dem war sie auf­ge­bracht. Ni­mue woll­te Aar fol­gen, Ka­tar ret­ten, und Oona hat­te es ver­hin­dert.

Ni­mue brauch­te eine Wei­le, um die aus der Ent­täu­schung re­sul­tie­ren­de Wut wie­der los­zu­wer­den. Miss­mu­tig folg­te sie ih­rer Groß­mut­ter in Rich­tung Ein­gangs­hal­le. Ihre Ge­dan­ken fuh­ren Ach­ter­bahn, bis die Neu­gier­de den Är­ger ver­trieb.

»Wer ist es?«

»Wer ist was?«, frag­te Oona nach.

»Wer sind die An­grei­fer?«

»Das wis­sen wir nicht. Aus die­sem Grund wur­den die bes­ten Krie­ger ge­ru­fen, so­zu­sa­gen für alle Fäl­le. Wir hof­fen, dass es über­mü­ti­ge klei­ne We­sen sind, die le­dig­lich auf­grund ih­rer An­zahl Ka­tar und sei­ne Frau Léa über­wäl­ti­gen konn­ten. Geh jetzt in dein Zim­mer!«

Ni­mue folg­te und tapp­te in al­ler Ruhe durch die Ein­gangs­hal­le die Trep­pe zu den Ar­ka­den hin­auf. Da riss sie Uhri­lia un­sanft aus ih­ren Ge­dan­ken: »Ni­mue, er­zähl schon, was ist los?«

Sie blieb an der obers­ten Stu­fe ste­hen und blick­te di­rekt in Uhri­li­as Au­gen. »Ka­tar und Léa wur­den ent­führt.«

»Mam­ma Mia, von wem?«, frag­te Uhri­lia, wäh­rend sie sich hef­tig schüt­tel­te. Da­bei hall­ten me­tal­li­sche Töne durch den Raum, als ob ein Trieb­werk auf­ein­an­der­schla­gen wür­de.

»Wir wis­sen es nicht, Uhri­lia.«

»Sol­che Ba­r­ba­ren!«, rief sie laut.

Die­se Ant­wort trieb Ni­mu­es Neu­gier­de auf den Gip­fel. Sie sah um sich und ent­deck­te weit und breit nie­man­den, auch Oona war be­reits hin­ter Aars Bü­ro­tür ver­schwun­den. Dann mach­te sie kehrt und lief zur Ein­gangs­tür zu­rück. Sie spitz­te ih­ren Kopf hin­aus und be­merk­te, dass auch im Hof kei­ne El­fen­see­le mehr zu se­hen war. Schwupp­di­wupp, und schon war sie in Rich­tung Ei­che un­ter­wegs. Um schnel­ler vor­an­zu­kom­men, schweb­te sie durch die Baum­wip­fel hin­durch in Rich­tung ih­res Freun­des.

Be­vor sie ihn sah, hör­te sie sei­ne dunk­le Stim­me ru­fen: »Was machst du hier, Ni­mue?«

Sie er­reich­te ihn so­gleich und ant­wor­te­te: »Ich möch­te wis­sen, was los ist, und du weißt doch im­mer al­les.«

Auch wenn der Baum sich ge­ehrt über ihre Wor­te fühl­te, wuss­te er, dass sie bei Ge­fahr das Schloss nicht ver­las­sen durf­te.

»Geh in mein klei­nes Reich hin­ein, dann spre­chen wir wei­ter«, flüs­ter­te er.

Sie stand be­reits im Bau­min­ne­ren, als sie ihn un­ge­dul­dig auf­for­der­te: »Also?«

»In ganz Eu­r­o­pa ist be­kannt, dass bald dein Ge­burts­tag statt­fin­det. Je­der will zu dei­nem Fest kom­men oder es ver­hin­dern.«

»Ver­hin­dern?«, er­wi­der­te Ni­mue scho­ckiert.

»Ja, Ni­mue, ver­hin­dern! Du wirst bald eine mäch­ti­ge klei­ne Elfe sein. Na ja, klein wohl eher nicht mehr«, mein­te er nun mit wei­cher Stim­me, »auf je­den Fall wol­len ei­ni­ge dunk­le Mäch­te die­sen Ge­burts­tag ver­hin­dern, so­dass du dei­ne Ge­schen­ke nicht be­kommst.«

»Mei­ne Ge­schen­ke?«, frag­te sie ir­ri­tiert, »was wol­len die mit mei­nen Ge­schen­ken?«

Er seufz­te der­ar­tig tief, dass das Holz laut krach­te. Die Be­we­gung er­schüt­ter­te den Bo­den und warf Ni­mue und Stúh­ly da­bei hin und her.

Die Stuhlda­me re­a­gier­te ver­är­gert: »Ver­flixt und zu­ge­näht!«

Ohne dar­auf zu re­a­gie­ren, er­klär­te Aaro: »Man­che Ge­schen­ke wer­den dei­ne Ener­gi­en an­he­ben und dir neue Fä­hig­kei­ten ver­lei­hen. Die­se Fä­hig­kei­ten wer­den dich auf dei­nem wei­te­ren Weg be­glei­ten und könn­ten für die dunk­len Mäch­te eine Ge­fahr dar­stel­len, denn da­durch wird die Macht des Lich­tes ver­stärkt.«

»Wie bit­te?«, be­zwei­fel­te Ni­mue sei­ne Wor­te.

Da schüt­tel­te die Stuhlda­me the­a­tra­lisch ihre Rü­cken­leh­ne. »Welch Jam­mer, die­ses Mäd­chen hat ja gar kei­ne Ah­nung.«

»Halt dein fre­ches Mund­werk, Stuhl!«, er­wi­der­te Aaro barsch.

»Ja, ja, Mae­stro.«

»Wie bit­te?!«, kon­ter­te er so­gleich.

»Nichts und gleich gar nichts, ich habe nichts ge­hört und du, Ni­mue?«

Ni­mue war voll­kom­men in ih­ren Ge­dan­ken ver­sun­ken. Sie nahm ihre Wor­te nur vage wahr und doch ant­wor­te­te sie: »Gar nichts.« Dann schoss es aus ihr her­aus: »Was heißt das al­les?! Wie kann das durch mei­ne Ge­schen­ke zu­stan­de kom­men, und war­um be­trifft das mich?«

»So vie­le Fra­gen und ich kann dir kei­ne da­von be­ant­wor­ten. Dies al­les musst du schon dei­nen Ur­groß­va­ter Seo­ras fra­gen. Nur er ist be­fugt, dir sol­che Din­ge zu be­ant­wor­ten.«

»Din­ge?« Ni­mue schüt­tel­te den Kopf.

Aaro woll­te sein Wis­sen mit ihr tei­len. Den­noch war er sich be­wusst, dass nie­mand im Land Seo­ras Auf­ga­be über­neh­men durf­te und so flüs­ter­te er ge­heim­nis­voll: »Wenn dein Wunsch passt, ist es wohl so und nicht an­ders, Ni­mue.«

»Mein Wunsch«, rief sie auf­ge­wühlt, »was hat der da­mit zu tun?«

»Kei­ne Pa­nik, war nur so da­hin­ge­spro­chen.«

»Meinst du, es geht um Mama und Papa?«

Ya­vi­ra und Hu­bert – ein­mal er­wähnt und schon wur­de der Baum schwer­mü­tig. Durch das tie­fe At­men be­weg­ten sich die Holzwän­de im Takt hin und her.

Die Stuhlda­me wur­de da­bei per­ma­nent an­ge­rem­pelt und sag­te streng: »Mach ihn bloß nicht trau­rig, Ni­mue. Oh, Him­mel, lass ihn nicht trau­rig sein! Du weißt, Ni­mue, er ist nah am Was­ser ge­baut. Wenn er erst ein­mal das Wei­nen an­fängt, sind wir hier nicht mehr si­cher.«

Ni­mue ver­stand. »Ist schon gut, Aaro. Ich weiß ja, dass dies der ein­zi­ge Wunsch ist, den ich nicht äu­ßern darf.« Da­nach stell­te sie kei­ne Fra­gen mehr.

Die Stuhlda­me, nun auch von Emo­ti­o­nen be­rührt, dehn­te sich aus, so­dass ihr Sitz breit ge­nug war, um Ni­mue auf­zu­neh­men.

Ni­mue setz­te sich mit ei­nem lei­sen »Dan­ke«.

Eine Wei­le ruh­ten sie in voll­kom­me­ner Stil­le. Die­se wur­de von Aaro un­ter­bro­chen, mit der Aus­kunft: »Ni­mue, mir wur­de ge­ra­de von der Eule mit­ge­teilt, dass die Fa­ka­ne Ka­tar und sei­ne Frau ent­führt ha­ben.«

»Wer sind die Fa­ka­ne?«

»Sie sind bos­haf­te, klei­ne Ko­bol­de. Sie kön­nen sich in alle Tier­ar­ten ver­wan­deln und da­bei ihre Kräf­te nut­zen. Dies macht sie zu star­ken Krie­gern.«

»Was wol­len sie von Ka­tar?«

»Nichts, ein­fach nur Scha­ber­nack trei­ben.«

»War­um treibt je­mand ein­fach nur so Scha­ber­nack? Das kann in die­sem Fall doch auch ge­fähr­lich sein«, frag­te Ni­mue er­staunt.

»Es bringt ih­nen ein gro­ßes Auf­se­hen und das wie­der­um Be­rühmt­heit. Spä­tes­tens mor­gen wer­den sie im Tag­blatt der Zau­ber­welt ste­hen; auf der Ti­tel­sei­te. Eine grö­ße­re Auf­merk­sam­keit könn­ten sie nicht be­kom­men. In ganz Eu­r­o­pa wird die Zau­ber­welt über sie spre­chen!«

»Also, sie ma­chen das nur we­gen der Auf­merk­sam­keit?«

»Man­che We­sen brau­chen das, Ni­mue, so sind sie halt.« Er räus­per­te sich ver­le­gen. »Un­ser­eins kennt das na­tür­lich nicht«, er­wähn­te er mit ei­nem be­fan­ge­nen Un­ter­ton. »Geh jetzt heim, sie wer­den bald da sein.«

»Ha­ben sie Ka­tar und Léa schon be­frei­en kön­nen?«

»Ja, sie sind auf dem Weg ins Schloss.«

Er öff­ne­te den Höh­len­ein­gang.

Ni­mue trat her­aus, wor­auf sie ge­blen­det vom hel­len Nach­mit­tags-Licht blin­zel­te. »Dan­ke!«, rief sie und lief schnur­stracks nach Hau­se.

Da hör­te Aaro die Stuhlda­me sa­gen: »So, so, die Fa­ka­ne brau­chen Auf­merk­sam­keit?«

»Sei still, Stuhl«, er­wi­der­te er grim­mig.

»Ist es nicht so, dass die Fa­ka­ne sehr bös­ar­ti­ge We­sen sind, die sich be­reits seit Jah­ren da­mit brüs­ten, die Ener­gie­an­he­bung des Lichts ver­hin­dern zu wol­len?«

Aaro blieb still.

»Mei­ner Mei­nung nach, na­tür­lich, nach der be­schei­de­n­en Mei­nung ei­ner Stuhlda­me, war das nur ein Vor­ge­schmack des­sen, was die Zau­ber­welt noch zu er­war­ten hat. Sie zei­gen uns ihre Macht, denn wenn man den Bru­der des Kö­nigs so mir nichts dir nichts ent­füh­ren kann, dann …?«

»War­um wä­ren sie so dumm und wür­den die El­fen vor­war­nen? Hast du dar­auf eine Ant­wort, Schlau­mei­e­rin?«, un­ter­brach Aaro.

Er war be­un­ru­higt und die Stuhlda­me konn­te dies spü­ren, denn Ni­mue schweb­te in Ge­fahr und die­se war un­be­re­chen­bar. Der Ei­chen­baum lieb­te sei­ne Freun­din und so woll­te er sie be­schüt­zen. Al­ler­dings wuss­te er auch, dass dies nur bis zu ei­nem ge­rin­gen Grad mög­lich war, was ihn nun noch stär­ker be­un­ru­hig­te.

Die Stuhlda­me räus­per­te sich. Mit ein we­nig Weh­mut in der Stim­me mein­te sie: »Kein Wun­der, dass die Schat­ten­welt kopf­steht. Seit Ni­mu­es Ge­burt er­leuch­tet sie das Reich durch ihre be­son­ders rei­ne See­le. Mehr und mehr wird sie den Schat­ten ver­trei­ben. Die Fol­ge ist eine Es­ka­la­ti­on, vor al­lem wenn sie ge­krönt wird.«

»Sprich nicht so!«, bat der Baum Stúh­ly barsch, wenn auch nur aus Angst um Ni­mue. Er wuss­te, dass die Stuhlda­me aus­nahms­wei­se recht hat­te. Die Dun­kel- und Schat­ten­welt träum­te von ei­ner Welt ohne Licht und Lie­be. Hass soll­te re­gie­ren, der die über­le­ben­den Licht­we­sen zu de­ren Skla­ven ma­chen soll­te.

Auch Ni­mue hör­te im­mer wie­der von den an­dau­ern­den Kämp­fen, konn­te sich aber nicht wirk­lich et­was dar­un­ter vor­stel­len, denn bis jetzt leb­te sie un­be­schwert und si­cher im Kö­nig­reich. Der Rest wa­ren le­dig­lich Ge­schich­ten, die kei­ne Wirk­lich­keit für sie dar­stell­ten, auch wenn sie im­mer wuss­te, dass die­se Macht­kämp­fe der Wahr­heit ent­spra­chen.

Im Schloss war Ni­mu­es ers­ter Weg in den Pfer­de­stall, um ihre Mut­ter zu be­su­chen. Sie knie­te sich vor dem Heu auf den Bo­den und be­grüß­te sie.

»Mama, hast du schon ge­hört, sie ha­ben Ka­tar ge­fun­den und sind auf dem Rü­ck­weg.«

»Ja, mei­ne Lie­be, das habe ich ge­hört.«

Ni­mue leg­te sich zu ih­rer Mut­ter auf das Heu. Ya­vi­ra strich ihr sanft über die Wan­ge, was Ni­mue kit­zel­te und sie zum La­chen brach­te.

»Ich weiß, Ni­mue, du hast eine gro­ße Le­bens­auf­ga­be er­hal­ten. Das ist si­cher­lich nicht leicht. Ich wür­de so ger­ne für dich da sein. Es tut mir leid.«

»Das ist schon gut, Mama. Ist ja nicht dei­ne Schuld. Ir­gend­wie weiß ich ja noch gar nicht, um was es hier ei­gent­lich geht. Aaro hat so et­was an­ge­deu­tet. Auf ir­gend­ei­ne Art und Wei­se soll­te mein Wunsch zu et­was pas­sen und wenn er nicht passt, dann pas­siert gar nichts. Und was pas­siert, wenn mein Wunsch doch passt, weiß ich auch nicht wirk­lich.«

»Gut, mei­ne Lie­be, dann wer­de ich es dir jetzt er­klä­ren. Es ist so oder so an der Zeit, dass du die Wahr­heit er­fährst. Wir, dein Va­ter und ich, ha­ben zu­dem vom Kö­nig die Er­laub­nis er­hal­ten, mit dir dar­über zu spre­chen«, er­klär­te Ya­vi­ra mit ru­hi­ger Stim­me.

Bei­de la­gen nun mit dem Rü­cken auf dem Heu und be­trach­te­ten das Holz­dach der Stal­lung. Da be­merk­te Ni­mue eine Un­ru­he, die im mensch­li­chen Teil des Chiem­see-Was­sers vor­herr­schen muss­te. Sie schärf­te ihre Au­gen und sah am Flus­s­ufer einen Mann ste­hen, der an­gel­te.

»Die ar­men Fi­sche«, mur­mel­te Ni­mue.

»Wie bit­te?«, frag­te Ya­vi­ra nach, die ge­ra­de einen An­fang such­te.

»Ach, oben auf der Frauen­in­sel steht ein Fi­scher.«

»Ach so. Du isst Fisch doch auch sehr ger­ne.«

»Ja, schon, aber wenn ich von hier un­ten zu­se­he, wie sie ster­ben, ver­ste­he ich Tan­te Ti­a­ra, war­um sie Ve­ge­ta­ri­e­rin ist.«

Ya­vi­ra lach­te, den­noch zu­stim­mend. Dar­auf folg­te eine fast geis­ter­haf­te Stil­le im Raum. Dann hör­ten sie ein paar Hun­de aus ei­nem Napf fres­sen.

»Also, Ni­mue, pass auf. Du, mei­ne Lie­be, bist eine El­fen­prin­zes­sin, wie es sie zu­vor noch nie ge­ge­ben hat. Als di­rek­ter Nach­fah­re der Kö­ni­ge un­se­res Rei­ches bist du eine mög­li­che Thron­fol­ge­rin.«

»Aber Mama, ich bin doch die Jüngs­te von uns vie­ren und ein Mäd­chen noch dazu!«, er­wi­der­te Ni­mue ent­setzt.

»Das bist du, den­noch bist du auch vol­ler au­ßer­ge­wöhn­li­cher licht­vol­ler Ener­gi­en, die nicht nur das Reich Shen­ja po­si­tiv be­ein­flus­sen. Dein Herz strahlt die rei­ne Lie­be aus. Da­mit er­höhst du die Ener­gi­en des Lichts auf der Erde. Die Men­schen und an­de­re We­sen füh­len das. Auch wenn nur we­ni­ge wis­sen, wor­aus die Ver­än­de­rung re­sul­tiert. In der Geis­ter­welt wird über dich ge­spro­chen. Man sagt, dass du die dunk­le Schat­ten­welt mehr und mehr auf­weckst und da­bei ihre Gier nach dem Stein stei­gerst.«

»Nach wel­chem Stein?«, frag­te Ni­mue neu­gie­rig.

»Ei­gent­lich, mei­ne Lie­be, hät­te dein Va­ter die­ses Erbe an­tre­ten sol­len, aber wir wa­ren zu leicht­sin­nig und ha­ben es ver­mas­selt. Ir­gend­wann hat sich her­aus­ge­stellt, dass das ma­gi­sche Da­tum ge­nau auf dei­ne Ge­burts­kon­stel­la­ti­on fällt. Dies ist ein wei­te­rer Be­weis für den Kö­nig, dass du von den Licht­mäch­ten aus­er­wählt wor­den bist. Du hast sehr vie­le Ei­gen­schaf­ten, die dar­auf hin­wei­sen. End­gül­tig je­doch ist es im­mer noch nicht ent­schie­den.«

»Was, Mama?«, woll­te sie un­ge­dul­dig wis­sen.

»Ob du die ers­te Kö­ni­gin un­se­res Rei­ches Shen­ja wirst und die Holz­ku­gel für das Licht öff­nest.«

Ni­mue fiel das Kinn nach un­ten.

»Ich, Kö­ni­gin? Und wel­che Holz­ku­gel?«

»Es ist eine klei­ne Holz­ku­gel, die seit Jahr­tau­sen­den nicht mehr ge­öff­net wor­den ist, be­zie­hungs­wei­se kann sie nicht ge­öff­net wer­den, da sie durch einen ma­gi­schen Zau­ber ver­schlos­sen wor­den ist.«

»Aha«, staun­te Ni­mue.

»Die Ku­gel be­steht aus feins­tem Ma­ha­go­ni und hat auf­grund des Zau­bers kei­ne sicht­ba­re Öff­nung mehr. Er­ken­nen kannst du sie nur an der In­tar­sie, wel­che eine Rose dar­stellt. Nie­mand, so scheint es, ist in der Lage, die­se Ku­gel zu öff­nen. Man sagt, dass der Zau­ber nur von dem Zau­be­rer selbst ge­löst wer­den kann und …« – Ya­vi­ra hielt kurz inne, um ihre Wort­wahl zu über­den­ken – »die­ser ist je­doch schon lan­ge ver­stor­ben und hat kei­ne fä­hi­gen Nach­fah­ren hin­ter­las­sen.«

»War­um hat er das ge­macht und was hat er ge­nau ver­zau­bert?«

»Er war ein gu­ter Zau­be­rer, der zu der Zeit leb­te, als un­ser Volk von den Dun­kelel­fen aus Crid­he ver­trie­ben wur­de. Der Kö­nig­stamm Shen­ja hat­te da­mals einen Stein, ge­nau­er ge­sagt einen Di­a­man­ten, der auf­grund sei­ner Rein­heit hell strahl­te.«

»Einen Di­a­man­ten?«, staun­te Ni­mue er­neut, »Wie hat der aus­ge­se­hen?«

»Sei­ne Form glich ei­nem Trop­fen. In der Mit­te konn­te man eine links­dre­hen­de Spi­ra­le er­ken­nen, die in ei­nem sanf­ten Gold­schim­mer glänz­te. Die Spi­ra­le sym­bo­li­siert die Ein­heit von al­lem Be­ste­hen­den. Von der Stel­le der Ur­schöp­fung aus­ge­hend, die di­rekt in der Mit­te liegt, er­hellt das Licht mehr und mehr sei­ne Um­ge­bung. Sein Name ist: Stein des Ori­so­lus.«

»Hat die Links­dre­hung et­was mit den Schne­cken­kö­ni­gin­nen zu tun?«

Ya­vi­ra lach­te und schüt­tel­te da­bei den Kopf. »Nein, ich den­ke nicht. Na­tür­lich kann man das ver­mu­ten, denn die Kö­ni­gin­nen, also die Schne­cken mit ei­ner Links­dre­hung, gibt es un­ter ei­ner Mil­li­on nur ein­mal, und das ist schon eine Be­son­der­heit. Ihr Ge­häu­se, oder wie es die Schne­cken selbst nen­nen, ihr Schutz­man­tel, hebt sich von den Mil­li­o­nen rechts­dre­hen­den ab. Du bist eine schlaue Elfe, Ni­mue.« Ya­vi­ra stups­te ihre Toch­ter an der Nase an. »Ich glau­be je­doch, dass mehr der Name auf den Ur­sprung des Steins hin­deu­tet als die Dre­hung der Spi­ra­le. So­lus ist das Licht, das im Ur­sprung, also Ori, durch einen Fun­ken ent­stan­den ist. Die­ser Fun­ke hat das Le­ben ent­zün­det, so steht es ge­schrie­ben.«

»Der muss ja wun­der­schön sein«, ver­mu­te­te Ni­mue ver­blüfft.

»Ja, das ist er, und weißt du, von wem sie die­sen Stein ge­schenkt be­kom­men ha­ben?«

Ni­mue schüt­tel­te den Kopf.

»Vom Dra­chen­füh­rer Dracóran. Vor Tau­sen­den von Jah­ren ha­ben wil­de Ko­aks das Kö­nig­reich über­fal­len und ein­ge­nom­men. In der Nähe des Rei­ches war eine Höh­le, in der eine Dra­chen­fa­mi­lie leb­te. Die­se wa­ren Freun­de des Kö­nigs. Nach der Be­set­zung be­frei­ten die Dra­chen das Kö­nig­reich von ih­ren An­grei­fern. Lei­der je­doch sta­rb Dracórans Fa­mi­lie da­bei. Nur er war noch am Le­ben, al­ler­dings schwer ver­letzt. Wäh­rend er im Ster­ben lag, ging der El­fen­kö­nig zu ihm und pfleg­te ihn bis zum letz­ten Atem­zug. Kurz be­vor er sta­rb, überg­ab er dem Kö­nig die­sen Di­a­man­ten mit der Bot­schaft, dass der Stein be­son­de­re Kräf­te be­sit­zen und das Reich Shen­ja be­schüt­zen wür­de.«

»Wo­her stammt der Stein?«

»Das wis­sen wir nicht. Was wir al­ler­dings wis­sen ist, wie er zu der Dra­chen­fa­mi­lie ge­lang­te. Dracóran er­zähl­te dem Kö­nig, dass er selbst die­sen Stein vor lan­ger Zeit in der Tie­fe des Mee­res ent­deckt hat­te. Ein Licht, das aus dem Meer strahl­te, hat­te ihn an­ge­zo­gen. Als er da­nach tauch­te, fand er die­sen Stein. Er nahm ihn an sich, er­kann­te je­doch nicht auf An­hieb sei­ne Macht. Aus die­sem Grund leg­te er ihn in eine gro­ße Pi­ra­ten­kis­te, in der be­reits eine Men­ge Schmuck lag, und so ver­gaß er ihn für ei­ni­ge Jah­re. Als die Dun­kel­welt mehr und mehr das Land un­ter einen Schat­ten leg­te, ver­rin­ger­te sich die Nah­rung er­heb­lich. Men­schen, Tie­re und an­de­re We­sen versta­r­ben. Ei­nes Abends saß Dracóran ver­zwei­felt bei sei­nen Schät­zen und über­leg­te, was er tun könn­te, um sei­ne Fa­mi­lie vor dem Hun­ger­tod zu ret­ten. Da rüt­tel­te sich et­was in der Pi­ra­ten­kis­te, so hef­tig, dass sie sich hin- und her­be­weg­te. Als er hin­ein­sah, lag der Di­a­mant strah­lend oben­auf. Er strahl­te so hell, dass er den gan­zen Raum er­leuch­te­te. Dracóran nahm ihn in sei­ne Kral­le und da ge­sch­ah es: Der Stein ver­band sich mit sei­ner po­si­ti­ven Ener­gie. Da­bei dehn­te sie sich aus und füll­te da­mit sei­ne Um­ge­bung. Gleich­zei­tig er­wach­te die Na­tur mit all ih­rer schö­nen Viel­falt. Er sah nie­der­ge­schla­ge­ne Men­schen auf­ste­hen, ge­nau­so wie das Licht die Le­bens­geis­ter der Tie­re und an­de­re We­sen aufs Neue weck­te. So wur­de auch sein gro­ßer Wunsch er­füllt, denn sei­ne Kin­der hat­ten bald wie­der ge­nü­gend zu es­sen.«

»Und die Schat­ten­welt?«

»Die­se wuss­te erst gar nicht, wie es zu die­ser schnel­len licht­vol­len Ver­än­de­rung kom­men konn­te. Doch sie hat­ten vom My­thos des Steins be­reits ge­hört und wa­ren sich ei­nig, dass der Dra­che die­sen ge­fun­den ha­ben muss­te. Das er­öff­ne­te ein neu­es Pro­blem für Dracóran, denn die Dun­kel- und Schat­ten­welt woll­te den Stein für ihre Zwe­cke nut­zen.«

»Wie­so? Er ist doch licht­vol­ler Na­tur, oder?«

»Nein, mei­ne Lie­be, er un­ter­stützt die Ener­gie sei­nes Be­sit­zers. Da­bei spielt der kör­per­li­che Erst­kon­takt eine gro­ße Rol­le.«

»Aha«, staun­te Ni­mue und ver­sank in ihre Ge­dan­ken. In die­sen ließ Ya­vi­ra ihre Toch­ter für einen Mo­ment in Ruhe ver­wei­len.

»War­um hat Dracóran den Stein nicht ein­fach ge­tra­gen, als der gro­ße Kampf ge­gen die Ko­aks statt­fand? Das Licht hät­te ihn und sei­ne Fa­mi­lie doch ge­stärkt.«

»Hier be­stand ein gra­vie­ren­des Pro­blem. Die­ser Stein ist nicht dazu da, um ihn her­um­zu­tra­gen. Du weißt ja, Ni­mue, dass zu viel von et­was, auch wenn es gut ist, wie­der ins Ge­gen­teil um­schla­gen kann. Ich mei­ne da­mit, dass nur der Erst­kon­takt zwi­schen dem Stein und sei­nem neu­en Be­sit­zer wich­tig ist.«

»Ich weiß nicht, was du da­mit meinst, Mama.«

»So­lus ist das Licht im Ur­sprung Ori, das die Ur­schöp­fung dar­stellt.«

Ni­mue nick­te.

»Wir ha­ben zwei Ur­vä­ter, das weißt du doch, oder?«

»Ja, das Gute und das Böse wur­de als Zwil­lings­paar ge­bo­ren.«

»Ge­nau, also kön­nen bei­de die Ur­schöp­fung dar­stel­len.«

»Du meinst, Mama, dass beim Erst­kon­takt sich der Ur­sprung im Stein auf die Ener­gie ein­stellt, die ihn be­sitzt?«, frag­te Ni­mue scho­ckiert.

»Ja, so ist es, mei­ne klu­ge Toch­ter. Zu­dem ver­stärkt sich die­se. Auch wenn sie licht­vol­ler Na­tur ist, so wie bei Dracóran, kann sie in ih­rer stän­di­gen Zu­nah­me den Kör­per schwä­chen. Die Ener­gi­en wer­den ihm zu viel. Aus die­sem Grund ist es wich­tig, den Stein so auf­zu­be­wah­ren, dass er wir­ken kann und zur glei­chen Zeit den Kör­per des Tra­gen­den nicht be­las­tet.«

»Und so war der Dra­che ge­schwächt und konn­te nicht mehr kämp­fen und des­halb …« Ni­mue hielt ent­setzt ih­ren Mund zu.

»Ja, des­halb.«

»Der Arme!«

»Ja, er hat­te sich gro­ße Vor­wür­fe ge­macht. Um den Kö­nig da­vor zu schüt­zen, bau­te er eine Schutz­hül­le: die Holz­ku­gel. Die­se hat die glei­che Form wie der Stein. Viel­leicht soll­te man Holz­trop­fen sa­gen. Ob­wohl, je­der nennt sie Holz­ku­gel. Sie ist am obe­ren Ende an ei­nem dun­kel­brau­nen Le­der­band be­fes­tigt und wirkt auf den ers­ten Blick wie ein Amu­lett. Im engs­ten Sin­ne han­delt es sich auch um einen An­hän­ger, denn so kann man den Stein mit sich her­um­tra­gen, ohne dass sei­ne in­ten­si­ven Ener­gi­en den Kör­per schwä­chen. An­sons­ten soll­te er so auf­be­wahrt wer­den, dass er höchst­mög­lich wir­ken kann.«

»Und er nimmt wirk­lich die Ener­gi­en sei­nes Be­sit­zers an?«

»Ja, das tut er. Jah­re spä­ter ha­ben die Dun­kelel­fen den Stein aus der kö­nig­li­chen Kam­mer ge­raubt. Man sagt, dass er in der Hand von Donn­tu­a­gh, dem Kö­nig der Dun­kelel­fen, eine an­de­re Fa­r­be an­ge­nom­men hat. Das Rad der Schöp­fung dreh­te sich um und schloss das Licht in sich ein. So nahm es auch das Licht der Erde mit sich. Die Zau­ber- und Men­schen­welt litt un­ter dem Son­nen­ver­lust ge­nau­so wie es tau­sen­de Jah­re zu­vor die Dra­chen­fa­mi­lie er­leb­te, nur war die­ses Mal der Schat­ten noch dunk­ler. Es wur­den kei­ne Fes­te mehr ge­fei­ert, kein Wein mehr ge­trun­ken und das Es­sen war nur noch in ge­rin­gen Men­gen vor­han­den. Es war furcht­bar kalt und die Kör­per der Men­schen, Tie­re und Zau­ber­we­sen schmerz­ten per­ma­nent. Zu die­ser Zeit war das Le­ben auf der Erde noch nicht so weit ent­wi­ckelt, wie es heu­te ist. Trotz­dem, die Men­schen und Tie­re spür­ten die­sen Wan­del eben­so wie die Zau­ber­we­sen. Die Na­tur hat­te sich ver­än­dert und gab ih­nen im­mer we­ni­ger Le­bens­raum. Vie­le Men­schen muss­ten ster­ben, weil Bee­ren ver­gif­tet wa­ren oder fried­li­che Tie­re plötz­lich wild wur­den. Es war eine grau­sa­me Zeit und dann, dann kam der Men­schen­jun­ge.«

»Ein Men­schen­jun­ge?«

»Ja, er war noch ganz klein, so etwa drei Men­schen­jah­re alt und hat­te be­son­ders licht­vol­le Ener­gi­en. Die glei­chen, wie du sie hast, Ni­mue. Er konn­te dunk­le Bar­rie­ren durch­bre­chen, und als der Kö­nig der Dun­kelel­fen ein­mal un­acht­sam war, da lief der klei­ne Jun­ge ge­nau zu die­sem Zeit­punkt in sei­ne Höh­le hin­ein und fand den Stein. Er woll­te nur spie­len und wuss­te nicht, was er da in sei­nen Hän­den hielt. Er nahm ihn mit zu sei­ner Fa­mi­lie und ver­wahr­te ihn in sei­ner Schatz­kis­te. Die Dun­kelel­fen hat­ten kei­ne Ah­nung, wer den Stein ge­stoh­len hat­te und fin­gen an, ihn zu su­chen. Doch durch den neu­en Be­sit­zer dreh­te sich das Rad der Schöp­fung er­neut, füll­te den Stein mit Licht und er­wärm­te die Erde. Das Le­ben wur­de wie­der an­ge­neh­mer, für die Men­schen wie auch die Zau­ber­welt. Der Jun­ge hat­te kei­ne Ah­nung, was er be­saß oder da­mit be­wirk­te. Als er äl­ter wur­de, ver­steck­te er den Stein in­stink­tiv und hü­te­te ihn wie einen gro­ßen Schatz. Ei­nes Ta­ges dann, so sagt man, wur­de er von ei­ner ihm un­be­kann­ten Stim­me zu den Lich­tel­fen des Kö­nig­reichs Shen­ja ge­ru­fen, um dem Kö­nig die­sen Stein zu über­ge­ben. Er wuss­te nicht, war­um er das tun soll­te, hin­ter­frag­te die Stim­me trotz­dem nicht. Er ging auf eine lan­ge Rei­se. Auf die­ser muss­te er sich ei­ni­gen Ge­fah­ren stel­len, doch er sieg­te in je­der Schlacht. Sein Glau­be und der Wunsch, die­sen Stein zu über­ge­ben, hat­ten ihn stark ge­macht. Er fand un­se­ren El­fen­stamm und über­reich­te den Di­a­man­ten. Er selbst wur­de mit den Ener­gi­en der licht­vol­len Zau­ber­welt be­schenkt.« Ya­vi­ra ver­stumm­te für eine Wei­le aus Er­schöp­fung. Die vie­len Wor­te streng­ten sie stark an.

Ni­mue stell­te sich der­wei­len die Fra­gen: »Wer könn­te das sein? Ken­ne ich ihn wo­mög­lich oder einen sei­ner Nach­fah­ren viel­leicht?« Sie schüt­tel­te den Kopf. Ihr war klar, dass sie ihn nicht ken­nen konn­te. Kei­ner der Hal­bel­fen im Reich kam für sie da­für in­fra­ge, und doch konn­te sie sich täu­schen.

Nach ei­ner Wei­le hol­te Ya­vi­ra tief Luft. Dar­auf­hin er­zähl­te sie wei­ter: »Ir­gend­wann er­fuhr die Schat­ten­welt von der Ge­schich­te, die nun von Dhuorc, dem Kö­nig der Dun­kel- und Schat­te­n­el­fen, aufs Här­tes­te re­giert wur­de. Ihm wur­de mit­ge­teilt, dass der Stein im Kö­nig­reich Shen­ja war und so bil­de­te er ein Kriegs­heer aus und über­fiel un­ser Kö­nig­reich, um den Stein des Ori­so­lus zu er­obern. Un­se­re Vor­fah­ren wur­den vor­ge­warnt. Den­noch stell­ten sie sich dem Kampf. Das ers­te Ge­fecht en­de­te zu ih­ren Guns­ten. Das zwei­te for­der­te vie­le Op­fer. Als dann die Dun­kel- und Schat­te­n­el­fen die Ko­aks, Fa­ka­ne und wei­te­re böse We­sen auf­rie­fen, ih­nen zu hel­fen, muss­ten sie flie­hen. Un­se­re El­fen­krie­ger wa­ren deut­lich in der Min­der­heit. Das Ziel war zu die­ser Zeit nur noch, das Le­ben zu er­hal­ten und den Stein in Si­cher­heit zu wis­sen. Wäh­rend ih­rer Flucht tra­fen sie im­mer wie­der auf Krie­ger, die den Stein des Ori­so­lus er­obern woll­ten, und ei­nes Ta­ges pas­sier­te es, dass Dhuorc die Holz­ku­gel fei­er­lich in sei­nen Hän­den hielt. Ein gu­ter Zau­be­rer vor Ort hat­te von dem Kampf um den Stein er­fah­ren und rann­te zum Schlacht­feld. Er sah den Kö­nig sach­te mit der lin­ken Hand über den da­mals klei­nen sicht­ba­ren Rie­gel strei­chen. Dhuorc woll­te ge­ra­de das Schloss ent­rie­geln, als der Zau­be­rer die Ku­gel mit ei­nem Schlie­ßungs­zau­ber be­leg­te. Der Ver­schluss ver­schwand vor sei­nen Au­gen. Er dreh­te und wen­de­te die Ku­gel in alle Rich­tun­gen, aber sie blieb ver­schlos­sen. Dhuorc schrie laut vor Wut, was den Bo­den er­zit­tern ließ. Er leg­te den Zau­be­rer in Ket­ten und fol­ter­te ihn so lan­ge, bis er dar­an sta­rb. Der Zau­be­rer ver­lor nie­mals ein Wort über den Ge­gen­zau­ber oder die ma­gi­sche For­mel, mit der er sie be­leg­te. Auf den ers­ten Blick soll­te nie­mand mehr in der Lage sein, die Ku­gel zu öff­nen.«

»Wie soll dann ir­gend­je­mand auf die­ser Welt in der Lage sein die­se Ku­gel zu öff­nen?«, frag­te Ni­mue ir­ri­tiert.

»Nach­dem der Zau­be­rer den Zau­ber­spruch aus­ge­spro­chen hat­te, kam ihm ein Elf un­se­res Hee­res zur Hil­fe. Noch be­vor Dhuorcs Krie­ger ihn in sei­ne Hän­de be­ka­men, flüs­ter­te er ihm zu, dass nur der den Zau­ber lö­sen kön­ne, der nicht nur mit der ma­gi­schen For­mel ver­bun­den ist, son­dern sie auch lö­sen kann.«

»Ma­gi­sche For­mel?«, frag­te Ni­mue.

»Ja, eine ma­gi­sche For­mel. Dhuorc glaub­te, dass der Zau­be­rer un­se­rem Kö­nig die Lö­sungs­for­mel be­reits vor der Er­obe­rung mit­teil­te und über­fiel un­se­re Fa­mi­lie noch ein­mal, die­ses Mal in Corn­wall.«

»Und da­bei sta­rb sei­ne Frau Ba­ra­bel, nicht wahr, Mama?«

»Ja, mei­ne Lie­be, so ist es. Ich habe ge­hört, dass sie Dhuorc über­lis­tet hat, um ih­ren Mann zu ret­ten.«

»Das war ganz schön mu­tig, Mama.«

Ya­vi­ra nick­te. »Da­bei nahm sie die Holz­ku­gel an sich. Dhuorc hat sich mit ih­rem Tod ge­rächt.«

»Seo­ras wird sie nie ver­ges­sen, Mama, er ist so trau­rig ohne sie.«

»Er liebt sie noch ge­nau­so wie am ers­ten Tag, an dem er sie ken­nen­lern­te. Man er­zählt sich, es war Lie­be auf den ers­ten Blick. Solch eine Lie­be kann auch der Tod nicht zer­stö­ren.«

Ein lau­tes Don­nern von Hu­fen un­ter­brach die bei­den.

»Was war das?«, woll­te Ni­mue wis­sen.

»Die ers­ten El­fen­krie­ger sind zu­rück. Es wird wohl nicht mehr lan­ge dau­ern und auch dein Groß­va­ter und Ka­tar sind da.«

Ni­mue woll­te ih­nen gleich ent­ge­gen­lau­fen und doch sieg­te die Neu­gier­de, da sie noch ei­ni­ge Fra­gen hat­te.

»Wo ist die Ku­gel jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Das weiß nur der Kö­nig selbst.«

»Was hat das al­les mit mir zu tun? Auch wenn ich Kö­ni­gin wer­den soll­te, ich muss die Ku­gel des­halb noch lan­ge nicht öff­nen kön­nen.«

»Nach­dem sich das Volk hier un­ten am Chiem­see an­ge­sie­delt hat­te, be­kam der Kö­nig einen lan­gen Brief von ei­nem klei­nen Fin­ken über­bracht. Seo­ras sag­te, dass der Brief so schwer war, dass er ihm bei­na­he aus dem Schna­bel ge­fal­len wäre. Die­ser Fink war ein Nach­kom­me des Finks, der bei dem Zau­be­rer leb­te. Der Zau­be­rer konn­te vor­aus­se­hen und hat­te vor sei­nem Tod die­sen Brief ver­fasst. Dar­in steht die ma­gi­sche For­mel, je­doch kei­ne Auf­lö­sung. Dein Groß­va­ter weiß mehr dar­über. Ich weiß nur so viel, dass ein Teil die­ser For­mel eine Zahl er­gibt, die mit dei­nem kos­mi­schen Ge­burts­da­tum über­ein­stimmt. Zu­dem muss der Öff­ner und so­mit der Be­sit­zer ein aus­er­wähl­ter Elf sein, so wie es nur Kö­ni­ge sind.«

»Und falls ich eine Aus­er­wähl­te bin, könn­te ich die ma­gi­sche Hül­le der Ku­gel viel­leicht ent­zau­bern?«

»Man ver­mu­tet dies«, er­wi­der­te Ya­vi­ra.

»Aber war­um öff­nen? Es gibt doch kei­nen Grund da­für«, woll­te Ni­mue wis­sen, die da­bei vor al­lem an die Ge­fahr aus der Dun­kel- und Schat­ten­welt dach­te, die eine Öff­nung mit sich bringt.

»Oh, mei­ne Lie­be, den gibt es. Die Schat­ten­welt ist auf dem Vor­marsch. Ganz Eng­land, Tei­le Eu­r­o­pas und Ame­ri­ka sind un­ter ei­nem grau­en Ne­bel ver­schwun­den. Das Land Neu­see­land kann nicht ein­mal mehr ge­or­tet wer­den, und Aus­tra­li­en zieht sich all­mäh­lich auch zu. Die Zau­ber­we­sen lei­den dort Hun­ger und Nöte, und auch den Men­schen geht es nicht gut. Vie­le wan­dern in die licht­vol­len Ge­gen­den aus. Doch dort wird der Raum eng, was Streit und Hass för­dert. Dies wie­der­um macht es den dunk­len Mäch­ten leicht, auch die­se Ge­bie­te zu er­obern. So ist kein Halt und die Aus­brei­tung des Schat­tens nimmt sei­nen Lauf. Zu­dem wird dies al­les von der heu­ti­gen, un­ge­sun­den Le­bens­wei­se der Men­schen ver­stärkt. Schau dir nur ihre zu­neh­men­de Um­welt­ver­schmut­zung an. Das na­tür­li­che Le­ben­s­um­feld wird durch die Be­las­tung der Na­tur durch Ab­fall- und Schad­s­tof­fe schwer be­ein­träch­tigt. Das ist es, was die dunk­len Mäch­te an­stre­ben, denn al­lein die Ab­gase der Dampf­lo­ko­mo­ti­ven oder der neu ent­wi­ckel­ten In­dus­trie­an­la­gen ver­ne­beln das Licht und re­du­zie­ren des­sen Ener­gie. Du weißt doch, wie oft der Ab­fall von Men­schen hier in un­ser Reich ge­langt und wie viel Kraft es kos­tet, ihn auf­zu­lö­sen. Mae­ve un­ter­stützt uns und die Na­tur ganz und gar. Aber auch ihre Heil­kräf­te sind be­grenzt. Denk nur an die Grü­nen Kin­der. Sie sind be­son­ders ge­fähr­det.«

»Grü­ne Kin­der?«, frag­te Ni­mue und er­kann­te, dass sie noch so gut wie gar nichts über die Welt wuss­te.

»Sie le­ben im Wald oder an­de­ren na­tür­li­chen Plät­zen. Ihr Le­bens­raum wird im­mer klei­ner. Die Men­schen hol­zen ab oder zer­stö­ren na­tür­li­che Le­bens­räu­me auf eine an­de­re Art und Wei­se. Nun sie­deln sie sich ver­mehrt an Ge­wäs­sern an, die nicht so ein­fach um­ge­bet­tet wer­den kön­nen.«

»Wie se­hen die Kin­der aus, Mama?«

»Sie se­hen aus wie Men­schen­kin­der, nur mit grü­ner Haut und sehr dün­ner Sta­tur, bei­na­he aus­ge­mer­gelt. Sie ha­ben, wie wir El­fen, spit­ze Oh­ren, ein paar grü­ne Haa­re auf dem Kopf und tra­gen in der Re­gel nur eine aus brau­nem Le­der be­ste­hen­de kur­ze Hose. Es sind gute We­sen, die an der Er­hal­tung der Na­tur teil­neh­men, den­noch ha­ben sie kei­ne Zau­ber­kräf­te und müs­sen dem schreck­li­chen Ver­lauf mehr oder we­ni­ger zu­se­hen.«

Ni­mue emp­fand ein Mit­ge­fühl die­sen We­sen ge­gen­über und auch den Wunsch, sie ein­mal ken­nen­zu­ler­nen. Kurz dar­auf ver­schwamm al­les um sie her­um; ihre Welt dreh­te sich um 180 Grad und sie konn­te sich nicht da­ge­gen weh­ren. Al­les war an­ders, und doch war es wie zu­vor. Sie spür­te, dass das Wis­sen ei­ner Sa­che eine Ver­än­de­rung nach sich zog, so­dass sich eine schein­bar glei­che Welt ur­plötz­lich ganz an­ders an­füh­len konn­te. Sie at­me­te tief durch.

Nach ei­ner Wei­le muss­te sie wie­der an die Grü­nen Kin­der den­ken und sie frag­te: »Aber wenn sie so an­ders aus­se­hen, wie kön­nen sie mit den Men­schen zu­sam­men auf der Erde le­ben?«

»So­bald Men­schen auf­tau­chen, kön­nen sie sich mit der Na­tur ver­schmel­zen. Also, steht ein Baum in der Nähe, glei­chen sie sich dem Baum an oder dem Was­ser oder der Wie­se.«

Ni­mue ver­stand: Es wa­ren Na­tur­we­sen, die auf­grund ih­rer voll­kom­me­nen Rein­heit mit der Na­tur eins sein konn­ten. Da be­gan­nen ihre Ge­dan­ken er­neut wie in ei­ner Ach­ter­bahn auf- und ab­wärts­zu­fah­ren. Doch die­ses Mal kreis­ten sie nicht nur un­kon­trol­lier­bar in ih­rem Kopf um­her, son­dern schaff­ten Bil­der, die wie ein Film vor ih­rem in­ne­ren Auge ab­lie­fen. Die da­durch ent­stan­de­nen Ein­drü­cke wa­r­fen wie­der­um neue Fra­gen auf. Was be­deu­tet Ya­vi­ras Er­zäh­lung für sie? War sie eine aus­er­wähl­te Elfe? War sie die Elfe, die den Stein fin­den, die Holz­ku­gel öff­nen und so­mit dem Licht Ener­gie ge­ben soll­te, um die Men­schen- und Zau­ber­welt zu rei­ni­gen und zu be­schüt­zen? Sie hat­te kei­ne Ah­nung und ent­schloss sich kur­zer­hand, kei­ne die­ser Fra­gen jetzt in die­sem Mo­ment zu stel­len. Sie er­kann­te, dass ihre Mut­ter stark ge­schwächt von all dem Spre­chen war. Trotz­dem woll­te sie noch wis­sen: »Ist das nun gut für mich, Mama?«

»Es gibt dar­in kein Gut oder Schlecht. Es kommt dar­auf an, was du dar­aus machst.«

»Aber was soll ich ma­chen, ich mei­ne, falls ich es bin, die aus­er­wählt ist?«

»Mach dir kei­ne Sor­gen, mei­ne Klei­ne. Falls du es bist, wer­den sich dir die Lö­sun­gen zei­gen.«

»Und wenn die dunk­le Macht trotz­dem siegt?«

»Das wird nicht pas­sie­ren, mein Schatz.«

»Und falls doch?«

»Dann müs­sen wir da­mit le­ben und uns den Ge­ge­ben­hei­ten an­pas­sen.«

»Das wäre dei­ner und Pa­pas si­che­rer Tod?«

»Mach dir kei­ne Sor­gen, mei­ne Lie­be. Es gibt im­mer eine Lö­sung, auch wenn es nicht da­nach aus­sieht.«

»Na­tür­lich kämp­fe ich, Mama. Trotz­dem hof­fe ich, dass ich es nicht bin«, ge­stand Ni­mue ein­ge­schüch­tert von der gro­ßen Ver­ant­wor­tung. »Was wäre, wenn ich mir et­was wün­sche, was auf kei­nen Fall mit all dem zu tun hat?«

Ya­vi­ra lach­te. »Wünsch dir, was dein Herz be­gehrt. Es wird dich auf den rich­ti­gen Weg lei­ten. Denk im­mer dar­an, falls du die aus­er­wähl­te Elfe bist: Es ist eine gro­ße Ehre. Du wirst nie al­lein sein, mein Schatz, das ver­spre­che ich dir.«

Soll­te sie die­se Aus­sa­ge be­ru­hi­gen? Dann mach­te ihre Mut­ter al­les rich­tig, denn ge­nau das tat sie.

Da über­tön­ten eine Trom­pe­te und ein Durch­ein­an­der von Stim­men die Lau­te der Pfer­de­hu­fe.

»Sie sind da«, schrie Ni­mue und sprang auf. Blitz­schnell ent­fern­te sie ein paar Stroh­hal­me von ih­rem Kleid und er­klär­te: »Ich gehe in den Hof, Mama.«

»Ja, tu das. Ich kom­me nach.«

Ni­mue ver­ließ den Stall und sah vie­le El­fen­män­ner in den Hof rei­ten. Ihre Bli­cke such­ten ih­ren Groß­va­ter, doch der war weit und breit nicht zu se­hen. Da ent­schloss sie sich, bei den Tara-Stäl­len zu su­chen. Kurz be­vor sie die­se er­reich­te, ka­men zwei El­fen her­aus; ihr Groß­va­ter und ein ihr un­be­kann­ter Mann: Ka­tar.

»Opa!«

Ihr Groß­va­ter er­klär­te stolz: »Mei­ne En­ke­lin Ni­mue, lie­ber On­kel.«

So­gleich ver­beug­te sich Ka­tar vor ihr. »Es ist mir eine gro­ße Ehre, Ni­mue. Ich habe schon viel von dir ge­hört.«

»Ich von dir auch. Schön, dass du da bist. Kannst du mir von Frank­reich er­zäh­len?«

Er be­jah­te ihre Fra­ge.

Doch Aar mein­te: »Na, na, lass ihn erst ein­mal an­kom­men, Ni­mue. Dazu ha­ben wir spä­ter auch noch Zeit.«

Ni­mue nick­te zu­stim­mend. Zur glei­chen Zeit sah sie eine Frau aus dem Stall her­aus­ge­hen, ge­folgt von ih­rer Groß­mut­ter. Ka­tar dreh­te sich nach ih­nen um. »Ni­mue, das ist mei­ne Frau Léa.«

»Wie schön, ein ech­ter Mensch bei uns auf dem Schloss. Wie geht es dir bei uns hier un­ten?«

Léa be­kam kei­ne Zeit für eine Ant­wort, da Oona so­gleich er­klär­te: »Mae­ve hat ihr einen Kräu­ter­zau­ber­trank zu­be­rei­tet, mit dem sie ohne Wei­te­res für meh­re­re Wo­chen hier un­ten an­ge­nehm le­ben kann.«

»Und der hat so­gar gut ge­schmeckt«, warf Léa ein, »ich freue mich sehr, bei euch zu sein.«

Da­nach gin­gen die Her­ren in Aars Büro und die Da­men in das Ge­wächs­haus, da Oona Léa die Blu­men und Kräu­ter zei­gen woll­te.

Ni­mue schlen­der­te der­wei­len durch die gro­ße Ein­gangs­hal­le in Rich­tung ih­res Zim­mers.

»Ni­mue, da bist du ja! In der Kü­che war­tet eine See­jung­frau auf dich«, rief ihr Uhri­lia ent­ge­gen.

»In der Kü­che?«, frag­te Ni­mue über­rascht.

»Ich wuss­te nicht, wo ich sie sonst hin­schi­cken soll. Viel­leicht in dein Zim­mer? Die kommt hier ein­fach her­ein und will mit dir spre­chen!«

»Okay«, be­ru­hig­te Ni­mue die auf­ge­reg­te Uhri­lia, »ich gehe sie su­chen.«

In der Kü­che an­ge­kom­men, sah Ni­mue vie­le Hein­zel­chen ei­lig um­her­lau­fen. Sie steck­ten mit­ten in den Vor­be­rei­tun­gen für das Abend­es­sen, und das soll­te an die­sem Tag be­son­ders glatt ver­lau­fen. Ni­mue ging lang­sam an den vie­len ver­schie­de­nen Hol­z­ö­fen vor­bei. Dort stan­den gro­ße und klei­ne Töp­fe, aus de­nen Was­ser bro­del­te. Gleich­zei­tig spra­chen ei­ni­ge Stim­men wirr durch­ein­an­der und ver­mit­tel­ten ihr ein Ge­fühl von Hek­tik. Dar­un­ter hör­te Ni­mue einen Hein­zel­chen-Koch sei­ne Hel­fe­rin­nen an­schrei­en. Sie wand­te sich ihm ent­setzt zu. So­gleich ver­stumm­te er mit­ten in ei­nem Satz, als ob er ihre Bli­cke auf sei­nem Rü­cken hät­te spü­ren kön­nen. Zor­nig wid­me­te er dar­auf­hin sei­ne gan­ze Auf­merk­sam­keit ei­nem über­gro­ßen Koch­topf, aus dem hei­ßer Dampf ent­wich.

Ni­mue ging wei­ter in die Kü­che hin­ein und ent­deck­te vie­le gro­ße Holz­ti­sche, an de­nen ver­ein­zelt ein Hein­zel­chen saß, das Ge­mü­se oder Fleisch zu­be­rei­te­te oder eine Kraft­mahl­zeit zu sich nahm. Auf ei­nem an­de­ren Tisch stan­den meh­re­re Ku­chen und Pra­li­nen. Als Ni­mue ge­ra­de eine sti­bit­zen woll­te, hör­te sie die See­jung­frau mit ei­nem jun­gen Hein­zel­chen-Koch am hin­te­ren Ende des Rau­mes über das Le­ben und den Tod dis­ku­tie­ren.

»Ihr müsst sie doch fra­gen?«, bat die See­jung­frau den Koch ver­zwei­felt.

Doch die­ser schüt­tel­te sei­nen Kopf.

Ni­mue ver­zich­te­te auf die Pra­li­ne und steu­er­te auf die bei­den zu. Sie warf dem Hein­zel­chen-Koch einen vor­wurfs­vol­len Blick zu, wäh­rend sie sag­te: »Na­tür­lich ma­chen wir das! Mei­ne Gro­ß­el­tern ha­ben es zur höchs­ten Re­gel ge­macht, dass kein Le­be­we­sen ohne ihre Zu­stim­mung ge­tö­tet oder ver­zerrt wer­den darf. Da­für gibt es ein wich­ti­ges Ri­tu­al im Reich Shen­ja, das zwi­schen Koch und Tier statt­fin­det. An­sons­ten dürf­ten wir es nicht es­sen. Er will dich nur är­gern.« Sie wand­te sich dem jun­gen Koch zu. »So frech sind die Hein­zel­chen nur bei uns hier im Land Shen­ja!«

Die Wan­gen des Hein­zel­chens rö­te­ten sich. Er senk­te sei­nen Kopf und ging zu sei­nem Ar­beits­platz zu­rück.

»Oh, da bin ich aber froh«, er­wi­der­te die See­jung­frau er­leich­tert, denn in der Zau­ber­welt war es von be­son­de­rer Be­deu­tung, dass kein Le­be­we­sen ohne sei­ne Zu­stim­mung rein für den Ver­zehr ge­tö­tet wur­de.

»Hal­lo, ich bin Pie­ra«, stell­te sie sich so­gleich vor und reich­te Ni­mue ihre rech­te Hand.

Ni­mue nahm sie an. »Hal­lo, ich bin …«

»Das weiß ich doch.« Pie­ra lä­chel­te vor Freu­de, Ni­mue end­lich ken­nen­zu­ler­nen. »Darf ich dich fra­gen, ob wir zu dei­ner Ge­burts­tags­fei­er kom­men dür­fen?«

Ni­mue war er­staunt über die er­neu­te An­fra­ge ei­nes ihr un­be­kann­ten We­sens. »Hmm, ich ken­ne dich doch gar nicht, wer bist du?«

»Ich bin eine See­jung­frau und lebe haupt­säch­lich im Starn­ber­ger See.«

Ni­mue spür­te die vor Neu­gier ste­chen­den Bli­cke der Hein­zel­chen auf ih­rem Kör­per. Da deu­te­te sie der See­jung­frau mit ei­ner Hand­be­we­gung an, ihr zu fol­gen. Kurz dar­auf schweb­ten bei­de aus der Kü­che in den Hof­gar­ten hin­aus. Sie setz­ten sich auf eine Bank di­rekt vor ei­nem Strauch mit ro­ten und gel­ben Ro­sen. Die­se blüh­ten be­son­ders herr­lich und so be­merk­te Pie­ra: »Schön habt ihr es hier!«

»Ja, Oma ist eine wah­re Gar­ten­künst­le­rin.«

Als sie zur Ruhe ka­men, er­klär­te die See­jung­frau: »Un­se­re Hei­mat ist im Was­ser. Wir kön­nen aber auch auf dem Land le­ben. Dort ver­wan­delt sich un­se­re Flos­se zu zwei mensch­li­chen Bei­nen. Aus die­sem Grund le­ben ei­ni­ge aus mei­ner Fa­mi­lie un­ter Was­ser und an­de­re auf dem Land.«

»Ihr lebt in­mit­ten der Men­schen?«

»Ja, das tun wir. Un­se­re Kör­per glei­chen den ih­ren, was un­se­re wah­re Iden­ti­tät ver­steckt. Nur sehr fein­füh­li­ge Men­schen spü­ren un­se­re rei­ne Ener­gie. Sie füh­len sich von uns an­ge­zo­gen, ver­ste­hen je­doch nicht, wo­her die­se An­zie­hung kommt.« – Pie­ra lach­te kurz auf – »Man­che glau­ben, dass sie sich un­s­terb­lich in uns ver­liebt ha­ben. Doch meis­tens sind es nur die Ener­gi­en, auf die sie re­a­gie­ren.«

»So habt ihr vie­le Ver­eh­rer?«

Pie­ra sah Ni­mue fra­gend an.

»So sagt man doch, Ver­eh­rer, oder nicht?«, war sich Ni­mue plötz­lich un­si­cher.

»Wir ha­ben vie­le Ver­eh­rer, ja, das stimmt. Aber wir spü­ren ganz deut­lich, ob es die wah­re Lie­be oder nur eine An­zie­hung aus er­wähn­ten Grün­den ist. So­mit wer­den es schon be­deu­tend we­ni­ger.«

»Wie vie­le seid ihr?«

»Wir sind 16 und wür­den uns alle über eine Ein­la­dung sehr freu­en.«

Ni­mue moch­te die­ses schö­ne We­sen, das in der ma­gi­schen Was­se­r­ener­gie des Rei­ches Shen­ja leicht gol­den schim­mer­te. Aus die­sem Grund fiel es ihr nicht schwer, zu­zu­sa­gen. »Gut, ich freue mich auf euer Kom­men.«

Pie­ra be­dank­te und ver­ab­schie­de­te sich.

Ni­mue blieb zu­rück und be­ob­ach­te­te ihre schö­nen, wei­chen Schwün­ge, wäh­rend sie in Rich­tung Wald schweb­te. Sie war eine wun­der­schö­ne See­jung­frau mit hell­blon­den, fast wei­ßen Haa­ren. Ihre Flos­se war kö­nigs­blau und von fei­ner Sta­tur. Ihre Brust war durch ein gleich­fa­r­bi­ges Ober­teil be­deckt, das durch dün­ne Trä­ger rund­um ver­bun­den war. Es sah aus, als ob es ein Spin­nen­netz wäre, wel­ches sich über ih­ren Ober­kör­per web­te.

Nach ein paar Mi­nu­ten ver­schwand Pie­ra im Wald. Dann ging Ni­mue auf ihr Zim­mer. Dort fing sie an, alle von ihr ein­ge­la­de­nen Gäs­te auf­zu­schrei­ben. An­sons­ten wür­de sie bald den Über­blick ver­lie­ren, denn aus ir­gend­ei­nem Grund hat­te sie das Ge­fühl, dass es noch mehr wer­den wür­den.


Nach­dem sie ih­ren Stift zur Sei­te ge­legt hat­te, be­trach­te­te sie im Spie­gel ihr Kleid mit Ent­set­zen.

»Ich habe das Kleid viel zu früh an­ge­zo­gen. Nun schau, es ist schmut­zig ge­wor­den«, be­klag­te sich Ni­mue bei der Spie­gelda­me.

»Ja, du hast recht. Das ist kein Pro­blem, Ni­mue. Willst du es zum Abend­es­sen an­be­hal­ten?«

»Ja, na­tür­lich. Ich habe ge­hört, dass es Ka­tars Lieb­lings­fa­r­be ist.«

»Nun gut. Komm nä­her zu mir an den Spie­gel her­an. Ich muss dir je­doch gleich sa­gen, dass ich das nicht im­mer ma­chen kann. Es kos­test mich viel Ener­gie, und wo­für gibt es Wel­len­schlag­ma­schi­nen, die die Wä­sche wa­schen?«

Ni­mue wuss­te nicht, was sie vor­hat­te. Sie ver­trau­te ihr den­noch und stell­te sich di­rekt vor den Spie­gel.

»Also«, wies die Spie­gelda­me sie an, »bleib in die­sem Ab­stand ste­hen und dreh dich, wenn ich es dir sage.«

»Okay, Spie­gel«, ant­wor­te­te Ni­mue, neu­gie­rig auf das, was nun pas­sie­ren wür­de.

Es dau­er­te Se­kun­den oder viel­leicht so­gar Mi­nu­ten, in de­nen nichts ge­sch­ah. Ni­mue hat­te das Ge­fühl, dass es ewig an­hielt, so still auf ei­nem Platz zu ste­hen und auf et­was zu war­ten, das sie noch nicht kann­te. Dann ging es auf ein­mal los. Die Spie­gelda­me füll­te sich mit hel­lem Licht. So hell, dass sich Ni­mue nicht mehr dar­in se­hen konn­te. Dar­auf­hin fing das Licht an, weit in den Raum hin­ein­zu­leuch­ten. Doch nur einen Mo­ment spä­ter fo­kus­sier­te es sich voll auf Ni­mue, als ob es eine Hül­le um ih­ren Kör­per bil­den woll­te. Sie dreh­te sich auf Be­fehl und schon war al­les wie­der vor­bei.

Die Spie­gelda­me er­klär­te er­schöpft: »Ui, jetzt muss ich mich aus­ru­hen.«

Ni­mue mus­ter­te ihr Kleid. Es war sau­ber, als ob sie es ge­ra­de an­ge­zo­gen hät­te. »Dan­ke, lie­ber Spie­gel.«

»Ist schon gut, hab‘ ‘nen schö­nen Abend, Ni­mue.«

So­fort schnell­ten an bei­den Sei­ten Tü­ren aus dem Holz­rah­men, so schnell, dass Ni­mue rü­ck­wärts sprin­gen muss­te, um ih­nen aus­zu­wei­chen. Sie schlos­sen sich gleich­zei­tig mit ei­nem tie­fen Atem­zug der Spie­gelda­me. Kurz dar­auf schlief sie ein.

Ni­mue war ver­blüfft über ihre Küns­te. Noch nie zu­vor hat­te sie ein Kleid ge­rei­nigt.

»Ob sie noch mehr kann, wo­von ich nichts weiß?«, wun­der­te sich Ni­mue. Da wur­de ihr plötz­lich klar, dass sie seit fast Jahr­zehn­ten mit der Spie­gelda­me in die­sem Zim­mer zu­sam­men­leb­te und nichts über sie wuss­te, zu­min­dest nicht, dass sie au­ßer ei­nem Spie­gel­bild und ei­nem all­zu oft fre­chen Mund­werk auch an­de­re Fä­hig­kei­ten be­saß. Noch nicht ein­mal die Tü­ren hat­te sie bis zu die­sem Tag ge­se­hen, die aus feins­tem Ma­ha­go­ni be­stan­den. Zu­dem hat­ten sie In­tar­si­en über die gan­ze Län­ge hin­weg. Die Holz­ver­zie­run­gen stell­ten eine gro­ße Blu­me je­weils in der Mit­te der Tür dar. Rings­her­um wa­ren klei­ne­re, die sich an den Stän­geln mit­ein­an­der ver­ban­den. Die äu­ße­ren Blu­men hat­ten die Fa­r­be Hell­li­la, wäh­rend die in­ne­re un­be­malt war.

Ni­mue mus­ter­te den ge­schlos­se­nen Spie­gel noch eine gan­ze Wei­le, bis sie be­merk­te, dass es Zeit zum Abend­mahl war. Gleich dar­auf mach­te sie sich auf den Weg zum Ta­fel­saal, denn an die­sem Tag woll­te sie auf kei­nen Fall zu spät kom­men.

Auf dem Schloss­gang fiel ihr ein Piep­sen auf, das mal lau­ter, mal lei­ser er­tön­te. Je­weils drei­mal »piep, piep, piep«, bis es ver­meint­lich die Rich­tung wech­sel­te. Ein­mal klang es, als ob es hin­ter ih­rem Rü­cken wäre, dann vor ihr, dann ne­ben ihr rechts oder mal links. Sie konn­te kei­nen Ort de­fi­nie­ren, von dem es mit Be­stimmt­heit aus­ging. Sie zuck­te mit den Schul­tern und ging wei­ter, doch gleich­zei­tig schärf­te sie ih­ren Ge­hör­sinn. Als sie das Ge­räusch in­ten­si­ver wahr­nahm, er­kann­te sie, dass dies von ei­nem We­sen aus­ge­hen muss­te und es nicht die Holz­bal­ken oder an­de­re im Gang vor­han­de­nen Ge­gen­stän­de sein konn­ten.

»Wer und wo bist du?«, frag­te sie dar­auf­hin harsch.

Nichts. Kei­ne Re­ak­ti­on, au­ßer ei­nem er­neu­ten Pie­pen.

»Zeig dich«, for­der­te sie das un­be­kann­te We­sen auf. Da ent­deck­te sie vor sich einen Licht­ke­gel, der in der Dun­kel­heit der Abend­däm­merung schwach schim­mer­te. Die Licht­quel­le schwank­te der­art stark hin und her, dass sie kei­nen Kör­per aus­fin­dig ma­chen konn­te.

»Wer bist du und war­um ver­folgst du mich? Sprich end­lich!«, rief sie auf­ge­bracht.

Gleich dar­auf sah sie ein klei­nes We­sen di­rekt auf sie zu stol­zie­ren, das je Schritt kla­rer und sicht­ba­rer wur­de, wo­bei das Licht um es her­um zu­neh­mend ver­blass­te.

»Mea cul­pa, Eure Ho­heit, ich woll­te Sie nicht ver­är­gern«, ant­wor­te­te es mit wei­cher Stim­me.

»Mea cul­pa?«, frag­te sie nach.

»Mei­ne Schuld, Eure Ho­heit.«

»Ach so, sag das doch gleich.«

»Ich möch­te mich vor­stel­len, Eure Ho­heit.«

»Das hört sich doch gut an«, be­merk­te Ni­mue nun mit ei­nem Lä­cheln.

»Ich bin ein Geist, ge­nau­er ge­sagt ein Pla­ge­geist, und kann es den Men­schen und an­de­ren We­sen oft schwer ma­chen. Ich lie­be es, sie zu är­gern und ih­nen Sa­chen zu ver­le­gen oder sie zu kit­zeln oder Din­ge, die sie tra­gen, an­zu­stup­sen, so­dass sie ih­nen auf den Bo­den fal­len.«

»Das ist aber nicht nett, Geist.«

»Na ja, wir sind Licht­geis­ter und manch­mal, da rüt­teln wir die Kör­per der gu­ten See­len auf, um im All­tag nicht ein­zu­schla­fen.«

»Was meinst du da­mit?«, frag­te sie we­nig über­zeugt von sei­ner The­o­rie.

»Wir pla­gen die Men­schen so lan­ge, bis sie an­fan­gen, ihre Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit in ih­rer Fein­heit wie­der zu emp­fin­den, um ihre ver­meint­li­che Un­ge­schick­lich­keit zu be­en­den. Sie er­ken­nen un­er­war­tet wah­re Struk­tu­ren in oder um et­was her­um.«

»Struk­tu­ren, um et­was her­um?«

»Manch­mal ver­schließt der sich ste­tig wie­der­ho­len­de All­tag und des­sen geis­ti­ge Nach­läs­sig­keit die Au­gen vor der Wirk­lich­keit. Also, trä­ge Men­schen se­hen nicht so gut wie schwung­vol­le Men­schen. Oder Zau­ber­we­sen, de­nen geht es da ja nicht an­ders«, er­klär­te der Geist.

»Und was se­hen sie dann nicht?«, woll­te Ni­mue wis­sen.

»Die Wahr­heit in Din­gen, wie zum Bei­spiel Ver­trä­gen, Un­ta­ten von ver­meint­lich lie­ben Freun­den oder Part­nern oder, oder, oder, da gibt es so eine lan­ge Lis­te, dass wir hier noch ewig ste­hen könn­ten.«

Das war das Stich­wort für Ni­mue. Ewig hat­te sie kei­ne Zeit und wahr­schein­lich war sie jetzt eh schon wie­der zu spät dran.

»Wie heißt du und was willst du?«, frag­te sie den­noch.

»Mein Name ist Pla­go­si­us und ich wür­de ger­ne mit mei­ner Fa­mi­lie zu dei­nem Fest kom­men.«

»Wie vie­le?«

»17, Eure Ho­heit.«

»Gut, ich freue mich. Bis bald.«

Sie schweb­te zü­gig los, wäh­rend er noch sprach: »Wir uns auch. Bis bald.«

Als sie den Saal er­reich­te, sah sie mit Er­leich­te­rung, dass die meis­ten El­fen eben­falls ge­ra­de erst ein­tra­fen. Des­halb ging sie in al­ler Ruhe durch die Rei­hen zu ih­rem Tisch, der an die­sem Abend be­son­ders fest­lich ge­deckt war. Die Ker­zen hat­ten die Fa­r­be ih­res Klei­des. Zu­dem wa­ren Blu­men über­all auf dem Tisch ver­streut und schu­fen eine war­me und an­ge­neh­me Stim­mung.

Ni­mue freu­te sich, heu­te als Ers­te an ih­rem Fa­mi­li­en-Tisch zu sein. Dann sah sie Ma­rie und So­phia auf sie zu­kom­men und kurz dar­auf auch Aoi­fe den Saal be­tre­ten. Nach­ein­an­der ka­men Oona, Aar und Tan­te Ti­a­ra mit ih­rem Mann Seog und ih­ren fünf Kin­dern: Chris­ti­an, Mi­cha­el, Tagh, Clau­di­ne und Kris­tin. Alle setz­ten sich. Gleich dar­auf kam Ma­rie, die Schwes­ter des Kö­nigs, mit ih­rem Mann Ca­min und Acair, der Bru­der des Kö­nigs mit sei­ner Frau Cloet, ge­folgt von Ma­ri­es Kin­dern, Clau­di­us und Léa. Letz­te­re wur­de auf der Flucht in Frank­reich ge­bo­ren, kurz nach­dem sich ihr On­kel Ka­tar ver­lobt hat­te; des­halb be­kam sie den Na­men ih­rer zu­künf­ti­gen Tan­te.

Es dau­er­te nicht lan­ge und auch die Kin­der von Acair ka­men her­ein und setz­ten sich an den Tisch; Chri­don, Mass­mo und Spa­nie. Die­se Na­men wa­ren die un­ge­wöhn­lichs­ten am Hofe, aber Cloet lieb­te das Au­ßer­ge­wöhn­li­che. Dar­auf schweb­ten ei­lig Lila und ihr Bru­der Chri­san her­ein, Aars Ge­schwis­ter, und hin­ter ih­nen her ihre Fa­mi­li­en. Je­der sprach mit je­dem und Ni­mue be­ob­ach­te­te, wie gut­ge­launt alle wa­ren. Die Tür schnell­te er­neut auf und Ni­mue sah über­rascht, dass ihr On­kel Seoc von der Zau­be­r­in­sel mit sei­ner Frau und Kin­dern ge­kom­men war. Freu­dig lä­chel­te sie ih­rer Cou­si­ne Cara ent­ge­gen, die ihr schon von Wei­tem zu­wink­te. Sie setz­te sich ne­ben Ni­mue, wäh­rend Seoc, sei­ne Frau Hauch und ihre Kin­der Leon und Mu­sik auf der an­de­ren Sei­te des Ti­sches Platz nah­men.

Ni­mue be­merk­te zu Cara: »Su­per, dass ihr heu­te schon da seid.«

»Nur für die­sen Abend, Ni­mue.« Dann nahm Cara ihre Hand und leg­te et­was Har­tes auf die In­nen­flä­che. »Hier, das habe ich für dich mit­ge­bracht.«

Ni­mue konn­te das Ob­jekt nicht ein­zig und al­lein mit dem Ge­fühl be­stim­men und er­hasch­te einen Blick dar­auf. Es war ein Stein, ge­nau­er ge­sagt ein Frosch aus Stein oder ein Stein­frosch, wie auch im­mer man es nen­nen moch­te.

»Ich habe ja noch gar nicht Ge­burts­tag?«

»Nein, der Frosch hat mich ge­be­ten, ihn mit­zu­neh­men. Er möch­te mit dir spre­chen.«

»Ach so«, ant­wor­te­te Ni­mue, ein we­nig ir­ri­tiert über einen spre­chen­den Stein. Sie konn­te je­doch kei­ne wei­te­ren Fra­gen mehr stel­len, denn so­gleich ging die gro­ße Ein­gangs­tür auf und alle El­fen ver­stumm­ten. Kö­nig Seo­ras und Ka­tar tra­ten lang­sam über die Schwel­le her­ein in den Saal. Gleich­zei­tig hör­te Ni­mue ein »Céad míle fáil­te« ru­fen und meh­re­re wei­te­re Will­kom­mens­ru­fe dar­auf. Der Kö­nig und Ka­tar ver­beug­ten sich und gin­gen lang­sam an den Ti­schen vor­bei auf sie zu.

Ni­mue kann­te den Aus­spruch »Céad míle fáil­te.« Ihr Groß­va­ter hat­te ihr er­zählt, dass es sich hier­bei um einen irisch-gä­li­schen Aus­spruch han­del­te, der »tau­send­fach will­kom­men« heißt. Das El­fen­volk Shen­ja hat­te die­sen Will­kom­mens­gruß von ih­ren gu­ten El­fen­freun­den aus Ir­land be­reits Jahr­tau­sen­de zu­rück über­nom­men und pfleg­ten die­sen noch heu­te, wenn sie eine be­son­de­re El­fen­see­le be­grüß­ten.

Ni­mue moch­te die­sen Aus­spruch sehr, weil er Tra­di­ti­on ent­hielt, und so lä­chel­te sie vor sich hin. Da be­weg­te sich wie aus dem Nichts der Frosch in ih­rer Hand. Sie er­schrak hef­tig, wäh­rend sie sei­ne fei­ne Stim­me ver­nahm: »Hey, Ni­mue.«

Sie beug­te sich un­ter den Tisch und er­wi­der­te lei­se: »Sei still! Jetzt nicht! Nach dem Es­sen.«

Dar­auf­hin hör­te sie ein ge­dämpf­tes »Oki­do­ke« und schon war es wie­der still un­ter dem Tisch.

Als Ka­tar an ihr vor­bei­ging, klopf­te er kurz auf ihre Schul­ter: »Hal­lo, mei­ne Klei­ne.«

Ni­mue freu­te sich sehr über die­se Ges­te, denn sie zeig­te sei­ne Zu­nei­gung ihr ge­gen­über.

Léa folg­te den bei­den und setz­te sich ne­ben Ka­tar. Nach­dem alle Platz ge­nom­men hat­ten, hall­te laut das ein­stim­men­de »Sláin­te!« durch den Saal. Heu­te war es je­doch nicht wie im Hof­pro­to­koll vor­ge­schrie­ben der Kö­nig, der es aus­rief, son­dern Ka­tar. Alle er­ho­ben die Glä­ser und pros­te­ten sich zu. Lang­sam er­tön­ten vie­le Stim­men im Raum und der fest­li­che Abend nahm sei­nen Lauf.

Die Chiemsee Elfen

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