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Die Stadt mit der Nase entdecken Sie meinen, nur Landluft rieche gut? Dann braucht Ihre Nase eine Schulung! Urbane Smellscape-Projekte erweitern unsere Wahrnehmung.
VON RABEA WEIHSER
ОглавлениеEinatmen, 20.000 Mal am Tag. Mehr als zwölf Kubikmeter Luft saugen wir durch unsere Nasen in die Lungen und mit ihnen unzählige Geruchsmoleküle. Doch nur selten sind wir uns bewusst, was wir da aufnehmen. Die Landluft hat es immerhin an die Spitze der Geruchsstereotype geschafft. Von Kuhdung, Moderteich und Stinkmorchel schwärmt man besonders in urbanen Ballungsräumen. Erst wo die Welt nach geschnittenem Gras dufte, sei der Mensch ganz bei Sinnen.
Die Stadtluft gilt als schmutzig, verbraucht und ungesund. Doch wer ihr etwas Aufmerksamkeit schenkt, kann einiges erleben: Die Winde in den Häuserschluchten erzählen uns Geschichten über unser gesellschaftliches Zusammenleben, über Arbeit, Kinder, Ernährung, Hygiene, Architektur, Technik, Geschichte. Bloß hat eine durchschnittliche Menschennase kein Ohr für das Säuseln der Geruchsmoleküle. Ohne Umwege erreichen die Informationen aus der Luft unser limbisches System, das unsere Gefühle steuert. Wir reagieren also oftmals, ohne zu wissen, warum.
Im Lauf der Evolution haben wir unseren wichtigsten Sinn vernachlässigt und ins Unterbewusste sinken lassen. "Man nimmt die Umgebung zuerst mit der Nase wahr", sagt die Duftforscherin Sissel Tolaas. "Danach bestätigen die Augen, was die Nase schon weiß." Die Chemikerin widmet ihre Arbeit den Geschichten, die in der Luft liegen. Und sie möchte dazu beitragen, dass alle zuhören lernen.
"Jede Stadt hat einen Eigengeruch, eine Identität", sagt sie. Die Viertel ihrer Berliner Wahlheimat hat Tolaas mittlerweile duftkartografiert: Neukölln riecht, neben Döner, nach Weichspüler und Wäschetrockner – hier wohnen viele kinderreiche Familien. Charlottenburg hingegen nach Seifensauberkeit. Reinickendorf nach Sonnenstudio. Und aus dem S-Bahn-Schacht Jannowitzbrücke dünstet noch immer die sozialistische Vorwendezeit mit ihren Kohleöfen und scharfen Putzmitteln.
Kalkutta, Stockholm, Kapstadt, London, Paris, Mexiko City: Viele Städte und Kunstzentren auf der ganzen Welt laden Tolaas ein, damit sie Duftproben von Straßen, Häusern, Parks, Nachbarschaften nimmt und sie anschließend im Labor chemisch reproduziert. Sie lassen ihre olfaktorische Identität abfüllen. Die Auftraggeber mögen das Ergebnis für bloßes Stadtmarketing verwenden, aber die Forscherin erkennt einen höheren Zweck in ihrer Arbeit. Sie fördert Toleranz: Rieche Deinen Nachbarn wie Dich selbst.
George Orwell schrieb, dass alle Unterschiede in Ethnien, Religion, Bildung, Moral und Temperament überwindbar sind, nur die körperliche, geruchliche Ablehnung des Gegenübers nicht. Tolaas aber sagt: Wer ein offener Staats- und Weltbürger sein möchte, muss mit der Toleranz der Nase beginnen. Die ist lernbar, wenn man den Geruchssinn wieder ins Bewusstsein holt. Dann ist es möglich, Kategorien wie riecht gut / riecht schlecht aufzulösen, Düfte differenzierter zu beschreiben und sie vielleicht irgendwann – wie Tolaas – als neutrale Informationen zu verarbeiten. Mit ein wenig Übung verschafft uns die Nase ungeahnte Lust am Sinn und damit Erkenntnisse, die anderen verschlossen bleiben.
An olfaktorischen Wahrheiten hat jedoch nicht jeder Interesse. In zeitgenössischen Wohn- und Konsumwelten ist es ein beliebter Trick, Frische, Sauberkeit und Wohlgefühl durch Parfümierung vorzutäuschen. Wo es gut riecht, da lass dich nieder. Supermärkte verströmen den Duft frisch gebackenen Brotes, um ihren Umsatz zu steigern. Oder sie entziehen der Welt gleich ganz ihren natürlichen Geruch: Auf Madeira wurde 2006 ein Fischmarkt entworfen, der nicht nach Fisch riecht. Allein um als mündige Verbraucher die Welt begreifen zu können, müssen wir unseren Geruchssinn fit machen.
Ein olfaktorischer Stadtrundgang kann Neugierige auf die richtige Fährte bringen. Die Sommerzeit eignet sich bestens für Erkundungstouren der Nase nach, weil die warmen Temperaturen Geruchsmoleküle mobilisieren. Warum nicht nach New York, um die Zwiebelbagel an der Wall Street, die Hochglanzmagazine im Central Park oder das billige Eau de Cologne in Harlem zu riechen. Diese Stadt ist ein Zentrum der Olfaktoristen, so viele Schnüffelwege und Sinnesführungen gibt es. Die Stadtplanerin Nicola Twilley hat eigene Duftkarten für New York gestaltet, zum Rubbeln: Ihr Scratch ‘N Sniff NYC ist inspiriert von Tolaas' Methoden und nutzt sie, um einzelne Metropolregionen und Nachbarschaften zu charakterisieren. Die britische Grafikerin Kate McLean spürt am Zeichentisch den Winden nach und übersetzt ihre nasale Wahrnehmung in optisch wirkungsvolle Sensory Maps .
Nach der Optik und Akustik hat man in den vergangenen Jahren die Olfaktorik als Gestaltungsmöglichkeit entdeckt. Die Erforschung der Gerüche ist eine noch junge Teildisziplin der Architektur. Die Erkenntnis, dass bestimmte Düfte eigene, positive Räume und Gefüge entstehen lassen, ganz unabhängig von der baulichen Struktur, kann der Stadtplanung wichtige Impulse geben. Voraussetzung ist auch hier, dass bewusst über Gerüche gesprochen wird. Dass die Bewohner eines Viertels befragt werden, ob ihnen der Hähnchenimbiss genauso stinkt wie den Architekten oder ob sie den Bratendunst nicht doch als heimelig und identitätsstiftend empfinden.
Victoria Henshaw von der Manchester University untersucht urbane Smellscapes. Sie hat schon viele Testpersonen durch Stadtviertel geführt und sie nach deren Wahrnehmung gefragt. Mit ein wenig Konzentration riechen sie tatsächlich über das Offenkundige hinaus. Hinter den Verkehrsabgasen, dem Müll, Zigarettenrauch und Kaffeedunst entdecken sie Bäume, Blumen, Beton, Wasserkanäle oder Flüsse, Marktplätze, Restaurants, Straßenhändler und andere Menschen. Die Erforschung der alltäglichen Geruchswahrnehmung lenke die Aufmerksamkeit auf klassische urbane Themen wie Luftqualität, Gesundheit, Integration sowie auf die schwierige Balance zwischen öffentlichem und privatem Raum in der Stadt, schreibt Henshaw.
Aus dem akademischen Ansatz kann ein didaktischer werden: In Kansas City hat Tolaas am 7. September ein mehrwöchiges Smellscape-Projekt begonnen. Es vereint Wissenschaft, Kunst und Schnitzeljagd zu einem game to discover the invisible city . Ein Detektivspiel mit olfaktorischen Spuren samt Smartphone-App, das bisherige Augmented-Reality-Programme infrage stellt: Es gibt eine erweiterte Realität, die wir ohne technische Hilfe wahrnehmen können.
Unser Geruchssinn öffnet uns neue Welten. Wie aber anfangen? Sofort? "Mach' die Augen zu und versuche, Deinen Weg zu finden", sagt Tolaas. "Wer seine Nase richtig benutzt, findet auch Land in der Stadt."