Читать книгу Gitarrenblut - Zepp Oberpichler - Страница 4

I

Оглавление

Let it bleed

»We all need someone we can bleed on

And if you want it

You can bleed on me.«

Rolling Stones, Let It Bleed

Wann ist das Leben am schönsten? – Nach dem Onanieren, kurz vor der zweiten Flasche Rotwein.

Das war typisch für Will. Für den Will, der alle seine Empfindungen, seine Euphorie, seine Trauer, seine Wut, seine Freude in ein kurzes Solo über die Akkorde A – D – E legen konnte. Typisch für den Will, der davon überzeugt war, dass die Musik allein schon ein Grund zu leben war.

Will wurde in einer großen Stadt geboren, irgendwo im Ruhrgebiet. Es gibt einige große Städte im Ruhrgebiet, doch die Stadt, in der Will geboren wurde, war die vergessene. Eine hässliche Stadt, eine graue Stadt, mit grauen Menschen.

Sein erstes Lebensjahr verbrachte Will irgendwo auf dem Land, in der Nähe der vergessenen großen Stadt, der grauen, in der er geboren worden war. Das Land war einsam. Wills Vater arbeitete, wo man so arbeitete Ende der sechziger Jahre, ungelernt, mit einer achtzehnjährigen Frau und einem Will.

Auf dem Land wurde gewohnt, weil es billig war. Billig war das Zauberwort, billig entschied immer für sich. War etwas billig, brauchte man nicht zu fragen, was zu nehmen war. Das war klar. Ohne Fragen, ohne Blick – billig: genommen. Wills erstes Lebensjahr verlief auf dem Land, direkt an der Eisenbahnschiene, weil es billig war.

Auf den Eisenbahnschienen wurden oft Wildhasen überfahren; die sammelte die alte Frau ein, die unter Wills Familie wohnte, und machte Gulasch daraus. Das war auch billig. Die alte Frau und ihr Mann aßen oft Hase und gaben dann gerne etwas ab. Der kleine rote Emailletopf wurde nahezu wöchentlich nach oben in die 45 Quadratmeter getragen, in diesem kleinen Bahnwärterhaus mit ausgebauter Mansarde, wo früher der Sohn der alten Frau wohnte und später Wills Familie. Am Bahndamm wurden Kräuter angebaut, um den Hasen zu würzen. Auch billig.

Will erinnerte sich natürlich nicht mehr an diese Zeit, aber es gibt ein Foto, ein Foto von Will auf einem Autositz, mitten auf einem Feld. Der Autositz von einem VW-Käfer, der von Wills Vater mit Fußbodenfarbe gestrichen worden war, damit er nicht rostete. Die Farbe fand sich im Keller des Hauses an den Eisenbahnschienen. Das war praktisch. Praktisch kam direkt nach billig. Praktisch entschied auch immer für sich. Wenn etwas billig und praktisch war und zudem noch satt machte, hatte man es mit dem Heiligen Gral zu tun.

Wills Vater hatte irgendwann den Autositz ausgebaut, wohl den Beifahrersitz, Männer bauen immer den Beifahrersitz aus. Er setzte Will auf den Sitz und machte ein Foto. Schwarzweiß, so, wie die Zeit damals war: schwarzweiß.

Will war ein einfaches Kind. Er musste einfach sein. Er hätte es diesen jungen Eltern nicht zumuten können, schwierig zu sein; das wäre gemein gewesen. Und gemein sein wurde in Wills Familie immer verachtet. Zumindest dachte Will später irgendwann, dass es sicher gemein gewesen wäre, schwierig zu sein; wissen tat er es damals noch nicht. Aber er hat es bestimmt geahnt, anders lässt sich nicht erklären, dass er so war, wie er war.

Sein erstes Jahr ging dahin. Seine Mutter, eben selbst noch Kind gewesen, schob ihn den ganzen Tag an den Eisenbahnschienen entlang, passte auf den Zug auf und träumte von irgendetwas, das sie nicht kannte. Irgendetwas Heiliges. Wie Sissi-Filme und Doktor Schiwago.

Wie gesagt, die Zeit war schwarzweiß, der VW-Käfer lief und lief, der Zug rollte im Zwanzig-Minuten-Takt am Haus vorbei, erst hin, dann zurück, und zweimal in der Woche gab es Hase.

Will war noch zu jung für Hase, aber er sog diesen Takt auf, tackatack, tackatack, tackatack, das Geräusch der Eisenbahnschienen. Jeden Tag von sechs Uhr früh bis acht Uhr spät, tackatack, tackatack, tackatack. Dreimal in der Stunde, vierzehn Stunden lang, zweiundvierzigmal am Tag, tackatack, tackatack, tackatack. Sog auf den Takt der Eisenbahnschienen, den Schlag, den Eisen auf Eisen erzeugt. Sog auf das Leben in billig, den Tag in schwarzweiß.

An windigen Tagen konnte Wills Mutter fast den Zug greifen, wenn er am Haus vorbeifuhr. So, als hätte sich das Haus den Eisenbahnschienen zugeneigt. Vielleicht hatte sich auch der Zug zum Haus geneigt. An windigen Tagen. Dann gab es öfter Hase, und die alte Frau, die unter Wills Familie wohnte, bekam immer mehr Zutaten für ihren Teppich. Für den Fellteppich, den Hasenfellteppich. Es war auch mal ein Fuchs dabei. Ob der ins Gulasch kam?

Einmal hatte Will einen Hasen gesehen, nachdem das Felltier von einem Eisenbahnwagon überfahren worden war. Seine Mutter versuchte, schnell an der Stelle vorbeizugehen. Doch Wills kleine Gummi-Ente war aus dem Kinderwagen gefallen, tippelte flink über den Schotter, prallte von einem größeren Stein ab und landete genau neben einem Hasenfuß. Und obwohl Will sogar noch drei andere Spielsachen hatte, bückte sich seine Mutter kurz, hob die Ente auf, wischte sie an ihrem Mantel ab und reichte sie in den Kinderwagen zurück. Als Will nach der Ente griff, sah er den Hasenfuß, der verloren auf einem Eisenbahnschienenstrang lag. Will konnte nicht wegschauen.

Der Duft von Gulasch zog dreimal die Woche durch das kleine, schmale Haus an den Eisenbahnschienen, das sich bei starkem Wind dem Zug zuneigte. Am Sockel des Hauses war noch roter Ziegelstein zu erkennen. Nach oben hin wurde es immer schwärzer. Vom Ruß, den der Wind gegen die Außenwände blies. Das kleine windschiefe Haus an den Eisenbahnschienen, in dem unten die Alten wohnten und oben die Jungen. Jede Etage fünfundvierzig Quadratmeter, zuzüglich Treppenhaus, zuzüglich Keller.

Wills Eltern waren blutjung und versuchten das zu schaffen, was ihnen keiner beigebracht hatte. Der VW-Käfer lief und lief, die Wäsche im Garten war oft grau, die Fotos noch schwarzweiß, und die Eisenbahnschienen sangen alle zwanzig Minuten. Sangen ein Lied mit einfachem Takt, sangen bei jedem Wetter.

Niemand kann mehr sagen, wo das Foto mit dem Sitz, dem Beifahrersitz des VW-Käfer, genau geschossen worden ist. Das Haus an den Eisenbahnschienen steht nicht mehr, Hasen werden immer noch überfahren, aber irgendwann wurden die Fotos farbig, Wills Vater fand eine bessere Anstellung, die Familie zog in die vergessene große Stadt und tauschte den VW-Käfer gegen einen Opel Rekord C.

Gitarrenblut

Подняться наверх