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Kapitel 1

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Wann war es eigentlich Abend geworden?

Finja hatte gar nicht bemerkt wie die Sonne hinter dem Berg mit dem dunklen grünen Wald untergegangen war und der Himmel sein strahlendes Blau in ein düsteres, mit kleinen Blinkerpunkten durchzogenes, Schwarz eingetauscht hatte. Sie saß nun schon seit Stunden einfach nur auf einem Stuhl am Fenster und starrte hinaus, ohne wirklich irgendetwas bewusst anzusehen.

Unsicher sah sie sich nun um und lauschte durch die Dunkelheit nach draußen in den Rest des Hauses. Aber alles was sie sah, war schwarz und alles was sie hörte, waren leise Stimmen.

Die Stimmen gehörten zu Finjas Eltern, Eleanore und Justus Eichberg. Und zu Finjas Großmutter Tine Eichberg. Die drei saßen unten in der Küche und sprachen miteinander. Schon den ganzen langen Tag taten sie das. Seitdem Finja und ihre Eltern mit dem großen LKW voller Möbel und Kisten und dem Jeep, den sie mindestens genauso voll gestopft hatten, hier angekommen waren.

Finja seufzte. Der Inhalt des LKW stand jetzt drüben in einer der Scheunen, die zu dem kleinen Bauernhof der Großeltern gehörten. Ein paar wenige Dinge hatten sie in das Haus geschleppt, wo es nun irgendwie ständig im Weg stand. Es würde sicher ziemlich eng werden in der nächsten Zeit, solange bis Finjas Eltern eine bezahlbare Wohnung gefunden haben. Und bis dahin wohnten sie eben zu sechst in dem kleinen Bauernhaus der Großeltern.

Finja schob sich von dem harten Stuhl hoch, auf dem sie saß. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, um in der Dunkelheit nicht zu stolpern. Sie tastete sich zu ihrem Bett – obwohl, nicht mal das gehörte ihr. Es stand im Gästezimmer ihrer Großeltern. Und das sollte ab heute ihr Zimmer sein. Und das ihrer Schwester Yola natürlich. Finja wusste nicht, was sie schrecklicher fand – die Tatsache, dass das winzige Zimmerchen nun ihr Reich sein würde oder dass sie die paar Quadratmeter mit ihrer älteren Schwester teilen musste. Yola und sie waren nicht gerade ein Herz und eine Seele.

Finja ließ sich in das dicke weiche Daunenfederbett fallen. Und seufzte – zum vielleicht schon hundertsten Mal an diesem blöden Tag.

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Vom Flur her fiel ein heller Lichtstrahl in das dunkle Zimmer.

„Finja?“ Justus Eichberg drückte auf den Lichtschalter gleich neben der Tür. „Ach, du bist schon im Bett?“, bemerkte er verwundert, als das Licht der spärlichen Deckenlampe sich im Raum ausgebreitet hatte. Finja setzte sich auf und hielt schützend eine Hand vor die vom Licht geblendeten Augen. „Hm“, meinte sie nur. Ihr Vater ließ sich langsam auf der Bettkante nieder. „Komm doch runter. Iss was. Du hast heute den ganzen Tag noch nichts gegessen.“

Essen - dachte Finja – es gab doch viel Wichtigeres auf der Welt als Essen. Ein eigenes Dach über dem Kopf zum Beispiel. Ein eigenes Bett in einem eigenen Zimmer. Oder einen besten Freund. Finja stiegen schon wieder die Tränen in die Augen. Ein bester Freund. Ihr bester Freund. Sie hatte ihren besten Freund an diesem Morgen wohl für immer verloren.

Finjas Herz fühlte sich mit einem Mal noch schwerer an, als sie daran dachte. Fast so als hätte ihr jemand einen Sack mit Felsbrocken darauf gelegt.

Sie hatten ihr Haus verlassen müssen. Es gehörte jetzt jemand anderem. Finja hatte ihr Zimmer verlassen müssen. Auch das gehörte jetzt jemand anderem. Und Finja hatte ihren besten Freund Ragnar verlassen müssen. Auch der gehörte jetzt jemand anderem.

Finjas bester Freund Ragnar hatte vier Beine, einen langen braunen Schweif und eine wunderbar seidige Mähne. Ragnars Fell glänzte in der Sonne wie eine blankgeputzte Kastanie. Und er hatte das weichste Pferdemaul und die treuesten Augen die es nur gab.

Sie hatte ihn an diesem Tag für immer verloren. Und ihr Vater dachte an Essen! Typisch Erwachsene! Was war ihnen eigentlich wirklich wichtig?

„Hab keinen Hunger“, murmelte Finja.

Justus strich seiner Tochter über das dichte dunkelblonde Haar, das sie wie immer zu einem dicken Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. „Ach, Finja ...“, seufzte Justus. Er hätte ihr so gern gesagt, wie leid es ihm tat. Dass sie ihren Hof verlassen und nun hier bei den Großeltern wohnen mussten. Und dass sie Ragnar zurück lassen mussten. Doch er wusste, das hätte Finja in diesem Augenblick nicht getröstet. Darum schwieg er lieber.

Eigentlich fand Finja es nicht besonders schlimm, dass sie bei den Großeltern waren. Sie war gerne hier – eigentlich. In den Ferien oder an den Wochenenden. Großmutter Tine zauberte die welt-beste Erdbeertorte. Und Erdbeertorte liebte Finja über alles. Und als sie ihren ersten Liebeskummer hatte – das war in den letzten Sommerferien – da konnte sie sich an Großmutters weichem Körper stundenlang die Augen ausheulen.

Aber das hier war etwas anderes. Sonst fuhr sie nach den Ferien oder nach einem Wochenende zurück nach Hause – nach Hause auf den Eichberg-Hof am Rand der Stadt. Doch dieses Mal nicht. Der Hof gehörte ihnen nicht mehr. Ein gewisser Herr Falk hatte ihn bei der Versteigerung gekauft. Er war am Morgen in seinem schwarzen BMW auf den Hof gefahren und hatte höchst persönlich überwacht, dass die Eichbergs auch wirklich mit Sack und Pack den Hof verließen. Finja hatte bis zur letzten Sekunde in Ragnars Offenstallbox gestanden, das Gesicht fest in die Mähne des Wallachs gepresst. Erst als ein Mitarbeiter Falks sie ziemlich energisch aufgefordert hatte, den Stall „seines Chefs“ doch endlich zu verlassen, war sie widerwillig in den Jeep gestiegen. Und seitdem hatte sie mit keinem auch nur ein einziges Wort gesprochen.

„Yola hat es gut“, dachte Finja niedergeschlagen, als ihr Vater das Zimmer mit einem Murmeln verlassen hatte. Ihre Schwester musste sich das ganze Drama hier nicht antun, denn sie verbrachte den Sommer in einem Reitercamp an der Ostsee. Mit ihrem Pferd Skye. Ganz kurzfristig hatte sie ein paar Tage vorher noch einen Platz bekommen, obwohl das Camp schon seit Monaten total ausgebucht war. Komisch, dachte Finja verwundert, als ihr das in diesem Augenblick bewusst wurde.

Ja, Yola hatte es gut – sie hatte super tolle Ferien an der Ostsee. Und außerdem hatte sie Skye! Und Finja? Finja hatte nichts. Kein eigenes Zimmer mehr, kein eigenes Pferd mehr. Und schon gar keine tollen Ferien. Außerdem musste sie, wenn die Schule in ein paar Wochen wieder begann, all ihren Freunden erzählen, warum sie jetzt nicht mehr auf dem gemütlichen Hof am Stadtrand, sondern in dem alten Bauernhaus ihrer Großeltern 15 Kilometer von der Stadt entfernt lebte. Schöner Schlamassel!

Finja und das größte Glück der Erde

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