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Streitet euch! Wir müssen dringend wieder streiten. Denn ohne Konflikte gehen unsere Beziehungen kaputt, unsere Identität – und am Ende unsere Demokratie.
VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI

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Anschreien geht immer. Möglichst so laut, dass der Gegner nach Luft schnappt. Kinder können das in Perfektion, viele Talkshow-Politiker ebenfalls und mancher Chef. Dann abhauen, wer’s theatralisch mag mit Türenknallen. Schließlich haben wir Angst vor dem Streiten. Als richtig gilt, Streit zu vermeiden. Und so merken wir gar nicht, wie gerade eine unserer wichtigsten Kulturtechniken flöten geht.

Was für ein Quatsch, wird nicht ständig gestritten? Laut geht es fast immer zu. Doch das beweist lediglich, dass uns die Rüpel noch nicht ausgegangen sind. Auf echten Streit lässt sich dagegen kaum mehr jemand ein. Und das schadet unseren Beziehungen; zum Partner, zum Nachbarn, zum Kollegen. Am Ende leidet sogar die Demokratie.

Denn wer nicht streitet, will nichts vom Leben. Und wer ständig Toleranz und Sachlichkeit fordert, ist in Wahrheit bloß zu faul zum Denken und vergisst, dass Toleranz oft erst aus Streit entstehen kann. Deshalb wird es Zeit, Schluss zu machen mit dem ausgleichenden Selbstbetrug. Streiten ist erlaubt. Fasst Mut und tut es endlich wieder!

Um es gleich klarzustellen, alles Folgende ist kein echter Streit: bloßes Moralisieren, weil es unzugänglich ist für andere Argumente; zynisches Daherreden oder der bloße Austausch von Beleidigungen, weil sich beides respektlos über das Gegenüber erhebt; auch die Lust daran, den anderen zu entmenschlichen; schließlich inhaltsleerer Kampf um Sieg oder Niederlage, im schlimmsten Fall mit dem Ziel, den Gegner zu vernichten.

Streiten ist schwierig geworden

Gute Streiter interessieren sich für ihre Gegner und nehmen sie ernst. Sie wollen ihre Wünsche und Weltverbesserungsideen in der Auseinandersetzung entfalten, Sinn suchen und stiften, Zukunft gestalten.

Das ist nicht einfach. Schließlich leben wir in der freiesten Gesellschaft, die Deutschland jemals kannte. Alles ist erlaubt, alles darf gesagt werden. In einer Welt, in der es keine großen Verbote und Tabus mehr gibt, scheint nichts mehr übrig zu sein, über das man sich noch auseinandersetzen müsste.

Zweitens steckt uns noch das vergangene Jahrhundert der Propaganda in den Knochen: Jede Überzeugung, mit dem kleinsten Anschein von Selbstherrlichkeit vorgetragen, ist uns verdächtig. Jedes mit dem feinsten Hauch polemischer Verve versehene Argument desavouiert sich selbst.

Zum Dritten hat die Freiheit eine dunkle Kehrseite: Der Einzelne ist auf sich selbst zurückgeworfen, er muss das eigene Schicksal selbstbestimmt meistern. Jede Position, die wir in einem Streit vertreten, müssen wir aus uns selbst heraus begründen. Das trauen wir uns oft nicht – und ducken uns lieber weg.

Wenn wir uns aber dazu durchringen, eine Meinung zu vertreten, können wir oft nicht erkennen, wer Verbündeter und wer Gegner ist. Der schöne Spruch von Rosa Luxemburg, man möge als eigene Freiheit immer die des Andersdenkenden erkennen, wird zum Problem, wenn wirklich jeder andere immer wieder anders denkt: Karrieremänner, die für die Frauenquote werben; Einwanderungsbefürworter, die die europäische Einigung fürchten; Vegetarier, die Auslandseinsätze der Bundeswehr verteidigen; Fußballfans, die Opern lieben; Kuscheleltern, die auf beinharte Lehrer stehen.

Die Fronten sind verwischt, der vermeintlich Gleichgesinnte an meiner Seite kann mir schon Augenblicke später in den Rücken fallen. Weil wir das nicht riskieren wollen, lassen wir das Streiten lieber sein und akzeptieren unvereinbare Meinungen als mögliche Wahrheiten.

Doch wenn wir nicht mehr streiten, gefährden wir die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Denn ohne Streit, sagte Ralf Dahrendorf, gibt es keinen Fortschritt. Nur wenn wir unsere Argumente aneinander schärfen, können sich Freiheit und Demokratie weiterentwickeln.

Warum streiten?

Was also braucht ein guter Streit? Kritische Geister, die die Verhältnisse, in denen wir leben, nicht als fertig akzeptieren. Darüber hinaus eine Idee, die weiter reicht als der persönliche Nutzen des Streiters. Respekt für den Gegner und den Mut, starke Gefühle auszusprechen. Auch Spott und Polemik, weil sie uns dazu herausfordern, unsere Rede zu präzisieren.

Solcherart Streit deckt Fehler und Unvollkommenheiten auf. Zugleich zeigt er den Streitenden, was richtig bleibt, welche Möglichkeiten sich eröffnen und welche Ziele es sich anzustreben lohnt. Er festigt Beziehungen und schafft Identität.

Nicht immer aber löst sich Streit in Verständnis auf. Manchmal müssen Streiter auch anerkennen, dass ihre Ideale nicht zu versöhnen sind. Trotzdem kann dieser Streit produktiv sein, wenn die Streiter lernen, die Haltung des anderen zu akzeptieren, selbst wenn sie sie falsch finden. Das wäre dann echte Toleranz.

Streiten hilft

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