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Noch einmal mit Gefüll

Wenn es kalt wird, essen die Istanbuler kleine Fische. Die Sardellen im Restaurant Maya haben Gewürzreis im Bauch.
VON MICHAEL ALLMAIER

Am Selbstbewusstsein fehlt es nicht. Die türkische Küche, liest man in mehr als einem Kochbuch, zähle zu den reichsten der Welt. Der deutsche Besucher liest es und gesteht sich ein, dass er von diesem Reichtum bislang nur einen seiner ärmeren Vertreter kennt. »Ich weiß schon, der Döner«, sagt Didem Şenol, eine der angesehensten türkischen Köchinnen.

»Mittlerweile bekommt man ihn überall auf der Welt. Dabei schmeckt er nicht mal in Istanbul. Er gehört nach Ostanatolien, wo es günstig gutes Lammfleisch gibt. Wenn sie ihn hier mit Billigware zubereiten, wird er so fett, dass ich nachts nicht schlafen kann, wenn ich einen gegessen habe.«

Dass man seinen Kochstil dem Standort, der Jahreszeit unterordnet – dieser Gedanke setzt sich in Istanbul erst allmählich durch. Bislang war es eher so, dass jeder Wirt seine Heimatküche hochhielt; die meisten sind ja zugereist.

Didem Şenol kommt von hier, ist aber weit herumgekommen. Fast zehn Jahre lang war die junge Frau unterwegs. Erst in den USA, wo sie an einer renommierten Schule das Handwerk lernte, dann im eigenen Land, um sich mit den heimischen Küchen vertraut zu machen. Im Frühjahr 2010 eröffnete sie ihr eigenes Lokal und wurde von einem Magazin prompt zum besten Koch der Stadt ausgerufen.

Was also, Frau Şenol, ist der Geschmack von Istanbul an einem Novembertag?

Die Frage beantwortet sich schon fast von selbst, wenn man über die Galata-Brücke von der Altstadt zu ihrem Restaurant spaziert. An die hundert Angler stehen da Spalier, unbeeindruckt vom kalten Wind. In Eimern zu ihren Füßen zappeln Fischchen. Die Köder, denkt man, bis man einen der Männer ein solches fingergroßes Exemplar aus dem Wasser ziehen sieht. Das war eine Sardine, die sind gerade viel unterwegs.

Am Nordufer des Goldenen Horns lag einmal der Hafen von Konstantinopel. Geblieben sind Fähren und Fischverkäufer. Was für Kreuzberg der Döner ist, das ist hier baık ekmek, Fischbrötchen vom tragbaren Grill. Auf dem kleinen Wochenmarkt kauft auch Didem Şenol manchmal ein, Räucherware oder Fischrogenpaste. Nur um die Grillstände macht sie einen Bogen. »Die verarbeiten heutzutage meistens Makrelen.« Und Makrelen haben gerade keine Saison? Oh doch, die haben immer Saison. »Sie kommen nämlich aus Norwegen – tiefgefroren.«

In ihrem Restaurant gibt es gerade hamsi, Sardellen. So ziemlich die kleinsten Speisefische, aber auch die würzigsten. Poetische Seelen nennen sie wegen ihrer Schuppen auch »das Silber des Schwarzes Meeres«. Aus ihren Laichgebieten im Norden erreichen sie jeden Winter die türkische Küste. Da endet dann meist die Reise. Hamsi, so schmeckt Istanbul, wenn die Tage kälter werden.

Hinter der Galata-Brücke beginnt das Viertel Karaköy. Fast jeder Besucher der Stadt war schon mal hier – beim Spaziergang vom Topkapi-Palast zum Taksim-Platz oder auf dem Weg zur Fähre in den asiatischen Teil. Und wahrscheinlich blieb er nicht lang, abgeschreckt von maroden Häusern in düsteren Gassen. Vom Galata-Turm ein paar Straßen weiter rollt die Gentrifizierungswelle heran; da boutiquet und designt es schon an jeder Ecke. Hier unten aber versperren noch Zäune und Werksanlagen den Blick aufs Goldene Horn. Früher war die Gegend für ihr Rotlichtmilieu berüchtigt, heute etabliert sich eine andere Spezialität vieler Hafenviertel überall auf der Welt: gutes Essen. Didem Şenol zog zwischen ein überlaufenes Delikatessgeschäft, einen berühmten Baklava-Konditor und eine beliebte Taverne.

Ihre Lokanta Maya ist sparsam, aber liebevoll eingerichtet: ein paar Holztische, Bistrostühle, gestapelte Walnüsse als Wandschmuck. Auch die Karte kommt einem für Istanbuler Verhältnisse spartanisch kurz vor – jedenfalls so lange, bis man die winzige Küche gesehen hat. Wenig Platz, meint Didem Şenol, erhöhe die Aufmerksamkeit. Dabei kommen erstaunliche, mutige Sachen heraus. Wolfsbarsch mit Karamell und gebratener Quitte! Harz-Pudding vom Pistazienbaum! Aber wir suchen ja ein Istanbuler Stammgericht und finden es auf Posten 6 von 20 der täglich wechselnden Karte: gefüllte Sardellen.

Wie es sich im Gourmetlokal gehört, ist auch das nicht eins zu eins klassische Küche. Eher drei zu eins, ein Konzentrat der vertrauten Techniken und Geschmäcker. Wenn Istanbuler ihre hamsi nicht pur vom Grill essen, dann oft auf Pilaw, dem türkischen Risotto. Şenol würzt es ganz traditionell: mit Minze, Dill, Petersilie, Zwiebeln, Pinienkernen, Korinthen und etwas Zimt. Dann aber löffelt sie den Reis, so gut das geht, in die ausgenommenen Fischchen. Das ist eine Hommage an die türkische Hausfrauenküche, in der alles Füllbare gefüllt wird, von Weinblättern über Muscheln bis zu Auberginen. Auch Pilaw selbst bekommen Istanbuler öfter zu Hause als im Restaurant serviert; womöglich scheuen die Profis den Vergleich. »Kein leichtes Gericht«, sagt Didem Şenol. Damit die Reisfüllung nicht matschig wird, kommt sie halb roh in den Ofen. Die restliche Flüssigkeit liefern die Fische.

Eine Prise Nostalgie gibt es schon länger in der türkischen Gastronomie. Neu ist, dass sie sich nicht mehr nur auf das große osmanische Erbe richtet, sondern auf die eigene Erinnerung an die Mütter- und Großmütterküche. Und oft sind es junge Frauen, die als Köchinnen und Kochbuchautorinnen unterschätzten Alltagsgerichten ihren verdienten Platz geben. Şenol sagt: »Ich spiele gern mit den alten Rezepten.«

Wer nicht von hier stammt und Sardellen nur als Salztorpedos aus dem Glas kennt, den erinnert diese Speise natürlich an nichts. Genießen kann er sie trotzdem. Zuerst der geballte Meergeschmack, fast ein wenig zu intensiv. Aber die Füllung hält dagegen mit tausendundeinem Aroma. Der Gewürzschatz eines Weltreichs, versteckt in einem kleinen Fisch.

Selbstbeschränkung, Bescheidenheit – das sind keine verbreiteten Tugenden in einem Gourmetrestaurant. Aber gerade damit beweist die Lokanta Maya, was in der türkischen Küche steckt. »Meine Großmutter lebt noch«, erzählt Şenol. »Manchmal darf ich für sie kochen, und dann sagt sie, dass es ihr schmeckt.«

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