Читать книгу Die Chiemsee Elfen - Yvonne Elisabeth Reiter - Страница 6
Der Stein des Orisolus
Оглавление»Bitte, bitte, Seanair«, bettelte Nimue und zog wild an dem Rockzipfel ihres Großvaters. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und bemerkte, dass sich nun endlich seine Gesichtszüge entspannten. Sie wusste genau, warum dies geschah; es war das Wort Seanair. Es bedeutet auf Gälisch Großvater, die Sprache ihrer Ahnen. Wenn Nimue im Gegensatz zu ihrem Großvater etwas unbedingt wollte, sprach sie ein paar Worte in Gälisch und schon bekam sie beinahe jeden Wunsch erfüllt.
»Bitte, Seanair, erzähl mir von meinen Vorfahren und ihrer alten Heimat«, bekräftigte sie noch einmal ihre Bitte.
Ihr Großvater nahm langsam in einem extra großen Ohrensessel Platz. Er holte tief Luft.
»Nun gut, meine Kleine, dann pass auf«, erwiderte Aar und sank dabei tief in den purpurroten, samtweichen Stuhl.
Nimue liebte diesen großen Sessel, in dem sie niemals selbst saß. Die breiten Armlehnen sowie auch die Füße waren aus altem Eichenholz. Er sah majestätisch aus und trotzdem gemütlich. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf an die Beine ihres Großvaters. Dabei blickte sie auf das prasselnde Feuer im Kamin, das den Raum mit einem sanften orange-gelben Licht erhellte.
Aar legte seine Hand auf ihren Kopf und streichelte sanft über ihr Haar. Da begann er mit weicher Stimme zu erzählen: »Deine Vorfahren stammen aus dem schottischen Hochland, welches in Gälisch A‘Ghàidhealtachd genannt wird. Im Wald, am Rand des kleinen Dörfchens Cridhe, wuchsen sie auf. Der Ort war besonders schön gelegen, direkt an einer Steilküste der Nordsee.«
Nimue versuchte sich in Gedanken Cridhe vorzustellen. Dabei entdeckte sie Holzhäuser, die hoch oben auf einem Felsen über dem Meer standen. Diese wurden scheinbar von einem in die Höhe wachsenden, dichten Wald beschützt, der nur wenige grüne Flächen freigab. Das sich zu Wellen aufbäumende Wasser der Nordsee glitzerte im Sonnenlicht. Mit einer Wucht prallte es gegen die Felsen und doch ließ sich das alte Gestein nicht davon beeindrucken. Die Vorstellung einer derartig schönen Natur löste eine Wärme in Nimue aus, die die weiteren Worte ihres Großvaters noch tiefer in sie sinken ließen.
»Sie waren große Gestalten mit langen blonden oder braunen Haaren und so hübsch, wie du es bist.«
Nimue grinste ihn fröhlich an und fragte: »Sie waren größer als wir, nicht wahr, Opa?«
Er nickte. »Ja, größer als wir es heute sind. Aufgrund der langen und beschwerlichen Reise durch Land und Wasser haben sich unsere Vorfahren den Umständen entsprechend angepasst und sind daher in ihrer Größe um mehrere Zentimeter kleiner geworden.«
Erstaunt über diese Tatsache lehnte sie ihren Kopf zurück an sein Bein und lauschte weiter seinen Worten.
»Während sie in der Tiefe des Meeres entlangzogen, wurde die Beweglichkeit immer wichtiger. Sie wollten so schnell wie möglich eine neue Heimat finden. Eine geringere Größe unterstützte ihre Fortbewegung im Wasser. Trotzdem dauerte es Hunderte von Jahren bis sie den Ozean durchquert hatten« – kurz hielt er inne und atmete tief ein, um die weiteren Worte weich und sanft aus der Tiefe seines Körpers gleiten zu lassen – »vorher jedoch, da waren sie große Waldelfen, die über Jahrtausende friedlich in ihrem Königreich gelebt hatten. Damals regierte König Aar, der, wie du weißt, dein Ur-Ur-Urgroßvater war. Meine Mutter hat mir aus ihrer tiefen Verbundenheit heraus seinen Namen gegeben.«
Nimue nickte, ohne seine Aussage mit Worten zu bestätigen.
»Ich habe gehört«, schwärmte er daraufhin, »dass die Blumen fortwährend blühten, und die Bäume waren das ganze Jahr über voller Blätter. Nur die Farben verrieten die jeweiligen Jahreszeiten. Der Frühling zeigte sich hell- bis smaragdgrün, der Sommer vermischte das Grün mit Gelb und Orange, der Herbst färbte es braun ein und der Winter verwandelte die Blätter langsam wieder zu einem strahlenden Grün.«
»Oh, wie schön, Opa.«
»Ja, das war es«, stimmte er Nimue zu. Da änderte sich seine Tonlage, die nun einen Ernst und eine Traurigkeit enthielt und damit seine nächsten Worte mit ihrer Schicksalsschwere unterstrich: »Bis die Dunkelelfen kamen und unser Volk vertrieben.«
»Warum haben sie das getan?«
»Der Kampf um Macht und Herrschaft trieb sie an. Weißt du, wer die Dunkelelfen sind?«
Nimue hatte natürlich bereits über diese Wesen etwas gehört, dennoch wollte sie ihr Gedächtnis auffrischen. Sie schüttelte ihren Kopf, um ihre Unwissenheit anzudeuten.
»Die Dunkelelfen sind vom gleichen Urelfenstamm, wie wir es sind, und so sind wir Schwestern und Brüder. Die Geburt unserer Urväter hat ein Gleichgewicht auf der Erde geschaffen, indem das Universum dem Guten und dem Bösen als Zwillingspaar zu gleichen Teilen das Leben schenkte. Wir gehören zu den Lichtelfen, wie du weißt. Dennoch sind die Dunkelelfen mit uns verwandt. Ihre Wesenheit ist jedoch grundverschieden. Sie sind hinterhältig und böse. Ich kann dir raten, ihnen immer aus dem Weg zu gehen. Lass dich niemals von ihnen täuschen« – seine Stimme wurde ausdrucksvoll tief – »denn auf den ersten Blick wirken sie gewinnend und freundlich. Man merkt ihnen ihre wahren Absichten nicht sofort an.«
Nimue spürte, wie sich ein eigenartiges, unangenehmes Gefühl in ihrer Brust ausbreitete.
»Wie kann ich wissen, ob eine Elfe eine Licht- oder eine Dunkelelfe ist?«, wunderte sie sich.
Er lächelte sie liebevoll an und strich ihr dabei sanft übers Haar.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Vertraue deinem inneren Gefühl und es wird dir nichts passieren. Die Menschen nennen es Intuition. Sie wird dich immer gut und sicher leiten.«
Nimue war nicht gerade zufrieden mit dieser Antwort. Was sollte das heißen: inneres Gefühl? Und wie konnte sie dieses aktivieren? Sie beschloss, erst seinen Worten weiter zu lauschen und dann später noch einmal darauf zurückzukommen.
»Nachdem sie Cridhe verlassen haben, wanderten sie östlich der Küste entlang nach England. Weißt du, was Cridhe bedeutet?«
Sie schüttelte ihren Kopf, sodass ihr langes Haar leicht im Wind wehte.
»Cridhe gehört der Sprache deiner Vorfahren an und heißt übersetzt: das Herz. Es bezeichnet auch den Ursprung, also den Kern einer Sache, und trägt in sich die Fähigkeit, mutig zu sein. Als Dorfname verkörperte es das Herz des Volkes, das in diesem Ort gemeinsam lebte, also das Gemeinschaftsherz des Elfenstammes Shenja. Alle dort lebenden Elfen waren gute Wesen. Diese positive Energie ließ das Gemeinschaftsherz stark und kräftig schlagen.«
Ein Moment der Stille trat ein, in der Aar nachdenklich wirkte. »In diesem Dorf lebten nicht nur Elfen, sondern auch Menschen. Der kleine Bruder von König Aar verliebte sich in ein Menschenmädchen und heiratete sie. Ihr Name war Josephine und beide lebten im Königsschloss. Sie waren ein glückliches Paar, das am Tage ihrer Hochzeit in eine prächtige Zukunft blickte. Dieses Schicksal sollte sich jedoch wenden und so mussten sie mit ihrem Volk fliehen, um ihr Leben zu retten. Auf der Reise gebar Josephine zwei gesunde Kinder, die sie an der Küste von Cornwall mit ihrem Mann weiter durchs Wasser ziehen ließ.«
»Warum hat sie das getan? Hatte sie ihre Kinder nicht lieb, Opa?«
Aar schüttelte leicht den Kopf und meinte: »Nein, nein, das war nicht der Grund. Ganz im Gegenteil. Es war viel zu gefährlich, die Kinder zurückzulassen, und so gab Josephine sie frei, um sie zu schützen.«
»Wie meinst du das?«
»Um durch das Wasser ziehen zu können, brauchte sie die feinstoffliche Hülle einer Elfenhaut. Als Mensch war es ihr nicht möglich, sich der schwierigen Umgebung anzupassen sowie so lange unter Wasser zu bleiben. Durch die Schwangerschaften mit Elfenkindern hatte sich ihre Haut bereits verwandelt, dennoch nicht genug, um die Reise zu überstehen.«
Seine Worte verstummten, sodass Nimue aufsah und in sein nachdenkliches Gesicht blickte.
»Vielleicht«, sagte er hoffnungsvoll und strich mit seinem Zeigefinger über ihre Nase, »ist sie noch am Leben. Durch die Schwangerschaften hat sie viele Fähigkeiten und Eigenschaften der Elfen übernommen. Die Menschen reagieren allerdings sehr individuell darauf.«
Da beschleunigte sich Nimues Herzschlag und sie fragte aufgeregt: »Wo könnte Josephine jetzt sein? Sollten wir sie nicht suchen? Sie gehört doch zur Familie.«
»Ja, das tut sie. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie noch lebt. Ihr Ehemann hat die Hoffnung bis zu seinem letzten Atemzug nicht aufgegeben. Er hat mit allen Mitteln versucht, sie zu finden; vergebens. Man glaubt, dass die Dunkelelfen sie getötet haben.«
Nimue lief bei diesem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken.
Aar bemerkte dies und erwähnte sogleich: »Weißt du, dass sie damals die Gruppenseele unseres Volkes ganz schön durcheinandergebracht hat?«
»Gruppenseele?«
»Ja. Ein Volk hat nicht nur ein gemeinsam schlagendes Herz, sondern auch eine Seele. Diese wird bei Elfen sowie bei Menschen durch Emotionen berührt, und Josephine war ein sehr emotionaler Mensch. Daher beeinflusste sie die Gruppenseele überaus stark und das bewegte das ganze Königreich. Wenn sie weinte, fühlte jeder ihre Traurigkeit und umgekehrt, wenn sie lachte, ihre Fröhlichkeit. Ihr großer Einfluss war eigenartig, dennoch war er deutlich zu spüren.«
Er hielt einen Moment lang inne.
Nimue wandte sich ihm zu und bemerkte den leeren Ausdruck seiner Augen. Sie konnte sich diese Leere nur derart erklären, dass er tief in seinen Gedanken versunken war.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, unterbrach er die Stille, »eh, genau, sie waren auf der Suche nach einer neuen Heimat. Ursprünglich wollten sie sich an der Küste von Cornwall ansiedeln, da diese Halbinsel ein besonders schöner Teil der Erde ist. Die dortigen Volksstämme jedoch machten es ihnen unmöglich. Sie verteidigten ihr Land um jeden Preis. Da unsere Vorfahren schon immer ein friedliebendes Volk waren, entschlossen sie sich weiterzuziehen und zwar nach Frankreich. Die Entscheidung über oder unter Wasser zu reisen war einfach, da die Piratengeister eine größere Gefahr als die einzelnen Meeresbewohner darstellten.«
Nimue meinte aufgewühlt: »Da hat Josephine ihre Familie zum letzten Mal gesehen?«
»Ja, meine Kleine, dort passierte es. Das Ziel war nun der andere Teil von Europa. Der Teil, den sie noch nicht kannten. Sie hatten von den vorbeiziehenden Vögeln viel über dessen Schönheit gehört. Aus diesem Grund waren sie voller Hoffnung, dort ein neues und schönes Zuhause zu finden. Es dauerte jedoch Hunderte von Jahren, bis sie an der französischen Küste ankamen.«
»Warum dauerte es so lange, Opa?«, fragte Nimue erstaunt.
»Weil der englische Kanal dicht besiedelt ist und die Bewohner nicht gerade erfreut waren, von einer Herde Elfen gestört zu werden. Es kostete viele anstrengende Verhandlungen mit den jeweiligen Stammesführern, um die Erlaubnis der Durchreise zu erhalten. Sie mussten Kompromisse eingehen und sich den ständigen Veränderungen der Umgebung anpassen. Dies alles kostete Zeit. Trotz alledem haben sie letztendlich ihr Ziel verwirklicht und für ihre Nachfahren ein neues Reich aufgebaut, in dem Frieden und Harmonie herrschen.«
»Du meinst das Reich Shenja und unser tolles Schloss?«
Er nickte zustimmend. »Ja, das meine ich. Haben wir es hier nicht besonders schön?«
Sie lächelte ihn zufrieden an. »Das haben wir, Opa. Aber wie sind sie den weiten Weg hierhergekommen?«
»Erst einmal sind sie an der Küste in Frankreich gelandet. Frankreich hat ihnen sehr gut gefallen, da die dortige Lebensweise fast einem Hofzeremoniell ähnelte. Sie genossen das gute französische Essen und ihre zumeist klassische Musik. Die Menschen feierten fröhlich und dies auf eine so schöne, respektvolle Art und Weise, dass sie sich gerne anschlossen. Nach dem langen Wasseraufenthalt wollten sie wieder an Land leben und so durchforsteten sie die Wälder nach einem Ort, an dem sie ihr Reich aufbauen könnten. Die Suche war jedoch vergebens, denn dort lebte bereits eine große Ansammlung von Menschen. Kein Platz war mehr frei und so mussten sie weiterziehen. Daraufhin trafen sie auf ein Land namens Italien. Erst waren sie begeistert von dem guten Essen und auch der Wein war dort besonders rein und daher für Elfen gut verträglich. Doch die Menschen sprachen so laut miteinander, dass es ihnen ungemütlich erschien. Sie entschlossen sich, weiterzuziehen. Zu dieser Zeit begegneten sie kurz vor einer Stadt namens Rom freundlichen Waldgeistbewohnern. Diese luden sie ein, bei ihnen einzukehren, um sich für die weitere Reise auszuruhen und zu stärken. Der Geisterkönig nannte sich Rory, was so viel wie roter König bedeutete und rot war er auch immer. Ich meine, er liebte roten Wein und nach ein paar Gläsern färbte sich seine Geisterhülle genauso rot wie die Farbe des Weins. Noch heute hört man die Menschen über die eigentümlich rote Farbe sprechen, die manchmal über den Dächern von Rom wie ein Schleier schwebt. König Aar erzählte, dass Rory ein frecher, aber liebenswerter Geselle war und oft Schabernack mit den Menschen trieb. Dabei hat er Kirchenuhren mehrfach zu ungewöhnlichen Zeiten läuten lassen oder Uhren verstellt. Am liebsten jedoch hatte er die Gläser Feiernder ausgetrunken, schnell und heimlich. Dies verwirrte viele Menschen und führte zu unglücklichen Zeiten, denn sie dachten, dass die Verwirrung krankhafter Natur sei.«
Nimue verstand nicht. »Und dann?«
»Dann gingen sie in Hospitäler und ließen ihre schwere Erkrankung behandeln.«
Aar lachte lautstark, was Nimue auch zum Lachen brachte. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, was daran so lustig war.
Nach einigen Freudentränen wurde er wieder ernst und erzählte seine Geschichte weiter: »Der rote König sprach oft und viel mit König Aar. Eines Tages erklärte er meinem Urgroßvater, wie sehr er hoffte, dass unser Volk eine schöne Heimat finden würde. Dort, wo guter Wein wächst und die Menschen gerne feiern. Dort, wo das Reich der Geister und Elfen Früchte trägt und das Dunkle keinen Zugang hat.« Da klopfte er sanft auf Nimues Kopf und erklärte: »Übrigens, König Aar war damals schon sehr alt. Er hatte das übliche Elfenalter schon weit überschritten. Allerdings wusste er, dass er sich erst auflösen kann, wenn sich sein Volk in Sicherheit an einem schönen Platz angesiedelt hat. Er war wild entschlossen, eine neue Heimat für sein Volk zu finden, und so informierte er sich über die nächstliegend angrenzenden Länder zu Italien. Bei einem seiner allabendlichen Gespräche mit Rory erzählte ihm dieser von Bayern. Der rote König selbst war noch nie dort gewesen, allerdings hörte er von Vorbeireisenden immer nur Gutes darüber. Zudem liefen die Handelsgeschäfte zwischen Italien und Bayern besonders intensiv, und so kannte der Geisterkönig einen Handelsweg zu Lande, der von Venedig über Innsbruck nach Bayern führte. Auf diesem Pfad konnten sie es nicht verfehlen, so war er sich sicher. Aus einem mir unbekannten Grund jedoch kamen sie in Österreich vom Weg ab und überquerten die Alpen derart, dass sie direkt am Fuße des Chiemsees die bayerische Voralpenlandschaft betraten, und da passierte es.«
»Was, Opa, was passierte da?«, rief Nimue aufgeregt.
»König Aar traf auf den Ur-Ur-Urgroßvater deines Freundes Hubsi.«
»Oh, und dann?«
»Dann hat dieser mit deinem Ur-Ur-Urgroßvater Aar Freundschaft geschlossen und ihm den freien Raum am Boden des Sees angeboten. Erst wollte er sein Volk nicht im Wasser ansiedeln, da wir ja ursprünglich ein Waldvolk waren. Deshalb bist du nicht nur eine See-, sondern auch eine Waldelfe.« Er stupste mit seinem rechten Zeigefinger auf ihre Nase. »Nach vielen Gesprächen und Besichtigungen der Gegend entschied er sich dennoch für das Land Bayern und das Leben hier. Der Schutz, den das Wasser zwischen unserem Reich und der Wasseroberfläche mit sich brachte, überzeugte ihn außerdem von einem Leben am Boden des Chiemsees. Daraufhin halfen alle zusammen. Die Wassergeister, eine Trollfamilie, die oben auf der Fraueninsel lebte, und viele andere Lichtwesen bauten gemeinsam unser Königreich Shenja auf. Nach ein paar Monaten war es fertig und alle überlebenden Wald- und Seeelfen konnten einziehen. Damals waren es nur noch 123 Elfen, samt dem Heer.«
»So wenige, Opa«, wunderte sie sich. »Was passierte danach mit unserem König?«
»Als alles fertig aufgebaut und das große Einweihungsfest in vollem Gange war, rief er seine älteste Tochter Cara, seinen ersten Sohn Tadgh, seinen zweiten Sohn Oisin und seine jüngste Tochter Anna zu sich. Die Königin verstarb während der anstrengenden Reise und so war die engste Familie vollständig. Er erklärte, dass Tadgh, mein Großvater, sein Nachfolger werden sollte. Zudem meinte er, dass es nun an der Zeit sein würde, zu gehen, um Platz für neue Wesen seiner Art, also Nachkommen, zu schaffen.«
»Warum, Opa? Warum können wir hier nicht einfach alle zusammen weiterleben?«
»Weil der Raum zu eng wird, die Energien zu dicht und wie auch bei den Menschen irgendwann der Platz ausgehen würde. Je enger der Lebensraum, umso mehr Reibereien entstehen und das erschwert jedes Leben. Jedes Wesen braucht seinen natürlichen Bereich, um frei und kreativ existieren zu können. Zudem wird die Weiterentwicklung gefördert, da Altes durch Neues ersetzt wird, auch wenn es uns schwerfällt, das Alte loszulassen. Unsere Seelen sind jedoch immer miteinander verbunden, auch wenn wir keine Körper mehr mit unseren Elfenaugen sehen können.«
»Ja, Opa, das weiß ich«, antwortete Nimue erleichtert über dieses Bewusstsein. Trotzdem wollte sie an eine derartige Veränderung in ihrer Familie noch nicht denken, denn ihr Urgroßvater war bereits 999 Elfenjahre alt, und was das zu bedeuten hatte, war ihr klar. Irgendwann würde auch er sie verlassen.
»Was hat König Aar dann gemacht?«, fragte sie neugierig.
»Er hat allen seine Liebe versichert und auch eines jeden zukünftige Aufgaben erläutert. Dann küsste er die Wangen seiner Kinder, drehte sich um und verschwand hinter der dicken Eichentür. Der da vorne!« Er zeigte auf die nächstliegende Tür gegenüber dem Ohrensessel. »Seine Kinder hörten ihn kurz darauf die knarrende Holztreppe zum Südturm hinaufgehen. Danach wurde er nie mehr gesehen.«
Nimue stellte sich den Südturm bildlich vor. Sie dachte an die oberste Kammer, ihr Lieblingszimmer, in dem sie mit ihren Geschwistern schon oft gespielt hatte. An diesem Ort musste seine Elfenseele seinen Körper verlassen haben. Kein anderer Raum kam dafür infrage.
Da erklangen die Worte einer weichen, dennoch durchdringenden Frauenstimme: »Aar, wo bleibst du nur?«
Es war ihre Großmutter Oona, die bereits seit vier Elfenstunden auf ihren Mann wartete, der ihr im Gewächshaus bei der Pflege der Pflanzen helfen sollte.
Oona stammte aus dem Elfenreich Lara. Dieser Elfenstamm lebte und liebte die Einsamkeit im Schutze eines Zauberwaldes, welche sie nach ihrer Hochzeit komplett aufgeben musste. Trotzdem fühlte sie sich im Reich Shenja sehr wohl. Dies erklärte sie sich aus den Charaktereigenschaften ihres Vaters, der von einer besonders wilden und aus Feuer bestehenden Elfenfamilie abstammte. Er litt sehr unter der Zurückgezogenheit und Stille des Familienstammes seiner Frau und doch verzichtete er auf seine Leidenschaften aus Liebe zu ihr. Sein Elfenstamm mochte, genauso wie der Elfenstamm Shenja, die Musik, das Essen und das Tanzen. Beide glaubten an den besonderen Zauber der feierlichen Magie und die vielen kleinen Geschenke darin. So verkörperte Oona in ihrer neuen Heimat aus ihrer Natürlichkeit heraus das geerbte Feuer ihres Vaters. Oonas Mutter dagegen wies eine Besonderheit auf. Ihr Volk war ursprünglich ein Feenvolk und hatte nur wenige Elfenanteile, auch wenn an der Spitze ihres Stammbaumes eine Elfe stand. Sie war eine sehr lichtvolle Fee. Ihr Charakter zeichnete sich durch Liebenswürdigkeit und eine Art kindlicher Verspieltheit aus. Diese Eigenschaften hatte auch Oona, welche Nimues Großvater sehr an seiner Frau liebte.
Oona hatte hellblaue Augen und weiße lange Haare, die sie geflochten oder in einem Dutt trug. Sie glich optisch den schottischen Elfen, allerdings mit nur angehaucht spitzen Ohren. Ihr Gesicht glich einem harmonischen Kunstwerk, das durch schöne, gleichmäßige Gesichtszüge besonders hübsch aussah. Sie war groß, ein paar Zentimeter größer als ihr Ehemann.
Nachts schwamm sie oft an die Wasseroberfläche und setzte sich ans Ufer der Fraueninsel, um dort die Atmosphäre zu genießen. Die Menschen konnten dann im Mondlicht ein Glitzern und Funkeln am Wasserufer beobachten, denn ihre Schönheit durchbrach den magischen Schleier zwischen den Welten, auch wenn sie sich ihrer Umgebung nicht zeigte. Tat sie es dennoch, konnte sie durch ihre Erscheinung Paare zusammenführen und Vereinigungen aller Art mit Glück beschenken. Auch diese Eigenschaften liebte ihr Ehemann an ihr.
»Komm ja schon, Oona«, erwiderte Aar, worauf Nimue zur Seite rückte, um Aar Platz zu machen. Kurz darauf verschwand er hinter der großen Eingangstür mit den Worten: »Bis bald, meine Kleine.«
Ruhig und gedankenverloren saß sie nun allein im Kaminzimmer. Sie dachte an Oona und an die vielen Erzählungen ihrer Cousine Cara, die von ihrer gemeinsamen Oma sprachen.
Cara lebte seit ihrer Geburt auf einer kleinen Zauberinsel, nahe an der Fraueninsel gelegen. Ihre Eltern wollten nicht im Wasser leben. Deshalb hatten sie sich dort in einer Höhle an einem Hügel angesiedelt. Ihre Nachbarn waren viele verschiedene Wesen, wie Wichtel, Kobolde, eine Familie der Waldschrate und kleine andere Wesen, die sich mit ihren Familien vor Tausenden von Jahren dort angesiedelt hatten.
Nimue hat Cara oft besucht. Dabei hatte Cara ihr von Oonas Erscheinungen und ihren Auswirkungen auf Menschen erzählt. Auf dem Land sprach man viel über diese ungewöhnliche Frau, die aus dem Nichts erschien und wieder darin verschwand. Da sie immer nur Gutes bewirkte, hatte man keine Angst vor ihr und so wurde sie über die Jahre hinweg zu einer Legende.
Nimue lächelte stolz, als sie murmelte: »Das ist meine Oma.«
Da fiel ihr die soeben erzählte Geschichte wieder ein und sie staunte in Gedanken: »Was haben meine Vorfahren nur alles erlebt? Die ganze Welt haben sie gesehen. Ich möchte auch so gerne die Welt erkunden und all die Abenteuer erleben, die darin stecken.«
Sie dachte dabei an das leckere Essen in Italien, die gehobene Lebensphilosophie der Franzosen, an die schottische Heimat ihrer Vorfahren und wie schön es wäre, diese stetig blühende Natur einmal zu sehen. Doch dann erinnerte sie sich an die Dunkelelfen und ihre zerstörerische Macht. Sogleich überfiel sie ein kalter Schauer und überschattete ihre freudige Aufregung. Sie setzte sich zum Kamin und streckte ihre Hände über das Feuer. Dieses wärmte nicht nur ihren Körper, sondern vertrieb auch ihre Ängste.
»Sláinte!«, hörte Nimue ihren Urgroßvater Seoras im großen Tafelsaal rufen, während sie den Arkadengang entlang darauf zu ging. Danach klangen viele Stimmen im Raum durcheinander. Nimue nahm es als einen wohleingestimmten Gesang wahr. Daraufhin prosteten sich die anwesenden Elfen zu und eröffneten damit das Festessen.
Dies war ein abendliches Ritual, welches stets vom König selbst, Nimues Urgroßvater, eröffnet wurde. Nicht an jedem Abend pflegten sie dieses Ritual, sondern hauptsächlich an den ungeraden Tagen. Der Sinn darin lag nicht allein im Verzehr von Nahrung, sondern der Ehrung des Gemeinschaftsgeistes. Und so sollten an diesen Abenden so viele Wald- und Seeelfen wie möglich zusammenkommen, um ihre Gemeinschaft zu feiern.
Nimue kam an diesem Abend zu spät, da sie nicht aufhören konnte, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und gedanklich durch aufregende Pfade in Richtung Schottland zu reisen. Langsam schlich sie sich in den Saal hinein, in dem sich bereits viele Schlossbewohner tummelten. Dort hörte sie Stimmen durcheinandersprechen, hie und da eine Elfe laut lachen, Becher aufeinander fallen und Musik, die im Hintergrund eine festliche Stimmung verbreitete. Es dauerte nicht lange und sie erreichte ihren Platz am Haupttisch, an dem auch der König saß. Denn Nimue war eine direkte Nachkommin des derzeitigen Königs Seoras. Darüber hinaus munkelte man bereits, dass ihr Großvater Aar bald den Thron besteigen würde. Danach – und da bestand Einigkeit unter allen Elfen – sollte sie die erste Königin des Reiches Shenja werden. Sie war noch sehr jung mit ihren 129 Jahren und musste bis dahin noch viel lernen, und doch schien sich das Reich bereits darauf einzustellen. Sie selbst war sich als jüngste von vier Töchtern darüber nicht im Klaren. Es war unüblich, dass die Jüngste auf den Thron nachfolgen sollte, und dann waren da ja noch die Söhne von Nimues Tanten und Onkeln. Da es im Reich Shenja noch nie eine Königin gegeben hatte, lag es nahe, dass nach Aar einer von ihnen das Königreich übernehmen sollte.
Nimue machte sich über eine Regentschaft keine Gedanken. Sie liebte das Leben und hatte einen aufgeweckten, eher wilden Charakter. Ihre Großeltern nannten sie oft Rao’ra, was für den Tiger und dessen Wildheit stand. Zudem unterschieden sich Nimues Charaktereigenschaften von denen ihrer Geschwister, Cousinen und Cousins. Sie war abenteuerlustig, wissbegierig und konnte nicht lange stillhalten. Sie liebte die Natur und die Tiere und lernte schnell, die Fähigkeiten ihres Elfenstammes bestmöglich zu nutzen. Und das waren so einige, denn die Elfen aus dem Reich Shenja waren in der Lage, ihren feststofflichen Körper in einen feinstofflichen umzuwandeln, sodass die Menschen sie nicht sehen konnten. Dazu hatte dieser Elfenstamm besonders geschärfte Sinne, wie unter anderem Hellhörigkeit. Wenn sie wollten, konnten sie selbst von der tiefsten Stelle des Sees die Menschen am Seeufer sprechen hören. Außerdem waren sie in der Lage, Gerüche stark wahrzunehmen. Egal, ob an Land oder in der Tiefe des Sees, sie konnten auf mehrere Kilometer Einzelheiten eines Geruches bestimmen. Dann waren da noch ihre speziellen Augen. Geschärft wie ein Pfeil konnten sie über Meilen hinweg sehen und dabei Kleinigkeiten exakt definieren; und dies bei Tag und bei Nacht, im Wasser oder an Land. Sie waren in jeder Hinsicht anpassungsfähig und doch reagierten sie sehr sensibel auf ihre Umwelt. Sie liebten das Feiern, doch diese Feste waren nicht laut oder unsittlich. Auch wenn sie gerne aßen und tranken, schossen sie niemals über das Ziel hinaus, denn Völlerei machte ihre Körper krank.
Das Elfenvolk aus dem Reich Shenja gab sich stets ruhig und friedvoll, was nicht heißen soll, dass sie ohne Mut und Stärke gewesen wären. Sie stellten sich unvermeidbaren Kriegen und siegten, genauso wie sie einige Schlachten verloren. Ihr Familienbewusstsein schloss alle Schlossbewohner mit ein und ihr Zusammenhalt war außergewöhnlich. Optisch veränderten sie sich im Gegensatz zu ihren Vorfahren beträchtlich. Ihre früher leicht grüne Hautfarbe wechselte über die Jahrtausende in eine braun-blaue Mischung, sowie ihre Haarfarbe von Blond bis Brünett reichte. Je mehr eine Elfe das Land besuchte, desto mehr färbte sich ihre Haut bräunlich.
Ihre Anpassungsfähigkeit war einzigartig unter den Elfenstämmen. Böse Zungen behaupteten, dass sie gar keine echten Elfen waren, sondern ein kunterbunter Mix aus anderen, kleineren Wesen, wie zum Beispiel Wichten. Tatsächlich galt dies in der Elfenwelt als unmöglich, da sich Elfen nur mit ihresgleichen oder Menschen vermählten. Somit war es eine Unterstellung, die auf ihre geringe und unübliche Größe begründet wurde. Zudem waren Wichte für ihre starken Sinneswahrnehmungen bekannt. Auch hier unterschied sich Nimues Familie von den anderen Elfenstämmen. Ihre ausgeprägten Sinne stellten jedoch eine Folge der jahrzehntelangen abenteuerlichen Reise dar und die dabei lebenserhaltende Notwendigkeit zur Anpassung. Der ständige Einsatz trainierte ihre Sinne nicht nur, sondern verbesserte ihre Gene sozusagen und intensivierte ihre Feinheit und Stärke.
Die Kritik an ihren besonderen Fähigkeiten störte niemanden im Reich Shenja, denn »was kümmert einen schon das dumme und unwahre Geschwätz von Neidern«, bemerkte Nimues Großvater immer mit einem Lächeln auf seinen Lippen. »Neid ist ein böser Feind, doch gewährt man ihm keine Macht, wendet er sich wieder ab und schenkt seine Aufmerksamkeit denen, die dagegen ankämpfen. Meine Kleine, wichtig ist«, betonte er stets, »dass du ehrlich und gut zu anderen bist. Dabei musst du dir nicht alles gefallen lassen, aber denk immer daran: So wie du von anderen behandelt werden möchtest, so verfahre auch du mit ihnen. Achte vor allem auf dich selbst«, erklärte er danach für gewöhnlich. »So oft muss ich sehen, wie Menschen sich selbst verleugnen, um Ideale oder allgemeine Meinungen anderer nachzuahmen. Oder sie sind von Selbstzweifeln befangen, sodass sie sich darin verlieren, darunter leiden und dadurch einen falschen Weg einschlagen. Krankheit, Elend und Trauer resultieren daraus und zerstören das schöne, ursprünglich strahlende Ich des Leidenden. Du selbst, mit allem was dazugehört, bist wichtig, meine Rao’ra, denn wer dir immer erhalten bleibt, bist du dir selbst. So pflege dein Ich, so wie du deine Lieblingsblume mütterlich pflegst, und du wirst auf die gleiche, wunderschöne Weise erblühen, wie sie es immer tut.«
Nimue konnte sich nicht jede Lebensweisheit ihres Opas auf Anhieb erklären. Es sollten jedoch noch Zeiten auf sie zukommen, in denen sie das eine oder andere verstehen lernte, ohne danach zu fragen.
Nimue war mit einer Größe von etwa 1,64 Meter für ihr Alter sehr stattlich gewachsen und überragte damit die meisten gleichaltrigen Elfen. Ihre Hautfarbe war Hellbraun mit einem leichten blauen Schimmer. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar und trug schon als Kind oft jungenhafte Kleidung. Die Schlossbewohner waren sich einig, dass ihre Eltern an der burschikosen Entwicklung schuld seien, denn diese hatten sich nach drei Mädchen einen Jungen gewünscht. Trotzdem, das vierte Kind wurde erneut ein Mädchen und so erklärte es sich von selbst, dass sie einen kleinen Jungen daraus machten. Dies entsprach jedoch nicht der Wahrheit. Wenn ihre Eltern zu dieser Entwicklung einen Beitrag leisteten, dann nur derart, dass sie ihr die Freiheit gaben, so sein zu dürfen, wie sie es wollte, und sie liebte jede Art von Kleidung. Sie zog Kleider an, wenn es die Tradition verlangte, wie zum Beispiel zum traditionellen Abendessen. Ansonsten bevorzugte sie Hosen, vor allem, wenn sie durch den Wald rannte oder ritt. Sie verfingen sich nicht in den Ästen und erleichterten damit jede Bewegung. An ihrem großen Geburtstag würde sie ganz bestimmt ein Kleid tragen.
Nimue freute sich schon sehr auf das Fest, da der König diesen magischen 130sten Geburtstag besonders ehrte. Seit Tagen konnte sie vor Aufregung nicht mehr schlafen, denn in elf Elfentagen war es so weit. An diesem Tag hatte sie einen großen Wunsch frei und dieser war bereits in ihren Gedanken manifestiert: die Erlaubnis ihres Urgroßvaters, ihres Großvaters und ihres Vaters für eine Zeit bei ihrer Cousine auf der Zauberinsel zu leben und dabei die Welt der Menschen zu entdecken. Sie hatte viele tolle Geschichten von ihrer Cousine gehört und wollte nun ein Teil davon werden.
Ihre Eltern, Yavira und Hubert, fühlten schon lange, dass ihre Tochter bald auf Reisen gehen würde. Einerseits freuten sie sich für Nimue und andererseits stellten die Dunkelelfen eine Gefahr für Nimue dar. Außerhalb des Schlosses war diese nicht zu kontrollieren, was die Welt oberhalb des Chiemsees gefährlich für Nimue machte.
Ach ja, der Name ihres Vaters war für Elfen natürlich sehr ungewöhnlich. Oona wählte ihn wegen eines Menschen, der Hubert hieß und ursprünglich auf der Fraueninsel lebte. Als Nimues Großmutter mit Hubert schwanger war, hatte sie große Probleme, das Kind zu gebären. Sie schrie laut und dies war ungewöhnlicherweise auch für einen Menschen am Ufer der Fraueninsel zu hören. Er machte sich große Sorgen, dass jemand gerade ertrinken würde, und sprang ins Wasser, um diese sich in vermeintlicher Not befindende Person zu retten. Nachdem er tiefer und tiefer getaucht war, verlor er das Bewusstsein. Doch Schankti, die Medizinelfe, rettete ihn. Durch die Heilung durchfluteten seinen Menschenkörper etliche Elfenstoffe und so wurde er ein Halbelfe. Von diesem Tag an lebte er im Reich Shenja. Sein Name war Hubert. Das Besondere lag jedoch in dem Ereignis, das während seiner Heilung und somit Transformation passierte. Es schien, als ob seine Verwandlung auch Nimues Großmutter heilte, denn es ging ihr schlagartig besser. Kurz darauf gebar sie einen gesunden männlichen Elfen. Alle glaubten, dass er Oona durch seine selbstlosen und warmherzigen Energien gerettet hatte, und so wurde Nimues Vater nach ihm benannt.
Nimue wurde am siebten Tag des dritten Sternenmonats geboren. Da der zweite Sternenmonat in vollem Gange war, liefen die Vorbereitungen für das Fest bereits auf vollen Touren. Beinahe jeder Schlossbewohner hatte eine oder mehrere Aufgaben, denn diese Feier sollte etwas ganz Besonderes werden. Zum einen, weil Nimue die Urenkelin des Königs war. Zum anderen, weil der Tag der Uaneala-Verwandlung einen besonderen Stellenwert im Leben einer jeden Elfe hatte. Er symbolisierte die Entwicklung von einem verspielten Lamm in einen aufgehenden Schwan. Von diesem Tag an wurden Elfen nicht mehr als Kinder angesehen, sondern als angehende Erwachsene. Danach richtete sich ihr Fokus noch intensiver auf das Lernen, jedoch nun nicht mehr ausschließlich auf spielerische Art und Weise, sondern deutlich mehr zukunftsorientiert. Zur Unterstützung dienten eine Elfenschule und die Erfahrungen der Vorfahren, die stets von besonderer Bedeutung waren. Dabei lernten die jungen Elfen unter anderem die Unterschiede zwischen ihrem Sternenkalender und dem Menschenkalender kennen. Auch die Elfen hatten Feiertage, an denen jede Elfe ihre Arbeit niederlegte. Es waren die magischen Tage der Elfen, nämlich jeweils der dritte, siebte und 13te eines Monats. Die Zahl 13 war für die Elfen nicht nur eine magische Zahl, sondern auch ihre Glückszahl.
Trotz der Unterschiede war der Sternenkalender dem Menschenkalender sehr ähnlich, da auch die Elfen die Zeit über die Mondphasen berechneten. Dennoch hatten sie 13 Sternenmonate. Neun Monate hatten 27 Tage, denn es hieß, dass sich jeweils am 27sten Tag Sonne und Mond treffen, um ihre Bestimmung zu teilen.
Die Elfen des Reiches Shenja wurden viel älter als Menschen und hatten somit einen ganz anderen Überblick über die Tier- und Pflanzenwelt. Die Natur lehrte sie über die Jahrtausende hinweg viel über das Leben selbst und vor allem über das Leben mit ihr. Das alte Wissen ihrer Vorfahren, die im Wald beheimatet waren, verbunden mit ihrer neuen Lebensweise unter Wasser, machten sie zu sehr weisen und erfahrenen Geschöpfen. So wurde die Natur, egal welcher Art, zum Lebenselixier einer Elfe, ohne die sie nicht zu überleben fähig gewesen wäre.
Nimue lebte bis zu diesem Tag beinahe ausschließlich unter Wasser. Sie war stets nur für kurze Zeit auf dem Land gewesen, um die Familie ihres Onkels auf der Zauberinsel zu besuchen. Danach tauchte sie immer wieder ab. Diese andere Welt, dieses andere Dasein wollte sie kennenlernen. Sie wusste, dass nach dem Uaneala-Fest die Aufgabe einer jeden Elfe die ausgeglichene Entwicklung von Körper, Geist und Seele sein sollte, wobei das Lernen von Wissen und Können im Vordergrund stand, um sich dann, viele Elfenjahre später, eine eigene Existenz aufzubauen oder in die Fußstapfen ihrer Vorfahren zu treten. Und Nimue wollte gleich damit anfangen, das Leben in ihrer Vielfalt zu entdecken.
Am 25sten Tag des zweiten Sternenmonats lag Nimue am Morgen gemütlich auf ihrem Liegesofa in ihrem Zimmer. Sie studierte ein Buch über Kräuter und ihre Heilkräfte, als sie plötzlich Elfenschritte auf dem Arkadengang außerhalb ihres Zimmers hörte. Unruhig fielen sie schnell aufeinander und vermittelten ihr ein Gefühl von Nervosität. Da sprang sie neugierig auf und öffnete die Tür. Auf dem Gang rannten einige Elfen hastig an ihr vorbei oder schwebten in rasender Geschwindigkeit in Richtung Eingangshalle. Dabei entdeckte sie eine junge Kammerelfe, die sie mit weit aufgerissenen Augen ansah. Ihre Wangen waren tiefrot. Sekunden später war sie hinter dem Bogen in Richtung der großen Schlosssäle verschwunden.
»Was geht hier nur vor?«, wunderte sich Nimue.
Ach ja, die Elfen vom Reich Shenja hatten einen Körper, wie auch der Mensch ihn besitzt. Der Unterschied war nur derart, dass die Elfen auch schweben konnten. Das heißt, sie konnten in der magischen Wasserenergie des Reiches Shenja ihre Füße so miteinander verschmelzen, dass sie eins wurden. Damit waren sie schneller als zu Fuß. Diese Fähigkeit hatten sie allerdings nur im Wasser. An Land waren sie genauso beweglich wie Menschen, obwohl sie flinker, wendiger und schneller waren als sie. Dennoch konnten sie dort weder über dem Boden schweben, fliegen oder irgendetwas Derartiges tun.
Auf dem Gang nahm das Treiben stetig zu, sodass Nimue ihr Zimmer verließ und einer Kammerelfe hinterherrannte. Nimue versuchte mit ihr zu sprechen, doch diese winkte mit den Worten ab: »Keine Zeit.«
Nun war Nimues Neugierde vollkommen geweckt und so schwebte sie schnell in das Büro ihres Großvaters. Als sie dort ankam, fand sie das Zimmer ohne Aar vor, dafür mit ihrer großen Schwester Sophia. Diese saß auf der Couch gegenüber dem Kamin und las seelenruhig ein Buch.
»Sophia«, platzte es aus Nimue heraus.
Sophia blickte sie mit großen Augen an. »Warum erschreckst du mich so? Du weißt, ich kann das nicht leiden!«
»Was ist hier los? Warum geht es hier plötzlich so hektisch zu?«, fragte Nimue unbeeindruckt von der tiefen Tonlage ihrer Schwester.
»Ach so, das meinst du«, erwiderte Sophia nun mit sanfter Stimme, »wir bekommen Besuch. Der hat sich sehr kurzfristig angekündigt.«
Nimue schloss die Tür hinter sich und ging schnell auf Sophia zu.
»Wer ist es denn?«
»Rate mal?«
Nimue fing an, sich alle Elfen, Menschen und andere Wesen, die sie kannte, bildlich vorzustellen. Sie fragte sich, wer einen solchen Wirbel durch seinen Besuch verursachen könnte. Doch sie hatte keine Ahnung und vermutete: »Tante Hauch und Cara von der Zauberinsel?«
»Nein«, erwiderte Sophia gleich darauf mit einem Kopfschütteln.
»Stefan?«
»Nein. Wie du weißt, ist er ein Mensch und kann nur bedingt bei uns bleiben. Also, denk mal nach. Bald ist dein Geburtstag und da bekommst du …«
»Der Besuch kommt wegen mir?«, unterbrach sie ihre Schwester erstaunt.
»Yep, wegen dir.«
Nimue strengte sich nun noch mehr an, sodass ihre Stirn Falten zog. »Wer kann das nur sein?«, fragte sie sich in Gedanken. Nach einer Weile schoss es aus ihr heraus: »Katar, der Bruder unseres Urgroßvaters?«
Sophia sah sie zufrieden an. »Genau, Nimue. Er kommt extra wegen dir und deinem Uaneala-Tag. Es sieht so aus, als ob sie Großes mit dir vorhaben.«
»Wie meinst du das, Sophia?«, wollte Nimue irritiert wissen.
»Na ja, Katar hat Frankreich noch nie verlassen, um uns zu besuchen. Jetzt kommt er auf Bitten unseres Königs und das nur wegen deines Geburtstags. Das soll doch etwas heißen, oder?«
»König!«, ärgerte sich Nimue, ohne Sophia damit zu beeindrucken, denn sie mochte es ganz und gar nicht, wenn ihre Geschwister ihren Urgroßvater stets »König« nannten. Für Nimue klang dies kalt und unpersönlich. Er war ihr Urgroßvater und dabei war es ihr egal, welchen Rang er innehatte.
Nimue setzte sich neben ihre Schwester auf die Couch und dachte über Katar nach. »Was hat mir Großvater alles über ihn erzählt?«, murmelte sie vor sich hin. Dann arbeitete sie gedanklich die bereits erhaltenen Informationen über Katar ab. Sie wusste, dass er auf der großen Reise in Frankreich stecken blieb, weil er eine Frau kennen- und lieben lernte. Katar lebte von dort an mit Menschen zusammen und das in einem kleinen Häuschen direkt am Meer. Nimue war sich sicher, dass dies eine wunderschöne Gegend sein musste, da ihr Urgroßvater manchmal davon geschwärmt hatte. Dort gab es viel Sonne, das offene Meer vor der Nase und guten Käse. Alle Elfen liebten guten Käse und den französischen mochten sie ganz besonders gern.
»Weißt du etwas über Katar, Sophia?«, fragte Nimue.
Sophia war wieder in ihr Buch versunken und sah nur kurz auf, um zu erwähnen: »Natürlich, jeder weiß etwas über ihn.«
»Er ist Urgroßvaters Lieblingsbruder und muss ganz nett sein, oder?«
»Er ist der Bruder unseres Königs, und vielleicht ist er auch ganz nett. Aber jetzt lass mich endlich lesen, du Nervensäge«, forderte Sophia ihre kleine Schwester gereizt auf.
»Wann kommt er bei uns an?«, fragte sie dennoch und bekam die knappe Antwort: »Morgen, glaube ich.«
Nimue unterdrückte noch weitere Fragen, denn der scharfe Blick ihrer Schwester zeigte ihr, dass sie eindeutig nicht mehr gestört werden wollte. Auf Zehenspitzen ging sie in Richtung Tür, als diese plötzlich aufsprang.
Nimue zuckte zusammen. Zur gleichen Zeit kam ihre Großmutter Oona herein.
»Hallo, ihr beiden.«
»Hallo«, hallte Nimues und Sophias Stimme synchron im Raum.
»Oma«, fragte Nimue sogleich, »besucht uns Katar wirklich wegen meines Geburtstags?«
»Ja, meine Kleine, das tut er. Ist das nicht wunderschön?«
»Ja, Oma, das ist es.«
»Ich komme, um mit dir zu sprechen, Nimue. Es ist an der Zeit, dass du dir über deinen Geburtstagswunsch ernsthafte Gedanken machst. Du weißt ja, dass du ihn genau um 13 Elfenstunden nach Null vor allen Gästen aussprechen darfst?«
»Ja, Oma, ich weiß«, bemerkte Nimue aufgeregt. Ihre Wangen röteten sich leicht.
Da sprang die Tür noch einmal auf und Nimues Geschwister Marie und Aoife kamen herein.
»Hey, Nimue«, sagte Aoife, »ehrenvolle Feier, huh? Die haben wohl Großes mit dir vor.«
Nun hörte Nimue diese Aussage das zweite Mal in der gleichen Stunde, was sie zunehmend irritierte. »Was hat das zu bedeuten? Großes! Was ist ehrenvoll groß oder meinen sie etwas ganz anderes?«, grübelte sie nach, während Oona mit Aoife sprach.
Dann wandte sich Oona wieder Nimue zu. Sie setzten sich vor das Fenster auf zwei Holzstühle und blickten hinaus, während sich die drei Schwestern im Hintergrund lautstark unterhielten.
»Oma, was hat man mit mir vor?«, wollte Nimue wissen, fast ängstlich auf die Antwort wartend.
Oona lachte. »Keine Angst, meine Kleine, nichts, was dir Sorgen bereiten sollte.«
Dies war für Nimue eine äußerst unbefriedigende Antwort. Was sollte das heißen: sich keine Sorgen machen? Allein das Wort Sorgen in diesem Zusammenhang zu benutzen, bereitete ihr schon ein unangenehmes Gefühl. Sie wusste, dass es sich nicht gehörte, weiter nachzufragen, konnte ihre große Neugierde aber nicht im Zaum halten und fragte ungeachtet dessen: »Was genau soll mir keine Sorgen bereiten?«
»Darüber wird dir dein Urgroßvater berichten, Nimue. Hab Geduld.«
»Aha«, dachte sich Nimue, »jetzt ist es ausgesprochen.« Für sie war das eine klare Antwort, denn wenn sich ihr Urgroßvater damit beschäftigte, war es etwas Großes. Was auch immer groß bedeutete, war ihr in diesem Zusammenhang allerdings nicht bewusst.
»Lass deinen Gedanken freien Lauf, meine Kleine. Ein Wunsch soll sich dir zeigen. Erst, wenn du dir zu hundert Prozent sicher bist, mein Kind, lass uns darüber sprechen. Ich bin immer für dich da.«
»Das mache ich, Oma.«
Der Wunsch, zu reisen und bei Cara auf der Zauberinsel zu leben, war natürlich präsent. Doch Nimue dachte auf einmal, warum nicht mehrere Wünsche in Betracht ziehen, um diese dann mit ihrer Großmutter zu besprechen.
Als erstes kam ihr ein Pferd in den Sinn und zwar ein ganz besonderes Wesen der Zauberwelt, das nur wenige besaßen. Es war schneller, flinker, intelligenter und größer als alle anderen Pferde. Die Elfen nannten diese Pferderasse Tara, da Tara übersetzt Stern hieß, und ein solcher wies diesen Geschöpfen den Weg, um stets sicher an ihr Ziel zu kommen.
Diese Tiere waren besondere Beschützer ihrer Besitzer. Durch ihre ausgeprägte Sensibilität konnten sie Emotionen aller Art frühzeitig aufspüren und bei Gefahr handeln. Sie waren wunderschöne Pferde, die durch ihre leicht grün-bräunliche Farbe mit der Natur beinahe verschmolzen. Ihre Rasse besaß die Fähigkeit, sich jeder Umwelt anzupassen, und wenn sie wollten, konnten sie sich den Menschen sichtbar machen. Das machten sie jedoch nur sehr selten und so wurde vielerorts auf der Erde von den geheimnisvollen Windböen gesprochen, die unsichtbar an ihnen vorbeirauschten.
»Unerklärliche natürliche Phänomene« nannte man sie, die die Menschen mit naturwissenschaftlichen Formeln zu deuten versuchten. Doch konnten sie diesen Windstößen nie auf den Grund gehen, und so blieben sie ihnen ein ewiges Rätsel.
Das Bild eines Tara-Pferds verschwamm vor Nimues Augen, worauf ihre Gedanken abschweiften. Sie murmelte: »Bedeutet das Wort Großes immer etwas Positives? Oder hat es womöglich mit meiner fehlenden Disziplin zu tun, vor allem in Bezug auf diese diffusen Regeln, die manche Lehrer aufstellen. Mein neuer Kunstlehrer, vielleicht hat er …?« – Nimue stockte und schüttelte den Kopf – »nein, das kann es nicht sein.«
Ihr wurde bewusst, dass sie im Grunde immer fleißig war. Außerhalb ihrer Unruhe und ihrer manchmal ablehnenden Art auf die für sie unsinnigen Schulregeln zu reagieren, hatte sie keine Abmahnungen erhalten. Die für sie schlüssigen Regeln befolgte sie in der Tat.
»Was kann es nur sein?«, fragte sie sich daraufhin wieder und wieder, obwohl sie sich doch eigentlich mit ihrem Wunsch beschäftigen sollte. Sie fand keine Antwort und so fingen ihre Gedanken an, sich wild im Kreis zu drehen. Ein Wirrwarr von Möglichkeiten breitete sich aus. Dabei bemerkte sie, dass sie leise vor sich hinplapperte. Sie schreckte auf und sah um sich. Im Raum herrschte eine gespenstische Stille. Sie drehte sich um und blickte in die Augen ihrer Geschwister, die alle auf sie gerichtet waren. Sogar Sophia konzentrierte sich nicht mehr auf ihr Buch. In diesem Moment spürte Nimue, wie sich ihr Nacken langsam zusammenzog.
Oona bemerkte ihre Anspannung und versuchte, sie zu beruhigen: »Keine Angst, es wird dir gefallen.«
Diese Aussage beruhigte Nimue tatsächlich, denn es war eindeutig kein Mahnruf. Trotzdem war das Wort es immer noch undefinierbar. Hatte sie vielleicht über den Wunsch und nicht über das große, ehrenvolle Etwas gesprochen? Nimue fühlte sich innerlich zerrissen, als ihre Großmutter aufstand.
Oona legte ihre Hand behutsam auf Nimues linke Schulter. »Komm, lass uns ins Gewächshaus gehen.«
Nimue folgte ihr sogleich, während sie zustimmend nickte, denn das Gewächshaus war der Lieblingsplatz ihrer Großmutter. Dort herrschten zwischen all den Pflanzen Stille und Geborgenheit und so fanden an diesem Ort viele wichtige Gespräche statt.
Im Garten angekommen, entdeckte Nimue mit Freude, dass die verschiedensten Blumenarten bereits in voller Pracht erblühten. Sie sah Passionsblumen, Kamelien, Lilien, Sonnenblumen, Eisenhüte, Arnikakräuter, Glockenblumen, Stiefmütterchen und noch viele Pflanzen mehr. Die Farben vermischten sich vor ihren Augen, als ob ein bunter Blumenteppich vor ihr liegen würde.
Nach dieser Blumen- und Kräutervielfalt durchstreiften sie einen Bereich des Gartens, der einzig und allein den Rosen gewidmet war. Auch sie blühten in ihren prächtigsten Farben. Nimue lächelte bei diesem schönen Anblick. Die Rose war ihre Lieblingsblume, vor allem die, die hellrosafarbene Blüten hatte. Als sie eine solche entdeckte, blieb sie stehen, um an ihr zu riechen.
»Deine Blumen sind so schön, Oma«, bemerkte Nimue.
»Danke! Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir öfters bei der Pflege hilfst.«
Nimue nickte zustimmend, während sie ihr in ein Gewächshaus folgte, in dem Gemüse angebaut wurde. Als sie dieses durchquerten, sah sie durch ein Abtrennglas eine tiefrote Farbe schimmern. Dahinter waren große Tomaten, die an Sträuchern hingen und sie durch ihre Schwere nach unten drückten.
»Oma, die sind aber groß geworden«, meinte Nimue und deutete auf einen Strauch mit vielen unterschiedlich großen Tomaten.
»Das stimmt. Diese besonders saftige Fleischtomate haben wir extra für deinen Geburtstag angebaut«, erwiderte Oona, »und auch den Rest, den du hier siehst. Das wird ein großes Fest, Nimue.« Sie zeigte mit ihrer Hand auf die vielen unterschiedlichen Gemüse- und Obstsorten rundherum.
Der Raum war groß und lang gezogen und an beiden Enden mit Glasscheiben von anderen Gewächshäusern abgetrennt. Auf einer Seite erblickte Nimue in sorgfältig angebauten Reihen Karotten, Lauch, Sellerie, Kartoffeln und mehrere Salatsorten. Auf der anderen Seite war das Obst. Kleine Bäume voll mit Früchten ragten aus dem Boden.
Sie sah so viele verschiedene Obst- und Gemüsesorten, dass sie staunte: »Oh, so viel Obst und Gemüse, und das alles nur für meinen Geburtstag.«
Oona nahm derweilen an einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes Platz. Nimue tat das Gleiche und hörte die Worte ihrer Großmutter, während ihre Augen weiter auf die Fülle der außergewöhnlichen Früchte gerichtet waren.
»Also, meine Kleine, du weißt, dass du zum 130sten Geburtstag einen Wunsch frei hast.«
Nimue nickte und wandte sich ihrer Großmutter zu.
»Pass gut auf, was du dir wünschst, Nimue, denn Seoras wird es dir gewähren. Die Tradition unseres Elfenstammes besagt, dass jeder Elfe an ihrem Uaneala-Tag ein Wunsch erfüllt werden muss. Da gibt es so gut wie keine Ausnahmen. Also, was ich damit sagen will, ist ganz einfach: Wünsch dir etwas, das du wirklich willst, und sei dir im Klaren darüber, dass es in Erfüllung gehen wird.«
Nimue erwiderte freudig: »Ja, Oma. Soll ich dir meinen größten von allen Wünschen sagen?«
»Nein, nicht so vorschnell. Denk darüber nach. Du hast noch zehn Tage Zeit. Geh in dich und finde dort die Wahrheit deiner Wünsche, denn je nachdem könnte er dein Leben stark verändern. Dies ist der erste Schritt zum Erwachsenwerden, Nimue. Handle weise und wohlüberlegt. Stell dir die Fragen: was und warum du es dir wünschst, und danach, welche Folgen es für dich, dein Leben und auch für deine Familie haben wird.«
Auf einmal fühlte Nimue eine Schwere, die sich langsam in ihrer Brust ausbreitete. War es nun so weit, sollte sie jetzt für ihre Entscheidungen allein verantwortlich sein? War sie schon bereit dafür? Konnte sie die volle Tragweite begreifen, die ihre Großmutter von ihr verlangte? Oder verstand sie ihre Worte falsch?
»Oma, kann ich nicht mit dir und Opa über meinen Wunsch sprechen?«
Oona schüttelte leicht den Kopf.
»Wir müssen ja nicht über den einen großen reden. Vielleicht über die vielen anderen kleineren?«, schlug Nimue daraufhin vor.
»Nein, dein Wunsch und du, ihr sollt eine Einheit darstellen. Ich meine, keine äußeren Einflüsse sollen dabei auf dich einwirken. Genauer gesagt, dein Wunsch soll frei von anderen gehegt, gepflegt und gestellt werden.«
Nimue verstummte, während sie über die Worte ihrer Großmutter nachdachte.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn du deiner inneren Stimme folgst und dir Zeit gibst, sie zu verstehen, kann dir nichts passieren. Die nächsten Tage werden sehr wichtig für dich sein. Nimm dir Zeit und vor allem gib dir Ruhe, denn nur in Ruhe kannst du dich richtig entscheiden.«
»Innere Stimme?«, dachte Nimue, »Hat mir Opa nicht auch schon davon erzählt?«
Nimue konnte sich nicht mehr erinnern, wie genau ihre innere Stimme klingen sollte und noch dazu hatte sie den Wunsch zu reisen und die Welt zu entdecken. Sollte sie trotzdem mit ihrer inneren Stimme sprechen? Ihr vielleicht sogar den Wunsch sagen und ihre Meinung dazu hören? Vielleicht tendiert ihre innere Stimme ja mehr zu einem Tara-Pferd, ist sich Nimue nun unsicher.
Da wollte sie wissen: »Ist die innere Stimme die, die mich meinem Traum näherbringt oder die, die mir meinen Wunsch bestätigt?«
»Deine innere Stimme ist die Stimme deiner Seele und sie entspricht der höchsten Wahrheit.«
»Aha«, staunte Nimue.
»Du sollst in dich hineinfühlen und genau hinhören, denn durch ungesunde Emotionen kann es passieren, dass du keinen direkten, reinen Zugang zu deiner inneren Stimme hast.« Oona blickte in Nimues irritiertes Gesicht und erkannte, dass sie ihre Aussage nicht im Detail verstand. Deshalb holte sie ein Beispiel hervor: »Ich meine, und das ist wirklich nur ein Beispiel, du wünschst dir eine sprechende Puppe, allerdings nur, weil alle in deinem Alter eine solche besitzen. Dieser Wunsch ist von der Emotion getragen, die einem Muster und der daraus resultierenden Vorstellung folgt. Alle haben diese eine Puppe, also willst du auch eine. Das gilt auch dann, wenn die Eifersucht keine oder nur eine geringe Rolle dabei spielt. Erkennst du den Ursprung nicht, kann dir der wahre, tief in dir versteckte Wunsch verborgen bleiben. Du denkst an die Puppe und konzentrierst dich allein darauf. Leider ist es üblich, dass die äußere Schale, also das Oberflächliche und dessen Gegebenheiten, uns oft mehr im Griff haben, als unser schönes inneres Ich.«
»Aha«, äußerte sich Nimue noch einmal voller Ehrfurcht über das große Wissen ihrer Großmutter. »Wie kann ich meine innere Stimme klar hören? Und vor allem, wie weiß ich, ob der Wunsch von außen oder innen gesteuert wird?«
»Lass dir Zeit und komm zur Ruhe. Hektik und Stress halten dich davon ab, und versuche jegliche Emotionen von dir fern zu halten. Denk nur an dein inneres Ich und lerne es kennen.«
Nimue zweifelte plötzlich an ihrem Wunsch. Wollte sie wirklich bei ihrer Cousine auf der Zauberinsel leben? Oder war es nur, weil es Cara tat und ihr die Geschichten so imponierten? Steckte dahinter womöglich eine versteckte Eifersucht ihrer Cousine gegenüber? Sie wusste es nicht und fragte verzweifelt: »Oma, was soll ich tun?«
»Geh an Plätze der Einsamkeit, an denen du dich wohlfühlst und denke über deinen großen Wunsch nach. Geh in dich und versuche herauszufinden, ob dieser oder ein anderer Wunsch es sein soll, und werde dir über dessen Tragweite bewusst.« Die großen verunsicherten Augen von Nimue machten Oona Sorgen und sie fügte hinzu: »Keine Angst, meine Kleine, du wirst dein wahres Ich finden. Das Erwachsenwerden kann einer jeden Elfe Angst machen. Das muss es aber nicht, denn meistens sieht alles viel schlimmer aus, als es in der Wahrheit ist.«
»Aber was passiert, wenn ich mir etwas wünsche, das für andere Folgen hat, die ich nicht auf Anhieb erkennen kann? Folgen für mich und andere hat es doch in jedem Fall, nicht wahr?«
»Solange keine bösen Absichten dahinterstecken und du niemanden willentlich verletzt, sollen die Auswirkungen kein hinderlicher Grund sein.« Oona blickte Nimue tief in die Augen. Dabei strich sie ihr sanft über die Wange. Gleich darauf wechselte Oona das Thema: »In ein paar Tagen ist hier Erntezeit. Dann werden wir ein großes Mahl für dich und deine Gäste vorbereiten. Eines kann ich dir schon verraten: Deine Lieblingsnachspeise, süßer Gemüsebrei, ist auch dabei.« Sie lächelte ihre Enkelin liebevoll an.
»Kommt Katar wirklich nur wegen mir?«, fragte Nimue nun freudestrahlend.
»Ja, das tut er.«
»Wegen etwas Großem, das er oder wer anderes mit mir vorhat oder mir schenkt, nicht wahr?«
Oona nickte.
»Was ist etwas Großes, Oma?«
»Du bist des Königs Lieblingsenkelin und allein das ist schon etwas Großes. Zudem bist du etwas ganz Besonderes, meine kleine Rao’ra. Deine Aufgewecktheit und Lebensfreude, dein ausgeprägter Sinn für Wahrheit, deine Liebe zur Natur und den Tieren, deine Offenheit und fröhliche Energie, dein Sinn für Gleichberechtigung und Gleichheit unter allen, deine Treue zu deinen Lieben, deine Integrität und dein großer Glaube an all das, was wir besitzen, all dies und noch vieles mehr machen dich einzigartig.«
Nimue war verblüfft über das soeben Gesagte. »Ist nicht jeder so, Oma?«
Oona lachte. »Nein, mein Kind, nicht jeder kann diese Wesensmerkmale sein Eigen nennen. Siehst du diese Tomaten hier?« Oona zeigte auf einen Strauch voller roter Paradeiser.
Nimue nickte.
»Sie sind alle vom gleichen Stamm, aber keine gleicht der anderen.«
Nimue nickte erneut. Sie hatte verstanden. Auch wenn man von derselben Elfenrasse abstammt, jeder ist einzigartig und hat unterschiedliche Wesenseigenschaften, und manche besitzen die gleichen Anlagen, nutzen sie aber unterschiedlich. Da entdeckte sie zwei Tomaten, die an einem Zweig nebeneinander hingen. Sie sahen beinahe identisch aus, dennoch hatte die eine einen kleinen grünen Fleck. Nimue grinste.
»Darf ich bei der Ernte dabei sein?«
»Wenn du willst«, erwiderte Oona mit Freude, »natürlich.«
Stunden später saß Nimue in ihrem Zimmer und grübelte über die Worte ihrer Großmutter nach. Sie war ungeduldig und wollte sobald wie möglich mit ihrer inneren Stimme sprechen, um ihren wahren Wunsch zu erfahren. Doch wie sollte sie das anstellen? Da dachte sie an ihren Lieblingsplatz im Wald. Schlagartig sprang sie auf und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. Über den Arkadengang und die darauffolgende Eingangshalle lief sie in den Schlosshof hinaus. Kurz darauf passierte sie die Pferdeställe und einige Hundehäuser und verließ den Hof in Richtung Wald. In diesem hatte sie ein kleines Versteck, eine kleine Höhle im Baumstamm einer prächtigen Eiche. Klein war sie nur derart, dass im Verhältnis zur Gesamthöhe des Baumstammes von drei Metern eine circa zwei Meter hohe Aushöhlung geringer war.
Dieser Ort war ihr Rückzugspunkt, wann immer sie Streit mit ihren Geschwistern hatte oder andere Sorgen sie plagten. Niemand kannte dieses Versteck, außer einige Waldbewohner und natürlich der Baum selbst. Sie nannte ihn Aaro, von ihrem Großvater Aar abgeleitet, denn dieser Name gab ihr das Gefühl von Stärke. Beide hatten für Nimue alte Wurzeln, einen großen Stammbaum und stets kraftvolle und weise Worte. Dem Baum war es egal, wie sie ihn nannte. Für ihn zählte ausschließlich ihre gute Freundschaft. In Wirklichkeit jedoch war sein Name Amur und da nahm er einmal schmunzelnd an: »Aaro ähnelt Amur sogar irgendwie. Hm, so ein bisschen.«
Kurz bevor Nimue ihren Freund sehen konnte, rief sie laut: »Hallo, Aaro.«
»Hallo, Nimue«, hallte es im Wald wider.
Nur noch ein paar Schritte und schon stand sie vor ihm. Sie holte tief Luft, als er fragte: »Wie geht es dir?«
»Eigentlich gut.«
»Was heißt eigentlich?«
»In zehn Tagen habe ich doch Geburtstag. Bis dahin soll ich mir über meinen Wunsch im Klaren sein.« Sie zuckte mit ihren Schultern. »Aber wie soll das gehen?«
Nimue runzelte ihre Stirn derart tief, dass Aaro lachte.
Dann fiel ihr Katar ein und ihre Gesichtszüge erhellten sich. Mit dem Feuer der Vorfreude sprudelte es aus ihr heraus: »Hast du gewusst, dass Katar bald zu uns kommt?«
»Die Vögel haben mir davon berichtet. Das ist eine große Ehre, Nimue. Katar war noch niemals hier bei uns im Reich Shenja.«
»Ich weiß, Aaro. Ich freue mich sehr darüber. Aber warum machen alle so ein Tamtam daraus?«
»Was meinst du mit Tam Tam?«
»Meine Schwestern behaupten, dass Katar nur deshalb kommt, weil mein Urgroßvater etwas Großes mit mir vorhat. Noch dazu hat mich Oma auf meinen Wunsch angesprochen. Jede Elfe darf doch zu ihrem 130sten Geburtstag einen großen Wunsch aussprechen.« Nimue zog ihre linke Augenbraue fragend hoch.
»Klaro, und was wünschst du dir?«
»Eigentlich wollte ich …«, stotterte Nimue, »eigentlich, du weißt doch, Clara und die Zauberinsel, hm, aber jetzt …«
Aaro lachte, sodass sich seine Äste wild umherbewegten. »So, so, was nun?«
»Ich weiß es jetzt auch nicht mehr. Oma sagt, ich muss erst mit meiner inneren Stimme sprechen, um dann herauszufinden, was ich wirklich will. Keine Ahnung, was mir meine innere Stimme sagt.«
»Ach so, die innere Stimme«, erwiderte der Eichenbaum mit ruhigen, langschwingenden Tönen.
»Kennst du die innere Stimme?«, platzte es aus Nimue heraus, denn sie hatte das Gefühl, dass seine letzten Worte darauf deuteten.
»Ja, die kenne ich schon. Mit der spreche ich immer, wenn ich mir mit Entscheidungen ganz sicher sein muss.«
»Mit meiner inneren Stimme?«, staunte Nimue.
»Nein, mit meiner natürlich!«
»Aha, und wie machst du das?«
»Ganz einfach: ich gehe in mich und lasse mich von niemanden rundherum stören.« Dann erhob er seine Stimme, sodass ihn auch die umliegenden Bäume hören konnten. »Was hier in diesem Wald wirklich schwer ist, mit all den Plappermäulern um mich herum.« Danach senkte sich seine Stimme wieder, als er fragte: »Deshalb kommst du heute zu mir, oder?«
Nimue nickte. »Weißt du, wie ich mit meiner inneren Stimme sprechen kann? Das habe ich noch nie gemacht.«
»Das musst du selber herausfinden. Jeder hat seine eigene Art und Weise, mit seiner inneren Stimme zu kommunizieren. Ich habe gehört, dass manche Menschen extra auf Herrenchiemsee fahren, um dort zu meditieren. Weißt du, Nimue, dort ist es besonders still.«
»Meditieren, was ist denn das?«
»Sie setzen sich mit verschränkten Beinen auf den Boden. Manche legen die Hände auf die Knie und halten ihre ersten drei Finger vom Daumen an zusammen. Andere halten sie in Gebetsstellung, das heißt, ihre flachen Hände aufeinandergelegt in Höhe der Brust. Ich glaube, dass der Schneidersitz zu einer besseren Körperhaltung beiträgt. Ansonsten, denke ich, dass deine Sitzhaltung egal ist, und auch, wie du deine Hände dabei hältst. Mache es einfach so, dass du dich wohlfühlst. Anderenfalls wird es schwierig.«
»Was wird schwierig?«, packte sie die Neugierde.
»Na ja, wenn die Menschen in dieser Position am Boden sitzen, dann gehen sie in sich, denke ich. Deswegen tun sie es ja! Dafür ist es wichtig, dass der Körper ihnen Ruhe verschafft und nicht an allen Ecken und Enden schmerzt.«
»In sich gehen«, wiederholte Nimue, »das habe ich jetzt schon öfter gehört. Was ist denn da in mir?«
»Deine Seele, Nimue, das weißt du doch.«
Nimue nickte, nur wenig überzeugt, ihre Seele zu kennen, und erwiderte: »Vielleicht. Und sie ist meine innere Stimme, nicht wahr?«
»Mehr oder weniger, so ganz genau weiß ich das auch nicht. Das musst du selber herausfinden.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Lass den Kopf nicht hängen, das ist nicht so schwer, wie du meinst. Probiere es aus und habe Geduld mit dir.«
»Geduld?! Ich muss in genau zehn Tagen, in der 13ten Elfenstunde nach Null, meinen Wunsch aussprechen, und was, wenn ich bis dahin meine innere Stimme nicht gefunden habe und sie mir nichts über meinen wahren Wunsch sagen konnte?«
Aaro lachte laut auf. Dabei fingen seine Äste an, wie wild umherzuschwingen. Nimue musste einem ausweichen, indem sie einen Schritt zurücksprang.
Ein wenig verärgert betonte sie daraufhin: »Lustig finde ich das überhaupt nicht!«
»Geh hinein, ich mache es dir gemütlich warm.«
»Danke« murmelte sie und verschwand in der Höhle im Bauminneren.
Sie begrüßte Stúhly, die Stuhldame, die im Inneren der Baumhöhle lebte. Nimue deutete an, sich setzen zu wollen, doch vorher musste sich Stúhly nach rechts und links ausdehnen.
Seit Langem war Stúhly mehr als genervt, dass sich Nimue keinen größeren Stuhl zulegte. Zum einen machte ihr das Dehnen zu schaffen, zum anderen hätte sie gerne einen Spielgefährten gehabt. Der Eichenbaum jedoch hatte da etwas Entscheidendes dagegen, und so konnte auch Nimue nicht über seinen Kopf hinweg Entscheidungen fällen.
Stúhly räusperte sich und Nimue setzte sich. Da hörten sie das Rascheln von Blättern. Es war Aaro, der seinen Stamm von außen schloss, indem er Eichenblätter auf den Eingang legte. Daraufhin kehrte eine Stille ein. Nur noch ein paar Würmer und Käfer unterhielten sich miteinander. Ansonsten war da nichts; nicht einmal das Atemgeräusch der Eiche war mehr zu hören.
»Hey«, begrüßte Nimue unerwartet ein kleiner roter Käfer.
»Hallo.«
Aaro hatte dies gehört und sogleich hallte seine tiefe Stimme im Raum: »Halt dein Maul, Steinkäfer Lili! Nimue braucht vollkommene Ruhe. Sie soll ihre innere Stimme finden. Da braucht sie dein Geschwätz ganz bestimmt nicht.«
Der Käfer kicherte, bevor er flüsternd, dennoch mit einem spöttischen Unterton meinte: »Die innere Stimme, haha. Viel Glück, Nimue, ich will dich nicht weiter stören.«
Nimue antwortete nicht, denn eigentlich war sie froh, dass Lili da war. Ablenkung ist immer gut, wenn man nicht weiterweiß.
Als der Käfer wieder verschwunden war, flüsterte sie: »Nun gut, meine innere Stimme, ich bin ruhig und könnte dir zuhören.«
Sie wartete ein paar Minuten, dann eine halbe Stunde, und nichts geschah. Einfach nichts, keine Antwort.
»Innere Stimme«, rief sie in Gedanken, »wo bist du?«
Es passierte erneut nichts, einfach nichts. Dann überwältigte sie die Ungeduld und sie beschwerte sich: »Warum sprichst du nicht mit mir?«
Aaro holte tief Luft. Das dadurch verursachte laute Geräusch durchflutete die kleine Höhle.
Nimue wusste, dass er wegen ihr tief atmen musste, denn er machte dies immer, wenn er ihr signalisieren wollte, dass sie etwas schon könne und sich nicht so anstellen sollte.
»Gut«, ermutigte sie sich, »ich schaffe es!«
Da hörte sie ein lautes, schnell aufeinanderfallendes Knacken. Ihr Freund lachte über sie. Nun packte sie der Ehrgeiz und sie wollte ihm beweisen, dass sie es tatsächlich konnte.
Sie forderte Stúhly auf: »Lieber Stuhl, bitte öffne deine Arme, sodass ich aufstehen kann.«
Gleich darauf dehnten sich die Stuhlarme seitlich weg. Nimue stand auf und streckte ihren Körper. Danach setzte sie sich auf den Boden und verschränkte ihre Beine. Sie versuchte die Gebetsstellung, dann die Dreifinger-Handstellung und schließlich legte sie ihre Hände im Schoß aufeinander. Sie spürte, dass die letzte Position die richtige für sie war und blieb dabei. Dann fing sie an, ihren Geist zu stärken, indem sie den ganzen Fokus auf ihre innere Stimme richtete. Dies war anstrengend, denn es fiel ihr nicht leicht, sich zu sammeln. Immer wieder schlichen sich andere Gedanken ein, die sie ablenkten. Diese zu bändigen und dabei zu kontrollieren, fand Nimue sehr schwierig.
Sie gab nicht auf und so tauchte sie nach einer Weile in sich ein. Sie fühlte, dass sich etwas in ihr löste und sich wohlwollend in ihrer Brust ausbreitete. Es war warm, hell und überwältigend. Alles, was sich bisher schwer anfühlte, war nun leicht. Beinahe schwerelos saß sie in der Stille der Höhle. Währenddessen waren ihre Gedanken wie ausgeblendet. Da vernahm sie wie aus dem Nichts eine verzerrte Stimme. Sie war laut, unangenehm und durchbohrte unsanft ihren Körper. Daraufhin verhärtete sich das vorherig schöne Gefühl in ihrer Brust und fing an zu schwanken, als ob eine mit Wasser gefüllte Waage verrücktspielen würde. Die Stimme wiederholte sich, doch jetzt verstand Nimue die Worte klar und deutlich: »Was machst du da?«
Nimue sah sich um und orientierte sich schnell: Es war die Stuhldame. Stúhly hatte sie grob, aus was und von wo auch immer, herausgeholt.
»Ich meditiere«, erwiderte sie barsch.
»So, so«, stellte Stúhly fest.
Plötzlich fühlte sie den wachsenden Drang, die Stuhldame fest zu schütteln. Sie hatte sie nicht nur aus diesem bezaubernden Zustand geholt, sondern es auf eine solch raue Art getan, dass ihr Körper nun leicht vibrierte. Dennoch entschied sie sich, ihren Ärger im Zaum zu halten und es, angespornt von dem einzigartigen Gefühl der inneren Ruhe, noch einmal zu wagen. Sie hatte jedoch keinen Erfolg. Ihre Gedanken ließen sie nicht mehr los.
Sie stand auf und bat den Eichenbaum: »Bitte öffne die Tür. Ich will raus.«
Es raschelte und schon waren die Blätter vom Eingang verschwunden.
»Und?«, fragte Aaro.
Sie war derart verärgert über die Stuhldame, dass sie Aaro nicht antworten wollte, und doch wusste sie, dass es nicht seine Schuld war. Zudem hatte er es Nimue heute gemütlich warm gemacht, was er nur an wenigen Tagen schaffte, weil es ihn sehr viel Energie kostete.
»Ich war schon irgendwo tief in mir und dann«, beschwerte sie sich, »dann hat mich Stúhly herausgeholt.«
»Oh, du dummer Stuhl!«, tadelte Aaro die Stuhldame nun auch verärgert. Dabei schnellte er einen langen Ast gegen den offen stehenden Eingang. »Wir werden dich umtauschen, du bist eh schon viel zu klein.«
»Hab Erbarmen, Maestro«, erwiderte Stúhly sanft, »ich halte still in Zukunft, denn ich lebe hier gut mit dir.«
Er grollte laut und bemerkte: »Dann dehn dich schon einmal aus, sodass Nimue in Zukunft besser sitzen kann!«
»Natürlich«, stimmte Stúhly zu und verstummte wieder.
»Geh heim, Nimue«, schlug Aaro vor, »und schlaf dich aus. Morgen ist ein neuer Tag. Da klappt es bestimmt.«
Nimue lächelte ihn an, während sie sagte: »Danke, lieber Aaro, es war super angenehm warm. Bis morgen.«
Sie drehte sich in Richtung Schloss und verschwand kurz darauf im dichten Holz. Von hoch oben beobachtete Aaro, wie ihre Haarspitzen immer wieder für Sekundenbruchteile zwischen den Bäumen in der Luft umherwirbelten.
»Hey, Stuhl«, brummte er, ohne sie aus den Augen zu verlieren.
»Was gibt’s?«
»Gib unserer Nimue mehr Ruhe, sonst kracht’s, verstanden?«
»Das tu ich, Maestro. Ich versprech’s!«
»Und wenn du mich noch einmal Maestro nennst, dann …«, warnte Aaro sie.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Stúhly gehorsam.
Nimue rannte gerade durchs große Schlosstor, als eine Stimme nach ihr rief: »Nimue, komm zu mir.«
Sie blieb stehen und drehte sich um. Doch sie konnte niemanden sehen. Daraufhin drehte sie sich einmal um ihre eigene Achse. Trotzdem entdeckte sie niemanden. Keine Elfenseele war da.
»War das meine innere Stimme?«, wunderte sie sich.
Zur Kontrolle ließ sie ihre Blicke noch einmal umherwandern, doch da war niemand. Dann hörte sie erneut die Worte: »Komm zu mir.« Dieses Mal war die Tonlage lauter und die Stimme klang jetzt stark verraucht, beinahe heiser.
»Nein« – schüttelte Nimue den Kopf – »das kann nicht meine innere Stimme sein.«
Sie selbst hatte noch nie ein Räucherritual mitgemacht oder anderweitig etwas mit Räuchereien zu tun gehabt. Es gab keinen Grund, dass ihre innere Stimme derartig klang. Trotzdem fragte sie sich, woher sie kam.
Nimue ging zurück zum Tor. »Wer ruft nach mir?«
»Hier unten«, erwiderte die Stimme sogleich.
Sie senkte ihren Kopf, und da sah sie ihn: einen kleinen Wichtel. So winzig, dass er mit ihrer großen Zehe vergleichbar war.
Sie kniete sich vor ihm auf den Boden und fragte: »Was willst du?«
»Ich habe gehört, dass hier bald ein großes Fest steigt?«, bemerkte er mit hocherhobenem Kopf.
»Ja, und?«
»Ich möchte mitfeiern und meine Familie auch.«
»Wie bitte? Eh, wo kommst du her?«
»Von der Fraueninsel. Wir leben direkt am Seeufer in einer kleinen Steinhöhle.«
»Wie groß ist deine Familie?«
»Vier Großeltern«, fing der Wichtel an aufzuzählen, »fünf Kinder, ich und meine Frau.«
»Gut, ihr seid eingeladen, soweit ich einladen darf. Ich muss erst meinen Großvater fragen.«
»Nein, nein, es ist ja dein Fest. Dein Großvater hat sicherlich nichts dagegen. Danke für deine Großzügigkeit. Wir kommen!«
Sie nickte zustimmend, wenn auch irritiert. Eine Sekunde später verschwand er im Nichts, woraus er scheinbar zuvor gekommen war. Nimue blinzelte. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass er gerade wirklich da gewesen war. Sie zuckte mit den Schultern, ging auf das Schloss zu und öffnete die große, hölzerne Eingangstür. Gleich darauf schwebte sie zum Büro ihres Großvaters, da sie so schnell wie möglich mit ihm über diese Begegnung sprechen wollte. Sie klopfte an und war erleichtert, als sie seine Stimme sagen hörte: »Herein, Nimue.«
»Woher weiß er immer, dass ich es bin?«, wunderte sie sich, während sie hineinging. »Opa, ich habe gerade einen Steinwichtelmann gesehen oder so eine ähnliche Art von Wicht. Sie leben am Ufer der Fraueninsel. Ich habe ihn und seine Familie zum Fest eingeladen.«
»Du kannst nicht jeden, der dich darum bittet, einladen, Nimue. Ansonsten geht uns der Platz aus.«
»Woher weißt du, dass er mich um eine Einladung gebeten hat?«
Aar lachte. »Es werden noch mehr Wesen auf dich zukommen. Dein Fest ist das Ereignis des Jahres.«
Nimues Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Die Familie der Wichtel ist mit ihren elf Mitgliedern bereits auf unserer Gästeliste. Das geht in Ordnung, Nimue.«
»Aber Opa, ich habe doch gerade erst mit ihm gesprochen?«
Er strich ihr liebevoll übers Haar. »Das lernst du auch noch, meine kleine Rao’ra.«
»Wie ich Dinge sehen kann, die ich gar nicht wirklich mit meinen Elfenaugen wahrnehme?«
»So ähnlich. Wie du deine Energien derart einsetzt, dass dir wichtige Informationen sozusagen zufliegen. Dazu später mehr.« Er hielt kurz inne und betonte: »Viel später.«
»Später«, hörte sich für Nimue gut an, denn für den Moment reichte es ihr vollkommen aus, ihre innere Stimme zu finden.
»In einer Stunde beim Abendessen?«, wollte Aar sich bestätigen lassen und Nimue nickte.
Kurz darauf saß sie auf der Fensterbank in ihrem Zimmer und spielte mit ihren Gedanken. Dabei stellte sie sich viele verschiedene Wünsche vor und wie sie in der Realität aussehen würden.
»Hallo«, begrüßte Nimue ein edles, grün-braunes Pferd mit großen Augen, als es direkt vor ihr stehen blieb. Sie streichelte es am elegant gebogenen Hals. Die feine Mähne folgte dabei sanft den Bewegungen ihrer Hand. Einen Augenschlag später saß sie im Sattel und ritt mit hoher Geschwindigkeit durch den Wald. Nimue spürte den Wind auf ihrer Haut und genoss die schöne, grüne Landschaft, die sich vor ihr ausbreitete. Sie grüßte ihren Freund Aaro, blieb kurz bei ihm stehen und zeigte ihm ihr schönes neues Tara-Pferd. Gleich darauf verschwamm das Bild vor ihren Augen und änderte sich in ein Brettspiel, das direkt vor ihr lag.
Elf-Tier-Zauber-Theater war ein Brettspiel, von dem Cara oft geschwärmt hatte. Ihre Cousine erklärte ihr, dass es ursprünglich von einer Wachtelfamilie konzipiert wurde. Die Wachtelkinder hatten heimlich den Menschen bei einem Spiel namens Mensch-ärgere-Dich-nicht zugesehen und ihren Eltern davon erzählt. Diese waren davon so inspiriert, dass sie es mit veränderten Regeln nachgebaut haben. Da die Wachteln viel kleiner sind als die Elfen, haben sich die Elfenfamilien der Zauberinsel zusammengetan, um das Brettspiel für ihre Größe zu entwerfen.
Das Spiel ähnelt dem der Menschen, wenn auch lediglich in seinen Grundzügen. Die Figuren sind ein Esel, ein Igel, ein Pferd und ein Krokodil. Alle vier Figuren werden lebendig, sobald sie mit dem Spielfeld in Berührung kommen. Zudem haben sie deren natürliche tierische Instinkte und Eigenschaften. Somit ist das Pferd schneller als die anderen, das Krokodil flinker und dazu noch hinterlistig. Der Igel ist langsam und gelassen, und der Esel ist verfressen. Er verweilt daher gerne am Rand, wo die Futternäpfe stehen. Wenn man diese Spielfiguren zur Auswahl hat, würde jede schlaue Elfe das Pferd wählen. Der Wunsch allein zählt hierbei jedoch nicht, denn bei diesem Spiel wählt das Tier den Elf und nicht umgekehrt. Dann erst kann das Spiel beginnen.
Nimue stellte sich den Elfenwürfel vor, von dem Cara ihr erzählt hatte. »Er sieht genauso aus wie der der Menschen«, murmelte sie, »der Unterschied ist der Zauber, der im Elfenwürfel steckt.« Die Zahlen verändern sich je nach Laune des Würfels und gleichen somit die positiven und negativen Eigenschaften der Tiere aus. Dabei wird Gut und Böse in eine Waagschale gelegt. Nur so kann ein wahrer Gewinner ermittelt werden, auch wenn am Ende das Glück entscheidet.
Nimue lachte bei dem Gedanken auf, dass manch ein Würfel seinen Schabernack trieb und dabei Spieler und Tier zur Weißglut brachte.
Eine Wachtel ist ein Wesen, das dem Singvogel auf dem Land sehr ähnelt, jedoch kein Vogel ist. Man weiß nicht genau, warum diese kleinen Wesen zu den Wachteln gehören. Ein Grund dafür könnte das ähnliche Verhalten und Aussehen sein. Die Singvögel sind scheu und fliegen selten auf; genauso wie die Wachteln, die sich immer in ihren Höhlen verstecken. Beide haben ein braunes Federkleid mit einer weißen Längsstreifung, mit dem Unterschied, dass Singvögel Flügel und hühnerfußähnliche Beine haben und die kleinen Zauberwesen Arme und Beine, wie ein Menschenkörper sie besitzt. Die Arme sind jedoch doppelt so lang wie der Oberkörper, und ihre Beine können sie weit dehnen, wenn sie an Wänden hochklettern und die Breite dafür brauchen. Das Gesicht ist unterschiedlicher Art, denn es gleicht keinem Vogel. Es wirkt ein wenig gruselig, wenn man die Wesen nicht kennt. Die Nase ist spitz und lang, und der Mund gleicht einem Fischmaul mit schmalen Lippen. Die Augen sind groß und man könnte meinen, dass sie jeden Moment aus der Augenhöhle herauskullern. Die Kopfhaare sind in der Regel nur spärlich vorhanden, wobei einige wenige in das Gesicht hängen. Im Grunde sind es liebe Wesen. Trotzdem sollte man stets überlegt mit ihnen umgehen. Sie können hinterhältig handeln und Wahrheiten zu ihrem Nutzen auslegen.
»Gefällt mir dieses Spiel wirklich so gut, dass ich es mir an meinem Geburtstag wünschen möchte?«, bezweifelte Nimue. Sie schüttelte den Kopf und entschied sich, einen weiteren Wunsch vor ihrem inneren Auge zu visualisieren. Nimue dachte an ein schönes Fest. An eines, das anders sein sollte, wie ihr großes Geburtstagsfest. Sie stellte sich einen geschmückten Tafelsaal vor und eine Gästeliste, die nur sehr kurz war. Als sie sich gerade ihre Mutter in ihren Gedanken herholte, platschte etwas laut an ihr Fenster. Nimue zuckte heftig zusammen. Sie blinzelte und das Bild in ihren Gedanken verschwand.
Wieder im Hier und Jetzt blickte sie auf die Glasscheibe und entdeckte darauf einen eigenartigen Fleck. »Platsch«, machte es noch einmal so laut und heftig, dass Nimue zurückschnellte. Da sah sie ein kleines Wesen auf der äußeren Seite des Fensters kleben. Sie berührte die Stelle mit ihren Fingern und erkannte, dass das Glas noch ganz war. Dann beobachtete sie das Wesen, wie es die Arme und Beine seitlich bis zum Fensterrahmen ausdehnte. Danach kletterte es mühsam den Fensterrahmen hoch. Der kleine Körper, der sich nun in der Mitte des Fensters befand, wirkte auf sie verletzlich und berührte Nimues Herz. Sie überlegte, wer das sein könnte und rieb sich die Augen, um es noch klarer sehen zu können.
»Ist dieses kleine Wesen nicht eine Wachtel?«, vermutete sie unsicher. Gerade hatte sie an die Wachtelfamilie gedacht, die das tolle Spiel erfunden hat. War das Zufall?
Als das Wesen langsam höher kletterte, beschwerte es sich: »Du könntest mir helfen, dann ginge das alles hier ein wenig schneller.«
Sogleich öffnete Nimue das Fenster und holte das kleine Wesen herein.
»Hallo, Nimue.«
»Hallo! Wer bist du?«
»Ich bin die Wachtel Cotur. Ich möchte mit dir wegen des Festes sprechen.«
»Des Festes?«, erwiderte sie erstaunt.
»Ja. Wir haben gehört, dass in zehn Tagen dein Uaneala-Fest steigt. Auch wenn wir das Wasser nicht ausstehen können, wir möchten trotzdem dabei sein.« Cotur atmete tief durch, bevor er infrage stellte: »Wie haltet ihr das hier unten nur aus?« Er schüttelte skeptisch seinen Kopf, wobei sich seine dünnen Haare wild hin- und herbewegten. »Egal, wie sieht’s aus?«
»Ich weiß es nicht. Opa hat gesagt, dass ich nicht jeden einladen kann, der mich darum bittet.«
»Papperlapapp, Nimue, ich und meine Familie sind doch nicht ein jeder. Wir sind die hochfürstliche Wachtelfamilie von der Zauberinsel Nord.«
»Wie groß ist deine Familie?«
»Ganz klein nur. Wir sind zwölf Wachteln und so winzig, dass wir nicht viel Platz brauchen.«
Nimue hatte noch nie etwas über eine hochfürstliche Wachtelfamilie von der Zauberinsel gehört, und doch mochte sie dieses kleine, hässlich aussehende Wesen auf Anhieb. Sie überlegte kurz, ihren Großvater zu fragen. Bei dem Gedanken fiel ihr jedoch auf, dass sie sicherlich schon wieder zu spät zum Abendessen kommen würde.
»Gut, Cotur, komm mit deiner Familie. Wo und wann …«
»Weiß ich alles«, unterbrach er sie, während er sich verbeugte. »Danke, Eure Hoheit. Wir freuen uns auf dein Fest.« Dann sprang er auf den geöffneten Fensterrahmen, und schwuppdiwupp war die Wachtel verschwunden.
Nimue schloss schnell das Fenster und lief zum Saal. Erneut hörte sie die Elfenstimmen sich zuprosten, bevor sie noch den Saal erreicht hatte. Nachdem sie eingetreten war, schwebte sie schnell zu ihrem Tisch.
Dort angekommen, ermahnte sie Aar: »Nimue, das sollte aber nicht zur Gewohnheit werden.«
Sie wusste, dass er von ihren vielen Verspätungen sprach und nickte ihm zu.
»Opa, die hochfürstliche Wachtelfamilie kommt auch.«
Er kannte die Familie und nickte ebenso. Darauf teilte er Nimue mit: »Morgen, meine Kleine, kommt mein Onkel Katar.«
»Ich weiß, Opa«, sprudelte es freudig aus ihr heraus.
Gleichzeitig wurde es ganz still am Tisch. Alle Anwesenden lauschten Aars Worten.
»Er kommt wegen dir und deines Geburtstags.« Aar fügte für die neugierigen Ohren hinzu: »Und natürlich auch, weil er uns alle wiedersehen möchte.« Dies rief eine Freude hervor, die er nun in einigen Gesichtern lesen konnte. Aus diesem Grund war er froh, es noch erwähnt zu haben. Danach wandte er sich wieder Nimue zu: »Ich möchte, dass du zwei Tage vor deinem Geburtstag einen Waldrundgang mit ihm machst. Geht das in Ordnung?«
Nimue bewegte ihren Kopf schnell auf und ab, während sie übers ganze Gesicht strahlte. »Natürlich, Opa, ich freu mich schon darauf.«
Der König, der dem Gespräch gelauscht hatte, lächelte Nimue zustimmend an. »Gut, meine kleine Nimue, das freut mich sehr«, bemerkte Seoras daraufhin bedächtig, »mein Bruder liebt die Natur. Bestimmt wird er das offene Meer vermissen.«
»Meinst du, Uropa?«
»Er schreibt Außergewöhnliches über den Ozean und die Kraft, die das Wasser ihm zukommen lässt. Man könnte meinen, der Ozean wäre seine große Liebe.« Seoras lacht.
»Ich werde ihm die schönsten Orte in unserem Wald zeigen. Da bekommt er bestimmt kein Heimweh.«
Seoras lächelte zufrieden. »Da bin ich mir sicher, meine kleine Nimue.«
Daraufhin versanken alle Anwesenden in ihre Gedanken, die sich hauptsächlich um Katar drehten. Die, die ihn nicht kannten, stellten sich vor, wie er wohl aussehen könnte. Die, die ihn kannten, freuten sich und schwelgten in Erinnerungen an ihn.
Nach dem Essen ging Nimue langsam den Arkadengang entlang zu ihrem Zimmer. Der Mond stand bereits hoch oben am Himmel und warf vor ihr die Schatten der Säulen auf den Boden. Da machte sich eine Vorfreude in ihr breit, Katar bald kennenzulernen. Es prickelte förmlich in ihrer Brust. Dies teilte sie mit einer aufkommenden Aufregung, weil alles mit ihr und ihrem Geburtstag zusammenhing. Zudem ahnte sie, dass da noch mehr dahintersteckte.
»Bin ich dem Unbekannten gewachsen?«, fragte sie sich ein wenig ängstlich.
»Nimue, mach dir über unbekannte Dinge keine Sorgen. Das ist wirklich eine Verschwendung der Zeit«, meinte Oona, wie aus dem Nichts.
Nimue stockte der Atem.
»Weißt du, meine Kleine, alles wird gut. Katar freut sich sehr auf dich. Das allein soll dich bewegen.«
Nimue nickte und gab ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Oma.«
»Gute Nacht und schlaf gut.« Sogleich verschwand Oona hinter einer massiven Holztür.
Da hörte Nimue das Klappern von Geschirr aus dem Tafelsaal. Außerdem nahm sie die Stimme eines Heinzelchens deutlich wahr, das dort aufräumte: »Das tue ich doch! Nimue wird das schon machen.«
Nimue wurde neugierig und ging zurück in den Saal.
»Was werde ich machen?«, fragte sie laut in den Saal hinein.
Die arbeitenden Heinzelchen blieben abrupt stehen.
»Uns belohnen«, hörte sie ein Männlein aus den hinteren Reihen rufen. Langsam trat es hervor und verbeugte sich. Es erklärte: »Nimue, wir werden auf deinem Uaneala-Fest die Arbeit erledigen. Sie wird umfangreich sein und anstrengend werden.«
Sogleich ertönte die tiefe Stimme von Nimues Schwester Marie, die spottete: »Sei still, dafür seid ihr doch da, oder etwa nicht?«
Marie stand auf einem kleinen Balkon und beobachtete das Geschehen im Saal. Nimue, der Maries harte Worte zuwider waren, lief ein unangenehmer kalter Schauer über den Rücken.
Sie blickte zurück zu dem Männlein und versuchte Maries Aussage wiedergutzumachen: »Ich danke euch sehr dafür. Ohne euch wäre mein Fest nicht möglich.«
»Dank ist gut und schön, aber Stress, Stress, Stress ist einfach nicht gut für unsere Gesundheit.«
Nimue hatte keine Ahnung, auf was dieses Männlein hinauswollte.
Es wiederholte sich: »Stress, Stress, Stress macht Kopf und Körper kaputt.«
»Willst du an diesem Tag nicht arbeiten?«, fragte sie daraufhin ein wenig verwirrt.
Ein Schimmer von Angst durchzog seine Augen und er schrie mit schriller, lauter Stimme: »Nein, nein, nein, ich will, denn dafür bin ich da!«
»Um was geht es dann?«
Marie schüttelte den Kopf und verließ den Raum. Als sie die Balkontür bewegte, konnte das Männlein Aar dahinterstehen sehen, der das Gespräch verfolgte. Das Männlein antwortete nicht mehr. Es ging zum nächsten Tisch und nahm ein paar Teller in seine Hand. Damit ging es schnell in Richtung Küche.
Nimue verstand die Situation nicht. »Was nun, was willst du?«
Es drehte sich um, stellte die Teller ab und erwiderte: »Wir alle würden gerne nach deinem Uaneala-Tag ein Fest feiern, bei dem wir bedient und bewirtet werden.«
»Nicht, dass ich euch euren Wunsch nicht gerne gewähren würde. Ich kann solch ein großes Anliegen nicht selbst entscheiden. Da musst du schon den König fragen.«
Es verbeugte sich und sagte: »Danke, Eure Hoheit, das werde ich.«
Danach nahm es die Teller wieder an sich und verschwand in die Küche.
Nimue wusste nun gar nicht mehr, was sie von diesem Gespräch halten sollte. Sie entschied sich dennoch dafür, es dabei zu belassen und in ihr Zimmer zu gehen.
Die Heinzelchen stammten vom Volk der Heinzelmännchen ab. Im Gegensatz zu den Heinzelmännchen konnten sie jedoch auch unter Wasser leben. Nachdem das Reich Shenja fertig aufgebaut war, boten sie ihre Dienste am Hofe an und Seoras nahm sie gerne auf. Ihre Entlohnung bestand hauptsächlich aus einer Bleibe und der Nahrung, die sie benötigten. Im letzten Monat des Jahres bekamen sie dazu ein paar Goldringe, um sich auf dem alljährlichen Zaubermarkt auf der Zauberinsel Süd etwas kaufen zu können.
Der Zaubermarkt fand immer am 13ten Tag des 13ten Monats statt und endete mit einem großen Fest. Für diesen einen Tag verwandelte sich der südliche Teil der Insel vollkommen aus seiner ursprünglichen Art. Alte Häuser standen an vorher leeren Plätzen und Springbrunnen ragten aus dem Boden, die verschiedene Figuren darstellten. An den Ortseingängen waren Türme mit Aussichtspunkten angebracht, sodass der Besucher das ganze Geschehen auch von oben betrachten konnte. Cafés aller Art säumten die wild verzweigten Straßen. Davon verkörperten einige eine Lebensart der Menschen. Die beliebtesten waren ein französisches, ein italienisches, ein bayerisches und ein englisches Kaffeehaus. Diese waren oft so überfüllt, dass man die Türen nicht mehr schließen konnte, während die anderen nur wenige bis keine Besucher hatten. Trotzdem kamen sie jedes Jahr aufs Neue.
Keines der Zauberwesen im Umkreis von hundert Kilometern wollte sich diesen festlichen Markt entgehen lassen, und so trafen sie sich jährlich auf der Zauberinsel. Diese Insel war für das menschliche Auge eine kleine Insel auf dem Chiemsee. Nichtsdestotrotz lebten dort viele Zauberwesen. Zusätzlich fand dort der alljährliche Markt statt. Die Zauberschule war ebenfalls auf dieser Insel integriert. Dies war nur möglich, weil dort Raum und Zeit nicht im üblichen Sinne existierten. Der Raum war immer so groß, wie er benötigt wurde, und die Zeit konnte hie und da verzaubert werden. Für das Fest bedeutete dies, dass alle Gäste ausreichend Platz hatten und manchmal schossen bei großer Nachfrage noch weitere Restaurants oder Cafés aus dem Boden. Zudem verlief die Zeit langsamer, ruhiger und gemütlicher als sonst. Sie dehnte sich derartig aus, dass man gefühlsmäßig drei Tage feierte und nicht einen, wie kalendarisch bestimmt.
Es gab dort viele Verkaufsstände, die sich an den mit Kopfsteinpflastern belegten und manchmal sehr kurvigen Gassen aneinanderreihten. Zudem existierten viele Läden mit allerlei Gebrauchswaren, Textilien und Antiquitäten. Alles, was das Herz begehrte, konnte man an diesem Tag erwerben.
Manches Mal sah man Wesen, die wie wild einkauften. Sie gaben Mengen von Gold-, Silber- oder Bronzeringen aus, was nicht selten auf einen Zauberspruch des Verkäufers zurückzuführen war. Dies war allerdings nur mit Wesen möglich, die sich davor aus Leichtsinn nicht schützten. Dabei konnte der Zauber sie direkt im Herzen treffen und ihre Einkaufslust so steigern, dass sie alles nur Mögliche mitnahmen. So nahm der Kaufrausch kein Ende und der Verkäufer wurde dafür reich belohnt.
Nimue konnte dies nicht passieren, da Aar jedes Jahr erneut eine unsichtbare Schutzhülle über ihren Körper legte. Sie liebte vor allem die Bücherläden. Dort konnte sie die Welt außerhalb ihres Königreichs erkunden. Oft stand sie stundenlang in einem dieser Geschäfte und suchte nach dem richtigen Buch oder las Zeitschriften mit den Ereignissen des letzten Jahres oder sprach mit den Verkäufern über deren Erlebnisse. Ihre Schwestern waren währenddessen in Cafés oder Bekleidungsgeschäften und kümmerten sich nur wenig um die Leidenschaft ihrer kleinen Schwester. Ihre Interessen waren grundverschieden. Deshalb trennten sie sich meist am Eingang und trafen sich wieder am Ende des Tages, wenn der festliche Ort mit all seinen schönen Häusern, Gassen und Springbrunnen wieder ins Nichts verschwand.
In der Regel lief dieser Festtag friedlich ab und doch kamen manchmal böse Wesen, die das ganze Fest durcheinanderbrachten. Sie zerstörten Geschäfte, die sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten, oder vergifteten die Speisen und Getränke der Cafés, sodass sich die Gäste übergeben mussten. Egal, was an diesem Tag angestellt wurde, es zog besonders harte Strafen nach sich. Der Grund dafür war, dass die Zauberwelt diesen Tag dem Licht widmete und somit allem, was damit verbunden war. Dies war so heilig, dass sich normalerweise auch die dunklen Wesen daran hielten, und doch gab es immer wieder Ausnahmen.
Nimue lag schon seit einiger Zeit im Bett, als der Mond nach und nach mehr in ihr Zimmer schien. Die Fenstersprossen zogen dabei seltsam ausgefranste Streifen an den Wänden entlang, die sie an die Längsstreifung der Wachtel erinnerten.
Durch die magische Wasserenergie erreichten die Lichtstrahlen der Sonne, des Mondes und der Sterne das Reich Shenja intensiver als auf dem Land. In dieser Nacht leuchtete der Mond besonders hell und Nimue beobachtete die Schatten an der Wand, die sich langsam nach unten bewegten. Dabei fiel ihr eine Laterne am Ufer der Fraueninsel ein, die ihr besonders gefiel. Sie konzentrierte sich darauf, schärfte ihre Sinne, um auf die weite Entfernung klar sehen zu können und musterte sie. Dabei sah sie ein Paar am Ufer stehen, das sich unterhielt. Die beiden hatten ihren Hund Bello dabei, der Nimues Blicke spürte und zu bellen anfing.
Das Paar sah sich um und verstand nicht, warum der Hund das Wasser anbellte. Sie versuchten, Bello zu beruhigen, jedoch vergeblich, da dieser in Wahrheit nicht aufgewühlt bellte, sondern mit Nimue sprach. Er erzählte ihr lautstark, dass er ein neues Kunststück gelernt hatte und wie toll es aussehen würde. Er könnte es ihr jedoch nicht sofort zeigen, da seine Besitzer das nicht verstehen würden.
Bello vermutete: »Weißt du, Nimue, für das Kunststück gebe ich verschiedene Laute von mir. Einer hört sich wohl klagend an. Ich glaube, da denken meine neuen Eltern, dass ich winsle und Schmerzen habe. Menschen verstehen meine Darbietung halt nicht.«
Gleichzeitig fingen seine Besitzer an, ihn vom Ufer wegzuziehen. Er wehrte sich noch für ein paar Sekunden, um Nimue zuzurufen: »Gute Nacht, Eure Hoheit. Bis bald, Nimue.«
Dann gab er nach und folgte ihnen.
»Gute Nacht, Bello«, antwortete sie in Gedanken, die für Bello hörbar waren.
Nachdem er weg war, fragte sie sich, warum sie neuerdings so viele »Eure Hoheit« nannten. Sie war es gewöhnt, dass man sie mit ihrem Vornamen ansprach und ausschließlich damit. Doch dies hatte sich seit ein paar Wochen geändert. Das Durcheinander in ihrem Kopf überforderte sie allmählich. Es eröffnete sich eine ungeklärte Frage nach der anderen. Ihr wurde klar, dass sie in diesem Moment keine Antwort auf all ihre Fragen finden würde und so schloss sie ihre Augen und schlief ein.
Bald darauf hörte Nimue eine ihr unbekannte, weiche Stimme rufen: »Nimue, Nimue, komm, sprich mit mir.«
Sie erwiderte: »Ich darf nicht so viele zu meinem Fest einladen.«
»Nimue, Nimue, wo bist du?«
Nimue verstand die Frage nicht und antwortete: »In meinem Zimmer, wo denn sonst?«
»Schau um dich und sieh selbst.«
Sie öffnete ihre Augen und sah, dass sie nicht in ihrem Zimmer war, sondern auf einer Wiese, die voll blühender Blumen war. Kleeblätter reihten sich aneinander, und die Farbenpracht der Gräser und Blumen war unbeschreiblich intensiv und bezaubernd. Erstaunt sah sie um sich und erkannte, dass viele Tannenzapfen am Boden lagen und das, obwohl keine Tannenbäume oder andere Bäume weit und breit zu sehen waren. Eine endlose Weite lag vor ihr, die unbeschreiblich harmonisch wirkte. Da spürte sie ihre nackten Füße im Gras. Immer stärker nahm sie die Berührung wahr, bis sie das Gefühl hatte, sich mit der Erde zu verbinden. Dabei entfachte sich eine Wärme in ihren Füßen, die sich behutsam über den ganzen Körper ausbreitete. Sie vermittelte ihr ein wohliges Gefühl. Zur gleichen Zeit fing es an, Blätter vom Himmel zu regnen. Nimue blickte nach oben und sah viele verschiedene Farben, die den Himmel wie einen bunten Teppich aussehen ließen. Es war, als ob jede Jahreszeit ihre Blätter auf die Erde herabfallen lassen und somit mit ihr kommunizieren würde. Zudem funkelten sie im Sonnenlicht, als ob sie Gold in sich tragen würden. Einige berührten sie weich auf ihrer Haut, während sie den Boden ansteuerten. Nach einer Weile mischten sich Fichten- und Lärchenzapfen darunter, die golden schimmerten. Auch diese berührten sie, allerdings so sanft, als ob es Federn wären. Dann vermehrten sich die Arten, sodass Nimue den Überblick verlor.
Sie öffnete ihre Arme und rief: »Wie schön. Oh, wie schön.«
»Ich bin es, deine gute Fee«, erklang die Stimme erneut, »ich werde dich immer begleiten und dir auf deiner Reise beistehen. Hab keine Angst, Nimue. Du wirst mit Gold überschüttet und der Reichtum des Lebens wird dein sein.«
Daraufhin begrüßte sie der Wind, der sich langsam einschlich und rundherum die Blätter aufwirbelte. Nimue blieb stillstehen, während die Böen immer stärker wurden. Als der Wind so stark um sie herum wehte, dass sie sich fast nicht mehr auf den Beinen halten konnte, hörte sie ihren Großvater sagen: »So, so, meine Kleine.«
Sie riss ihre Augen auf und bemerkte, dass sie in ihrem Bett lag. Der Mond war verschwunden und so zeigte sich die Nacht von ihrer dunklen Seite. Deshalb konnte Nimue im ersten Moment lediglich die Silhouette ihres Großvaters wahrnehmen, der auf ihrem Bettrand saß.
»Die gute Fee hat dich besucht und dir ihre Hilfe angeboten.«
»War das ein einfacher Traum?«, fragte Nimue erstaunt.
»Ja und nein, Rao’ra. Träume beinhalten deine Emotionen. Manche davon sind wichtig, dass du sie erkennst. Andere wiederum sind dazu da, um Erlebtes zu verarbeiten. Manches Mal jedoch schleichen sich andere Wesen in unsere Träume ein, um unsere Aufmerksamkeit zu erhalten.«
»Warum tun sie das?«
»Weil sie uns auf diese Weise etwas mitteilen möchten.«
»So wie die Fee gerade eben?«
»Ja, so wie die Fee gerade eben. Maeve ist eine kriegerische Lichtfee und steht deinem Urgroßvater und mir bei, so wie sie auch schon deinen verstorbenen Vorfahren half. Sie unterstützte sie, die beschwerliche Reise zu überstehen und dabei gesund zu bleiben.«
»Aha, Opa«, staunte Nimue, »was wollte sie mir mitteilen? Ich verstehe nicht, warum sie mich in meinem Traum besucht?«
»Weil sie dich auserwählt hat, so wie sie auch deine Vorfahren auserwählte.«
Aar verschwieg ihr dabei, dass Maeve nur den Königen ihrer Familie und deren Kronprinzen mit ihrem besonderen Schutz beistand. Kronprinzessinnen hatte es ja bisher noch nicht gegeben. Für Aar war dies ein weiteres Zeichen, dass die Hohen Meister des Lichts, gemeinsam mit seinen Vorfahren, Nimue als zukünftige Königin auserwählt hatten, und doch war dies keine endgültige Entscheidung. Nun kam es auf Nimue selbst an. War sie wirklich dazu bestimmt, die zukünftige Königin zu werden? Aar durfte sie so lange nicht auf ihre mögliche Bestimmung hinweisen, bis sie selbst den richtigen Pfad finden würde, falls es letztendlich ihre Bestimmung war.
Da blickte Aar in das irritierte Gesicht seiner Enkelin und erklärte: »Maeve hat sich dir sozusagen vorgestellt, meine Kleine. Von nun an steht sie dir zur Seite. Das bedeutet, sie beschützt dich und hilft dir, wann immer du sie brauchst. Sie kann dich heilen, wenn du dich verletzt oder wenn dich dunkle Energien heimsuchen oder du anderweitig krank wirst. Sie ist in der Kräuterkunde einzigartig ausgebildet. Daher kannst du ihre selbst gebrauten Zaubertränke immer zu dir nehmen. Ansonsten trinke niemals etwas, das du nicht kennst oder von jemandem, dem du nicht vertraust. Das kann gefährlich sein, meine Kleine, sehr gefährlich.«
Nimue nickte zustimmend, während sie weiter seinen Worten lauschte.
»Maeve ist eine sehr beschäftigte Fee. Sie ist die Königin der Feen und hat sich zur Aufgabe gemacht, die Umwelt zu schützen. Sie liebt den Wald und vor allem die Blumen. Du kannst überall mit ihr sprechen, aber eine besondere Freude machst du ihr, wenn du sie rufst und dabei Blumen um dich stehen hast.« Aar lächelte Nimue liebevoll an. »Du weißt ja, dass die Menschen die Umwelt immer mehr belasten und dieser immer größer werdenden Aufgabe stellt sich Maeve. Sie flüstert Wissenschaftlern Möglichkeiten ins Ohr, wie sie umweltbewusste Alternativen erfinden können, und klärt die Luft mit selbst gebrauten Wasserstoffen. Manch ein Mensch hat ihre klaren Energien schon spüren dürfen. Man sagt, dass diese daraufhin gesund bis an ihr Lebensende waren.«
»Wow, Opa, ich bin froh, dass sie mich auserwählt hat.«
»Ja, das bin ich auch, meine Kleine.« Er klopfte sanft auf ihre Schulter. »Jetzt schlaf, Nimue. Du brauchst die nächsten Tage viel Kraft und Energie.«
Sie drehte sich auf den Bauch und spürte, wie ihr Großvater ihr einen Kuss auf die Wange gab. Kurz darauf war er verschwunden. Eine Stille kehrte ein, in der Nimue sofort wieder einschlief, als ob alles nur ein Traum gewesen wäre.
»Nur noch neun Tage«, das waren die ersten vier Worte, an die Nimue an diesem Morgen dachte. Neun Tage, und es war so weit: viele Gäste, vorzügliche Speisen, ein wunderschönes Kleid, das bereits im vergangenen Marktfest für sie angefertigt worden war, Tanz und Musik und, ja, der Wunsch. Das Letztere bereitete ihr noch Sorgen. Aus diesem Grund wollte sie gleich nach dem Frühstück zur Eiche gehen.
Sie öffnete ihre Augen und setzte sich auf. Dabei bemerkte sie die Unruhe außerhalb ihres Zimmers. Sie vernahm im Gang viele Schritte auf und ab laufen und Stimmen sich Arbeitsanweisungen zurufen.
Da dämmerte es ihr. »Natürlich, heute kommt Katar!«
Nimue konnte es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Sie fiel in einen Rausch von Geschichten über Katar, die ihre Gedanken vollkommen einnahmen. Noch während sie vor sich hin träumte, klopfte es an der Tür.
»Herein!«
Aoife beugte sich mit ihrem Oberkörper neugierig ins Zimmer. »Guten Morgen, Nimue«, begrüßte sie ihre kleine Schwester und sprang mit einem Satz ins Zimmer. »Weißt du schon, was du dir wünschst?«
Nimue schüttelte den Kopf.
Aoife wartete nicht lange auf eine Antwort und erklärte: »Ich habe damals auch lange darüber nachgedacht. Dann siegte mein Traum vom Marktfest und du weißt ja, ich durfte durch das Zeitloch hindurch das Fest in einer anderen Dimension erleben. 13 Tage lang habe ich gefeiert. Das war der Hammer, Nimue.«
Nimue ließ sich zurück aufs Kissen fallen, als sie untertrieb: »Ja, ich weiß. Du hast es uns schon ein paar Mal erzählt.«
Aoife setzte sich zu ihr und schlug vor: »Soll ich dir helfen?«
Nimue wollte partout nicht, dass ihre Schwester ihr half. Sie hatten so gut wie keine gemeinsamen Interessen. Trotzdem antwortete sie zu ihrer eigenen Überraschung: »Natürlich.«
»Ein Schwein«, schwärmte Aoife spontan.
»Nein«, rief Nimue entsetzt. Nicht, weil sie Schweine nicht mochte, aber das Gelächter auf dem Fest konnte sie jetzt schon hören, auch wenn Schweine Glück in jeder Hinsicht bringen sollten.
»Ein Pferd«, schlug Aoife daraufhin vor.
»Vielleicht …«, antwortete sie zögernd.
»Aha, du hast also schon darüber nachgedacht. Dann erzähl mal!«
Nimue wusste nicht mehr weiter. »Kann uns nicht jemand stören?«, bat sie in Gedanken den Himmel. Sie wollte nicht über ihre Wünsche sprechen, denn hatte Oona nicht gesagt, dass sie darüber schweigen sollte?
Sekunden später vernahmen sie im Zimmer ein lautes Klopfgeräusch. Beide erschraken heftig und so antwortete erst einmal keiner.
»Sowas, die alte Buche ziert sich ganz, ganz schön heftig«, hörten sie kurz darauf eine helle Stimme empört bemerken. Beide sahen um sich. Dabei entdeckten sie direkt vor ihnen auf dem Holzboden eine Stelle, die sich verschiedenartig hochwölbte, worauf sie sich zu einer undefinierbaren Form entwickelte. Daraufhin platzte das Holz am obersten Ende, als ob ein Vulkan ausbrechen würde. Gleich darauf sprang ein kleiner Geist mit einem »Huih« heraus, und schon fiel das Holz wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurück.
Der Geist putzte seinen Mantel und rief mit verärgerter Stimme: »Diese Buche wird immer störrischer. Es wird immer schwerer, sie zu durchdringen!«
Aoife und Nimue sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an. Zur gleichen Zeit hörten sie ein lautes Geräusch, das einem monotonen Knurren ähnelte. Die Buche lachte den kleinen Geist aus. Der wiederum stampfte mit dem rechten Fuß fest auf den Boden.
»Da! Lach du nur, du stures Holz«, rief er laut.
Doch der Holzboden konterte mit schaukelnden Auf- und Abwärtsbewegungen, sodass der kleine Geist ein paar Zentimeter hoch in die Luft geschleudert wurde. Dieser war nicht mehr fähig zu reagieren und krachte mit einem lauten »Aua!« hart zurück auf das Holz.
Nimue und Aoife lachten, da der Geist sich nun wie ein Spielball auf und ab bewegte.
Schließlich gab der Holzboden nach.
Der Geist putzte seinen Mantel erneut und erklärte mit fester Stimme: »Der wird noch was erleben!« Dann wandte er seinen Blick den beiden zu, änderte spontan seinen verärgerten Gesichtsausdruck in einen freundlichen und sagte: »Hallo, Eure Hoheiten, wie geht es Euch heute, an diesem so schönen Tag?«
Der Geist hob zu einem Sprung auf Nimues Bett an, jedoch nicht, bevor er dem Holzboden noch einmal einen Tritt verpasst hatte. Dieser war kaum härter als ein Federnschlag hätte sein können, und so reagierte die Buche nicht darauf. Eine Sekunde später stand er auf dem Bett direkt vor den beiden Mädchen und putzte erneut seinen Mantel.
»Der Mantel ist doch total sauber«, schmunzelte Nimue, »muss wohl ein eigenartiger Tick sein.«
Sie mochte den kleinen Kerl auf Anhieb und überlegte, welches Wesen es sein könnte. Der Sprung auf das Bett war so gar nicht der eines Geistes, dem er aber aufgrund seines beinahe kristallklaren Körpers optisch ähnelte. Es war eher noch der Sprung eines Kobolds, aber dann war es eine Koboldart, von der sie noch nie etwas gehört oder gesehen hatte.
Er unterbrach ihren Gedankengang mit den Worten: »Bald steht ein Fest bevor. Meine Familie und ich möchten daran teilhaben. Lädst du uns ein, Nimue?«
Aoife wandte sich ihrer kleinen Schwester zu und deutete mit ihren Augen an, dass sie Nein sagen sollte.
Nimue verstand ihre Andeutung, dennoch fragte sie: »Wer bist du?«
»Ich bin ein Waldgeist und heiße Ukuku. Wir leben mit den Menschen zusammen auf dem Land; genauer gesagt, leben wir auf Herrenchiemsee.«
»Woher weißt du von dem Fest?«
Der Geist fing an laut zu kichern. Er lachte so fest, dass sein Körper vibrierte, während ihn Nimue und Aoife verdutzt anstarrten.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, meinte er: »Jeder weiß von deinem Fest, Nimue.«
Sie nickte, ohne verstanden zu haben. »Wie viele seid ihr?«
Er zählte mit seinen Fingern ab: »Mikuku, Brikuku, Elikuku, Jokuku …«
Dabei folgte Nimue seinen kleinen dicken Fingern und ihrer Bewegungen. Er hatte an jeder Hand nur drei davon. Sie war erstaunt darüber, denn sie hatte eine derartige Hand noch nie zuvor gesehen. Seine Statur war klein, etwa 30 Zentimeter hoch und seine braunen Haare versteckten sich unter einer lila Mütze. Man konnte nur ein paar dunkle Spitzen herausragen sehen. Ukuku hatte winzige Ohren, die man nur bei genauer Betrachtung erkannte. Er trug einen braunen Mantel, der seinen schwer erkennbaren Körper verdeckte. Nur seine Hände und Füße ragten heraus. Er hatte keine Schuhe an, was seine langen Zehen im Vergleich zu den kleinen Füßen überaus stark hervorstechen ließ.
Nimue verglich den kleinen Geist mit ihren guten Freunden, den Seegeistern, doch diese sahen ganz anders aus. Noch dazu sprangen sie niemals herum, so wie es Ukuku tat. Trotzdem deutete sein Körper auf eine Geisterart hin, und somit war sich Nimue sicher, er würde die Wahrheit sprechen. Zudem amüsierte sie sich über seinen Mantel und dessen lustige Eigenheit umherzuflattern, als ob ein starker Wind wehen würde. In einigen Momenten sah es danach aus, als ob unter dem Mantel gar nichts wäre. Zumindest nichts, was mit Elfenaugen zu sehen war.
Da schweiften Nimues Gedanken vollkommen ab, während Ukuku weitere Namen aufzählte, und sie fragte sich: »Schweben nicht alle Geister?«
Sie konnte es sich nicht erklären, als ihr bewusst wurde, dass es von jedem Wesen verschiedene Arten gab und sie natürlich nicht alle Geisterarten kennen konnte. Sie hörte dem kleinen Geist wieder bewusst zu, als er die Zahl »14« erwähnte.
»Es gibt also 14 Waldgeister deines Stammes?«, fragte Nimue nach.
Er verbeugte sich. »Ja, Eure Hoheit.«
»Ich freue mich, euch alle auf meinem Fest begrüßen zu dürfen.«
Sie hörte ein »Huih, hudihui«, und schon war er mit ein paar Sprüngen aus dem offenen Fenster verschwunden.
Aoife sah sie mit einem unmissverständlichen Blick an, sagte jedoch nichts, worauf Nimue entschlossen aufstand.
»Ich muss weg, Aoife.«
Kurz darauf verließ sie ihr Zimmer.
Nimue war auf dem Weg zur Eiche, um endlich mit ihrer inneren Stimme zu sprechen. Während sie durch das Dickicht des Waldes ging, hörte sie Aaro schon von der Ferne mit seiner Nachbarin lautstark diskutieren.
Als er Nimue entdeckte, rief er ihr zu: »Nimue, gut, dass du kommst.«
Sie verließ das Dickicht und schon begrüßte sie Aaros Nachbareiche: »Hallo, Nimue, ich habe gehört, dass du bald Geburtstag hast.«
Nimue nickte.
»Ich bin Eikondia.«
»Das weiß ich doch?!«, wunderte sich Nimue.
»Was glaubst du, könnten wir mitfeiern?«
»Wie soll das gehen, ihr könnt euch doch nicht von hier wegbewegen? Das Fest findet im Schloss statt.«
»Ja«, antwortete Eikondia und sprach langsam und bedacht weiter, »vielleicht hast du noch eine Idee, wie es doch gehen könnte?«
»Ich kann ja einmal darüber nachdenken?«, schlug Nimue vor. Doch Eikondias Blick senkte sich und da meinte Nimue: »Versprochen!«
Aaro nickte zustimmend. Dann forderte er Nimue auf: »Nun schnell rein da«, während er mit einem Zweig auf seinen bereits offen stehenden Baumstamm deutete. »Du hast heute noch einiges vor, nicht wahr? Geplaudert wird ein andermal.«
Sie folgte seiner Anweisung und ging in die Höhle. Dabei begrüßte sie die Stuhldame, die noch ein wenig beleidigt mit einem leisen »Hey« antwortete.
Nimue setzte sich auf den Boden und kreuzte ihre Füße, so wie der Eichenbaum es ihr erklärt hatte. Die Hände legte sie dabei auf ihre Oberschenkel. Währenddessen hörte sie laute Krachgeräusche von Aaro, der nun all seine Energie auf die Höhle konzentrierte. Dann wurde es warm um sie herum. Sie flüsterte: »Danke, Aaro.«
Gleich darauf bebte der Boden unter ihr sanft, und sie wusste, dass dies »Bitte« heißen sollte.
Sie wollte keine Zeit verschwenden und fing sogleich an, über ihre Wünsche nachzudenken. Bei einigen Ideen wurde ihr Herzschlag schneller und sie dachte: »Vielleicht ist das ein Zeichen?« Sollte sie mehr auf Zeichen achten, anstatt etwas zu suchen, das sie nicht hören konnte? Sie war verwirrt. Fragen über Fragen begannen in ihrem Kopf zu kreisen: Wie hört man seine innere Stimme? Ist mein großer Wunsch nicht real?
Da murmelte sie: »Woher kommt der Wunsch zu reisen? Geht er von meiner inneren Stimme aus oder will nur eine meiner Emotionen das Gleiche wie Cara erleben?«
Sie hatte keine Ahnung. Wenn sie nun all die kleinen und großen Wünsche in ihrem Kopf auf eine Waagschale legte, reagierte diese unterschiedlich darauf. Manche Wünsche hatten mehr Gewicht, weil sie das bedrückende Gefühl der Vernunft dabei spürte, und andere wiederum waren leichter. Dabei fühlte sie vor allem eine aufregende Begeisterung über die Erfüllung. Trotz dem intensiven Visualisieren hörte sie jedoch keine Stimme. Sie kam zu keinem Ergebnis, und so dachte sie an das einzigartige Gefühl der Leichtigkeit vom vorherigen Tag, aus dem die Stuhldame sie unsanft herausgezogen hatte. Was wollte ihr dieses Gefühl sagen? War sie möglicherweise auf dem richtigen Weg und kurz davor, ihre innere Stimme zu hören, oder war es nur etwas ganz anderes? Etwas, das sie noch nicht kannte und daher nicht verstand.
Sie seufzte, denn ihr wurde immer deutlicher bewusst, wie wenig sie vom Leben wusste. Diese Erkenntnis begann an ihr zu nagen, wie ein Hund, der seinen Knochen liebt. Das Verlangen schaffte eine Bereitschaft, den Mut für das Neue aufzubringen. Auch wenn sie die Welt erobern wollte, brachte die damit einhergehende Veränderung eine Furcht mit sich.
Nach einer Weile bemerkte sie: »Aaro, ich denke und denke und finde die innere Stimme nicht.«
»Nimue, nicht denken. Schalte deine Gedanken aus und gehe in dich. Deine innere Stimme kannst du bestimmt nicht hören, wenn deine Gedanken lauter sind als sie es ist. Entspann dich und hör auf zu denken!« Er seufzte. »Immer dieser Kopf, der ist das größte Übel.«
»Wie meinst du das?«
Ein undefinierbares Geräusch ging durch den Raum, das Nimue im ersten Moment erschreckte. Sie hielt den Atem an.
»Es ist so« – er holte tief Luft – »deine Gedanken schwirren durch den Kopf und dann, na dann bist du nicht mehr ruhig und kannst dich nicht mehr auf das konzentrieren, was du eigentlich machen willst: deine innere Stimme finden.«
»Ja, so war es gerade«, schoss es aus ihr heraus, denn ihre Gedankengänge ließen manchmal ihr Herz schneller schlagen. Das bewirkte eine innere Unruhe. Gleichzeitig fingen noch mehr Gedanken an, sich im Kreis zu drehen und lenkten sie ab.
»Versuche sie abzustellen und überwinde sie.«
»Überwinden?«, stellte Nimue infrage.
»Stell dir die große Marktmauer auf der Zauberinsel Süd vor. Wenn du außerhalb stehst, kannst du das Fest nicht sehen. Trotzdem ist es da, nicht wahr? So wie diese Mauer, versperren dir deine Gedanken die Sicht auf dein inneres Ich, dein Seelenreich, die unsterbliche Seite von dir, deine innere Stimme.«
Nimue war beeindruckt über die Weisheit ihres Freundes und sagte: »Ich probiere sie abzustellen.«
»Gut, so soll es geschehen«, erwiderte der Eichenbaum.
Nimue hatte jedoch keine Ahnung, wie man Gedanken erfolgreich abstellt. Denkt man nicht immer, irgendwie, war sie sich sicher.
Stúhly erkannte ihre Unsicherheit und schlug vor: »Konzentriere dich auf den Furchenstein vor dir. Das wird dir helfen.«
Ohne ihre Worte infrage zu stellen oder ihr zu antworten, tat sie dies. Sie fixierte den Kalkstein, der von schlangenartigen Rinnen durchzogen war. Dennoch entstanden wieder Gedanken, denn unbewusst fing sie an, den Stein zu beschreiben: seine natürliche Form, sein Muster, die verschiedenen Farben und seine mineralische Zusammensetzung. Es dauerte eine Weile, bis sie den Stein für sich definiert hatte. Sie stoppte noch im Kern ein paar andere, sich einschleichende Gedanken, bevor ihr Kopf all die Schwere losließ, die er kürzlich innehatte. Auf diese Weise verschwamm der Stein nach und nach vor ihren Augen. Es war, als ob ihre Sehkraft sich von außen nach innen wandte und dabei die äußere Erscheinung im vollkommenen Dunkeln stehenließ. Nachdem sie vollständig im Meer des Nichts eingetaucht war, schloss sie ihre Augenlider. Daraufhin fühlte sie, wie sich ihre Brust allmählich öffnete und dabei erwärmte und dann, plötzlich, war sie wieder in diesem Zustand, der sich so gut anfühlte. Kein Gedanke belastete sie mehr. Keine Worte kreisten in ihrem Kopf. Es bestand nur noch das Gefühl; warm, rund und wohlwollend. Nichts wurde mehr infrage gestellt, erklärt oder bestimmt, sondern ausschließlich gelebt. Sie wusste nicht, wie lange dieser Moment anhielt, als sich ein Bild vor ihr auftat. Gleichzeitig nahm der schwerelose Zustand das normale Körpergefühl wieder an. Dadurch fühlte es sich schwerer und anfangs belastend an.
Nimue öffnete ihre Augen und sah die Stuhldame direkt vor ihr stehen. Ihre Rückenlehne dehnte sich derart, dass darauf ein lachender Mund sichtbar wurde.
»Na, wie war’s?«, wollte Stúhly wissen.
»Schön, aber wo war ich?«
Schlagartig krachte es um sie beide herum. Der Baum bewegte sich wild hin und her: »Du wirst doch nicht, Stuhl?!«
»Nein, nein, ich habe gewartet bis Nimue selbst zurückkam.«
»Gut zu hören. Wie war’s, Nimue?«, fragte er daraufhin beruhigt.
»Einzigartig toll, Aaro. Ich weiß nur nicht, wo ich war?«
»Du bist auf dem Weg zu deinem innersten Selbst gewesen, also zu dir.«
»Wirklich?! Da war aber keine Stimme«, bemerkte Nimue leicht frustriert.
»Gib dir Zeit. Es ist noch kein perfekter Sich-Selbst-Findender vom Himmel gefallen.«
Nimue wollte gerade aufstehen und den Eingang öffnen lassen, als Aaros Herz laut und unruhig zu pochen begann. Er flüsterte: »Bleib drinnen, beweg dich nicht.«
Erschrocken hielt sie sich mäuschenstill. Da hörte sie einen sich annähernden Tumult. Er deutete auf eine wilde Herde hin, die laut durch den Wald trampelte. Das dumpfe Geräusch ihrer Schritte konnte man mit keinem der zarten Elfenschritte vergleichen, also mussten es andere Wesen sein. Sie schärfte ihre Sinne und hörte einige Stimmen durcheinandersprechen. Dabei versuchte Nimue, durch den dicken Baumstamm hindurchzusehen. Es gelang ihr jedoch nicht. Gleichzeitig wurde sie auf eine tiefe Stimme aufmerksam: »Wo ist die Prinzessin? Das Brett hat doch gesagt, dass sie im Wald ist.«
»Ich weiß es nicht, Vater. Lass uns auf der anderen Seite des Waldes suchen.«
»Auf keinen Fall. Ich rieche hier Elfen, also muss sie hier sein!«, erwiderte wiederum eine andere Stimme harsch.
Nimue konnte diese Wesen ebenso riechen. Es war ein unangenehmer Geruch, der sie an den Kompost erinnerte, den die Schweine für gewöhnlich fraßen.
Sie ging einen Schritt zurück, weg von dem immer stärker werdenden, durchdringenden Duft und trat dabei auf das Stuhlbein.
»Aua«, beschwerte sich die Stuhldame.
»Da, da war was!«, schrie eines dieser stinkenden Wesen.
Nimue strich Stúhly sanft über den Arm und entschuldigte sich damit. Da fing das Eichenlaub außerhalb der Höhle an, unter der Last von Schritten zu rascheln. Nimue wurde klar, dass die Wesen jetzt rund um den Baumstamm nach ihr suchten, als es laut klopfte. Nimue zuckte heftig zusammen. Sie kannte diese Kreaturen nicht und so überfiel sie schlagartig eine Angst. Sie vermutete zudem, dass die Eichenblätter auf dem Höhleneingang kein Hindernis für solche Wesen darstellten.
»Was wollen die von mir?«, fragte sie sich zitternd.
Nimue hatte keine Ahnung, dass Aaro die Blätter nur deshalb auf den Eingang legte, weil sie den Innenraum schöner aussehen ließen. Das Grün erhellte sanft den Raum und kreierte eine harmonische Stimmung. Außerhalb jedoch schloss er sich vollkommen, sodass niemand auch nur einen kleinen Spalt sehen konnte. Aus diesem Grund konnten die ankommenden Wesen keinen Hinweis auf eine Öffnung oder Höhle finden. So war Nimue vollkommen beschützt in ihrem Versteck, doch war ihr das zu dieser Zeit nicht bewusst.
Dann ertönte ein weiterer Schlag auf den Baumstamm. Erst ganz leicht und dann immer fester. Daraufhin mehrten sich die Schläge und es wurde immer lauter im Innenraum. Nur einen Moment lang musste Nimue ihre Ohren vor dem Lärm schützen, dann hörte sie viele Stimmen laut durcheinanderrufen. Sekunden später wurde der Geruch schwächer und schwächer. Sie hatte keine Ahnung, was sich außerhalb ihres Verstecks abspielte. Es war Aaro, dem die Schläge zu bunt wurden. Er packte mit seinen Ästen jedes einzelne dieser Wesen und schleuderte es durch die Luft; mit einer solchen Wucht, dass sie erst wieder viele Meter weiter auf den Boden fielen. Anschließend war es totenstill.
»Nimue, sie sind weg«, bemerkte der Eichenbaum.
»Wer war das?«, fragte sie aufgewühlt. Ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust, als ob es heraushüpfen wollte.
»Idioten«, erwiderte Aaro.
»Idioten?«
»Ja, mach dir keine Sorgen, die wirst du hier nie wieder sehen, zumindest nicht in diesem Stück Wald.«
»Wer, Aaro?«, wiederholte sie sich.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass es Pringies waren.«
»Was sind Pringies?«
»Ich habe gehört, dass die furchtbar stinken sollen und kleine, unangenehme Lebewesen sind. Überall, wo sie auftauchen, vertreiben sie die guten Wesen, und nur die Schattenwesen können den üblen Geruch ertragen. Sie selbst sollen jedoch harmlos sein.«
Eine kurze Stille erfüllte den Höhlenraum. Kurz darauf schüttelte Aaro sich, sodass seine Äste in der Luft schnell hin- und herflogen. Er bemerkte dabei: »Puh, sind die hässlich!«
Der Baum schüttelte sich nun noch intensiver, um das grässliche Bild in seinem Kopf loszuwerden. Dabei schwankte der Innenraum des Baumstammes heftig umher und so rückte die Stuhldame näher in die Mitte, um nicht von der Wucht der Bewegungen getroffen zu werden.
»Wie haben sie denn ausgesehen?«, wollte Nimue wissen.
»Lange, spitze, hundeähnliche Nasen. Keine Haare auf dem Kopf. Ihre Haut ist gruselig grau. Sie waren nur mit einer Hose bedeckt. Diese war so schmutzig, dass ich keine Farbe erkennen konnte und auch noch viel zu kurz. Die Ohren sind lang und genauso spitz wie die Nase. Sie haben ganz kleine Augen, dafür jedoch große, lange Hände und Füße. Ihr Oberkörper ist kugelrund, essen wohl zu viel Unkraut.«
Nimue stellte sich die Wesen bildlich vor. Dabei verzog sie vor Ekel ihr Gesicht. »Warum, meinst du, waren die hier?«
»Die haben dich gesucht. Wollen wohl auch auf deine Party«, vermutete Aaro.
»Das wäre ja furchtbar!«, rief sie erschrocken.
»Die kommen nicht wieder, Nimue. Denen haben wir gehörig Angst eingejagt.«
Nimue war erleichtert, das zu hören. Sie wollte nur gute Wesen zu ihrem Fest einladen, und so wie es aussah, gehörten diese nicht dazu. »Danke, Aaro.«
»Klaro«, antwortete der Baum schüchtern.
»Ich gehe heim. Kannst du mir …?«
Sogleich bewegten sich die Eichenblätter und öffneten den Eingang.
»Danke.« Sie ging hinaus und verabschiedete sich bei der Stuhldame, bei Aaro und natürlich auch bei Eikondia. Ihre letzten Worte waren eine Erinnerung an ihren Wunsch. Nimue wusste nicht, wie sie ihr den erfüllen sollte, und doch war sie fest entschlossen, es zu tun. Sie wollte mit ihrem Großvater darüber sprechen, der bestimmt eine Lösung für ihr Problem hatte, so war sie sich sicher.
Nimue lief schnell durch das Dickicht des Waldes in Richtung Schloss. Der Schock steckte ihr noch in den Gliedern, und so wunderte sie sich nicht, dass sie das Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Mehrmals drehte sie sich um, nur um sicher zu gehen, dass sie es sich nur eingebildet hatte und kein Pringies ihr folgte. Andererseits roch sie nichts. Also konnte kein Pringies auch nur in der Nähe sein. Erleichtert über diese Tatsache ging sie langsamer, als sie erneut ein Geräusch hinter sich bemerkte. Nimue drehte sich um, sah nichts und wieder nichts, bis sie erkannte, dass sich etwas hinter einem Baum versteckte.
Dann ging alles ganz schnell. Sie lief weiter, als ob sie nichts bemerkt hätte, drehte sich geschwind um und machte dabei einen langen Satz zur Seite. Als sie wieder fest auf ihren Beinen stand, sah sie ihn vor sich stehen. Ein kleiner Waldgeist, der sich so erschrak, dass er ängstlich einen kleinen Baum umklammerte. Seine Hände und Füße zitterten und er rief: »Was wollt Ihr?«
»Was wollt ihr? Ihr seid es, der mir folgt.«
Er spürte, dass in ihrer Stimme kein Zorn oder Ärger lag. Offensichtlich erleichtert darüber, ließ er den Baum wieder los. »Ich wollte Euch sprechen, Eure Hoheit.«
»Gut, dann mal los«, bemerkte sie ungeduldig.
»Ich gehöre zu den Baumgeistern und oft sehen wir Euch durch den Wald laufen.«
Sie dachte sich bereits aufgrund seiner Erscheinung, dass er zu den Waldgeistern gehören musste. Sein Kopf ähnelte durch seine kegelförmige Krone einem Lärchenzapfen. Der Körper glich einer Holunderbeere, aus der lange Beine hervorragten. Als er seine Arme auf seinen Oberkörper legte, verschmolzen sie und verschwanden dabei komplett darin. Sein breites Gesicht hatte warme Augen und der Mund ließ selbst im geschlossenen Zustand einzelne Zähne herausstehen. Er war offensichtlich keine Schönheit, und doch hatte er für Nimue etwas unbeschreiblich Schönes, was sie berührte.
»Wir kennen Euch schon, seitdem Ihr ein Baby wart. Der König und auch Euer Großvater Aar kamen damals oft mit Euch in den Wald und zeigten Euch all seine Schätze. Auch wir wurden uns schon einmal vorgestellt. Daran könnt Ihr Euch bestimmt nicht mehr erinnern.«
Nimue wusste es wirklich nicht mehr, wollte seine Gefühle dennoch nicht verletzen und sagte: »Ich kann mich an keines meiner ersten Lebensjahre erinnern. Das tut mir leid, kleiner Geist.«
Dieser winkte ab, als Nimue für einen kurzen Moment einen Arm erkannte, der daraufhin wieder mit seinem Körper verschmolz. »Wie ist dein Name?«, wollte sie wissen.
»Freude, da ich meinem Volk mit jedem Lächeln Freude schenke.«
Nimue verspürte bei diesen Worten auch eine Freude in ihr aufsteigen und fragte: »Du und deine Familie möchten zum Fest kommen, nicht wahr?«
»Ja, wenn du, ach, Ihr es wollt?«
»Du ist in Ordnung. Wie viele seid ihr?«
»15, Eure Hoheit.«
»Sonst noch was?«
Er schüttelte den Kopf.
Nimue verabschiedete sich mit den Worten: »Bis bald, Freude. Ich freue mich, dass ihr zu meinem Fest kommt.« Kurz darauf verschwand sie im Dickicht des Waldes.
Nimue erreichte das Schloss ohne weitere Vorkommnisse und blieb in der großen Eingangshalle stehen, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Es war eine besondere Uhr, nämlich eine lebende Elfe namens Uhrilia, deren Flügelschlag jede Minute anzeigte. Diese Elfe war um mehr als einen Meter kleiner als die anderen Elfen. Bei genauer Betrachtung hätte man meinen können, dass sich schon von Geburt an zeigte, dass sie einmal eine Uhr werden sollte.
Uhrilia öffnete ihre Augen nach einem ausgedehnten Mittagsschlaf und entdeckte Nimue in der Halle. »Bald ist es drei Uhr, Nimue, und nur noch zwei Stunden, bis Katar kommt«, sagte sie gähnend.
Nimue bedankte sich für die Zeitangabe und ging in ihr Zimmer.
»Was soll ich an einem Tag wie diesem anziehen?«, fragte sie sich.
Ein Kleid, da war sie sich sicher, aber welches? Welches ihrer Kleider war angemessen für den Bruder des Königs? Nimue setzte sich auf ihr Liegesofa und stellte sich ihre Garderobe bildlich vor. Plötzlich stieg in ihr ein sicheres Gefühl auf, das richtige gefunden zu haben. Es sollte ihr hellgelbes Kleid sein. Ihre Empfindung war unbeschreiblich klar, deutlicher als jedes ausgesprochene Wort es hätte sein können. Sie machte sich keine Gedanken darüber, woher dieser Impuls kam, sondern freute sich, eine schnelle Entscheidung getroffen zu haben.
Entschlossen sagte sie: »Schrank, kann ich bitte das hellgelbe Kleid haben?«
Ihre Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen und schon öffneten sich die Türen, begleitet von einem lauten, knarrenden Holzgeräusch. Sie sah das gewünschte Kleid, das wie von Geisterhand aus der Reihe hervorragte, und nahm es an sich.
Der Schrank bemerkte: »Das Kleid, so edel wie du, meine Elfenprinzessin. Es soll dich an einem schönen Abend schmückend begleiten.« Daraufhin gingen die Türen wieder zu.
»Danke, lieber Schrank.«
Sekunden später war Nimue hinter einem Paravent aus Mahagoni verschwunden. Dort zog sie sich um. Mit einem wohligen Gefühl stellte sie sich kurz darauf vor den Spiegel. Das blasse Gelb schimmerte im Kerzenlicht und sie spürte die edle Baumwolle geschmeidig auf ihrer Haut liegen. Das Oberteil hatte dünne Träger und verschmolz beinahe mit ihrem Körper. Der Rock war weit und lang. Nur noch ein paar Zehen spitzten darunter hervor. Am Rücken waren unsichtbare Elfenflügel befestigt, deren Erscheinung nur im Kerzenlicht aufflackerte. Dieses Kleid hatte ihre Großmutter selbst genäht. Es stand ihr einzigartig gut und so erwähnte die Spiegeldame: »Schön siehst du aus, Nimue.«
Nimue freute sich über das Kompliment und bedankte sich bei ihr. Dann ging sie in das Büro ihres Großvaters. Dort angekommen, sah sie ihn an seinem Schreibtisch sitzen.
»Hallo, meine Kleine, schon fertig, wie ich sehe.«
Sie nickte. »Ich wollte mit dir sprechen, Opa.«
Nach einer leichten Kopfbewegung nach unten wandte er sich wieder dem Buch zu, das direkt vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Es war groß und hatte hellbeige Blätter mit schwarzer Tinte darauf.
Nimue bewunderte den Rand des Umschlags, der dick und aus feinstem braunem, sehr altem Leder war. Sie konnte sich nicht erinnern, das Buch schon einmal gesehen zu haben, und so wanderten ihre Blicke langsam über die Seiten. Dabei fingen ihre Augen an, das Buch zu fixieren. Irgendetwas zog ihre Aufmerksamkeit regelrecht an. Sie fühlte, wie sich ihre Blicke verselbstständigten. Es war ihr urplötzlich nicht mehr möglich, ihre Augen von dem Werk abzuwenden.
Aar erkannte dies und lächelte. »Um was geht es denn?«
Nimue musste ihren Kopf mit einem heftigen Ruck wegziehen, um das Buch nicht mehr anzustarren. Danach setzte sie sich auf einen Stuhl, der gegenüber von Aars Ohrensessel am Kamin stand. Von diesem aus konnte sie ihren Großvater gut sehen. Er blickte immer noch auf die geöffneten Seiten, und doch wusste Nimue, dass er ihren Worten aufmerksam lauschen würde.
»Ich war heute im Wald, Opa, bei der Eiche, und habe meditiert. Aaro meinte, dass ich auf dem Weg zu meinem inneren Selbst war. Kann das sein?«
»So, so, die Eiche meinte das«, bemerkte er schmunzelnd. »Was hast du dabei erlebt, meine Kleine?«
»Ich weiß es nicht, aber schön war es schon. Ich habe versucht, nicht mehr zu denken, und irgendwie war das echt schwierig, und dann sagte Stúhly, dass ich mich auf einen Stein konzentrieren sollte, der vor mir lag. Danach war alles anders. Ich dachte nichts mehr und fühlte eine Wärme, die meinen Körper entspannte. Es war, als ob ich durch eine traumhafte, dennoch mir verborgene Landschaft wandeln würde. Dort zeigte sich mir ein Schwan. Gleich danach sah ich auch das Wasser, in dem er schwamm. Der Schwan war wunderschön, Opa.« Sie hielt kurz inne. »Eine Stimme habe ich aber nicht gehört. Wie soll ich nur meine innere Stimme finden?«
»Wie hast du dich dabei gefühlt?«
»Gut. Es war so ähnlich wie früher, bei Mama und Papa, wenn ich in ihrem Bett zum Kuscheln lag oder wenn du oder Oma mich ganz fest drückt. Auf jeden Fall war es schön.«
»Du hast dich beschützt, geliebt und aufgehoben gefühlt. Du bist dem ursprünglichen reinen Zustand deiner Seele nähergekommen. Dieser besteht aus wahrer Liebe. Seit deiner Geburt kann ich sie in deinen Augen strahlen sehen. Diese feinen Empfindungen werden dir ein guter Wegweiser sein.«
»Aber die innere Stimme, Opa?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Die innere Stimme ist dein Gefühl. Du wirst keine Laute in deinen Ohren hören, wie du meine oder andere Stimmen hörst. Es ist in dir. Manchmal besteht ausschließlich das Gefühl, und manchmal fühlst du und verwandelst deine Empfindungen in Worte.«
»Das Wasser, in dem der Schwan schwamm, hat mich an unser Brunnenwasser erinnert, nur zeigte es sich viel klarer«, sprudelte es dann aus ihr heraus.
»Ja, die Quelle deiner Seele.«
»Und der Schwan?«, fragte Nimue.
»Frag ihn doch, vielleicht ist er dein Seelentier. Jede Elfe hat ein Seelentier. Zu unterschiedlichsten Zeiten zeigen sie sich ihren Schützlingen. Vielleicht wollte dir der Schwan mitteilen, dass er dein Seelentier ist. Oder hast du ein anderes?«
»Nein, habe ich nicht. Zumindest weiß ich nichts davon. Ich wusste ja bis gerade eben nicht einmal, dass es Seelentiere gibt.«
»Du könntest ihn fragen, warum er sich dir zeigt.«
»Das mache ich gleich morgen, Opa«, erklärte sie entschlossen.
Nimue lehnte sich zurück in den Stuhl und verlor sich in ihren Gedanken. »Die innere Stimme ist also ein Gefühl«, dachte sie. »Wie kann sie mir dann den richtigen Wunsch mitteilen?« Erst wollte sie Aar danach fragen. Dann jedoch sah sie ihn eine aufgeschlagene Seite so intensiv studieren, dass Nimue ihn nicht noch einmal stören wollte. Sie entschied sich für einen späteren Zeitpunkt und beobachtete ihn beim Lesen.
Für sie stellte er die Vollkommenheit eines Elfen dar. Er war einige Zentimeter größer als sie. Hatte langes, hellbraunes Haar. Seine spitzen Ohren ragten über die Haare hinaus und waren an den Enden etwas schrumpelig. Das Haar glänzte im Kerzenlicht, wobei sie einige Lichtreflexe durch sein Gesicht laufen sah. Seine Augen waren groß und von einem Blau, welches nicht klarer und reiner hätte sein können. Er hatte eine lange, gerade Nase und sein Mund war fein, und doch hatte er keine schmalen Lippen, wie es für Elfen üblich war. Seine Hautfarbe war bläulich, da er nur selten an Land ging, mit einem braunen Schimmer darin. Er trug meistens einen grünen Gehrock mit Gürtel, eine braune Hose und altes, gebundenes Leder als Schuhe.
»Willst du wissen, Nimue, was für ein Buch das ist?«
Sie nickte aufgeregt.
»Es ist unser Ahnenbuch, in dem alle deine Vorfahren stehen. Es heißt Shenjam.«
Ihre Augen weiteten sich. »Alle?«
»Ja, alle.«
»Du auch, Opa?«
»Ja, ich auch und du auch, meine Kleine.«
Nimue sprang auf und rannte zu ihrem Großvater, lehnte sich bei ihm an den Stuhl und betrachtete die aufgeschlagene Seite. Dort war sein Vater Seoras, der König, festgehalten. Am oberen Rand konnte sie lesen »Sohn des Tadgh, ehemaliger König des Königsreichs Shenja – SEORAS, König des Königreichs Shenja.« An beiden Seiten befand sich eine Pflanze, die von unten nach oben wuchs.
»Siehst du die Pflanze, Nimue? Sie wächst, solange die Elfe am Leben ist. Der Tod beendet ebenso ihr Wachstum. Dadurch kann man schon beim ersten Blick erkennen, ob die Elfe noch am Leben ist und, falls nicht, wie alt sie geworden ist.«
Er blätterte eine Seite weiter. Auf dieser war die Pflanze nur zur Hälfte hochgewachsen und Nimue stellte fest – im Gegensatz zu der vorherigen – sie bewegte sich nicht leicht hin und her. Sie las den Namen Barabel und wusste sogleich wieso. Es war ihre Urgroßmutter, die auf der langen Reise in England umgebracht worden war.
»Was ist das für eine Blume?«
»Das ist ein Efeu, Mamas Lieblingspflanze.«
Er blätterte eine Seite weiter und da war Katar. Seine Blume war ein gelber Fingerhut, der sich leicht bewegte. »Siehst du, mein Onkel liebt den gelben Fingerhut. Besonders seine reine, gelbe Blütenfarbe hat es ihm angetan.« Er blickte kurz zu ihr auf und bemerkte: »So wie dein Kleid. Gute Wahl!«
Sie lächelte zufrieden. »Und ich, Opa, was habe ich für eine Blume?«
Er blätterte weiter und weiter, bis er auf ihre Seite stieß. Mittig am oberen Rand las sie: »Tochter des Hubert, des Königs Enkel – NIMUE, Urenkelin des Königs.« Dann entdeckte sie ihre Blume am unteren Rand. Sie war noch ganz klein. Sie machte den Anschein, als ob sie gerade erst zu wachsen begonnen hätte.
Erstaunt fragte Nimue: »Wie kann das Buch das wissen? Wie geht das? Diese Blume wächst doch seit meiner Geburt?«
»Ja, das tut sie und ja, es weiß mehr als du ahnst. Wenn du bereit bist, wirst du es auch lesen können.«
»Wie meinst du das?«
»In dieser Schrift liegen dir viele Worte noch verborgen. Sie zeigen sich nur den Auserwählten. Auch ich kann nur bedingt über unsere Vorfahren lesen.«
»Wer kann dann alles darin lesen?«
»Seoras ist ein Auserwählter. Ihm zeigen sich alle Wörter.«
»Was steht in diesem Buch?«
»Alles über den oder die Elfe, deren Name oben am Rand steht. Dabei spielen Herkunft, Charakter, Kämpfe, Verdienste, Ehe, Freunde, Feste, bewusste und unbewusste Taten eine Rolle; einfach alles, das vollkommene Leben dieser Elfe.«
»Wow. Meinst du, dass ich irgendwann mal die Wörter lesen kann?«
»Vielleicht, Nimue, vielleicht.«
»Kann ich die Blumen meiner Eltern sehen«, fragte Nimue ein wenig traurig.
Er holte gerade Luft, um zu antworten, als abrupt die Tür aufgerissen wurde.
Nimue erschrak heftig, dann hörte sie Marie schreien: »Katar, Katar!«
Es lag eine Bedrohung in ihrer Stimme, was Nimue beunruhigte. Im Grunde gab es keine Unruhen oder andere bedrohliche Ereignisse in ihrem Elfenleben, und doch lehrte ihr Großvater sie, immer achtsam zu sein. Leichtsinn konnte schreckliche Folgen haben, wie sich an ihrer Familiengeschichte bereits zeigte.
Aar schloss das Buch und legte es in einen Raum hinter einem Bild, den Nimue bisher nicht kannte. Er rückte das Bild wieder zurecht und rief: »Ich komme!«
»Was ist los, Marie?«, wollte Nimue wissen.
»Geh in dein Zimmer und warte, bis ich komme«, hörte sie daraufhin ihre Großmutter Oona sagen, ohne sie dabei zu sehen.
Marie und Aar verschwanden durch die Tür, worauf Nimue wie versteinert auf dem gleichen Platz stand.
»Was ist passiert?«, fragte sie sich. »Warum muss ich in mein Zimmer gehen?«
Langsam bewegte sie sich fort. Als sie dort ankam, überfiel sie die Neugierde. »Nein«, sagte sie bestimmend, »ich will wissen, was da los ist!«
Nimue schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und sah sich um. Der Gang war elfenleer. Daraufhin begab sie sich in die große Eingangshalle.
»Uhrilia, weißt du, was hier vor sich geht?«
»Ich weiß nur, dass vor genau 14 Minuten und zehn Sekunden Marie schreiend durch die Halle lief. Dann, genau fünf Minuten und drei Sekunden später, rannte die Kammerelfe Ttschi elfenschnell durch den Raum, gefolgt von anderen Elfen und ein paar Heinzelchen. Gerade eben, also vor zwei Minuten und 59 Sekunden, lief dein Großvater mit Marie durch die Halle und verließ sie durch die große Eingangstür wieder.« Uhrilia atmete tief durch. »Also«, beschwerte sie sich beleidigt, »mir sagt ja keiner was. Ich bin ja nur eine kleine Uhrenelfe, die die Zeit für alle im Überblick behält.«
»Danke, Uhrilia, das bist du bestimmt nicht. Wir sind alle sehr froh, dich zu haben.«
Diese ungewöhnlich netten Worte freuten die Uhr, und so lächelte sie vor sich hin.
Nimue ging in den Hof hinaus und sah allerlei Tiere, die fraßen, miteinander kommunizierten oder wild umherliefen. Sie blickte zu den Pferdeställen und entdeckte ihren Großvater, der hinter einer Stalltür verschwand. Diese stand einen Spalt weit offen und so verstand sie die Stimmen der anwesenden Elfen. Abrupt blieb sie vor der Tür stehen, um ihren Worten zu lauschen. Sie war sich nicht über die Identität aller dortigen Elfen sicher, doch ihre Großmutter, Aoife, Marie und auch die leise Stimme ihres Vaters hörte sie mit Gewissheit.
»Was sollen wir machen?«, fragte Oona besorgt.
»Wir brauchen Männer, und zwar viele«, vernahm sie Aars Stimme.
»Ich komme auch mit, Vater«, bestimmte Hubert entschlossen.
»Nein«, erwiderte Aar, »das ist zu gefährlich für dich. Du bist zu klein und daher zu angreifbar. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert!«
Darauf folgte ein lautes Raunen. Nimue war zu aufgeregt, als dass sie sich auf die einzelnen Worte hätte konzentrieren können. »Was ist da los?«, wunderte sie sich zunehmend. »Aar braucht ein Heer an Männern?«
Da hörte sie Oona mitteilen: »Ich gehe und läute die Glocke.«
»Die Glocke?«, erschrak Nimue. Man läutete die Glocke nur, wenn große Gefahr drohte. Was sollte das heißen? War Katar in Gefahr? Sollte das Krieg bedeuten oder eine Rettungsaktion? Sie wurde immer unruhiger und riss die Tür zum Stall auf.
»Was ist hier los?«, kreischte sie, da ihre Stimme vor Aufregung zitterte.
Marie warf ihre Hände in die Luft, während sie mit tiefer Stimme erwiderte: »Nimue, warum bist du nicht in deinem Zimmer!«
»Was ist hier los?«, wiederholte sich Nimue nun mit festem Unterton.
»Katar wurde überfallen. Wir wissen nicht, wo er steckt«, meinte Oona, die gerade an ihr vorbei in den Hof hinausging.
Die Glocke läutete dreimal. Dies war das Signal, dass alle Krieger ihre Pferde satteln mussten, um sich im Hof, am Eingangstor des Schlosses, zu versammeln.
Aar rannte an Nimue vorbei, während das Getümmel im Hof zunahm.
Nimue folgte ihm und sah einige Elfenmänner hoch oben auf ihren Pferden sitzen. Sie beobachtete ihren Großvater, wie er ein Messer in eine Satteltasche eines Kriegerelfs steckte. Bei diesem Anblick überkam sie der Wunsch, dabei zu sein und sie sagte entschlossen: »Ich komme mit!«
»Nein, Nimue, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Aar und verschwand in einen naheliegenden Tara-Pferdestall.
Unbeirrt ging Nimue zu dem Hengst, mit dem sie normalerweise ausritt, und holte ihn aus der Box. Sie sattelte ihn geschwind und stellte sich mitten unter die wartenden Männer. Mit ihrem blass-gelben Kleid fiel sie auf und so riefen ihr einige zu: »Hey, was machst du hier? Bleib im Schloss!«
Auch Aar entdeckte Nimue und nickte Oona zu. Es dauerte nicht lange und Nimue spürte eine sanfte Hand auf ihrem Rücken. Während sie diese leicht vom Pferd hob, gab Aar das Startkommando. Am Boden aufgekommen, wieherte ihr Hengst und rannte den anderen hinterher; ohne Nimue.
»Was denkst du dir eigentlich?!«, sagte Oona verärgert.
»Ich wollte doch nur …«
»Ja, nur! Das nur kann deinen Tod bedeuten. Du bist nicht für einen Kampf ausgebildet.«
Sie wusste, dass ihre Großmutter recht hatte. Trotzdem war sie aufgebracht. Nimue wollte Aar folgen, Katar retten, und Oona hatte es verhindert.
Nimue brauchte eine Weile, um die aus der Enttäuschung resultierende Wut wieder loszuwerden. Missmutig folgte sie ihrer Großmutter in Richtung Eingangshalle. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn, bis die Neugierde den Ärger vertrieb.
»Wer ist es?«
»Wer ist was?«, fragte Oona nach.
»Wer sind die Angreifer?«
»Das wissen wir nicht. Aus diesem Grund wurden die besten Krieger gerufen, sozusagen für alle Fälle. Wir hoffen, dass es übermütige kleine Wesen sind, die lediglich aufgrund ihrer Anzahl Katar und seine Frau Léa überwältigen konnten. Geh jetzt in dein Zimmer!«
Nimue folgte und tappte in aller Ruhe durch die Eingangshalle die Treppe zu den Arkaden hinauf. Da riss sie Uhrilia unsanft aus ihren Gedanken: »Nimue, erzähl schon, was ist los?«
Sie blieb an der obersten Stufe stehen und blickte direkt in Uhrilias Augen. »Katar und Léa wurden entführt.«
»Mamma Mia, von wem?«, fragte Uhrilia, während sie sich heftig schüttelte. Dabei hallten metallische Töne durch den Raum, als ob ein Triebwerk aufeinanderschlagen würde.
»Wir wissen es nicht, Uhrilia.«
»Solche Barbaren!«, rief sie laut.
Diese Antwort trieb Nimues Neugierde auf den Gipfel. Sie sah um sich und entdeckte weit und breit niemanden, auch Oona war bereits hinter Aars Bürotür verschwunden. Dann machte sie kehrt und lief zur Eingangstür zurück. Sie spitzte ihren Kopf hinaus und bemerkte, dass auch im Hof keine Elfenseele mehr zu sehen war. Schwuppdiwupp, und schon war sie in Richtung Eiche unterwegs. Um schneller voranzukommen, schwebte sie durch die Baumwipfel hindurch in Richtung ihres Freundes.
Bevor sie ihn sah, hörte sie seine dunkle Stimme rufen: »Was machst du hier, Nimue?«
Sie erreichte ihn sogleich und antwortete: »Ich möchte wissen, was los ist, und du weißt doch immer alles.«
Auch wenn der Baum sich geehrt über ihre Worte fühlte, wusste er, dass sie bei Gefahr das Schloss nicht verlassen durfte.
»Geh in mein kleines Reich hinein, dann sprechen wir weiter«, flüsterte er.
Sie stand bereits im Bauminneren, als sie ihn ungeduldig aufforderte: »Also?«
»In ganz Europa ist bekannt, dass bald dein Geburtstag stattfindet. Jeder will zu deinem Fest kommen oder es verhindern.«
»Verhindern?«, erwiderte Nimue schockiert.
»Ja, Nimue, verhindern! Du wirst bald eine mächtige kleine Elfe sein. Na ja, klein wohl eher nicht mehr«, meinte er nun mit weicher Stimme, »auf jeden Fall wollen einige dunkle Mächte diesen Geburtstag verhindern, sodass du deine Geschenke nicht bekommst.«
»Meine Geschenke?«, fragte sie irritiert, »was wollen die mit meinen Geschenken?«
Er seufzte derartig tief, dass das Holz laut krachte. Die Bewegung erschütterte den Boden und warf Nimue und Stúhly dabei hin und her.
Die Stuhldame reagierte verärgert: »Verflixt und zugenäht!«
Ohne darauf zu reagieren, erklärte Aaro: »Manche Geschenke werden deine Energien anheben und dir neue Fähigkeiten verleihen. Diese Fähigkeiten werden dich auf deinem weiteren Weg begleiten und könnten für die dunklen Mächte eine Gefahr darstellen, denn dadurch wird die Macht des Lichtes verstärkt.«
»Wie bitte?«, bezweifelte Nimue seine Worte.
Da schüttelte die Stuhldame theatralisch ihre Rückenlehne. »Welch Jammer, dieses Mädchen hat ja gar keine Ahnung.«
»Halt dein freches Mundwerk, Stuhl!«, erwiderte Aaro barsch.
»Ja, ja, Maestro.«
»Wie bitte?!«, konterte er sogleich.
»Nichts und gleich gar nichts, ich habe nichts gehört und du, Nimue?«
Nimue war vollkommen in ihren Gedanken versunken. Sie nahm ihre Worte nur vage wahr und doch antwortete sie: »Gar nichts.« Dann schoss es aus ihr heraus: »Was heißt das alles?! Wie kann das durch meine Geschenke zustande kommen, und warum betrifft das mich?«
»So viele Fragen und ich kann dir keine davon beantworten. Dies alles musst du schon deinen Urgroßvater Seoras fragen. Nur er ist befugt, dir solche Dinge zu beantworten.«
»Dinge?« Nimue schüttelte den Kopf.
Aaro wollte sein Wissen mit ihr teilen. Dennoch war er sich bewusst, dass niemand im Land Seoras Aufgabe übernehmen durfte und so flüsterte er geheimnisvoll: »Wenn dein Wunsch passt, ist es wohl so und nicht anders, Nimue.«
»Mein Wunsch«, rief sie aufgewühlt, »was hat der damit zu tun?«
»Keine Panik, war nur so dahingesprochen.«
»Meinst du, es geht um Mama und Papa?«
Yavira und Hubert – einmal erwähnt und schon wurde der Baum schwermütig. Durch das tiefe Atmen bewegten sich die Holzwände im Takt hin und her.
Die Stuhldame wurde dabei permanent angerempelt und sagte streng: »Mach ihn bloß nicht traurig, Nimue. Oh, Himmel, lass ihn nicht traurig sein! Du weißt, Nimue, er ist nah am Wasser gebaut. Wenn er erst einmal das Weinen anfängt, sind wir hier nicht mehr sicher.«
Nimue verstand. »Ist schon gut, Aaro. Ich weiß ja, dass dies der einzige Wunsch ist, den ich nicht äußern darf.« Danach stellte sie keine Fragen mehr.
Die Stuhldame, nun auch von Emotionen berührt, dehnte sich aus, sodass ihr Sitz breit genug war, um Nimue aufzunehmen.
Nimue setzte sich mit einem leisen »Danke«.
Eine Weile ruhten sie in vollkommener Stille. Diese wurde von Aaro unterbrochen, mit der Auskunft: »Nimue, mir wurde gerade von der Eule mitgeteilt, dass die Fakane Katar und seine Frau entführt haben.«
»Wer sind die Fakane?«
»Sie sind boshafte, kleine Kobolde. Sie können sich in alle Tierarten verwandeln und dabei ihre Kräfte nutzen. Dies macht sie zu starken Kriegern.«
»Was wollen sie von Katar?«
»Nichts, einfach nur Schabernack treiben.«
»Warum treibt jemand einfach nur so Schabernack? Das kann in diesem Fall doch auch gefährlich sein«, fragte Nimue erstaunt.
»Es bringt ihnen ein großes Aufsehen und das wiederum Berühmtheit. Spätestens morgen werden sie im Tagblatt der Zauberwelt stehen; auf der Titelseite. Eine größere Aufmerksamkeit könnten sie nicht bekommen. In ganz Europa wird die Zauberwelt über sie sprechen!«
»Also, sie machen das nur wegen der Aufmerksamkeit?«
»Manche Wesen brauchen das, Nimue, so sind sie halt.« Er räusperte sich verlegen. »Unsereins kennt das natürlich nicht«, erwähnte er mit einem befangenen Unterton. »Geh jetzt heim, sie werden bald da sein.«
»Haben sie Katar und Léa schon befreien können?«
»Ja, sie sind auf dem Weg ins Schloss.«
Er öffnete den Höhleneingang.
Nimue trat heraus, worauf sie geblendet vom hellen Nachmittags-Licht blinzelte. »Danke!«, rief sie und lief schnurstracks nach Hause.
Da hörte Aaro die Stuhldame sagen: »So, so, die Fakane brauchen Aufmerksamkeit?«
»Sei still, Stuhl«, erwiderte er grimmig.
»Ist es nicht so, dass die Fakane sehr bösartige Wesen sind, die sich bereits seit Jahren damit brüsten, die Energieanhebung des Lichts verhindern zu wollen?«
Aaro blieb still.
»Meiner Meinung nach, natürlich, nach der bescheidenen Meinung einer Stuhldame, war das nur ein Vorgeschmack dessen, was die Zauberwelt noch zu erwarten hat. Sie zeigen uns ihre Macht, denn wenn man den Bruder des Königs so mir nichts dir nichts entführen kann, dann …?«
»Warum wären sie so dumm und würden die Elfen vorwarnen? Hast du darauf eine Antwort, Schlaumeierin?«, unterbrach Aaro.
Er war beunruhigt und die Stuhldame konnte dies spüren, denn Nimue schwebte in Gefahr und diese war unberechenbar. Der Eichenbaum liebte seine Freundin und so wollte er sie beschützen. Allerdings wusste er auch, dass dies nur bis zu einem geringen Grad möglich war, was ihn nun noch stärker beunruhigte.
Die Stuhldame räusperte sich. Mit ein wenig Wehmut in der Stimme meinte sie: »Kein Wunder, dass die Schattenwelt kopfsteht. Seit Nimues Geburt erleuchtet sie das Reich durch ihre besonders reine Seele. Mehr und mehr wird sie den Schatten vertreiben. Die Folge ist eine Eskalation, vor allem wenn sie gekrönt wird.«
»Sprich nicht so!«, bat der Baum Stúhly barsch, wenn auch nur aus Angst um Nimue. Er wusste, dass die Stuhldame ausnahmsweise recht hatte. Die Dunkel- und Schattenwelt träumte von einer Welt ohne Licht und Liebe. Hass sollte regieren, der die überlebenden Lichtwesen zu deren Sklaven machen sollte.
Auch Nimue hörte immer wieder von den andauernden Kämpfen, konnte sich aber nicht wirklich etwas darunter vorstellen, denn bis jetzt lebte sie unbeschwert und sicher im Königreich. Der Rest waren lediglich Geschichten, die keine Wirklichkeit für sie darstellten, auch wenn sie immer wusste, dass diese Machtkämpfe der Wahrheit entsprachen.
Im Schloss war Nimues erster Weg in den Pferdestall, um ihre Mutter zu besuchen. Sie kniete sich vor dem Heu auf den Boden und begrüßte sie.
»Mama, hast du schon gehört, sie haben Katar gefunden und sind auf dem Rückweg.«
»Ja, meine Liebe, das habe ich gehört.«
Nimue legte sich zu ihrer Mutter auf das Heu. Yavira strich ihr sanft über die Wange, was Nimue kitzelte und sie zum Lachen brachte.
»Ich weiß, Nimue, du hast eine große Lebensaufgabe erhalten. Das ist sicherlich nicht leicht. Ich würde so gerne für dich da sein. Es tut mir leid.«
»Das ist schon gut, Mama. Ist ja nicht deine Schuld. Irgendwie weiß ich ja noch gar nicht, um was es hier eigentlich geht. Aaro hat so etwas angedeutet. Auf irgendeine Art und Weise sollte mein Wunsch zu etwas passen und wenn er nicht passt, dann passiert gar nichts. Und was passiert, wenn mein Wunsch doch passt, weiß ich auch nicht wirklich.«
»Gut, meine Liebe, dann werde ich es dir jetzt erklären. Es ist so oder so an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Wir, dein Vater und ich, haben zudem vom König die Erlaubnis erhalten, mit dir darüber zu sprechen«, erklärte Yavira mit ruhiger Stimme.
Beide lagen nun mit dem Rücken auf dem Heu und betrachteten das Holzdach der Stallung. Da bemerkte Nimue eine Unruhe, die im menschlichen Teil des Chiemsee-Wassers vorherrschen musste. Sie schärfte ihre Augen und sah am Flussufer einen Mann stehen, der angelte.
»Die armen Fische«, murmelte Nimue.
»Wie bitte?«, fragte Yavira nach, die gerade einen Anfang suchte.
»Ach, oben auf der Fraueninsel steht ein Fischer.«
»Ach so. Du isst Fisch doch auch sehr gerne.«
»Ja, schon, aber wenn ich von hier unten zusehe, wie sie sterben, verstehe ich Tante Tiara, warum sie Vegetarierin ist.«
Yavira lachte, dennoch zustimmend. Darauf folgte eine fast geisterhafte Stille im Raum. Dann hörten sie ein paar Hunde aus einem Napf fressen.
»Also, Nimue, pass auf. Du, meine Liebe, bist eine Elfenprinzessin, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat. Als direkter Nachfahre der Könige unseres Reiches bist du eine mögliche Thronfolgerin.«
»Aber Mama, ich bin doch die Jüngste von uns vieren und ein Mädchen noch dazu!«, erwiderte Nimue entsetzt.
»Das bist du, dennoch bist du auch voller außergewöhnlicher lichtvoller Energien, die nicht nur das Reich Shenja positiv beeinflussen. Dein Herz strahlt die reine Liebe aus. Damit erhöhst du die Energien des Lichts auf der Erde. Die Menschen und andere Wesen fühlen das. Auch wenn nur wenige wissen, woraus die Veränderung resultiert. In der Geisterwelt wird über dich gesprochen. Man sagt, dass du die dunkle Schattenwelt mehr und mehr aufweckst und dabei ihre Gier nach dem Stein steigerst.«
»Nach welchem Stein?«, fragte Nimue neugierig.
»Eigentlich, meine Liebe, hätte dein Vater dieses Erbe antreten sollen, aber wir waren zu leichtsinnig und haben es vermasselt. Irgendwann hat sich herausgestellt, dass das magische Datum genau auf deine Geburtskonstellation fällt. Dies ist ein weiterer Beweis für den König, dass du von den Lichtmächten auserwählt worden bist. Du hast sehr viele Eigenschaften, die darauf hinweisen. Endgültig jedoch ist es immer noch nicht entschieden.«
»Was, Mama?«, wollte sie ungeduldig wissen.
»Ob du die erste Königin unseres Reiches Shenja wirst und die Holzkugel für das Licht öffnest.«
Nimue fiel das Kinn nach unten.
»Ich, Königin? Und welche Holzkugel?«
»Es ist eine kleine Holzkugel, die seit Jahrtausenden nicht mehr geöffnet worden ist, beziehungsweise kann sie nicht geöffnet werden, da sie durch einen magischen Zauber verschlossen worden ist.«
»Aha«, staunte Nimue.
»Die Kugel besteht aus feinstem Mahagoni und hat aufgrund des Zaubers keine sichtbare Öffnung mehr. Erkennen kannst du sie nur an der Intarsie, welche eine Rose darstellt. Niemand, so scheint es, ist in der Lage, diese Kugel zu öffnen. Man sagt, dass der Zauber nur von dem Zauberer selbst gelöst werden kann und …« – Yavira hielt kurz inne, um ihre Wortwahl zu überdenken – »dieser ist jedoch schon lange verstorben und hat keine fähigen Nachfahren hinterlassen.«
»Warum hat er das gemacht und was hat er genau verzaubert?«
»Er war ein guter Zauberer, der zu der Zeit lebte, als unser Volk von den Dunkelelfen aus Cridhe vertrieben wurde. Der Königstamm Shenja hatte damals einen Stein, genauer gesagt einen Diamanten, der aufgrund seiner Reinheit hell strahlte.«
»Einen Diamanten?«, staunte Nimue erneut, »Wie hat der ausgesehen?«
»Seine Form glich einem Tropfen. In der Mitte konnte man eine linksdrehende Spirale erkennen, die in einem sanften Goldschimmer glänzte. Die Spirale symbolisiert die Einheit von allem Bestehenden. Von der Stelle der Urschöpfung ausgehend, die direkt in der Mitte liegt, erhellt das Licht mehr und mehr seine Umgebung. Sein Name ist: Stein des Orisolus.«
»Hat die Linksdrehung etwas mit den Schneckenköniginnen zu tun?«
Yavira lachte und schüttelte dabei den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Natürlich kann man das vermuten, denn die Königinnen, also die Schnecken mit einer Linksdrehung, gibt es unter einer Million nur einmal, und das ist schon eine Besonderheit. Ihr Gehäuse, oder wie es die Schnecken selbst nennen, ihr Schutzmantel, hebt sich von den Millionen rechtsdrehenden ab. Du bist eine schlaue Elfe, Nimue.« Yavira stupste ihre Tochter an der Nase an. »Ich glaube jedoch, dass mehr der Name auf den Ursprung des Steins hindeutet als die Drehung der Spirale. Solus ist das Licht, das im Ursprung, also Ori, durch einen Funken entstanden ist. Dieser Funke hat das Leben entzündet, so steht es geschrieben.«
»Der muss ja wunderschön sein«, vermutete Nimue verblüfft.
»Ja, das ist er, und weißt du, von wem sie diesen Stein geschenkt bekommen haben?«
Nimue schüttelte den Kopf.
»Vom Drachenführer Dracóran. Vor Tausenden von Jahren haben wilde Koaks das Königreich überfallen und eingenommen. In der Nähe des Reiches war eine Höhle, in der eine Drachenfamilie lebte. Diese waren Freunde des Königs. Nach der Besetzung befreiten die Drachen das Königreich von ihren Angreifern. Leider jedoch starb Dracórans Familie dabei. Nur er war noch am Leben, allerdings schwer verletzt. Während er im Sterben lag, ging der Elfenkönig zu ihm und pflegte ihn bis zum letzten Atemzug. Kurz bevor er starb, übergab er dem König diesen Diamanten mit der Botschaft, dass der Stein besondere Kräfte besitzen und das Reich Shenja beschützen würde.«
»Woher stammt der Stein?«
»Das wissen wir nicht. Was wir allerdings wissen ist, wie er zu der Drachenfamilie gelangte. Dracóran erzählte dem König, dass er selbst diesen Stein vor langer Zeit in der Tiefe des Meeres entdeckt hatte. Ein Licht, das aus dem Meer strahlte, hatte ihn angezogen. Als er danach tauchte, fand er diesen Stein. Er nahm ihn an sich, erkannte jedoch nicht auf Anhieb seine Macht. Aus diesem Grund legte er ihn in eine große Piratenkiste, in der bereits eine Menge Schmuck lag, und so vergaß er ihn für einige Jahre. Als die Dunkelwelt mehr und mehr das Land unter einen Schatten legte, verringerte sich die Nahrung erheblich. Menschen, Tiere und andere Wesen verstarben. Eines Abends saß Dracóran verzweifelt bei seinen Schätzen und überlegte, was er tun könnte, um seine Familie vor dem Hungertod zu retten. Da rüttelte sich etwas in der Piratenkiste, so heftig, dass sie sich hin- und herbewegte. Als er hineinsah, lag der Diamant strahlend obenauf. Er strahlte so hell, dass er den ganzen Raum erleuchtete. Dracóran nahm ihn in seine Kralle und da geschah es: Der Stein verband sich mit seiner positiven Energie. Dabei dehnte sie sich aus und füllte damit seine Umgebung. Gleichzeitig erwachte die Natur mit all ihrer schönen Vielfalt. Er sah niedergeschlagene Menschen aufstehen, genauso wie das Licht die Lebensgeister der Tiere und andere Wesen aufs Neue weckte. So wurde auch sein großer Wunsch erfüllt, denn seine Kinder hatten bald wieder genügend zu essen.«
»Und die Schattenwelt?«
»Diese wusste erst gar nicht, wie es zu dieser schnellen lichtvollen Veränderung kommen konnte. Doch sie hatten vom Mythos des Steins bereits gehört und waren sich einig, dass der Drache diesen gefunden haben musste. Das eröffnete ein neues Problem für Dracóran, denn die Dunkel- und Schattenwelt wollte den Stein für ihre Zwecke nutzen.«
»Wieso? Er ist doch lichtvoller Natur, oder?«
»Nein, meine Liebe, er unterstützt die Energie seines Besitzers. Dabei spielt der körperliche Erstkontakt eine große Rolle.«
»Aha«, staunte Nimue und versank in ihre Gedanken. In diesen ließ Yavira ihre Tochter für einen Moment in Ruhe verweilen.
»Warum hat Dracóran den Stein nicht einfach getragen, als der große Kampf gegen die Koaks stattfand? Das Licht hätte ihn und seine Familie doch gestärkt.«
»Hier bestand ein gravierendes Problem. Dieser Stein ist nicht dazu da, um ihn herumzutragen. Du weißt ja, Nimue, dass zu viel von etwas, auch wenn es gut ist, wieder ins Gegenteil umschlagen kann. Ich meine damit, dass nur der Erstkontakt zwischen dem Stein und seinem neuen Besitzer wichtig ist.«
»Ich weiß nicht, was du damit meinst, Mama.«
»Solus ist das Licht im Ursprung Ori, das die Urschöpfung darstellt.«
Nimue nickte.
»Wir haben zwei Urväter, das weißt du doch, oder?«
»Ja, das Gute und das Böse wurde als Zwillingspaar geboren.«
»Genau, also können beide die Urschöpfung darstellen.«
»Du meinst, Mama, dass beim Erstkontakt sich der Ursprung im Stein auf die Energie einstellt, die ihn besitzt?«, fragte Nimue schockiert.
»Ja, so ist es, meine kluge Tochter. Zudem verstärkt sich diese. Auch wenn sie lichtvoller Natur ist, so wie bei Dracóran, kann sie in ihrer ständigen Zunahme den Körper schwächen. Die Energien werden ihm zu viel. Aus diesem Grund ist es wichtig, den Stein so aufzubewahren, dass er wirken kann und zur gleichen Zeit den Körper des Tragenden nicht belastet.«
»Und so war der Drache geschwächt und konnte nicht mehr kämpfen und deshalb …« Nimue hielt entsetzt ihren Mund zu.
»Ja, deshalb.«
»Der Arme!«
»Ja, er hatte sich große Vorwürfe gemacht. Um den König davor zu schützen, baute er eine Schutzhülle: die Holzkugel. Diese hat die gleiche Form wie der Stein. Vielleicht sollte man Holztropfen sagen. Obwohl, jeder nennt sie Holzkugel. Sie ist am oberen Ende an einem dunkelbraunen Lederband befestigt und wirkt auf den ersten Blick wie ein Amulett. Im engsten Sinne handelt es sich auch um einen Anhänger, denn so kann man den Stein mit sich herumtragen, ohne dass seine intensiven Energien den Körper schwächen. Ansonsten sollte er so aufbewahrt werden, dass er höchstmöglich wirken kann.«
»Und er nimmt wirklich die Energien seines Besitzers an?«
»Ja, das tut er. Jahre später haben die Dunkelelfen den Stein aus der königlichen Kammer geraubt. Man sagt, dass er in der Hand von Donntuagh, dem König der Dunkelelfen, eine andere Farbe angenommen hat. Das Rad der Schöpfung drehte sich um und schloss das Licht in sich ein. So nahm es auch das Licht der Erde mit sich. Die Zauber- und Menschenwelt litt unter dem Sonnenverlust genauso wie es tausende Jahre zuvor die Drachenfamilie erlebte, nur war dieses Mal der Schatten noch dunkler. Es wurden keine Feste mehr gefeiert, kein Wein mehr getrunken und das Essen war nur noch in geringen Mengen vorhanden. Es war furchtbar kalt und die Körper der Menschen, Tiere und Zauberwesen schmerzten permanent. Zu dieser Zeit war das Leben auf der Erde noch nicht so weit entwickelt, wie es heute ist. Trotzdem, die Menschen und Tiere spürten diesen Wandel ebenso wie die Zauberwesen. Die Natur hatte sich verändert und gab ihnen immer weniger Lebensraum. Viele Menschen mussten sterben, weil Beeren vergiftet waren oder friedliche Tiere plötzlich wild wurden. Es war eine grausame Zeit und dann, dann kam der Menschenjunge.«
»Ein Menschenjunge?«
»Ja, er war noch ganz klein, so etwa drei Menschenjahre alt und hatte besonders lichtvolle Energien. Die gleichen, wie du sie hast, Nimue. Er konnte dunkle Barrieren durchbrechen, und als der König der Dunkelelfen einmal unachtsam war, da lief der kleine Junge genau zu diesem Zeitpunkt in seine Höhle hinein und fand den Stein. Er wollte nur spielen und wusste nicht, was er da in seinen Händen hielt. Er nahm ihn mit zu seiner Familie und verwahrte ihn in seiner Schatzkiste. Die Dunkelelfen hatten keine Ahnung, wer den Stein gestohlen hatte und fingen an, ihn zu suchen. Doch durch den neuen Besitzer drehte sich das Rad der Schöpfung erneut, füllte den Stein mit Licht und erwärmte die Erde. Das Leben wurde wieder angenehmer, für die Menschen wie auch die Zauberwelt. Der Junge hatte keine Ahnung, was er besaß oder damit bewirkte. Als er älter wurde, versteckte er den Stein instinktiv und hütete ihn wie einen großen Schatz. Eines Tages dann, so sagt man, wurde er von einer ihm unbekannten Stimme zu den Lichtelfen des Königreichs Shenja gerufen, um dem König diesen Stein zu übergeben. Er wusste nicht, warum er das tun sollte, hinterfragte die Stimme trotzdem nicht. Er ging auf eine lange Reise. Auf dieser musste er sich einigen Gefahren stellen, doch er siegte in jeder Schlacht. Sein Glaube und der Wunsch, diesen Stein zu übergeben, hatten ihn stark gemacht. Er fand unseren Elfenstamm und überreichte den Diamanten. Er selbst wurde mit den Energien der lichtvollen Zauberwelt beschenkt.« Yavira verstummte für eine Weile aus Erschöpfung. Die vielen Worte strengten sie stark an.
Nimue stellte sich derweilen die Fragen: »Wer könnte das sein? Kenne ich ihn womöglich oder einen seiner Nachfahren vielleicht?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr war klar, dass sie ihn nicht kennen konnte. Keiner der Halbelfen im Reich kam für sie dafür infrage, und doch konnte sie sich täuschen.
Nach einer Weile holte Yavira tief Luft. Daraufhin erzählte sie weiter: »Irgendwann erfuhr die Schattenwelt von der Geschichte, die nun von Dhuorc, dem König der Dunkel- und Schattenelfen, aufs Härteste regiert wurde. Ihm wurde mitgeteilt, dass der Stein im Königreich Shenja war und so bildete er ein Kriegsheer aus und überfiel unser Königreich, um den Stein des Orisolus zu erobern. Unsere Vorfahren wurden vorgewarnt. Dennoch stellten sie sich dem Kampf. Das erste Gefecht endete zu ihren Gunsten. Das zweite forderte viele Opfer. Als dann die Dunkel- und Schattenelfen die Koaks, Fakane und weitere böse Wesen aufriefen, ihnen zu helfen, mussten sie fliehen. Unsere Elfenkrieger waren deutlich in der Minderheit. Das Ziel war zu dieser Zeit nur noch, das Leben zu erhalten und den Stein in Sicherheit zu wissen. Während ihrer Flucht trafen sie immer wieder auf Krieger, die den Stein des Orisolus erobern wollten, und eines Tages passierte es, dass Dhuorc die Holzkugel feierlich in seinen Händen hielt. Ein guter Zauberer vor Ort hatte von dem Kampf um den Stein erfahren und rannte zum Schlachtfeld. Er sah den König sachte mit der linken Hand über den damals kleinen sichtbaren Riegel streichen. Dhuorc wollte gerade das Schloss entriegeln, als der Zauberer die Kugel mit einem Schließungszauber belegte. Der Verschluss verschwand vor seinen Augen. Er drehte und wendete die Kugel in alle Richtungen, aber sie blieb verschlossen. Dhuorc schrie laut vor Wut, was den Boden erzittern ließ. Er legte den Zauberer in Ketten und folterte ihn so lange, bis er daran starb. Der Zauberer verlor niemals ein Wort über den Gegenzauber oder die magische Formel, mit der er sie belegte. Auf den ersten Blick sollte niemand mehr in der Lage sein, die Kugel zu öffnen.«
»Wie soll dann irgendjemand auf dieser Welt in der Lage sein diese Kugel zu öffnen?«, fragte Nimue irritiert.
»Nachdem der Zauberer den Zauberspruch ausgesprochen hatte, kam ihm ein Elf unseres Heeres zur Hilfe. Noch bevor Dhuorcs Krieger ihn in seine Hände bekamen, flüsterte er ihm zu, dass nur der den Zauber lösen könne, der nicht nur mit der magischen Formel verbunden ist, sondern sie auch lösen kann.«
»Magische Formel?«, fragte Nimue.
»Ja, eine magische Formel. Dhuorc glaubte, dass der Zauberer unserem König die Lösungsformel bereits vor der Eroberung mitteilte und überfiel unsere Familie noch einmal, dieses Mal in Cornwall.«
»Und dabei starb seine Frau Barabel, nicht wahr, Mama?«
»Ja, meine Liebe, so ist es. Ich habe gehört, dass sie Dhuorc überlistet hat, um ihren Mann zu retten.«
»Das war ganz schön mutig, Mama.«
Yavira nickte. »Dabei nahm sie die Holzkugel an sich. Dhuorc hat sich mit ihrem Tod gerächt.«
»Seoras wird sie nie vergessen, Mama, er ist so traurig ohne sie.«
»Er liebt sie noch genauso wie am ersten Tag, an dem er sie kennenlernte. Man erzählt sich, es war Liebe auf den ersten Blick. Solch eine Liebe kann auch der Tod nicht zerstören.«
Ein lautes Donnern von Hufen unterbrach die beiden.
»Was war das?«, wollte Nimue wissen.
»Die ersten Elfenkrieger sind zurück. Es wird wohl nicht mehr lange dauern und auch dein Großvater und Katar sind da.«
Nimue wollte ihnen gleich entgegenlaufen und doch siegte die Neugierde, da sie noch einige Fragen hatte.
»Wo ist die Kugel jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Das weiß nur der König selbst.«
»Was hat das alles mit mir zu tun? Auch wenn ich Königin werden sollte, ich muss die Kugel deshalb noch lange nicht öffnen können.«
»Nachdem sich das Volk hier unten am Chiemsee angesiedelt hatte, bekam der König einen langen Brief von einem kleinen Finken überbracht. Seoras sagte, dass der Brief so schwer war, dass er ihm beinahe aus dem Schnabel gefallen wäre. Dieser Fink war ein Nachkomme des Finks, der bei dem Zauberer lebte. Der Zauberer konnte voraussehen und hatte vor seinem Tod diesen Brief verfasst. Darin steht die magische Formel, jedoch keine Auflösung. Dein Großvater weiß mehr darüber. Ich weiß nur so viel, dass ein Teil dieser Formel eine Zahl ergibt, die mit deinem kosmischen Geburtsdatum übereinstimmt. Zudem muss der Öffner und somit der Besitzer ein auserwählter Elf sein, so wie es nur Könige sind.«
»Und falls ich eine Auserwählte bin, könnte ich die magische Hülle der Kugel vielleicht entzaubern?«
»Man vermutet dies«, erwiderte Yavira.
»Aber warum öffnen? Es gibt doch keinen Grund dafür«, wollte Nimue wissen, die dabei vor allem an die Gefahr aus der Dunkel- und Schattenwelt dachte, die eine Öffnung mit sich bringt.
»Oh, meine Liebe, den gibt es. Die Schattenwelt ist auf dem Vormarsch. Ganz England, Teile Europas und Amerika sind unter einem grauen Nebel verschwunden. Das Land Neuseeland kann nicht einmal mehr geortet werden, und Australien zieht sich allmählich auch zu. Die Zauberwesen leiden dort Hunger und Nöte, und auch den Menschen geht es nicht gut. Viele wandern in die lichtvollen Gegenden aus. Doch dort wird der Raum eng, was Streit und Hass fördert. Dies wiederum macht es den dunklen Mächten leicht, auch diese Gebiete zu erobern. So ist kein Halt und die Ausbreitung des Schattens nimmt seinen Lauf. Zudem wird dies alles von der heutigen, ungesunden Lebensweise der Menschen verstärkt. Schau dir nur ihre zunehmende Umweltverschmutzung an. Das natürliche Lebensumfeld wird durch die Belastung der Natur durch Abfall- und Schadstoffe schwer beeinträchtigt. Das ist es, was die dunklen Mächte anstreben, denn allein die Abgase der Dampflokomotiven oder der neu entwickelten Industrieanlagen vernebeln das Licht und reduzieren dessen Energie. Du weißt doch, wie oft der Abfall von Menschen hier in unser Reich gelangt und wie viel Kraft es kostet, ihn aufzulösen. Maeve unterstützt uns und die Natur ganz und gar. Aber auch ihre Heilkräfte sind begrenzt. Denk nur an die Grünen Kinder. Sie sind besonders gefährdet.«
»Grüne Kinder?«, fragte Nimue und erkannte, dass sie noch so gut wie gar nichts über die Welt wusste.
»Sie leben im Wald oder anderen natürlichen Plätzen. Ihr Lebensraum wird immer kleiner. Die Menschen holzen ab oder zerstören natürliche Lebensräume auf eine andere Art und Weise. Nun siedeln sie sich vermehrt an Gewässern an, die nicht so einfach umgebettet werden können.«
»Wie sehen die Kinder aus, Mama?«
»Sie sehen aus wie Menschenkinder, nur mit grüner Haut und sehr dünner Statur, beinahe ausgemergelt. Sie haben, wie wir Elfen, spitze Ohren, ein paar grüne Haare auf dem Kopf und tragen in der Regel nur eine aus braunem Leder bestehende kurze Hose. Es sind gute Wesen, die an der Erhaltung der Natur teilnehmen, dennoch haben sie keine Zauberkräfte und müssen dem schrecklichen Verlauf mehr oder weniger zusehen.«
Nimue empfand ein Mitgefühl diesen Wesen gegenüber und auch den Wunsch, sie einmal kennenzulernen. Kurz darauf verschwamm alles um sie herum; ihre Welt drehte sich um 180 Grad und sie konnte sich nicht dagegen wehren. Alles war anders, und doch war es wie zuvor. Sie spürte, dass das Wissen einer Sache eine Veränderung nach sich zog, sodass sich eine scheinbar gleiche Welt urplötzlich ganz anders anfühlen konnte. Sie atmete tief durch.
Nach einer Weile musste sie wieder an die Grünen Kinder denken und sie fragte: »Aber wenn sie so anders aussehen, wie können sie mit den Menschen zusammen auf der Erde leben?«
»Sobald Menschen auftauchen, können sie sich mit der Natur verschmelzen. Also, steht ein Baum in der Nähe, gleichen sie sich dem Baum an oder dem Wasser oder der Wiese.«
Nimue verstand: Es waren Naturwesen, die aufgrund ihrer vollkommenen Reinheit mit der Natur eins sein konnten. Da begannen ihre Gedanken erneut wie in einer Achterbahn auf- und abwärtszufahren. Doch dieses Mal kreisten sie nicht nur unkontrollierbar in ihrem Kopf umher, sondern schafften Bilder, die wie ein Film vor ihrem inneren Auge abliefen. Die dadurch entstandenen Eindrücke warfen wiederum neue Fragen auf. Was bedeutet Yaviras Erzählung für sie? War sie eine auserwählte Elfe? War sie die Elfe, die den Stein finden, die Holzkugel öffnen und somit dem Licht Energie geben sollte, um die Menschen- und Zauberwelt zu reinigen und zu beschützen? Sie hatte keine Ahnung und entschloss sich kurzerhand, keine dieser Fragen jetzt in diesem Moment zu stellen. Sie erkannte, dass ihre Mutter stark geschwächt von all dem Sprechen war. Trotzdem wollte sie noch wissen: »Ist das nun gut für mich, Mama?«
»Es gibt darin kein Gut oder Schlecht. Es kommt darauf an, was du daraus machst.«
»Aber was soll ich machen, ich meine, falls ich es bin, die auserwählt ist?«
»Mach dir keine Sorgen, meine Kleine. Falls du es bist, werden sich dir die Lösungen zeigen.«
»Und wenn die dunkle Macht trotzdem siegt?«
»Das wird nicht passieren, mein Schatz.«
»Und falls doch?«
»Dann müssen wir damit leben und uns den Gegebenheiten anpassen.«
»Das wäre deiner und Papas sicherer Tod?«
»Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Es gibt immer eine Lösung, auch wenn es nicht danach aussieht.«
»Natürlich kämpfe ich, Mama. Trotzdem hoffe ich, dass ich es nicht bin«, gestand Nimue eingeschüchtert von der großen Verantwortung. »Was wäre, wenn ich mir etwas wünsche, was auf keinen Fall mit all dem zu tun hat?«
Yavira lachte. »Wünsch dir, was dein Herz begehrt. Es wird dich auf den richtigen Weg leiten. Denk immer daran, falls du die auserwählte Elfe bist: Es ist eine große Ehre. Du wirst nie allein sein, mein Schatz, das verspreche ich dir.«
Sollte sie diese Aussage beruhigen? Dann machte ihre Mutter alles richtig, denn genau das tat sie.
Da übertönten eine Trompete und ein Durcheinander von Stimmen die Laute der Pferdehufe.
»Sie sind da«, schrie Nimue und sprang auf. Blitzschnell entfernte sie ein paar Strohhalme von ihrem Kleid und erklärte: »Ich gehe in den Hof, Mama.«
»Ja, tu das. Ich komme nach.«
Nimue verließ den Stall und sah viele Elfenmänner in den Hof reiten. Ihre Blicke suchten ihren Großvater, doch der war weit und breit nicht zu sehen. Da entschloss sie sich, bei den Tara-Ställen zu suchen. Kurz bevor sie diese erreichte, kamen zwei Elfen heraus; ihr Großvater und ein ihr unbekannter Mann: Katar.
»Opa!«
Ihr Großvater erklärte stolz: »Meine Enkelin Nimue, lieber Onkel.«
Sogleich verbeugte sich Katar vor ihr. »Es ist mir eine große Ehre, Nimue. Ich habe schon viel von dir gehört.«
»Ich von dir auch. Schön, dass du da bist. Kannst du mir von Frankreich erzählen?«
Er bejahte ihre Frage.
Doch Aar meinte: »Na, na, lass ihn erst einmal ankommen, Nimue. Dazu haben wir später auch noch Zeit.«
Nimue nickte zustimmend. Zur gleichen Zeit sah sie eine Frau aus dem Stall herausgehen, gefolgt von ihrer Großmutter. Katar drehte sich nach ihnen um. »Nimue, das ist meine Frau Léa.«
»Wie schön, ein echter Mensch bei uns auf dem Schloss. Wie geht es dir bei uns hier unten?«
Léa bekam keine Zeit für eine Antwort, da Oona sogleich erklärte: »Maeve hat ihr einen Kräuterzaubertrank zubereitet, mit dem sie ohne Weiteres für mehrere Wochen hier unten angenehm leben kann.«
»Und der hat sogar gut geschmeckt«, warf Léa ein, »ich freue mich sehr, bei euch zu sein.«
Danach gingen die Herren in Aars Büro und die Damen in das Gewächshaus, da Oona Léa die Blumen und Kräuter zeigen wollte.
Nimue schlenderte derweilen durch die große Eingangshalle in Richtung ihres Zimmers.
»Nimue, da bist du ja! In der Küche wartet eine Seejungfrau auf dich«, rief ihr Uhrilia entgegen.
»In der Küche?«, fragte Nimue überrascht.
»Ich wusste nicht, wo ich sie sonst hinschicken soll. Vielleicht in dein Zimmer? Die kommt hier einfach herein und will mit dir sprechen!«
»Okay«, beruhigte Nimue die aufgeregte Uhrilia, »ich gehe sie suchen.«
In der Küche angekommen, sah Nimue viele Heinzelchen eilig umherlaufen. Sie steckten mitten in den Vorbereitungen für das Abendessen, und das sollte an diesem Tag besonders glatt verlaufen. Nimue ging langsam an den vielen verschiedenen Holzöfen vorbei. Dort standen große und kleine Töpfe, aus denen Wasser brodelte. Gleichzeitig sprachen einige Stimmen wirr durcheinander und vermittelten ihr ein Gefühl von Hektik. Darunter hörte Nimue einen Heinzelchen-Koch seine Helferinnen anschreien. Sie wandte sich ihm entsetzt zu. Sogleich verstummte er mitten in einem Satz, als ob er ihre Blicke auf seinem Rücken hätte spüren können. Zornig widmete er daraufhin seine ganze Aufmerksamkeit einem übergroßen Kochtopf, aus dem heißer Dampf entwich.
Nimue ging weiter in die Küche hinein und entdeckte viele große Holztische, an denen vereinzelt ein Heinzelchen saß, das Gemüse oder Fleisch zubereitete oder eine Kraftmahlzeit zu sich nahm. Auf einem anderen Tisch standen mehrere Kuchen und Pralinen. Als Nimue gerade eine stibitzen wollte, hörte sie die Seejungfrau mit einem jungen Heinzelchen-Koch am hinteren Ende des Raumes über das Leben und den Tod diskutieren.
»Ihr müsst sie doch fragen?«, bat die Seejungfrau den Koch verzweifelt.
Doch dieser schüttelte seinen Kopf.
Nimue verzichtete auf die Praline und steuerte auf die beiden zu. Sie warf dem Heinzelchen-Koch einen vorwurfsvollen Blick zu, während sie sagte: »Natürlich machen wir das! Meine Großeltern haben es zur höchsten Regel gemacht, dass kein Lebewesen ohne ihre Zustimmung getötet oder verzerrt werden darf. Dafür gibt es ein wichtiges Ritual im Reich Shenja, das zwischen Koch und Tier stattfindet. Ansonsten dürften wir es nicht essen. Er will dich nur ärgern.« Sie wandte sich dem jungen Koch zu. »So frech sind die Heinzelchen nur bei uns hier im Land Shenja!«
Die Wangen des Heinzelchens röteten sich. Er senkte seinen Kopf und ging zu seinem Arbeitsplatz zurück.
»Oh, da bin ich aber froh«, erwiderte die Seejungfrau erleichtert, denn in der Zauberwelt war es von besonderer Bedeutung, dass kein Lebewesen ohne seine Zustimmung rein für den Verzehr getötet wurde.
»Hallo, ich bin Piera«, stellte sie sich sogleich vor und reichte Nimue ihre rechte Hand.
Nimue nahm sie an. »Hallo, ich bin …«
»Das weiß ich doch.« Piera lächelte vor Freude, Nimue endlich kennenzulernen. »Darf ich dich fragen, ob wir zu deiner Geburtstagsfeier kommen dürfen?«
Nimue war erstaunt über die erneute Anfrage eines ihr unbekannten Wesens. »Hmm, ich kenne dich doch gar nicht, wer bist du?«
»Ich bin eine Seejungfrau und lebe hauptsächlich im Starnberger See.«
Nimue spürte die vor Neugier stechenden Blicke der Heinzelchen auf ihrem Körper. Da deutete sie der Seejungfrau mit einer Handbewegung an, ihr zu folgen. Kurz darauf schwebten beide aus der Küche in den Hofgarten hinaus. Sie setzten sich auf eine Bank direkt vor einem Strauch mit roten und gelben Rosen. Diese blühten besonders herrlich und so bemerkte Piera: »Schön habt ihr es hier!«
»Ja, Oma ist eine wahre Gartenkünstlerin.«
Als sie zur Ruhe kamen, erklärte die Seejungfrau: »Unsere Heimat ist im Wasser. Wir können aber auch auf dem Land leben. Dort verwandelt sich unsere Flosse zu zwei menschlichen Beinen. Aus diesem Grund leben einige aus meiner Familie unter Wasser und andere auf dem Land.«
»Ihr lebt inmitten der Menschen?«
»Ja, das tun wir. Unsere Körper gleichen den ihren, was unsere wahre Identität versteckt. Nur sehr feinfühlige Menschen spüren unsere reine Energie. Sie fühlen sich von uns angezogen, verstehen jedoch nicht, woher diese Anziehung kommt.« – Piera lachte kurz auf – »Manche glauben, dass sie sich unsterblich in uns verliebt haben. Doch meistens sind es nur die Energien, auf die sie reagieren.«
»So habt ihr viele Verehrer?«
Piera sah Nimue fragend an.
»So sagt man doch, Verehrer, oder nicht?«, war sich Nimue plötzlich unsicher.
»Wir haben viele Verehrer, ja, das stimmt. Aber wir spüren ganz deutlich, ob es die wahre Liebe oder nur eine Anziehung aus erwähnten Gründen ist. Somit werden es schon bedeutend weniger.«
»Wie viele seid ihr?«
»Wir sind 16 und würden uns alle über eine Einladung sehr freuen.«
Nimue mochte dieses schöne Wesen, das in der magischen Wasserenergie des Reiches Shenja leicht golden schimmerte. Aus diesem Grund fiel es ihr nicht schwer, zuzusagen. »Gut, ich freue mich auf euer Kommen.«
Piera bedankte und verabschiedete sich.
Nimue blieb zurück und beobachtete ihre schönen, weichen Schwünge, während sie in Richtung Wald schwebte. Sie war eine wunderschöne Seejungfrau mit hellblonden, fast weißen Haaren. Ihre Flosse war königsblau und von feiner Statur. Ihre Brust war durch ein gleichfarbiges Oberteil bedeckt, das durch dünne Träger rundum verbunden war. Es sah aus, als ob es ein Spinnennetz wäre, welches sich über ihren Oberkörper webte.
Nach ein paar Minuten verschwand Piera im Wald. Dann ging Nimue auf ihr Zimmer. Dort fing sie an, alle von ihr eingeladenen Gäste aufzuschreiben. Ansonsten würde sie bald den Überblick verlieren, denn aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass es noch mehr werden würden.
Nachdem sie ihren Stift zur Seite gelegt hatte, betrachtete sie im Spiegel ihr Kleid mit Entsetzen.
»Ich habe das Kleid viel zu früh angezogen. Nun schau, es ist schmutzig geworden«, beklagte sich Nimue bei der Spiegeldame.
»Ja, du hast recht. Das ist kein Problem, Nimue. Willst du es zum Abendessen anbehalten?«
»Ja, natürlich. Ich habe gehört, dass es Katars Lieblingsfarbe ist.«
»Nun gut. Komm näher zu mir an den Spiegel heran. Ich muss dir jedoch gleich sagen, dass ich das nicht immer machen kann. Es kostest mich viel Energie, und wofür gibt es Wellenschlagmaschinen, die die Wäsche waschen?«
Nimue wusste nicht, was sie vorhatte. Sie vertraute ihr dennoch und stellte sich direkt vor den Spiegel.
»Also«, wies die Spiegeldame sie an, »bleib in diesem Abstand stehen und dreh dich, wenn ich es dir sage.«
»Okay, Spiegel«, antwortete Nimue, neugierig auf das, was nun passieren würde.
Es dauerte Sekunden oder vielleicht sogar Minuten, in denen nichts geschah. Nimue hatte das Gefühl, dass es ewig anhielt, so still auf einem Platz zu stehen und auf etwas zu warten, das sie noch nicht kannte. Dann ging es auf einmal los. Die Spiegeldame füllte sich mit hellem Licht. So hell, dass sich Nimue nicht mehr darin sehen konnte. Daraufhin fing das Licht an, weit in den Raum hineinzuleuchten. Doch nur einen Moment später fokussierte es sich voll auf Nimue, als ob es eine Hülle um ihren Körper bilden wollte. Sie drehte sich auf Befehl und schon war alles wieder vorbei.
Die Spiegeldame erklärte erschöpft: »Ui, jetzt muss ich mich ausruhen.«
Nimue musterte ihr Kleid. Es war sauber, als ob sie es gerade angezogen hätte. »Danke, lieber Spiegel.«
»Ist schon gut, hab‘ ‘nen schönen Abend, Nimue.«
Sofort schnellten an beiden Seiten Türen aus dem Holzrahmen, so schnell, dass Nimue rückwärts springen musste, um ihnen auszuweichen. Sie schlossen sich gleichzeitig mit einem tiefen Atemzug der Spiegeldame. Kurz darauf schlief sie ein.
Nimue war verblüfft über ihre Künste. Noch nie zuvor hatte sie ein Kleid gereinigt.
»Ob sie noch mehr kann, wovon ich nichts weiß?«, wunderte sich Nimue. Da wurde ihr plötzlich klar, dass sie seit fast Jahrzehnten mit der Spiegeldame in diesem Zimmer zusammenlebte und nichts über sie wusste, zumindest nicht, dass sie außer einem Spiegelbild und einem allzu oft frechen Mundwerk auch andere Fähigkeiten besaß. Noch nicht einmal die Türen hatte sie bis zu diesem Tag gesehen, die aus feinstem Mahagoni bestanden. Zudem hatten sie Intarsien über die ganze Länge hinweg. Die Holzverzierungen stellten eine große Blume jeweils in der Mitte der Tür dar. Ringsherum waren kleinere, die sich an den Stängeln miteinander verbanden. Die äußeren Blumen hatten die Farbe Helllila, während die innere unbemalt war.
Nimue musterte den geschlossenen Spiegel noch eine ganze Weile, bis sie bemerkte, dass es Zeit zum Abendmahl war. Gleich darauf machte sie sich auf den Weg zum Tafelsaal, denn an diesem Tag wollte sie auf keinen Fall zu spät kommen.
Auf dem Schlossgang fiel ihr ein Piepsen auf, das mal lauter, mal leiser ertönte. Jeweils dreimal »piep, piep, piep«, bis es vermeintlich die Richtung wechselte. Einmal klang es, als ob es hinter ihrem Rücken wäre, dann vor ihr, dann neben ihr rechts oder mal links. Sie konnte keinen Ort definieren, von dem es mit Bestimmtheit ausging. Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter, doch gleichzeitig schärfte sie ihren Gehörsinn. Als sie das Geräusch intensiver wahrnahm, erkannte sie, dass dies von einem Wesen ausgehen musste und es nicht die Holzbalken oder andere im Gang vorhandenen Gegenstände sein konnten.
»Wer und wo bist du?«, fragte sie daraufhin harsch.
Nichts. Keine Reaktion, außer einem erneuten Piepen.
»Zeig dich«, forderte sie das unbekannte Wesen auf. Da entdeckte sie vor sich einen Lichtkegel, der in der Dunkelheit der Abenddämmerung schwach schimmerte. Die Lichtquelle schwankte derart stark hin und her, dass sie keinen Körper ausfindig machen konnte.
»Wer bist du und warum verfolgst du mich? Sprich endlich!«, rief sie aufgebracht.
Gleich darauf sah sie ein kleines Wesen direkt auf sie zu stolzieren, das je Schritt klarer und sichtbarer wurde, wobei das Licht um es herum zunehmend verblasste.
»Mea culpa, Eure Hoheit, ich wollte Sie nicht verärgern«, antwortete es mit weicher Stimme.
»Mea culpa?«, fragte sie nach.
»Meine Schuld, Eure Hoheit.«
»Ach so, sag das doch gleich.«
»Ich möchte mich vorstellen, Eure Hoheit.«
»Das hört sich doch gut an«, bemerkte Nimue nun mit einem Lächeln.
»Ich bin ein Geist, genauer gesagt ein Plagegeist, und kann es den Menschen und anderen Wesen oft schwer machen. Ich liebe es, sie zu ärgern und ihnen Sachen zu verlegen oder sie zu kitzeln oder Dinge, die sie tragen, anzustupsen, sodass sie ihnen auf den Boden fallen.«
»Das ist aber nicht nett, Geist.«
»Na ja, wir sind Lichtgeister und manchmal, da rütteln wir die Körper der guten Seelen auf, um im Alltag nicht einzuschlafen.«
»Was meinst du damit?«, fragte sie wenig überzeugt von seiner Theorie.
»Wir plagen die Menschen so lange, bis sie anfangen, ihre Wahrnehmungsfähigkeit in ihrer Feinheit wieder zu empfinden, um ihre vermeintliche Ungeschicklichkeit zu beenden. Sie erkennen unerwartet wahre Strukturen in oder um etwas herum.«
»Strukturen, um etwas herum?«
»Manchmal verschließt der sich stetig wiederholende Alltag und dessen geistige Nachlässigkeit die Augen vor der Wirklichkeit. Also, träge Menschen sehen nicht so gut wie schwungvolle Menschen. Oder Zauberwesen, denen geht es da ja nicht anders«, erklärte der Geist.
»Und was sehen sie dann nicht?«, wollte Nimue wissen.
»Die Wahrheit in Dingen, wie zum Beispiel Verträgen, Untaten von vermeintlich lieben Freunden oder Partnern oder, oder, oder, da gibt es so eine lange Liste, dass wir hier noch ewig stehen könnten.«
Das war das Stichwort für Nimue. Ewig hatte sie keine Zeit und wahrscheinlich war sie jetzt eh schon wieder zu spät dran.
»Wie heißt du und was willst du?«, fragte sie dennoch.
»Mein Name ist Plagosius und ich würde gerne mit meiner Familie zu deinem Fest kommen.«
»Wie viele?«
»17, Eure Hoheit.«
»Gut, ich freue mich. Bis bald.«
Sie schwebte zügig los, während er noch sprach: »Wir uns auch. Bis bald.«
Als sie den Saal erreichte, sah sie mit Erleichterung, dass die meisten Elfen ebenfalls gerade erst eintrafen. Deshalb ging sie in aller Ruhe durch die Reihen zu ihrem Tisch, der an diesem Abend besonders festlich gedeckt war. Die Kerzen hatten die Farbe ihres Kleides. Zudem waren Blumen überall auf dem Tisch verstreut und schufen eine warme und angenehme Stimmung.
Nimue freute sich, heute als Erste an ihrem Familien-Tisch zu sein. Dann sah sie Marie und Sophia auf sie zukommen und kurz darauf auch Aoife den Saal betreten. Nacheinander kamen Oona, Aar und Tante Tiara mit ihrem Mann Seog und ihren fünf Kindern: Christian, Michael, Tagh, Claudine und Kristin. Alle setzten sich. Gleich darauf kam Marie, die Schwester des Königs, mit ihrem Mann Camin und Acair, der Bruder des Königs mit seiner Frau Cloet, gefolgt von Maries Kindern, Claudius und Léa. Letztere wurde auf der Flucht in Frankreich geboren, kurz nachdem sich ihr Onkel Katar verlobt hatte; deshalb bekam sie den Namen ihrer zukünftigen Tante.
Es dauerte nicht lange und auch die Kinder von Acair kamen herein und setzten sich an den Tisch; Chridon, Massmo und Spanie. Diese Namen waren die ungewöhnlichsten am Hofe, aber Cloet liebte das Außergewöhnliche. Darauf schwebten eilig Lila und ihr Bruder Chrisan herein, Aars Geschwister, und hinter ihnen her ihre Familien. Jeder sprach mit jedem und Nimue beobachtete, wie gutgelaunt alle waren. Die Tür schnellte erneut auf und Nimue sah überrascht, dass ihr Onkel Seoc von der Zauberinsel mit seiner Frau und Kindern gekommen war. Freudig lächelte sie ihrer Cousine Cara entgegen, die ihr schon von Weitem zuwinkte. Sie setzte sich neben Nimue, während Seoc, seine Frau Hauch und ihre Kinder Leon und Musik auf der anderen Seite des Tisches Platz nahmen.
Nimue bemerkte zu Cara: »Super, dass ihr heute schon da seid.«
»Nur für diesen Abend, Nimue.« Dann nahm Cara ihre Hand und legte etwas Hartes auf die Innenfläche. »Hier, das habe ich für dich mitgebracht.«
Nimue konnte das Objekt nicht einzig und allein mit dem Gefühl bestimmen und erhaschte einen Blick darauf. Es war ein Stein, genauer gesagt ein Frosch aus Stein oder ein Steinfrosch, wie auch immer man es nennen mochte.
»Ich habe ja noch gar nicht Geburtstag?«
»Nein, der Frosch hat mich gebeten, ihn mitzunehmen. Er möchte mit dir sprechen.«
»Ach so«, antwortete Nimue, ein wenig irritiert über einen sprechenden Stein. Sie konnte jedoch keine weiteren Fragen mehr stellen, denn sogleich ging die große Eingangstür auf und alle Elfen verstummten. König Seoras und Katar traten langsam über die Schwelle herein in den Saal. Gleichzeitig hörte Nimue ein »Céad míle fáilte« rufen und mehrere weitere Willkommensrufe darauf. Der König und Katar verbeugten sich und gingen langsam an den Tischen vorbei auf sie zu.
Nimue kannte den Ausspruch »Céad míle fáilte.« Ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass es sich hierbei um einen irisch-gälischen Ausspruch handelte, der »tausendfach willkommen« heißt. Das Elfenvolk Shenja hatte diesen Willkommensgruß von ihren guten Elfenfreunden aus Irland bereits Jahrtausende zurück übernommen und pflegten diesen noch heute, wenn sie eine besondere Elfenseele begrüßten.
Nimue mochte diesen Ausspruch sehr, weil er Tradition enthielt, und so lächelte sie vor sich hin. Da bewegte sich wie aus dem Nichts der Frosch in ihrer Hand. Sie erschrak heftig, während sie seine feine Stimme vernahm: »Hey, Nimue.«
Sie beugte sich unter den Tisch und erwiderte leise: »Sei still! Jetzt nicht! Nach dem Essen.«
Daraufhin hörte sie ein gedämpftes »Okidoke« und schon war es wieder still unter dem Tisch.
Als Katar an ihr vorbeiging, klopfte er kurz auf ihre Schulter: »Hallo, meine Kleine.«
Nimue freute sich sehr über diese Geste, denn sie zeigte seine Zuneigung ihr gegenüber.
Léa folgte den beiden und setzte sich neben Katar. Nachdem alle Platz genommen hatten, hallte laut das einstimmende »Sláinte!« durch den Saal. Heute war es jedoch nicht wie im Hofprotokoll vorgeschrieben der König, der es ausrief, sondern Katar. Alle erhoben die Gläser und prosteten sich zu. Langsam ertönten viele Stimmen im Raum und der festliche Abend nahm seinen Lauf.