Читать книгу Fiona - Sterben - Zsolt Majsai - Страница 9

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„Bis später. Und noch was: Ich liebe dich!“

„Ich liebe dich auch“, erwidere ich lächelnd.

Dann ziehe ich mich aus und einen Bademantel an. Einen ganz kurzen. Nur ist jetzt niemand da, dem das peinlich sein könnte. Während ich nach unten gehe, wird mir richtig bewusst, dass ich in diesem riesigen Haus allein bin. Bis auf die unsichtbaren Diener natürlich, aber die zählen nicht wirklich. Hat andererseits den Vorteil, dass ich auf niemanden Rücksicht nehmen muss und nackt schwimmen kann. Mein Handy lege ich für den Fall der Fälle auf einem der Tische ab, lasse den Mantel einfach fallen und springe ins Wasser.

Es tut einfach nur gut. Ich schwimme mehrere Bahnen auf dem Rücken und sehe mir dabei den Himmel an. Mir wird klar, warum Menschen früher gedacht haben, da oben wäre etwas Besonderes. In gewisser Weise stimmt das ja auch, nur nicht so, wie die Menschen sich das vorstellen.

Irgendwann wird es langweilig und ich klettere aus dem Wasser. Selbst die späte Septembersonne hat noch ordentlich Kraft. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Fast eine Stunde ist seit Katharinas Anruf vergangen. In einer weiteren Stunde ist ihr Meeting zu Ende, dann fährt sie los und um halb sieben haben wir wilden, leidenschaftlichen Sex.

Ich mache mir einen Sour à la Fiona, lege mich auf eine Liege und nippe genüsslich an meinem Drink. Vielleicht das erste Mal seit drei Wochen … Moment mal. Es sind genau drei Wochen. Heute ist Mittwoch.

Ich überlege kurz, ob ich das Glas durch die Gegend werfen soll. Letztlich ist es mein Handy, das den Geistern, oder was das für Geschöpfe auch immer sind, das Saubermachen erspart.

Ich werfe einen Blick auf das Display. Ben. Das war es wohl mit dem Sex um halb sieben?

Missmutig nehme ich den Anruf an: „Ja?“

„Oha, bist du schon wieder oder immer noch unausstehlich?“

Ich liebe Ben. Er bringt mich mal wieder zum Lachen.

„Geht schon. Eigentlich ging es mir ganz gut, bis mir einfiel, dass wir Mittwoch haben.“

„Oh. Das tut mir leid. Ist Katharina bei dir?“

„Ich bin allein. In dem ganzen, großen, supergroßen Haus bin ich allein. Um genau zu sein, bin ich gar nicht im Haus, sondern liege neben dem Pool, nachdem ich fast eine Stunde geschwommen bin.“

„Nackt?“

„Ja. Aber wieso interessiert dich das? Bleib du schön auf deiner Seite, ich bleibe auf meiner.“

Ich höre ihn förmlich grinsen. „Keine Sorge. Hör mal, du warst heute früher aus dem Büro weg als sonst.“

„Ja. Und?“

„Dein Besuch hat dich verpasst.“

„Hä? Besuch? Was für Besuch?“

„Eine junge Frau und ein junger Mann. Sie wurden ziemlich ungehalten, als sie dich nicht vorgefunden haben, da hat Monica meine Kollegen gerufen. Als ich die Adresse gehört habe, bin ich einfach mal mitgefahren. Also, die beiden sind schon etwas seltsam. Sie hat total blaue, ultrakurze Haare. Er ist auch … irgendwie anders. Ich kann nicht sagen, was, aber etwas ist sehr anders an ihnen. Ich glaube nicht, dass es Menschen sind.“

„Wo sind sie jetzt?“

„Erst einmal in einer Zelle. Sie sind auch brav mitgegangen, aber mein Gefühl sagt mir, wir konnten sie nur verhaften, weil sie es zugelassen haben.“

„Okaaay. Soll ich hinkommen?“

„Na ja, vielleicht ist es wichtig. Immerhin wollten sie dich sprechen. Monica meint, sie haben nicht den Eindruck gemacht, als wollten sie dir was tun.“

„Also schön, ich bin gleich da.“

„Gut. Aber zieh dir vorher was an.“

Haha. Ich laufe in unser Zimmer und denke über den Anruf nach. Auf Bens Instinkt kann man sich normalerweise verlassen, vor allem, seitdem er weiß, dass da mehr ist, als es uns die Unis und die Kirche weismachen wollen. Aber irgendwie eigenartig ist das schon.

Ich ziehe Jeans, T-Shirt und Sportschuhe an und begebe mich in die Garage. Nach kurzem Nachdenken entscheide ich mir für einen 7er. Schlüssel finde ich im Handschuhfach und drücke den Startknopf. Der Motor geht kaum hörbar an.

Ich gebe unterwegs ordentlich Gas, denn trotz allem ist es nicht ausgeschlossen, dass Bens Gäste es sich anders überlegen. Als ich vor dem Polizeipräsidium parke, verrät mir ein Blick auf die Uhr, dass ich meinen eigenen Rekord gebrochen habe.

Ben wartet unten auf mich. Wir fahren nach oben zu den Verhörzimmern. In einem davon sitzt die Frau, mit Handschellen an den Tisch gefesselt. Sie starrt den Spiegel an und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mich beobachtet.

„Sie sieht mich“, bemerke ich.

„Das ist unmöglich“, erwidert Ben. „Jeder Mensch weiß, was sich hinter dem Spiegel im Verhörzimmer befindet.“

Ich werfe ihm einen Blick zu, dann gehe ich ein paarmal auf und ab. Die Augen der jungen Frau folgen meinen Bewegungen. Ein leichtes Lächeln erscheint auf ihren Lippen.

„Okay, okay. Kannst du einschätzen, was sie ist?“

Ich mustere sie. Die blauen Haare sind nicht das einzige Ungewöhnliche an ihr, obwohl das ihre Naturfarbe zu sein scheint. Mich irritieren ihre Augen viel mehr. Sie sind weiß, dadurch wirkt es, als hätte sie keine Iris.

„Nein. Ich habe noch nie jemanden mit solchen Augen gesehen.“

„Ich auch nicht. Erst dachte ich, sie sei ein Albino, aber es sind nur die Augen.“

„Okay, fragen wir sie doch einfach.“

Ben nickt. Wir gehen hinüber. Ben schaltet die Kamera aus, während ich mich schon einmal setze und die Frau aus der Nähe betrachte. Sie ist etwa in meinem Alter, vermutlich ein wenig kleiner als ich. Ihre Brüste unter dem ungemusterten T-Shirt wirken voll. Sie ist auf ihre Art ziemlich gutaussehend, aber nicht mein Typ.

Mir wird bewusst, was ich grad gedacht habe, und habe Mühe, keine Regung zu zeigen.

„Ich bin Ben Norris und das ist Fiona Flame.“

„Ich weiß, wer sie ist“, erwidert sie. Ihre Stimme ist klar, dennoch leicht rauchig.

„Aber ich weiß nicht, wer du bist“, erwidere ich.

„Mein Name ist Sarah.“

„Sarah? Und wie weiter?“

„Einfach nur Sarah.“

„Sie hatten beide keine Papiere bei sich“, erklärt Ben. „Nur etwas Geld.“

„Auch keine Waffen?“ Ich spüre eine seltsame Macht von ihr ausgehen, die mir irgendwie vertraut vorkommt. Ich kenne jemanden, dessen Nähe sich auch so ähnlich anfühlt. Aber wen?

„Wo ist mein Bruder?“

„Der andere ist dein Bruder?“

„Ja. Er heißt Thomas. Und wir müssen uns mit dir unterhalten, Fiona. Es ist dringend und wichtig.“

„Wir können uns hier unterhalten.“

Sie sieht Ben an.

„Ich vertraue ihm.“

„Es gibt Dinge, die darf er nicht hören.“

„Oh. Gibt es? Was denn, zum Beispiel?“

Sie lächelt leicht. „Ich bin eine Königin und es nicht gewohnt, dass man so mit mir redet.“

„Eine Königin? Von welchem Land denn?“

„Spielt jetzt keine Rolle. Du kennst es nicht.“ Sie mustert Ben, dann zuckt sie die Achseln. „Mir ist es egal. Erfahrungsgemäß können halt die Menschen hier nicht mit Dingen umgehen, die ungewöhnlich sind.“

„Ben weiß Bescheid. Du bist eine Hexe, nicht wahr?“ Jody. Es ist Jody, Helenas Freundin. Sie strahlt dieselbe Energie ab wie diese Blauhaarige.

„Das stimmt. Ihr solltet mir die Handschellen abnehmen, dann muss ich sie nicht zerbrechen.“

Ben sieht mich fragend an. Als ich nicke, holt er einen Schlüssel hervor und befreit die Hexe von den Handschellen.

Sie reibt sich die Handgelenke. „Danke. Die Dinger sind unbequem.“

„Also schön. Bevor wir weitermachen, möchte ich dich darauf hinweisen, dass ich über Kräfte verfüge, mit denen ich Ben und mich notfalls beschützen kann und die für dich schmerzhaft werden können.“

„Ich weiß“, erwidert sie. „Dargk hat gesagt, dass du sehr mächtig bist.“

„Dargk?“ Ich starre sie an. An diesen Namen erinnere ich mich noch sehr deutlich, aber ihn hier und jetzt zu hören, versetzt mir einen Schock.

„Wer ist Dargk?“

Sarah sieht Ben an, dann mich. „Bist du sicher, dass er das hören soll?“

Ich erwidere den Blick nachdenklich. „Ben weiß, mehr oder weniger, wer und was ich bin. Aber wie kommst du an diesen Namen?“

„Hallo? Hast du mir nicht zugehört? Ich habe mit Dargk gesprochen. Er ist der Vater meines Neffen.“

„Dargk?“

„Ja, Dargk. Wieso, was dachtest du denn?“

„Also, mir hat ein Zauberer von Dargk erzählt, aber das klang nicht so, als wenn er der Vater des Neffen einer Königin wäre.“

„Zauberer klingt schon mal gut. Hat er dir auch erzählt, was Dargk heute macht?“

„Nein. Seine Spuren haben sich verloren.“

„So kann man das auch nennen. Hör zu, mir wäre es echt lieb, wenn wir meinen Bruder holen und woanders hingehen könnten. Meinetwegen kann der auch mitkommen. Aber hier ist es nicht sicher.“

„Nicht sicher?“

Sie schließt die Augen und seufzt. „Oh je. Sag nicht, du hast gar nicht mitgekriegt, dass alles um uns herum sich langsam auflöst? Wenn du wirklich die Auserwählte bist, dann wird es hart.“

„Auserwählte?“ Ich halte inne. Vor ein paar Tagen habe ich noch selbst meinen Eltern erzählt, dass ich keine gewöhnliche Kriegerin bin. Und es ihnen auch demonstriert. Ob mich das zur Auserwählten macht, wage ich zu bezweifeln, aber normal bin ich in keinerlei Hinsicht. Und wenn ich genau darüber nachdenke, dann finde ich es schon seltsam, dass mir Nasnat von Dargk erzählt hat. Und von unruhigen Zeiten gefaselt hat.

Sarah beobachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Na, klingelt es jetzt?“

„Okay, dass ich eine Auserwählte bin, glaube ich nach wie vor nicht, aber es passieren seltsame Dinge. Das gebe ich zu. Ben, darf ich sie mitnehmen oder sind sie verhaftet?“

„Wenn du keine Anzeige erstattest, dann dürfen sie gehen.“

„Okay, dann lass uns abhauen. Kommst du mit?“

Er schüttelt den Kopf. „Das geht grad nicht. Aber ich will alles erfahren!“

„Wir werden sehen, wie Fiona das sieht, sobald wir ihr alles erzählt haben“, erwidert Sarah. „Gehen wir, ich ersticke hier drin noch!“

Wir warten auf dem Gang, während Ben den Bruder holt. Zwischenzeitlich kommen mehrere Polizisten vorbei, die mich kennen und grüßen. Sarah erntet von allen verwunderte Blicke. Sie scheint es allerdings gewohnt zu sein, denn sie reagiert darauf überhaupt nicht.

Ich betrachte sie. Im Moment lehnt sie entspannt, scheinbar zumindest, gegen die Wand und mustert den Boden. Ein bisschen erinnert sie mich an Amanda Seyfried. Nur diese Haare und diese Augen … Echt irritierend.

Endlich kommt Ben mit Thomas, dem Bruder. Der sieht eigentlich ganz normal aus. Schlank, schwarze, schulterlange Haare, grüne Augen.

Und ein Vampir.

„Der Bruder einer Hexe ist ein Vampir?“, erkundige ich mich und spanne meine Muskeln an.

„Vampir?“, wiederholt Ben.

„Selber Vater, unterschiedliche Mütter“, erwidert Sarah. „Thomas, das ist Fiona. Und es ist schlimmer, als wir befürchtet haben.“

Jetzt ziehe ich die Augenbrauen hoch. „Könnt ihr das dechiffrieren?“

„Gleich. Nicht hier.“

Thomas scheint nicht besonders gesprächig zu sein. Das ist schon mal gut. Die Hexe redet ja genug für beide.

Ich verabschiede mich von Ben. Ich sehe ihm an, dass er in Wirklichkeit sehr gern mitkäme und das auch könnte, aber schlau genug ist, sich aus der Schusslinie zu halten. Wenn eine Hexe und ein Vampir, die angeblich von Dargk geschickt wurden, mit Fiona reden wollen, dann haben Polizisten nichts dabei verloren.

Während wir mit dem Aufzug nach unten fahren, mustere ich die beiden unverhohlen. Sie tragen beide Jeans, feste Schuhe, T-Shirts und sind unbewaffnet. Ben hat ihnen ihre wenigen Sachen zurückgegeben: etwas Geld, eine Landkarte.

„Wo genau kommt ihr eigentlich her?“, erkundige ich mich, inzwischen auf dem Weg zum Auto.

„Aus Untes. Meine Eltern waren dort mal die Herrscher, bis wir sie getötet haben, weil sie böse waren. Andere Erde, andere Zeit.“

„Andere Erde? Wie meinst du das?“

Sarah starrt mich an. „Hast du echt gedacht, es gibt nur eine Erde? Thomas, das klappt niemals! Die weiß ja gar nichts!“

Ich verharre kurz, dann öffne ich den Wagen, steige ein, warte, bis die beiden auch drin sind, Thomas vorne neben mir, Sarah hinter ihm, und fahre dann ziemlich emotional los. Die Räder drehen kurz durch, bevor der Computer eingreift.

Dadurch etwas abgekühlt, bemerke ich: „Ihr könnt mich ja aufklären.“

„Müssen wir wohl“, sagt Thomas. Er hat eine angenehme, dennoch männliche Stimme.

Wir biegen auf die North Avenue ab. Es herrscht ziemlich dichter Verkehr, ich muss mich darauf konzentrieren. Aber ein Teil meines Bewusstseins bleibt bei den beiden.

„Dann erzählt mal. Wieso schickt Dargk überhaupt gerade euch?“

Thomas lehnt den Kopf zurück und seufzt. „Sarah, Reden ist dein Part.“

„Du Arsch!“ Sie schlägt nach ihm, er weicht grinsend aus. Sie scheinen tatsächlich Geschwister zu sein. „Also gut, da du eine Kriegerin bist, muss dir wenigstens bekannt sein, dass es einen Statthalter gibt.“

„Drol Wayne. Ich kenne ihn.“

„Das ist ja schon mal etwas. Weißt du auch von den Göttern?“

„Alles ist Illusion.“

„Super. Ich bekomme neue Hoffnung.“

„Wir sind ja auch in Newope“, erwidere ich lächelnd.

„Stimmt, da war was. Dass es aber mehrere Welten gibt, das hat man wohl vergessen, dir zu erzählen.“

„Nein, das weiß ich. Verborgene Welt und Gefrorene Welt.“

„Ja, die gibt es auch. Ich meinte aber Parallelwelten. Mehrere Erden und so.“

Ich werfe einen hastigen Blick nach hinten auf Sarah, dann schaue ich wieder auf die Straße. Der Verkehr wird dichter, alle vier Spuren in unserer Richtung sind voll mit Autos.

„Willst du mich verarschen?“

„Nein. Hör zu, wir waren auch schon in einer Parallelwelt, da fliegen die schon mit Raumschiffen durch die Gegend. Bei Gelegenheit zeigen wir dir auch den Übergang. Wichtig ist jetzt nur eines: Wir müssen verhindern, dass Garoan den Spiegel bekommt.“

Ich mache eine Vollbremsung. Das liegt in erster Linie an dem Stau, der sich plötzlich vor uns befindet. Aber Sarahs Worte hätten diese Reaktion genauso gut auslösen können.

„Garoan? Spiegel? Meinst du den Spiegel der Liliths?“

„Genau. Hey, du bist ja doch nicht völlig unwissend! Woher weißt du von Garoan?“

„Ich hatte schon das Vergnügen mit ihm.“

„Und du lebst noch?“, fragt Sarah, in ihrer Stimme klingt echte Verblüffung und auch Bewunderung.

Die spitze Antwort, die sich daraufhin förmlich auf meine Zunge drängt, werde ich nicht mehr los, denn plötzlich wird unser Auto von zwielichtigen Gestalten umringt. Sie reißen die Türen auf und greifen nach uns.

Ich schlage mit der Faust ins nächstbeste Gesicht, während ich gleichzeitig den Sicherheitsgurt löse. Den nächsten Kerl befördere ich mit dem linken Fuß wieder zurück, sodass er gegen das Auto neben uns prallt. Dann springe ich raus und habe gleich zwei von denen am Hals. Den ersten schicke ich mit einem Roundhouse-Kick zu Boden, den zweiten mit dem Ellbogen.

Jetzt habe ich endlich die Gelegenheit, mir einen Überblick zu verschaffen. Offensichtlich stammen die Kerle alle aus einem Van, der direkt hinter uns steht. Drei von ihnen zerren eine halb bewusstlose Sarah mit sich, was Thomas zu verhindern sucht, daran allerdings von weiteren Männern gehindert wird.

Irgendwie kommen sie mir bekannt vor. Vor allem ihre ausdruckslosen Gesichter. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Das sind Garoans Halbvampire, die wir auch auf der Insel gesehen haben!

Verfluchte Scheiße!

Ich setze mich in Bewegung, um Sarah zu helfen, die aus einer Platzwunde auf der Stirn blutet. Allerdings stellen sich mir dabei einige der Halbvampire in den Weg. Bis ich diese überredet habe, mich in Ruhe zu lassen, ist Sarah im Van verschwunden. Thomas kämpft mit drei anderen. Er macht das sogar gut, aber gegen die Übermacht kommt er nicht an. Nach kurzem Nachdenken eile ich ihm zur Hilfe und schaffe ihm die Angreifer vom Hals.

„Danke“, keucht er. Ein Vampir, der keucht? Noch ein Mysterium. „Wo ist Sarah?“

„Sie haben sie geschnappt.“

„Wir müssen sie befreien!“

Er setzt sich in Bewegung, ich mit. Und der Van auch, nämlich rückwärts. Er rammt dabei seitlich ein Auto und schiebt es zur Seite, dann schleudert er herum und beschleunigt erneut, diesmal vorwärts.

Ich denke kurz darüber nach, einfach hinterher zu fliegen, aber bei dem Publikum, das ich dabei hätte, ist das eine schlechte Idee.

Ich packe Thomas am Arm. „Los, ins Auto!“

Er gehorcht fluchend. Ich lege den Rückwärtsgang rein und gebe Vollgas. Der Wagen schießt zurück, haarscharf an einigen Autos vorbei, bis zur nächsten Kreuzung. Hebel auf D und wieder Gas geben. Der Achtzylinder brüllt förmlich auf und lässt den Wagen nach vorne schießen. Nötig ist es, der Van hat einen Riesenvorsprung.

„Was wollen die von Sarah?“, erkundige ich mich.

„Ich weiß nicht einmal, wer die sind.“

„Leute von Garoan. Genauer gesagt, von Zanda, dem hiesigen Vampirfürsten.“

„Scheiße. Woher wissen die, dass wir hier sind?“

Ich werfe ihm einen Blick zu. Sein ausdrucksloses Gesicht steht im krassen Gegensatz zu dem, was er sagt. Noch so ein Kerl, der nicht in der Lage ist, seine Gefühle zu zeigen.

„Allmählich macht ihr mich neugierig“, bemerke ich. „Was dürft ihr mir nicht erzählen?“

„Wahrscheinlich gar nichts.“

Die Antwort befriedigt mich nicht wirklich, aber ich muss mich auf die Verfolgungsjagd konzentrieren. Statt nach Norden, fahren wir jetzt nach Westen, Richtung Pazifik. Wo zum Teufel wollen die eigentlich hin? Die Straße führt fast direkt durch Harbor City zum Hafen. Dort können die sich natürlich gut verstecken oder auf ein Schiff.

Ich gebe Gas und wir holen den Van fast ein, als er plötzlich einen Schlenker macht und uns fast rammt. Anscheinend hat der Fahrer was dagegen, dass wir ihn überholen.

Ich lasse den Wagen zurückfallen und beschränke uns darauf, dem Van nur zu folgen. Der Verkehr ist viel zu dicht, um irgendwelche Mel Gibson-Nummern abzuziehen.

Plötzlich fährt der Van nach rechts in eine Ausfahrt. Beim Versuch, ihm zu folgen, rasen wir auf die Betonwand am Straßenrand zu. Ich trete auf die Bremse und reiße das Steuer herum. Die Elektronik hat jetzt alle Kabel voll damit zu tun, einen Unfall zu verhindern. Schließlich kommt der Wagen dicht neben der Absperrung zum Stehen, gegen die Fahrtrichtung. Ich gebe wieder Gas, lasse den Wagen nach links driften und beschleunige wieder.

Durch das Manöver hat der Van ordentlich Vorsprung gewonnen und rast gerade auf den Containerhafen zu. Wenn die es bis dahin schaffen, haben wir ein Problem. Da finden wir sie niemals wieder.

Ich trete das Gaspedal durch, die über 400 PS treiben den schweren Wagen gnadenlos vorwärts. Doch es sind zu viele Autos unterwegs, ich muss wieder abbremsen und dann ist es auch schon geschehen.

„Verfluchte Scheiße!“ Ich schlage gegen das Lenkrad. „Zwischen den Containern können sie sich wunderbar verstecken!“

„Oder auch in einem der Container.“

„Optimist!“

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er ansatzweise grinst. Aber vielleicht ist das auch nur eine optische Täuschung. Hauptsächlich bin ich damit beschäftigt, den BMW zwischen den Containern zu manövrieren. Natürlich ist der Van nicht zu sehen.

Plötzlich höre ich Sarah. Ich werfe einen Blick auf Thomas und mir wird klar, dass ich die Gedanken von Sarah aufgefangen habe, denn sie redet mit ihrem Bruder.

„Wir stehen irgendwo. Ich bin geknebelt und gefesselt. Wir sind ziemlich weit geradeaus gefahren und dann einmal abgebogen.“

„Ich werde sie finden“, sagt Thomas, an mich gewandt.

„Ja, ich habe es auch gehört.“

Während er mich ungläubig anstarrt, fahre ich rückwärts bis zur Einfahrt. Wenn sie ganz weit geradeaus gefahren sind, dann gibt es nur eine Möglichkeit. Geschickt war das von ihnen nicht, andererseits hatten sie es eilig und konnten nicht damit rechnen, dass Sarah uns telepathisch erreicht.

„Fiona kann dich auch hören“, denkt Thomas an Sarah.

„Jetzt auch?“

„Ja“, antworte ich direkt, während ich mich darauf konzentriere, nicht zu weit zu fahren.

„Da!“, ruft Thomas plötzlich. Ich habe es auch gesehen, links in einer Gasse steht der Van. Mir ist nicht ganz klar, worauf sie eigentlich warten. Außer der Fahrer kennt sich nicht aus und sie überlegen, wie sie weiter fahren wollen.

Ich halte den Wagen an und wir gehen zu Fuß zurück. Waffen wären jetzt nicht schlecht. Die Feuerkugeln, die ich bei Nasnat zuerst gesehen hatte, will ich nicht einsetzen, um Sarah nicht zu gefährden. Bleibt physische Gewalt.

„Wir müssen es riskieren, dass sie uns im Spiegel sehen“, sage ich, als wir an der Ecke sind. „Vielleicht haben wir ja Glück und wir kommen nahe genug heran.“

„Warum fahren wir nicht mit dem Auto?“

„Und dann? Springen wir beide aus einem fahrenden Auto?“

„Dann wäre es vielleicht besser, über die Container zu laufen.“

Da muss ich ihm recht geben. Wir springen also auf die Container und laufen geduckt auf den Wagen zu. Der steht zwar auf der gegenüberliegenden Seite, doch das wäre kein Problem – wenn er denn auf uns warten würde.

Tut er aber nicht. Ob er uns bemerkt hat oder aus einem anderen Grund, weiß ich nicht und es ist mir auch egal, als der Fahrer des Vans plötzlich losfährt. Ich denke nicht lange nach, eigentlich gar nicht, sondern springe hinterher. Ziemlich schwungvoll lande ich auf dem Dach und rolle mich ab, fast bis über den Rand hinaus. Das muss ich wohl noch üben.

Ich suche Thomas und sehe, wie er zurückrennt. Gar nicht blöd, der junge Vampir. Aber nun sollte ich mich auf den Van konzentrieren, der immer schneller wird. So wie es aussieht, haben die herausgefunden, dass es weitere Ausfahrten gibt. Der nordöstliche Ausgang scheint ihr Ziel zu sein.

Ich erhebe mich und gehe vorsichtig auf die Vorderseite zu. Wie angebracht die Vorsicht ist, merke ich, als der Van über eine Unebenheit rast und ich das Gleichgewicht verliere. Krachend falle ich auf das Dach und fast nach unten. Mit Müh und Not schaffe ich es, oben zu bleiben. Dafür ist der Überraschungseffekt weg, denn das haben sie garantiert gehört, selbst wenn sie meine erste Landung nicht bemerkt haben sollten.

Ich erhebe mich und sehe rechts vor uns die Ausfahrt. Die Schranke ist unten, allerdings glaube ich nicht, dass das den Fahrer sonderlich beeindrucken wird. Auch der heftig winkende Wachmann nicht. Ich werfe mich hin, denn ich möchte von keinem umherfliegenden Teil der Schranke getroffen werden. Der Van bricht diese einfach durch, als wäre sie aus Pappe.

Danach fährt er, kaum gebremst, nach links. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, denn geradeaus wäre der Van in den Graben gefahren. Aber im Gegensatz zu Mel Gibson mache ich so was nicht ständig, so sind mir nicht alle Stolperfallen einer Verfolgungsjagd auf dem Dach eines Transporters geläufig.

Die Gesetze der Physik gelten dennoch uneingeschränkt, zumindest in diesem Moment. Das bedeutet: Ich mache einen Abflug, der vermutlich nicht sehr elegant aussieht. Zum Glück lande ich einigermaßen weich, denn hinter dem Graben befinden sich Sträucher und dahinter der Wald.

Es tut trotzdem weh.

Ich bleibe atemlos liegen. Wenigstens ein paar Sekunden Erholung wären jetzt gut.

Viel mehr werden es nicht, denn mit quietschenden Reifen hält der BMW neben dem Graben. Ich rappele mich auf und wanke auf die Fahrerseite. Thomas rutscht freiwillig auf den Beifahrersitz. Ich steige stöhnend ein und gebe Gas.

„Du machst das nicht oft, oder?“

„Was?“

„Auf Vans balancieren. Du hättest doch kommen sehen müssen, dass er um die Kurve fährt.“

„Halt die Klappe!“

Ich denke kurz darüber nach, wieder anzuhalten, um fliegend die Verfolgung fortzusetzen, verwerfe diesen Gedanken aber ziemlich schnell wieder. Viel zu viele Zuschauer.

Der Van fährt Richtung North Town auf die Schnellstraße. Um diese Zeit ist die ziemlich voll, ich begnüge mich also damit, ihn nicht zu verlieren, und taste nach meinem Handy. Glück gehabt, noch ganz.

Ich wähle die Nummer von Ben.

„Fiona, was treibst du da?“

„Du weißt also schon Bescheid. Gut.“

„Machst du Witze? Ein Van und ein dicker BMW rasen durch die Stadt, natürlich weiß ich Bescheid! Gleich ist die halbe Polizei der Stadt hinter euch her!“

„Kannst du die zurückpfeifen? Sarah wurde entführt. Und zwar von denselben Werwölfen, denen wir damals auf der Insel begegnet sind. Und die dich fast umgebracht haben.“

„Verdammt!“

„Also, ruf irgendwie deine Leute zurück!“

„Das kann ich nicht. Zu viel los, das wäre verdächtig.“

„Verdammte Scheiße! Also gut, lass dir was einfallen, sonst gibt es Tote. Es ist zu viel Verkehr, sonst würden wir die abdrängen oder was auch immer, aber es geht im Moment nicht.“

„Das verstehe ich. Ich sag Jack Bescheid, der kann eher was tun.“

„Ja, eine gute Idee. Ich melde mich!“

Ich stopfe das Handy in meine Hosentasche und kratze mich am Kopf.

„Hast du eine Idee, was die von Sarah wollen?“, erkundige ich mich dann.

„Weiß ich immer noch nicht.“

„Denk nach. Wenn die irgendwoher wissen, dass ihr hier seid, dann steckt da etwas dahinter. Und dieses Etwas könntest du kennen.“

„Du bist fast so witzig wie meine Schwester. Ich habe aber keine Ahnung. Es ergibt überhaupt keinen Sinn. Es hätte noch Sinn gemacht, uns abzufangen, bevor wir dich finden. Aber jetzt?“

Ich starre ihn an. „Und wenn sie es einfach nur nicht rechtzeitig geschafft haben? Und jetzt wollen sie verhindern, dass ihr mit mir redet.“

„Hm.“

„Aber wer?“

„Garoan. Und seine Marionette, Graf Zanda.“

„Okay, und warum?“

Thomas kommt nicht zum Antworten, denn der Van fährt plötzlich auf die Ausfahrt nach Monty. Diesmal schaffe ich es mitzuhalten, ohne halsbrecherische Manöver vollführen zu müssen.

„Arschloch!“, schreie ich dem Van hinterher.

„Meinst du, er hört dich?“

„Klappe!“

Wir rasen auf der zweispurigen Airport Avenue, was ziemlich größenwahnsinnig ist, wenn man bedenkt, dass der Flughafen von Monty ziemlich winzig ist im Vergleich zum Hauptstadtflughafen. Andererseits verbindet mich mit ihm die intensive Erinnerung an das Ende der Hetzjagd auf meinen Onkel.

Plötzlich sehe ich das Hinweisschild auf Newvill. Klasse, einmal um die Stadt herum. Fast. Ich gebe Gas, hole den Van ein, dessen Fahrer vermutlich viel zu überrascht ist, und reiße das Steuer nach rechts rum. Um den Zusammenstoß zu vermeiden, muss der Van nach rechts ausweichen und auf den Zubringer nach Newvill fahren.

Punkt für uns!

„Steckt ein Plan dahinter?“, erkundigt sich Thomas.

„Natürlich.“

„Dann ist ja gut.“

Mein Plan ist eigentlich, den Van aus der Stadt heraus in die Small Hills zu treiben. Aber der dämliche Fahrer hält sich nicht daran. Das wird mir klar, als er auf den Zubringer zum Parkplatz der Newvill Mall fährt. Ich bringe den BMW wieder mal an die Grenzen der Physik, als ich ihn zwinge, dranzubleiben.

„Was zum Teufel hat er vor?“

„Er hält auf das große Gebäude zu“, erklärt Thomas.

„Echt jetzt?“

Und zwar ungebremst. Er wird doch nicht? Ich trete auf die Bremse und schaffe es, den Wagen so einigermaßen vor dem Schaufenster des Möbelgeschäfts anzuhalten, im Gegensatz zum Van, der mit voller Kraft hineindonnert.

„Hinterher!“

Wir springen beide aus dem Wagen und rennen dem Van hinterher. Schwer ist es nicht, seine Spur zu erkennen. Und ich höre auch schon die Sirenen. Der Van steht fast im Lagerbereich des nicht gerade kleinen Ladens und hat rechts und links eine Spur der Verwüstung zurückgelassen. Ob es auch Tote gibt, kann ich auf die Schnelle nicht erkennen. An einem Mittwoch Spätnachmittag werden sich vielleicht nicht allzu viele Leute hier aufhalten. Schreiende Menschen gibt es aber einige, doch die sind hoffentlich nur geschockt. Vielleicht auch verletzt, aber dann trotzdem nicht tot.

Ich konzentriere mich wieder auf den Van, aus dem die Halbvampire springen und Sarah mit sich zerren. Gefesselt und geknebelt sind ihre Möglichkeiten sehr eingeschränkt, aber dennoch wehrt sie sich wie wild, mit Fußtritten setzt sie zwei der Kerle sogar außer Gefecht, bevor ein etwas größerer von denen sie über die Schulter wirft.

Als wir am Van ankommen, regen sich die beiden wieder. Ich überzeuge mich, dass uns niemand sehen kann und breche ihnen das Genick, was Thomas etwas fassungslos werden lässt.

„Die leben eh schon nicht mehr. Nicht wirklich.“

Er nickt nur knapp, dann läuft er den übriggebliebenen Entführern hinterher. Wenn ich richtig gezählt habe, sind es noch sieben. Dass die vor uns weglaufen, zeigt wie viel Respekt sie vor uns haben. Oder vor mir? Wenn ich Teil irgendeiner Auserwählten-Scheiße bin, müssen ja wahre Legenden über mich im Umlauf sein. Außerdem dürfte es sich herumgesprochen haben, dass ich einen Krumana-Dämon getötet habe. Das ist auf jeden Fall etwas, womit man sich Respekt verschaffen kann.

Die Halbvampire flüchten durch eine breite Glastür in den Toiletten- und Personalbereich, nachdem sie vorher für Panik unter den Besuchern gesorgt haben. Zwischendurch klingelt auch noch mein Handy. Es ist Katharina, die sich wundert, wo ich bin. Ich sage ihr nur kurz, dass ich mich gleich melde und lege wieder auf.

Unsere Freunde nehmen die Tür in die Technikräume. Hier geht auch eine Treppe nach unten und mir wird klar, was sie vorhaben.

„Sie wollen in die Katakomben!“, rufe ich Thomas zu, während wir hinterherlaufen.

„Was ist denn da?“

„Die Vampirstadt! Sie dürfen es auf keinen Fall bis dahin schaffen! Egal, was wir dafür tun müssen!“

„Mehr als laufen kann ich nicht!“

„Ich schon!“

Dann laufen wir zwischen dicken Rohren durch die Gegend, wie in einem schlechten Actionfilm. Von meinem Plan, die Vampire mit Feuerkugeln zu stoppen, nehme ich wieder Abstand. Erstens könnte dabei Sarah zu Schaden kommen, zweitens weiß ich nicht, was alles durch die Rohre geleitet wird und ich möchte nicht riskieren, dass die Mall in die Luft fliegt.

Aber etwas anderes kann ich tun, hier, ohne Zuschauer.

„Sieh zu, dass du Sarah befreist!“, rufe ich Thomas zu, dann springe ich in die Luft und fliege über die Köpfe der Halbvampire hinweg. Das wird auch höchste Zeit, ich kann schon die unscheinbare Tür sehen, die eine Etage tiefer führt und von dort aus über einen getarnten Versorgungsgang in die Katakomben. Und die Kerle haben garantiert schon Verstärkung angefordert.

Sie stoppen erschrocken, als ich plötzlich vor ihnen stehe. Der Kerl mit Sarah auf der Schulter steht etwas weiter hinten und bietet ein gutes Ziel für Thomas, der mir anscheinend wirklich vertraut, denn er greift den einfach an. Das ist ein gutes Stichwort für mich. Die sechs anderen kriege ich mit Showeinlagen, die Bruce Lee nicht besser könnte, beschäftigt, und zwei von ihnen setze ich ziemlich schnell außer Gefecht. Das reicht Thomas, um den Kleiderschrank, der Sarah hält, zu erledigen. Sarah fällt dabei auf den Boden, rappelt sich aber ziemlich schnell auf und setzt einen vierten Kerl mit einem gut gezielten Tritt zwischen die Beine außer Gefecht. Man merkt, darin hat sie Übung.

Jetzt sind nur noch drei übrig, aber die Verstärkung kündigt sich bereits an und ist in wenigen Sekunden da. Ich will es nicht darauf anlegen und entscheide mich für einen effektvollen Rückzug.

Ich springe zu Sarah und Thomas. „Festhalten!“ Da Sarah die Hände inzwischen frei hat, kann sie einen Arm um mich legen, Thomas nehme ich von der anderen Seite, dann erhebe ich mich in die Luft und fliege die Strecke zurück, die wir gerade hergekommen sind.

Dass die Vampire uns folgen werden, ist sehr unwahrscheinlich, denn oben wird es inzwischen von Polizisten wimmeln. Was andererseits bedeutet, dass wir auch nicht da auftauchen sollten. Zum Glück gibt es nicht nur einen Ausgang. Ich folge einfach den Rohren und finde auf diese Weise einen Weg, der nicht für Menschen gemacht ist, weil er in die Klimaanlage führt. Nachdem wir uns durch enge Schächte gequetscht haben, landen wir irgendwo im hinteren Bereich der Mall, wohin sich außer Technikern sonst niemand verirrt. Im Tiefflug begeben wir uns in einen nahen Park. Hier setze ich die beiden ab und rufe Katharina an.

„Was ist los?“, fragt sie und ich höre deutlich ihre Angst.

„Jetzt nichts mehr, was uns betrifft. Aber du musst uns abholen. Dein Wagen steht vor der Newvill Mall. Ich rufe gleich auch Jack oder Ben an, damit sie sich darum kümmern. Wir selbst sind im Park, wir kommen zum Nordausgang. Auf dem Heimweg erzähle ich dir alles. Ich habe noch zwei Leute bei mir, die Zanda entführen lassen wollte und die anscheinend von Dargk geschickt wurden, um mich zu warnen. Eine Hexe und ein Vampir.“

„Klingt spannend“, erwidert Katharina. „In zehn Minuten bin ich da.“

Ich lege auf, mustere kurz die Geschwister, dann wähle ich die Nummer von Jack. Ich kläre mit ihm, dass er sich um den BMW kümmert, verweise ihn an Ben und verspreche, dass ich ihm alles erzählen werde, bei Gelegenheit, dass er mir wie sonst auch vertrauen soll und lege auf.

Dann atme ich erst einmal tief durch.

„Ist das hier eine Militärbasis? Oder warum ist es so gut gesichert?“ Sarah blickt durch die Heckscheibe auf die Schleuse zurück, während Katharina wieder Gas gibt.

„Ich habe mir im Laufe meines Lebens einige Feinde angesammelt“, erwidert Katharina belustigt.

„Hm. Demnach bist du älter, als du aussiehst?“

„Etwa 400 Jahre.“

„Oh! Wie hast du das denn geschafft?“

„Gute Gene.“

Ich kriege einen Lachkrampf und verschlucke mich. Katharina klopft mir auf den Rücken, obwohl sie genau weiß, dass das nichts bringt.

Nachdem ich mich beruhigt habe, bemerkt Thomas ruhig: „Du bist also eine Art Dämon?“

„Ja, das ist richtig. In diesem Auto sitzt kein einziger Mensch.“

„Wie, und ich?“, frage ich empört.

„Willst du ernsthaft behaupten, du bist ein Mensch? Wie viele Menschen kennst du denn, die durch die Gegend fliegen?“

„Okay, das stimmt, aber ich wurde normal geboren.“

„Ich auch“, entgegnet Katharina.

„Also gut, wir sind alle anders als normale Menschen, wie man normal auch immer definieren möchte.“

„Einverstanden. Und auf die Geschichte der beiden hinter uns bin ich echt gespannt.“

„Ich auch“, murmele ich.

Was ich weiß, habe ich ihr ja schon erzählt, dabei fiel mir auf, wie wenig das ist. Sarah versprach, uns alles zu erzählen, sobald sie sich etwas frisch machen konnte. Keine Frage, das haben wir alle außer Katharina nötig.

Die beiden bestaunen auch das riesige Haus. Bei Thomas ist das Staunen allerdings kaum erkennbar, er scheint, was Mimik und Gestik angeht, ein noch größerer Meister zu sein, als James es war, und das will viel heißen. Sarah hingegen ruft begeistert „Wow!“ und fährt dann fort: „Wohnt ihr hier?“

„Katharina ja und seit Kurzem ich auch, da das Haus, in dem meine Familie und ich gelebt haben, vor drei Wochen von denselben Leuten in die Luft gesprengt wurde, die vorhin versucht haben, euch zu entführen.“

„Und wo ist deine Familie jetzt?“, erkundigt sich Sarah.

„Tot.“

Ich gehe vor, weil ich nicht Sarahs betroffenen Gesichtsausdruck sehen will. Ich kann aber hören, wie sie „Scheiße!“ murmelt.

Helena und Jody sind auch schon da und im Pool. Dieser löst bei Sarah einen Freudenschrei aus.

„Wasser! Dürfen wir darin schwimmen?“

„Na klar, dafür ist es ja da“, antwortet Katharina lachend.

„Klasse!“ Sarah schlüpft blitzschnell aus ihren Sachen und springt ins Wasser. Katharina und ich starren uns an.

„Sie ist etwas impulsiv“, bemerkt Thomas.

„Echt jetzt?“

„Wollt ihr nicht auch ins Wasser kommen?“, ruft Sarah. „Es ist herrlich!“

„Wir haben auch Badeanzüge!“, rufe ich zurück.

„Wozu? Ich schaue euch schon nichts weg!“

Ich schlucke eine Antwort hinunter. Irgendwie erinnert mich das daran, als ich das erste Mal in diesem Pool geschwommen bin. Ich werfe einen Blick auf Katharina, dann ziehe ich mich achselzuckend auch nackt aus und folge Sarah in den Pool.

„Hey, wenn ihr nackt badet, dann wir auch!“, erklärt Helena.

„Macht doch!“, erwidere ich. Dann blicke ich Katharina an. „Komm schon, gerade du!“

Sie schüttelt lachend den Kopf, dann folgt sie unserem Beispiel. Schließlich überwindet sich Thomas auch. Er sieht ziemlich durchtrainiert aus, kein Gramm Fett, gut gezeichnete Muskeln, kraftvolle Bewegungen – früher hätte ich mich sogar in ihn verlieben können.

Noch während wir im Wasser sind, klingelt mein Handy. Ich klettere aus dem Pool und fische es aus meiner Hosentasche.

Meine Mutter ist dran. „Alles in Ordnung?“

„Hallo Mama“, erwidere ich. „Was ist passiert?“

„Das wollte ich dich fragen! Wir haben das grad im Fernsehen gesehen, in den Nachrichten! Das warst doch du, oder?“

„Ach so, das meinst du. Ja, ich war daran beteiligt und mir geht es gut.“ Ich betrachte Sarah, die mit kraftvollen Bewegungen ihre Bahnen zieht.

„Aber was war denn da los? Eine Verfolgungsjagd durch die halbe Stadt?“

„Erzähle ich euch mal bei Gelegenheit. Wir haben jetzt gerade Besuch. Aber alle sind wohlauf, macht euch keine Sorgen.“

Ich verabschiede mich von ihr, springe zurück ins Wasser und schwimme zu Katharina, die mich fragend ansieht.

„Meine Mutter. Sie haben es im Fernsehen gesehen.“

„Deine Eltern wissen Bescheid?“, erkundigt sich Thomas.

„Mehr oder weniger.“

„Und wer weiß nicht Bescheid?“

„Die meisten.“

„Gut.“ Er schwimmt mit kräftigen Zügen davon und schließt sich seiner Schwester an.

„Er hat einen knackigen Po“, stellt Katharina fest.

„Hey!“

„Ich sag es ja nur.“

Statt einer Antwort dränge ich sie gegen den Rand und küsse sie. Achte gefälligst nur auf meinen Po! Der ist auch knackig.“

„Das stimmt. Aber wenn du Sarah anschauen darfst, darf ich Thomas anschauen.“

„Ich habe Sarah angeschaut?“

„Ja. Sie sieht ja auch süß aus.“

„Sie ist eine Hexe. In jeder Hinsicht.“

„Das habe ich mitbekommen“, erwidert Katharina lachend.

Kurzfristig komme ich in Versuchung, denn unsere Körper berühren sich unter Wasser und ich spüre deutlich ihre verhärteten Brustwarzen. Aber das wäre selbst mir zu viel, beim Sex von Katharinas Tochter und den beiden Fremden beobachtet zu werden.

„Ich hatte es mir so schön vorgestellt, wie du nach Hause kommst und wir danach total enthemmten Sex haben“, flüstere ich ihr ins Ohr.

„Was hindert uns daran?“

„Du würdest das machen? Hier und jetzt?“

„Jetzt ja, aber ganz bestimmt nicht hier. Dass meine Tochter mich nackt sieht, stört mich nicht, ich habe sie nicht dazu erzogen, einer dieser verklemmten kichernden Teenies zu sein und schon gar nicht eine dieser verklemmten Erwachsenen, die diese Welt ins Verderben stürzen. Aber Sex ist Privatsache.“

„Ja, das stimmt. Das ist der einzige Grund, warum ich nicht über dich herfalle.“

„Dann lass uns hochgehen. Die Geheimnisse werden schon auf uns warten.“

„Wirklich?“ Meine Lippen berühren beim Sprechen ihren Mund. „Deine Lust ist größer als deine Neugierde?“

„Definitiv und ich stehe dazu.“

„Okay. Lass uns hochgehen.“ Ich schwimme voraus und beim Rausklettern sage ich zu unseren Gästen: „Entspannt euch und lasst euch bedienen. Abendessen gibt es in etwa einer Stunde, dann sprechen wir über alles.“

„Und was macht ihr?“, erkundigt sich Sarah.

Ich lege den Zeigefinger lächelnd auf meinen Mund, dann ziehe ich die kichernde Katharina mit mir.

„Jetzt hast du sie verwirrt“, sagt sie auf der Treppe.

„Ist mir egal.“

Ihr auch, glaube ich.

Sarah trägt ein Kleidchen und Thomas Shorts. Die beiden Mädchen sind nicht zu sehen.

Sarah bemerkt meinen suchenden Blick und sagt: „Sie ziehen sich was an und kommen dann. Und sie haben uns unsere Zimmer gezeigt. Das Haus ist ja ganz schön krass. Lebt ihr allein darin?“

„Mehr oder weniger.“

Der Tisch ist bereits für sechs Personen gedeckt, allerdings fehlen die Getränke. Katharina spielt Gastgeberin und bereitet Cocktails zu. Sarah und Thomas nehmen Wodka Martini. Ich schwanke kurz und entscheide mich schließlich für meinen heißgeliebten Caipi.

Sarah beobachtet Katharina, die einen buntgemusterten Bikini trägt. Mir wird klar, dass Sarah Erfahrung mit Frauen hat. Ihr Blick ist sehr eindeutig. Verstehen kann ich sie ja.

Sie merkt, dass ich sie ansehe und erwidert meinen Blick grinsend.

Als Jody und Helena da sind, servieren die unsichtbaren Diener die Suppe. Die ersten Minuten vergehen schweigend, in denen ich vor allem Sarah und Thomas mustere. Meine Anspannung steigt allmählich, denn ich kann mir nicht so richtig vorstellen, was sie eigentlich von mir wollen. Und außerdem habe ich ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache, wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich bin.

Sarah blickt mich an und lächelt. „Bevor Fiona an einem Herzinfarkt stirbt, erzähle ich euch ein bisschen, okay? Im Vorfeld vielleicht noch die Frage, ob Helena und Jody alles mithören dürfen? Mir ist klar, dass Helena auch Dämonenblut in sich trägt und dass Jody genauso eine Hexe ist wie ich.“

„Sie dürfen alles wissen“, bestätige ich.

„Also gut. Wo soll ich bloß anfangen? Vielleicht mit Dargk. Als wir ihn kennengelernt haben, waren wir zu dritt auf der Flucht: Katharina, Thomas und ich. Damals wussten wir auch nicht, dass ich mit den beiden auch verwandt bin, Thomas war mein bester Freund. In jeder Hinsicht. Wir … wir haben meine Eltern umgebracht, weil wir dachten, sie wären schlecht für unser Land. Erst später fanden wir heraus, dass wir vollständig vergessen hatten, dass sie mich jahrelang als Kind missbraucht haben. Ich wurde sogar schwanger und musste abtreiben lassen, ich glaube, mit 13 oder 14. Ist eine lange Geschichte, die nur bedingt was mit euch zu tun hat. Insofern schon, als dass meine Großmutter uns zu Dargk geschickt hat, er würde uns schon helfen. Weil nämlich, nachdem wir meine Eltern, also auch Thomas’ Vater, getötet hatten, wurden wir von einem unserer Freunde verraten und sollten hingerichtet werden. Unsere anderen Freunde sind dabei auch gestorben, aber wir wurden gekreuzigt, um uns ganz besonders lange leiden zu lassen. Meine Großmutter und Katharina haben uns dann gerettet. So, als wir dann bei Dargk waren, haben sich Katharina und Dargk ineinander verliebt und haben ein gemeinsames Kind.“

„Der Neffe einer Königin und Sohn von Dargk?“

„Genau.“ Sarah und ich genießen die verwunderten Blicke der anderen, ohne sie aufzuklären. „Das mit dem Kind haben sie allerdings gemacht, während Thomas und ich in einer anderen Zeit unterwegs waren. Zumindest dachten wir das. Inzwischen wissen wir es besser. Wir waren in einer Parallelwelt, die einfach schon länger existiert und aussieht, wie diese hier vielleicht in zweitausend Jahren aussehen wird. War eine interessante Erfahrung, aus einer Welt mit Pferden und Schwertern, ähnlich wie euer Mittelalter, in eine Welt mit Raumschiffen und Wurmlöchern.“

„Raumschiffe? Ihr seid mit Raumschiffen durchs Weltall geflogen?“, fragt Jody mit großen Augen.

„Oh ja. Wir haben mit Weltraumpiraten gekämpft, mit einem lebenden Planeten gesprochen, haben in Visz gebadet ...“

„In Visz?“, unterbricht Katharina die Aufzählung. „In Visz gebadet?“

„Ihr kennt Visz?“

„Oh ja!“, antworte ich.

„Das ist gut. Dann brauchen wir euch ja nicht zu erklären, was das ist. Ja, wir haben in Visz gebadet. Eine lange, unangenehme Geschichte. Wir haben dabei sogar dieses Universum verlassen. Vielleicht. Wahrscheinlich. Egal, das ist grad nicht der wichtige Teil. Wir haben das ja nur gemacht, um Söldner zu rekrutieren, damit wir mit ihnen Untes zurückerobern können.“

„Was ist schiefgegangen?“, erkundige ich mich.

Sarahs Faust zuckt kurz, dann grinst sie. „Hey, normalerweise macht Thomas so blöde Sprüche und ich schlage ihn dann. Wobei ich ihn fast nie treffe. Nichts ist schiefgegangen. Wir haben die Söldner bekommen, sind nach Untes zurück und haben mein Königreich zurückerobert. Das Blöde war nur: In den fünf Jahren, die wir unterwegs waren, hat Oluar, das Arschloch, das Land zum Blühen gebracht. Als Mensch ist er … Ich sag es lieber nicht. Aber als Herrscher hat er eine Menge auf dem Kasten. So sieht es aus. Deswegen haben Thomas und ich beschlossen, wir lassen alles, wie es ist, und ziehen lieber durch die Welt. Einzige Bedingung von mir war: Ralph ist der Thronfolger. Ralph ist mein Neffe. Unser Neffe.“

„Und wie kommt Garoan ins Spiel?“, frage ich.

„Garoan?“ Katharinas Augenbrauen laufen bis zu den Haaren hoch.

„Ja, Garoan. Ihr scheint den ja echt schon zu kennen. Also, wir haben Dargk ab und zu besucht, schon wegen Ralph. Und beim letzten Besuch, vor drei Wochen ...“

„Vor drei Wochen?!“

„Ja, vor genau drei Wochen. Da bat er uns, dich zu suchen und zu warnen und dir alles zu erzählen, was er uns erzählt. Über Garoan und seine Sippe.“

Ich tausche einen Blick mit Katharina, dann flüstere ich: „Vor genau drei Wochen wurden meine Tochter und mein Mann getötet. Von jemandem, von dem wir wissen, dass er mit Garoan in Verbindung steht.“

„Das passt. Garoan tauchte nämlich bei Dargk auf, als wir gerade aufgebrochen sind. Er hat Kaox, das ist Dargks Schloss, angegriffen. Dargk hat uns das Versprechen abgerungen, dass wir dich suchen, ganz egal, was geschieht, selbst wenn er getötet wird. Genauer sagte er sogar: Dann erst recht. Das Schicksal des gesamten Universums hinge davon ab.“

„Nein!“, schreie ich. „Ich will das nicht! Ich will nicht für die Rettung des Universums zuständig sein! Verdammt nochmal, mir reicht es schon, dass ich meine Familie nicht retten konnte!“

Sarah starrt mich an. „Das … das tut mir echt leid. Aber wenn ich Dargk richtig verstanden habe, ist das nichts, was du entscheiden kannst. Irgendein Drol Wayne und andere haben das entschieden und ...“

„Dieses Arschloch! Ich bringe ihn um! Er hat es die ganze Zeit gewusst! Ich bringe ihn um, das schwöre ich!“ Katharina legt ihre Hand auf meinen Arm und blickt mich liebevoll an.

„Fiona, ich verstehe, dass du wütend und aufgeregt bist. Trotzdem schlage ich vor, wir hören uns das zu Ende an. Was meinst du?“

Ich erwidere ihren Blick, dann nicke ich langsam. Sie wischt mir die Tränen mit den Daumen ab und küsst mich sanft.

„Ups“, sagt Thomas.

„Das ist krass, Thomas. Und kann mir jemand erzählen, wer oder was Drol Wayne ist? Der kommt nämlich nochmal vor in meiner Erzählung. Er ist wohl indirekt schuld daran, dass Garoan so sauer ist.“

„Das wundert mich nicht“, erwidere ich schniefend. „Drol hat ein Talent dafür, dass Leute ihn hassen. Er ist übrigens der Statthalter Gottes, den es gar nicht gibt, und für die Erde verantwortlich.“

„Ich schätze, er arbeitet für Engelkind.“

„Hä?“

„Eine ...“

„... lange Geschichte“, ergänze ich. „Also schön. Erzähl einfach weiter.“

„Vielleicht sollten wir vorher überlegen, ob wir dabei weiteressen wollen“, bemerkt Helena. „Und falls wir uns dafür entscheiden, kann der Hauptgang serviert werden.“

„Also, ich habe Hunger“, sagt Thomas.

„Ich auch“, fügt Jody hinzu.

„Na dann ...“ Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. So eine verdammte Scheiße. Und Nasnat, das andere Arschloch, wusste das alles auch. Oder wenigstens einen Teil davon. Und deswegen hat er auch gesagt, ich wäre wichtig und müsste beschützt werde. Dabei muss er beschützt werden, nämlich vor mir!

„Hast du keinen Hunger?“, erkundigt sich Katharina.

Ich öffne die Augen und betrachte meinen Teller. Schließlich lange ich seufzend nach dem Besteck und beginne zu essen.

„Also, es war einmal“, fährt Sarah fort, zum Teil undeutlich, weil sie dabei am Essen ist. Immerhin scheint sie eine wirklich prinzessinnenhafte Erziehung genossen zu haben, denn sie schafft es, dass weder das Essen in ihrem Mund zu sehen ist, noch dass sie herumspuckt. „Irgendwann in grauer Vorzeit hat wohl Drol Wayne auf der Ur-Erde dafür gesorgt ...“

„Ur-Erde? Gibt es etwa mehrere Erden? Und mehrere Fionas?“

„Das mit Fiona weiß ich nicht, aber jede Welt hat in diesem Universum wohl auch eine Erde. Okay, vielleicht auch nicht jede. Aber einige. Und die erste Welt hat auf jeden Fall eine. Und da lebten damals eine Kriegerin und ein Zauberer verbotenerweise zusammen und hatten irgendwann sieben Kinder. Krieger dürfen aber nicht einfach so ihre Aufgabe ablegen, so bekamen sie eines Tages Besuch von Drol. Die Kriegerin verlor ihre Unsterblichkeit, der Zauberer seine magischen Kräfte. Nur die Kinder wurden verschont, sie wurden zu den sieben Ur-Wesen.“

„Kommt dir das bekannt vor?“, fragt mich Katharina.

„Oh ja!“

„Ihr kennt diese Geschichte schon?“

„Nein, aber wir haben die Statuen der Ur-Wesen gesehen, als wir Garoan begegnet sind.“

„Okaaay. Wie ich schon mal gefragt habe: Und ihr lebt noch? Schon gut, eine rhetorische Frage, ich sehe ja, dass ihr noch lebt. Die sieben Ur-Wesen sind der Vampir Darg, der nichts mit unserem Lord Dargk zu tun hat, sagt der jedenfalls, Werwölfin Canda, Hexe Lilith, Dav, der Drache, Caes, der erste Geist, Levita, Vorfahre der Elfen und Gald, der erste Zauberer, von dem Garoan in direkter Linie abstammen soll.“

„Ja, das sagte er mir auch.“

Sarah starrt mich an. „Du hast auch noch mit ihm gesprochen und lebst noch?“

„Ist das irgendwie eine Manie von dir? Natürlich lebe ich noch. Und ich habe es sogar geschafft, dass er nicht an mich herankam. Seine Magie hat nicht ausgereicht, um meinen Schutzschild zu durchbrechen.“

„Wow! Krass! Dann ist es ja kein Wunder, dass Dargk dich für die Auserwählte hält. Garoan ist sehr, sehr stark.“

„Sie hat auch einen Krumana-Dämon eigenhändig getötet“, sagt Katharina ruhig.

„Wird ja immer krasser. Und dann sagst du, du willst das Universum nicht retten? Wer soll es dann tun, wenn nicht du?“

„Wie wäre es mit Dargk?“

„Der hat es schon einmal getan. Er ist alt und ausgebrannt.“

„Ja, ich weiß, der Große Krieg.“ Seufzend mache ich mich über mein Steak her.

„Genau.“

„Okay, aber was genau hat Garoan eigentlich vor?“

„Dargk hat gesagt, er will erst einmal seine Vorfahren befreien. Die sind angeblich in irgendeinem Spiegel gefangen.“

„Der Spiegel der Liliths!“

„Ihr wisst ja doch schon alles!“, sagt Sarah schmollend.

„Nein, nur einzelne Puzzlestücke.“

„Woher kennst du den Spiegel?“, erkundigt sich Katharina stirnrunzelnd.

„Ich … ich hatte mal mit Schneewittchen zu tun, die in Wirklichkeit Emily heißt und eine Lilith ist.“

„Du kennst eine Lilith?!“, ruft Sarah begeistert.

„Ähm, ja. Ich war auch schon in Augle.“

„Was?!“, rufen Katharina und Sarah wie aus einem Munde.

„Als ich mit Emily zusammen den Spiegel zurückgebracht habe.“

„Du hast den Spiegel der Liliths gesehen?“

„Oh ja!“ Ich muss an mein Spiegelbild denken, das sich verselbstständigt hatte. „Sarah würde sagen, der Spiegel ist krass.“

„Haha! Und, wie ist Augle?“

„Wie eine Stadt aus Tausendundeiner Nacht. Emily hat ein riesiges Haus und in einer der obersten Etagen ist der Swimming-Pool mit durchsichtigem Boden. Und das ist wirklich krass, das sage ich jetzt.“

„Klingt spannend“, bemerkt Thomas.

Ich sehe Sarah an. „Ist er immer so begeisterungsfähig? Der hat auch während der gesamten Verfolgungsjagd den Eindruck erweckt, als wäre ihm das alles egal.“

„Er tut nur so.“

„Okay, jetzt mal langsam“, sagt Katharina. „Halten wir mal das Wichtigste fest: Fiona ist die Auserwählte, die das Universum retten soll, weil wer das will? Und wovor genau?“

„Wer das will, habe ich auch nicht ganz verstanden. Aber Drol Wayne muss was damit zu tun haben. Und wovor? Davor, was die Noispeds damit vorhaben, was immer das sein mag. Ich weiß nur, dass die sieben Ur-Wesen sehr mächtig sind und nicht ohne Grund über Jahrtausende oder sogar noch länger verbannt waren. Wenn Garoan es schafft, sie zu befreien, dann haben wir ein Problem.“

„Also müssen wir dafür sorgen, dass er den Spiegel nicht bekommt, unser smarter Zauberer“, stelle ich fest.

„Ähm … Ja. Smart?“

„Er sieht schon gut aus und wie viele gutaussehende Männer ist er schwul.“

„Danke“, sagt Thomas.

„Du bist schwul?“

„Die letzten Jahre fühlte ich mich eher zu Männern hingezogen. Eine ...“

„... lange Geschichte, ich weiß!“ Ich muss selbst mitlachen, obwohl mir tendenziell eher zum Weinen ist. „Ich schlage vor, morgen besuchen wir Augle und sprechen mit Emily.“

„Wir besuchen Augle?“, fragt Katharina mit leuchtenden Augen. „Du findest den Weg dorthin?“

„Ja, sicher. So schwer ist das nicht. Allerdings nur, wenn man weiß, wo die Stadt ist, denn sie ist gut versteckt unter einer Illusion.“

Urplötzlich legt sich eine beängstigende Stille über uns. Alle hängen ihren Gedanken nach, wie es scheint. Es gibt ja auch viel zu verdauen, selbst für Sarah und Thomas. Ich beginne, Einiges zu verstehen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Lücken trotzdem noch ziemlich groß sind. Sarah hat entweder nicht alles erzählt oder, was ich für wahrscheinlicher halte, sie weiß auch nicht alles.

Nachdem alle ihr Besteck weggelegt haben, erhebt sich Katharina und geht zur Bar. „Wer möchte was?“

Ich verkneife mir eine nicht jugendfreie Antwort und bestelle einen Daiquiri.

„Mit Zucker?“, fragt Katharina lächelnd.

„Sehe ich aus wie Hemingway? Natürlich mit Zucker!“

„Ach ja, der gute alte Ernest.“

„Sag bloß, den kanntest du auch?“

„Ich bin ihm mal begegnet. Es war eine heiße Nacht, aber mehr kriegt ihr aus mir nicht raus zu diesem Thema.“

Jody schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen werde, dass die Mutter meiner Freundin alle Größen der letzten 400 Jahre Weltgeschichte kennt.“

„Nicht alle“, erwidert Katharina mit der ihr üblichen Bescheidenheit. „Nur fast.“

„Wie bist du denn gereist, bevor es Flugzeuge gab?“, erkundigt sich Helena.

„Wie alle anderen auch: mit Schiff, Eisenbahn oder zu Fuß. Dann gab es noch Pferde und Kutschen. Und Kamele. Soll ich fortfahren?“

„Nein, ist schon gut. Ich habe verstanden.“

Katharina lächelt, dann wendet sie sich an mich: „Wie kommen wir nach Augle?“

„Das ist eine berechtigte Frage. Sie befindet sich in der Wüste von Saudi-Arabien.“

„Oh, also fast nebenan.“

„Wir könnten hinfliegen“, schlage ich vor.

„Wie seid ihr denn damals hingekommen?“

„Mit dem Flugzeug nach Dubai, von dort aus mit einem Hubschrauber.“

„Also für den Flug nach Dubai kann ich sorgen, aber den Rest des Weges ...“

„... fliegen wir“, ergänze ich.

„Was verstehst du eigentlich unter fliegen?“

„Ich meine, wir fliegen selbst, mein Schatz.“

„Du willst drei Leute gleichzeitig transportieren?“

„Drei sind zu viel, ich muss zweimal fliegen.“

Nach einigem Hin und Her sehen alle ein, dass es so am besten ist. Während Katharina den Flug nach Dubai organisiert, schaue ich mir auf Google Maps an, wie ich danach fliegen muss. Da wir tief fliegen müssen, um auf dem Radar nicht aufzutauchen, ist das eine herausfordernde Aufgabe. Eine Tarnkappe oder so was wäre ganz nützlich. Vermutlich würde ich das mit mehr Übung sogar hinkriegen, aber noch bin ich nicht erfahren genug und wir würden abstürzen. Oder Schlimmeres.

„Wie weit ist Dubai eigentlich von hier?“, erkundigt sich Helena.

„Keine Ahnung. Wir sind damals etwa vierzehn Stunden geflogen.“

„Vierzehn Stunden?! Wann wollt ihr denn losfliegen?“

„Morgen früh“, erwidert Katharina von der Treppe. „Um zehn geht der Flug, er wird etwa sieben Stunden dauern.“

„Sieben Stunden? Hast du eine Rakete?“

„So was in der Art. Ein Privatjet der besonderen Art. Eigentlich ist er noch im Teststatus, aber wir werden ihn mal kurz ausleihen.“

„Okaaay ...“ Katharina scheint ihr Geld immer mal sinnvoll zu verwenden, wenn ich so an das U-Boot denke, mit dem wir zur Insel gefahren sind. Praktisch, so eine Freundin.

„Warum fliegen wir nicht sofort?“, erkundigt sich Sarah.

„Aus zwei Gründen. Erstens kriege selbst ich den Jet nicht so schnell. Und zweitens wollen wir lieber im Dunkeln in Dubai herumfliegen.“

Das ist ein Argument, wir sehen es alle ein. Mir ist es sowieso recht, ich will Katharina haben.

Sie scheint es zu ahnen, denn sie sagt lächelnd: „Ich schlage vor, wir vertagen uns jetzt bis morgen. Ihr seid natürlich unsere Gäste und dürft euch im ganzen Haus frei bewegen. Es gibt auch Sportmöglichkeiten, Sauna, Kino, was ihr wollt. Vielleicht sind Helena und Jody bereit, euch alles zu zeigen. Wir ziehen uns jetzt zurück.“

„Ja, Chefin, sind wir“, erwidert Helena grinsend. „Viel Spaß.“

„Danke, liebste Tochter.“

Sie nimmt meine Hand und wir gehen nach oben. Die Abenddämmerung hat bereits eingesetzt, die Korridore sind hell erleuchtet mit diskret verlegten LED-Lampen.

„Ich bin mir nicht sicher, was ich von der ganzen Geschichte halten soll“, bemerke ich.

Katharina bleibt stehen und wendet sich mir zu. Ihre Lippen berühren meinen Mund. „Du möchtest jetzt aber nicht ernsthaft darüber nachdenken? Dann hole ich mir einen Vibrator.“

„Du bist so doof, wusstest du das?“

Statt einer Antwort küsst sie mich und schiebt ihre Hände in mein Bikini-Höschen.

„Okay, du bist nicht doof und ich will nicht über … Über was eigentlich?“

Sie lächelt mich an, und während ihre Finger tiefer wandern, sagt sie flüsternd: „So ist es brav.“

Es ist kalt. Für die arabische Wüste ist es entschieden zu kalt. Zitternd schlinge ich die Arme um mich. Durch das Fliegen wurde es auch nicht wärmer, im Gegenteil.

„Ich dachte, hier ist es um diese Jahreszeit eher warm“, bemerke ich missmutig.

„Tagsüber ist es hier sogar richtig heiß“, erwidert Katharina. „In einer Stunde geht die Sonne auf, dann würdest du nicht mehr frieren, wären wir dann noch hier. Oder ist es unter der Kuppel klimatisch genau wie außerhalb?“

Ich zucke die Achseln. „Ich denke, es ist keine Kuppel. Es muss so eine Art Spielerei mit den Dimensionen sein. So wie bei Schrödinger. Entweder ist Augle da oder es ist nicht da.“

Katharina sieht mich mit einem bedauernden Ausdruck an, dann wendet sie sich an die beiden anderen. „Wir dürfen sie nicht mehr fliegen lassen. Anscheinend gibt es unerwünschte Nebenwirkungen.“

„Diesen Gedanken hatte ich auch gerade“, sagt Sarah. „Und wo ist Augle denn nun?“

Ich zeige nach vorne.

„Da ist nichts, nur Wüste.“

„Und Augle.“

„Du kannst es sehen?“

„Nein. Aber ich weiß, dass es da ist. Der Pilot ist mit dem Hubschrauber hineingeflogen. Er ging tiefer, sogar ziemlich tief, dann waren wir plötzlich drin. Einfach so.“

„Hm. Hat Emily denn nicht gesagt, wie man durch die Illusionsschranke kommt?“

„Nicht wirklich. Sie hat nur gesagt, es ist eine Illusion für alle Sinne.“

„Das heißt, nur du kannst die Illusion aufheben“, stellt Sarah fest.

„Wieso das denn?“

„Weil du schon mal drin warst. Es ist eine Art Schalter, den du betätigen musst. Du musst deine Wahrnehmung umschalten. Das betrifft aber nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören, Spüren, Schmecken, Riechen, Fühlen. Alle Sinne. Ich habe von dieser Art Magie schon mal gehört, aber sie noch nie erlebt. Das ist faszinierend.“

„Hm.“

„Vielleicht hilft dabei etwas, was ungewöhnlich ist, anders.“

Ich sehe Thomas an und denke nach. Die Idee ist gar nicht so schlecht. Ganz so, wie er es vorschlägt, ist sie wohl nicht umsetzbar, aber das ist vielleicht auch gar nicht nötig.

Ich hocke mich hin und nehme Sand in die Hände. Zwar rinnt er ziemlich schnell zwischen den Fingern hindurch, aber das, was übrigbleibt, reicht für meine Zwecke. Ich werfe den Sand nach vorne und hoch und als die feinen Sandkörnchen herunterrieseln, laufen sie an dem Illusionsschirm entlang.

„Ich sehe den Schirm“, sage ich lachend. „Ich sehe ihn!“

„Das ist klasse, denn wir sehen nichts“, erwidert Katharina.

Ich nehme ihre Hand, sie nimmt Sarahs und diese fasst Thomas an der Hand. Die Berührung mit mir scheint zu reichen, denn allen dreien klappt die Kinnlade herunter. Fröhlich pfeifend trete ich durch den Schirm und ziehe die anderen mit mir.

Doch dann bleibt mir das Pfeifen im Hals stecken.

„Wir kommen zu spät“, flüstert Thomas.

Obwohl es in Augle auch dunkel ist, kann ich dennoch erkennen, dass von der Stadt kaum was übrig ist. Zwar stehen die Gebäude noch, aber es sieht aus wie nach einem Krieg. Im Irak sah es damals auch nicht viel anders aus. Alle oder zumindest viele der Gebäude weisen Schäden auf, die von Explosionen herrühren dürften. Trümmerteile liegen auf den Straßen herum, zwischen ihnen Leichen, unter ihnen vermutlich noch mehr.

„Was ist denn hier passiert?“, fragt Sarah entgeistert.

„Garoan“, flüstere ich. „Er hat den Spiegel.“

„Sieht ganz danach aus“, bestätigt Katharina. „Und das bedeutet, die Ur-Wesen sind frei.“

„Aber woher konnte er wissen, wie er Augle findet? Vor einem Jahr hat er noch versucht, dieses Wissen von uns durch Folter zu erfahren.“

„Wie es aussieht, hat er eine andere Quelle gefunden“, erwidert Katharina, deren Gesichtsausdruck verrät, dass sie sich an die Folter erinnert.

Plötzlich fällt mir siedendheiß mein Geburtstag ein. Aber kann das überhaupt sein? Ich beginne zu laufen, bis ich bei der ersten Leiche bin, und starre sie fassungslos an.

„Was? Was ist los?“, fragt Sarah.

„Ich habe es gespürt“, sage ich leise. „Schaut euch die Leiche an, die liegt schon seit Monaten hier. An meinem Geburtstag habe ich plötzlich was gespürt, eine Erschütterung. Und dann so was wie einen Hilferuf. Jetzt weiß ich, wo es herkam!“

„Du meinst, das ist jetzt drei Monate her?“, fragt Katharina.

Ich sehe sie an und nicke.

„Oh, verdammte Scheiße!“

Ich denke an mein letztes Gespräch mit Nasnat. Ich Quatschkopf sagte noch zu ihm, dass ich vielleicht noch das Universum retten werde. Seine Reaktion hätte mich damals schon stutzig machen sollen. Aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um irgendetwas von dem zu bemerken, was wirklich wichtig war.

Ich werde in meinen düsteren Gedanken durch einen Ausruf von Thomas unterbrochen: „Was sind das denn für ulkige Gestalten?“

Ich folge seinem Blick und stöhne auf: „Das sind Gopfs, kleine, sehr aggressive Dämonen. Bei meiner ersten Begegnung mit Emily haben sie mir ein Riesenloch in den Brustkorb geschlagen.“

Sarah verzieht das Gesicht. „Aua.“

„Nur ganz kurz. Ich rede mal mit ihnen.“

Reden ist nicht, das merke ich ziemlich schnell. Sie haben sich kein bisschen geändert. Oder vielleicht doch, wenn sie sich von den Leichen ernähren. Möglich, dass sie völlig unkontrollierbar geworden sind.

Sie greifen mich sofort an. Zwar haben sie keine Äxte, aber die haifischartigen Zähne reichen schon, um böse Verletzungen zu verursachen. Ich trete einige von ihnen weg und stelle für mich fest, wie viel leichter ich heute mit ihnen fertig werde als vor drei Jahren. Dennoch ist das auf Dauer keine Lösung. Und da es mir schwerfällt, so was wie Mitleid mit Gopfs zu empfinden, setze ich die Feuerbälle ein, wie ich sie bei den Zauberern gesehen habe.

Als ich fertig bin, kommen meine Gefährten angerannt.

„Was war das denn?“, fragt Sarah entgeistert.

„Seit wann kannst du das auch?“, fragt Katharina.

„Irgendwann habe ich es einfach mal ausprobiert, weil ich dachte, wenn ich zaubern kann, dann müsste das ja auch funktionieren. Wie bei Nasnat und den anderen Zauberern.“

„Ich glaube, ich werde dich niemals ärgern“, stellt Sarah fest.

„Wir sollten das praktisch sehen“, erwidert Thomas. „Wir werden niemals rohes Fleisch essen müssen, solange Fiona bei uns ist.“

Ich starre ihn entgeistert an. Er hat schon einen sehr speziellen Humor.

Dann fällt mir Emily ein.

„Emily!“

Ihr Haus steht noch. Es ist zwar von außen beschädigt und in Dunkelheit gehüllt, aber es sieht nicht unbewohnbar aus.

„Das ist Emilys Haus?“, fragt Katharina. „Wohnt sie alleine darin?“

„Ja. Das heißt, sie hat auch diese unsichtbaren Diener wie du. Wie kommt man eigentlich an die?“

„Dargk hat sie auch“, bemerkt Sarah.

„Ich nicht. Also, wie kommt man an die?“

Währenddessen gehe ich auf die Tür zu. Vier Stufen führen davor auf einen Podest, der von dickem Staub bedeckt ist. Hier ist schon länger niemand hergegangen. Mein Herz verkrampft sich. Die Tür knarrt, als ich sie langsam aufdrücke. Im Haus ist es auch dunkel und dreckig.

„Es gibt einen besonderen Zauber, der sie erzeugt“, flüstert Katharina. „Hier sind noch einige von ihnen, und das ist ein gutes Zeichen.“

„Wieso?“

„Weil Emily dann noch lebt.“

„Das wäre klasse. Lasst uns die Etagen durchsuchen.“

Wir kämpfen uns nach oben durch. Da es nicht ausgeschlossen ist, dass sich Gopfs hier herumtreiben, auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, bewegen wir uns vorsichtig und die Gefährten bleiben in meiner Nähe. Es ist ein seltsames Gefühl, dass ich plötzlich diejenige bin, die alle anderen beschützt.

In der ersten Etage, wo die Schlafgemächer sind, gibt es Kampfspuren, aber keine Leichen. Die nächsten Etagen bieten keine Überraschungen, außer, dass die schiere Größe und Fülle meinen Begleitern, die zum ersten Mal hier sind, die Sprache verschlägt. In der dritten Etage befindet sich die Bibliothek und sie füllt die Ebene vollständig aus. Vor drei Jahren habe ich hier viele Stunden verbracht, deswegen kann ich das Staunen der anderen drei gut nachvollziehen.

Wir finden Emily ganz oben, neben dem Pool. Bereits eine Etage tiefer standen meine Gefährten mit offenem Mund direkt unter dem Wasserbecken, dessen Boden ja durchsichtig ist, und starrten nach oben.

Das Wasser ist dreckig und von Algen durchsetzt, der früher schön und mit Liebe hergerichtete Bereich drumherum völlig verwahrlost. Ich habe allerdings nur Augen für Emily, die an der Wand gegenüber der Tür sitzt und uns anstarrt.

Ich bleibe vor ihr stehen. Sie trägt die Reste eines Kleides, das kaum ihre Blößen verdecken kann. Die nackten Beine dunkel vor Schmutz, ihre Haare verfilzt, das Gesicht dreckverschmiert und die Augen ausdruckslos.

„Emily?“

Ich gehe vor ihr in die Hocke. Sie sieht mich an.

„Fiona … Es hat so lange gedauert ...“

„Ich … Es tut mir so leid. Ich habe deinen Hilferuf nicht erkannt. Nicht verstanden, was es ist. Es … es tut mir so leid.“

„Ist schon gut … Du hättest eh nichts tun können.“

„Doch! Und wenn es nur ist, dir die drei Monate in diesem … Dreck zu ersparen!“

„Drei Monate?“ Sie blickt mich müde an. „Sind es schon drei Monate? So lang kam es mir gar nicht vor. Es spielt überhaupt keine Rolle mehr. Die meisten sind tot, sie haben den Spiegel mitgenommen. Glücklich sind die, die schon tot sind, sie haben es hinter sich. Der letzte Nachfahre hat den Spiegel. Wenn er die Vorfahren befreit, kann nichts und niemand mehr sie aufhalten. Es gibt keine Hoffnung mehr.“

„Es gibt immer Hoffnung!“ Ich packe Emily und ziehe sie hoch. Sie ist federleicht. Damals in Kanaan sah sie auch nicht viel besser aus. Ihr Schicksal scheint es zu sein, von mir gerettet zu werden. „Wir nehmen dich erst einmal mit und danach sehen wir weiter.“

„Warte! Ich will sehen, was mit den Ratsmitgliedern ist. Vielleicht haben sie überlebt. Dann und nur dann gibt es doch noch Hoffnung.“

„In Ordnung. Kannst du gehen?“

Als sie nickt, lasse ich sie los. Sie steht etwas wackelig, aber sie steht. Ich werfe einen Blick auf die Anderen, dann hake ich mich bei Emily ein und stütze sie.

Wir gelangen ohne Zwischenfälle auf die Straße. Es ist heller geworden, die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Stadt in goldenes Licht, was eine geradezu absurde Atmosphäre erschafft. Obwohl sie sich nicht bewegen, erwecken die Leichen plötzlich den Eindruck von Lebendigkeit, was gerade bei den angefressenen und teilverwesten Exemplaren, also den meisten, wie aus einem schlechten Horrorfilm wirkt.

Irgendwie muss ich an meine Begegnung mit der Elfe damals denken und erschaudere.

„Ist dir kalt?“, fragt Katharina, die rechts von mir geht.

„Nein. Ich musste nur an etwas denken. Die ganze Szenerie hier ist grotesk.“

„Ja.“

Der Sitz des Ältestenrats wirkt verlassen, aber aufgeräumt. Ich bleibe stehen.

„Was ist los?“, erkundigt sich Emily.

„Sieh mal, die Umgebung des Rathauses ist halbwegs sauber und ordentlich. Ich schätze, da drin sind Liliths, die alles vernichten, was ihnen verdächtig vorkommt.“

„Sie werden mich erkennen.“

„Da wäre ich nicht so sicher.“

Emily starrt mich an. „Sehe ich so schlimm aus?“

Ich nicke langsam. Und auch mich werden sie wahrscheinlich nicht erkennen. Es ist drei Jahre her, damals trug ich ein Kleid bei unserem Gespräch, keine schwarzen Hosen, Rollkragenpullover und Springerstiefel. Auch wenn wir nicht damit gerechnet haben, dass Augle zerstört sein würde, wussten wir dennoch, dass wir für den Flug von Dubai in die Wüste warme Sachen brauchen werden. In Sommersachen wären wir erfroren.

„Ich gehe vor“, sagt Emily. „Sie werden sehen, dass ich eine Lilith bin und mir nichts tun. Wartet hier.“

„In Ordnung. Schaffst du es?“

„Ja, es geht schon wieder. Ich war nur steif geworden.“

„Okay.“ Ich beobachte sie, wie sie mit erhobenen Händen auf den Eingangsbereich zugeht. Die Tür öffnet sich langsam, aber niemand sonst ist zu sehen. Hinter ihr schließt sich die Tür wieder. Die ganze Zeit über ist es gespenstisch ruhig. Es dauert jedoch nicht lange, bis die Tür wieder aufgeht und Emily uns zuwinkt.

Wir betreten die große Halle, die nur durch die Fenster ausgeleuchtet wird. Da inzwischen jedoch die Sonne relativ hoch steht, reicht das Licht aus, um alles gut erkennen zu können.

Vom Ältestenrat scheinen noch drei übrig zu sein, unter anderem die Erste Lilith, die dem Rat vorsteht. Sie sieht mich freundlich an, ich gehe also davon aus, dass sie mich erkannt hat, und begrüße sie so, wie ich es bei meinem ersten Besuch gelernt habe, mit einem angedeuteten Kuss auf die rechte und die linke Wange.

Sie legt eine Hand auf mein Gesicht. „Ich bin so froh, dass du doch noch gekommen bist, Fiona.“

„Mir tut es leid, dass es so lange gedauert hat. Ich habe es nicht verstanden.“

„Das sollte dir nicht leidtun. Wir haben es versucht, obwohl wir kaum die Hoffnung hatten. Eigentlich ist es schon ein gutes Zeichen, wenn du es wahrgenommen hast und dich daran erinnerst.“

„Sagst du das, um mich zu trösten?“

„Nein, meine Liebe, es ist wirklich so.“ Ich sehe ihr an, dass sie die Wahrheit sagt.

Nachdem ich auch die anderen Ratältesten begrüßt habe, stelle ich meine Begleiter vor.

„So heiße ich euch auch willkommen“, sagt die Erste Lilith. „Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt. Bitte folgt uns.“

„Du stehst bei denen ja hoch im Kurs“, flüstert mir Katharina zu, während wir den Ratältesten und Emily in das Sitzungszimmer folgen. Hier sind ein paar Getränke und Kleinigkeiten zu essen aufgestellt. Eine junge Frau steht neben dem Tisch und blickt uns entgegen. Eine der Wächterinnen, schätze ich, die das Massaker überlebt haben.

„Im Keller sind Vorräte versteckt, die allerdings allmählich zur Neige gehen“, erklärt die Erste Lilith auf unsere verwunderten Blicke hin. „Wegen der Gopfs verlassen wir das Gebäude nicht. Hier drin ist es sicher. Ihr habt Glück, dass ihr es hierher geschafft habt.“

„Das war kein Glück“, erwidert Sarah, die anscheinend von nichts und niemanden beeindruckt werden kann. „Fiona hat da Tricks auf Lager, dagegen ist selbst Darth Vader ein blutiger Anfänger.“

„Woher kennst du Darth Vader“, frage ich erstaunt.

„Oh, wir sind in den letzten zwei Jahren herumgekommen. Glaubst du, nur auf dieser Erde gibt es die Jedis?“

Ich sag lieber nichts mehr.

Die Erste Lilith sieht Sarah lächelnd an, dann deutet sie auf die Stühle. „Bitte setzt euch und trinkt und esst, bis Emily sich gesäubert und umgezogen hat.“

Wir folgen der Bitte. Mir ist nach Weinen zumute. Diese stolze Stadt, die Jahrtausende überlebt hat, liegt in Trümmern, die meisten Liliths tot oder verwahrlost, selbst der Rat besteht nur noch aus einem kümmerlichen Rest.

Zum Weinen und zum Kotzen.

Als Emily zurückkehrt, sieht sie wieder fast so aus, wie ich sie in Erinnerung habe. Sie trägt ein einfaches, bodenlanges Kleid und die Haare glatt auf die Schulter fallend. In ihren grünen Augen ist etwas vom gewohnten Glanz zu sehen.

„Da ist ja meine Emily“, sage ich erfreut.

Sie lächelt mir zu und setzt sich neben mich. Dann beugt sie sich zu Katharina vor und gibt ihr die Hand. „Ich schätze, du bist die Katharina, die unsere Fiona glücklich macht.“

Katharina reißt die Augen auf, dann starrt sie mich an. Ich muss mich erst von meinem Hustenanfall erholen.

„Habe ich was Falsches gesagt, Schätzchen?“ Emily lacht leise auf, dann legt sie einen Arm um mich und sagt zu Katharina: „Wir sind sozusagen Schwestern. Ich liebe Fiona sehr. Sie hat mich gerettet, als ich auf einem sehr dunklen Pfad gewandelt bin und mich ins Licht zurückgeholt. Dafür bin ich ihr dankbar, sehr dankbar.“

„Klingt nach einer spannenden Geschichte“, sagt Katharina.

„Ist es auch“, bestätige ich mit Tränen in den Augen. „Ohne Emily hätte ich wahrscheinlich Anne Marie nie kennengelernt.“

„Ist das gut oder schlecht?“, fragt Emily.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Im ersten Moment wäre ich geneigt zu sagen, es ist schlecht, denn dann wäre Anne Marie noch am Leben und meine Familie auch. Allerdings habe ich gelernt, dass diese Denkweise nichts bringt. Wie es aussieht, kann ich gewissen Eckpfeilern meines Lebens nicht entkommen. Ob die Alternative also besser wäre, das weiß ich nicht. Vielleicht wäre dann Sandra nie geboren worden. Und vielleicht wäre James dann schon damals in Kanaan gestorben, nicht erst ein Jahr später.“

„Das klingt auch nach einer spannenden Geschichte“, stellt Emily fest.

„Wir können in der Tat nur einzelne Ereignisse mit einzelnen Entscheidungen immer wieder beeinflussen“, sagt die Erste Lilith. „Der Weg als Ganzes ist auf eine geheimnisvolle Weise festgelegt, die von Manchen als Schicksal bezeichnet wird.“

„Dann war es Schicksal, dass Garoan Augle gefunden und den Spiegel geraubt hat?“, erkundigt sich Sarah.

„Ich würde sagen, das war eher Aelfric“, erwidert Emily.

„Was?!“ Ich sehe sie mit weit aufgerissenen Augen an.

„Kennst du den etwa?“

„Den Zombie-König? Natürlich!“

„Zombie-König?“ Jetzt ist Emily mit Staunen dran. „Nein, er ist ein alter, griesgrämiger Elbenprinz, der am liebsten galaktischen Selbstmord begehen würde. Ein depressiver, alter Idiot.“

„Aber wie kann das sein? Er war doch in der Zeitfalle gefangen!“

Jetzt sind es sogar sieben Augenpaare, die mich anstarren.

„Wie das?“, fragt schließlich Emily.

„Meine Klone haben ihn da eingesperrt.“

„Deine was?!“

„Ist ...“

„... eine lange Geschichte“, ergänzt Sarah.

„Die wir vielleicht abkürzen können und den Rest für romantische Abende am Lagerfeuer aufheben“, sagt Thomas.

„Dich kann ich mit Romantik überhaupt nicht in Verbindung bringen“, erwidere ich. „Davon unabhängig kann ich mich dem Vorschlag nur anschließen. Die extreme Kurzfassung: Ich hatte vor knapp zwei Jahren ein unangenehmes Erlebnis mit Aelfric, bei dem er es geschafft hat, mich in der Verborgenen Welt festzusetzen und zwei Klone von mir zu erschaffen, die ihm eigentlich bei der Zerstörung der Verborgenen Welt helfen sollten. Aber er hat sich verschätzt, was meinen rebellischen Geist angeht und meine Klone haben ihn am Ende in eine Zeitfalle sperren können.“

„Und wo sind die Klone jetzt?“

„Sie wurden ausgelöscht, als sie mich befreit haben. Besser so. Eine gelangweilte Hausfrau, die dabei war, in Psychologie zu promovieren, und eine rebellische Vampirlady.“

„Ach du Scheiße“, sagt Katharina.

„Genau. Die entscheidende Frage ist aber: Woher wusste Aelfric, dass der Spiegel hier war?“

„Weil er früher oft unser Gast war“, antwortet Emily. „Er hat uns verraten und dafür wird er büßen.“

„Und diesmal werde ich dich auch nicht davon abhalten. Allerdings müssen wir uns vorher auf Wichtigeres konzentrieren. Die beiden seltsamen Gestalten hier, Sarah und Thomas, wurden von einem Dargk geschickt, um ...“

„Dargk?“, unterbricht mich Emily fassungslos.

„Ja. Kennst du den etwa?“

Sie sieht die Erste Lilith an und wirkt irgendwie sehr bleich. Die Hautfarbe der Ersten Lilith hat sich auch verändert. Was zum Teufel …?

„Der Name ist uns nicht unbekannt“, sagt die Erste Lilith langsam. „Wartet bitte hier.“

Sie erhebt sich, winkt einer der Ratältesten zu und verlässt den Raum. Ich blicke zu Emily, dann zu meinen Gefährten.

„Habt ihr auch das Gefühl, das hier wächst uns über den Kopf?“, erkundige ich mich dann.

„Schon lange“, antwortet Sarah.

„Das beruhigt mich ungemein.“

Wir verbringen die Zeit, bis die beiden Liliths zurückkehren, schweigend. Wenn die anderen genauso ihren Gedanken nachhängen wie ich, dann werden diese sehr düster sein. Meine sind es jedenfalls. Und ich versuche, ein wenig Ordnung in das Chaos in meinem Kopf hineinzubringen. Irgendwie ist grad alles mit allem verbunden. Aelfric, Garoan, Dargk. Und irgendwie hängt da auch dieser kleine Zauberer mit drin. Der Mistkerl. Das Gefühl, ich sitze in einer Falle, wie die Maus, nur ohne Speck, wird immer stärker.

Die Erste Lilith trägt ein schweres, großes, richtig großes Buch und legt es auf den Tisch. Es erinnert mich an das Buch bei Nasnat, als ich mit Katharina das allererste Mal bei ihm war.

„Das Buch der Legenden“, sagt die Erste Lilith stöhnend. „Hier drin sind alle Legenden verzeichnet, die je erzählt wurden. Und hier werden wir Dargk finden. Lasst uns mal schauen ...“

Sie schlägt das Buch auf und gehtetwas durch, was für mich wie ein Stichwortverzeichnis aussieht.

„Da haben wir es ja. Die Großen Kriege. Sie gehören zu den … Drachenchroniken.“

„Oh nein, nicht schon wieder Drachen!“, stöhnt Thomas. Solche emotionalen Reaktionen kenne ich von ihm ja noch gar nicht.

„Klappe halten, zuhören!“, weist ihn seine Schwester prompt zurecht.

„So, die Großen Kriege. Und hier haben wir auch schon Dargk. Er beendete den Großen Krieg, und zwar durch einen Reset. Ich glaube, das war vor dreizehn Jahren, aber davon steht hier nichts. Ja, so muss es gewesen sein. Ach ja, und da haben wir es ja auch schon! Dreizehn Jahre, nachdem Dargk den Großen Krieg beendet hat, erscheint die Zweite Kriegerin, die das Universum vor großer Gefahr beschützen soll.“ Sie blickt hoch und sieht mich an. „Bist du die Zweite Kriegerin?“

„Jawohl, sie ist es!“, ruft Sarah. „Darum hat Dargk uns zu ihr geschickt!“

Ich starre die Erste Lilith mit offenem Mund an. Sie mustert mich kurz, nachdem sie stirnrunzelnd Sarah angesehen hat, dann liest sie weiter im Buch: „Was steht denn hier sonst noch? Alles Blabla, was zu so einer Legende halt dazugehört. Ah, aber das könnte interessant sein. Ein Ort am Ende des Universums, wo der Schlüssel von irgendwelchen Wächtern bewacht wird. Hm, damit kann ich nicht viel anfangen.“

„Der Kernel!“ Schon wieder Sarah. Ob ich ihr den Mund stopfen sollte?

„Bitte was?“, fragt Katharina und klingt auch genervt.

„Dargk hat was von einem Kernel erzählt. Von einem Ort am Ende der Welt.“

„Ort am Ende der Welt? Kernel ist ein Begriff aus der IT und bezeichnet den Kern eines Betriebssystems.“

„Woher weißt du das?“, fragt Sarah und sieht mich provozierend an.

„Weil ich vor vielen Jahren Trainee bei meinem Vater war und ein halbes Jahr in der IT verbracht habe, wo unter anderem das Betriebssystem, das wir heute noch verkaufen, programmiert wurde. Ein kleines Stückchen Code stammt sogar von mir. Zwar nicht im Kernel, sondern vom Grafiktreiber, aber das ist ja egal.“

„Ich habe zwar kein Wort verstanden, aber Dargk hat definitiv Kernel gesagt und meinte damit einen Ort am Ende des Universums.“

Ich seufze und sehe Katharina hilfesuchend an. Sie schüttelt den Kopf. „Wenn wir bedenken, dass unser Universum resettet werden kann, dann ist es gar nicht so abwegig, wenn es einen Kernel gibt.“

„Verräterin“, murmele ich.

„Was denn? Es bringt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken.“

„Ja, ganz toll. Und wie willst du da hinkommen?“

„Durch den Turm der Geschichte“, erklärt Sarah.

„Was ist das denn schon wieder?“

Die Erste Lilith hebt den Blick und betrachtet Sarah nachdenklich. „Meinst du eventuell den Ewigen Turm?“

„Ewiger Turm?“

„Ja, dieser verbindet die Welten miteinander, allerdings in der materiellen Welt.“

„Okaaay … Dargk nannte ihn Turm der Geschichte. Allerdings hat er uns auch erzählt, dass der Turm der Geschichte die Zeiten miteinander verbindet, um uns nicht zu überfordern. Von daher gehe ich einfach mal davon aus, dass er den Ewigen Turm meinte. Durch den kommen wir zum Kernel. Möglicherweise müssen wir dann noch ein bisschen mit einem Raumschiff ...“

„Das ist nicht nötig“, unterbricht Emily ihre Ausführungen. „Es gibt einen Weg durch die Verborgene Welt. Ich werde ihn euch zeigen.“

Ich setze mich mit einem Bier und meinen Zigaretten an den Pool, lasse die Füße ins Wasser hängen. Mein neuester Lieblingsplatz. Hier habe ich das riesige Haus im Rücken, vor mir die Wiese und das angrenzende Waldstück.

Zum Nachdenken habe ich genug Stoff. Nach einem unendlich lang scheinenden Tag in Augle waren wir bei Anbruch der Nacht nach Dubai geflogen, das heißt, ich bin geflogen, die anderen waren nur Handgepäck. Sozusagen. Ich muss unwillkürlich grinsen. Von Dubai aus sind wir mit Katharinas Privatjet wieder nach Skyline geflogen.

Und jetzt sitze ich hier, es ist ungefähr sieben Uhr abends, und versuche, irgendwie meine Gedanken zu ordnen. Eine schwierige Angelegenheit.

Von hinten nähert sich Katharina und setzt sich hinter mich, sodass ihre Beine um meinen Po geschlungen sind. Sie sind genauso nackt wie meine, ich trage Shorts, die diesen Namen auch verdienen, und ein Shirt mit Spaghettiträgern.

Ich zünde mir eine Zigarette an. Die freie linke Hand lege ich auf Katharinas Wade. Sie umfasst mit ihren Armen meinen Bauch und stützt ihr Kinn auf meiner linken Schulter auf. Ihre Zunge liebkost meine Wange. Ich drehe den Kopf so, dass ich sie küssen kann.

„Was macht Emily?“, erkundigt sie sich dann.

„Sie badet. Ich habe ihr gesagt, dass wir um acht ungefähr essen und bis dahin noch ein paar Leute hinzukommen.“

„Wen hast du erreicht?“

„Das infernalische Trio und Elaine.“

„Elaine kommt auch?“

„Wundert dich das?“

„Eigentlich nicht.“

Ich ziehe an meiner Zigarette und starre ins Wasser. Katharina schweigt mit mir.

Schließlich breche ich das Schweigen: „Ich würde gerne mal meine Gedanken sortieren. Hilfst du mir dabei?“

„Klar. Schieß los.“

„Also, einfach mal chronologisch gesehen. Vor sehr, sehr langer Zeit auf einer Ur-Erde, was vermutlich so viel bedeutet wie die erste Welt. Ach ja, und es gibt mehrere Welten, die parallel existieren, alle in diesem Universum. Und es gibt auch etwas außerhalb dieses Universums. Ich meine, ich habe schon davon gehört, dass es Götter gibt, die sich die Zeit mit einer Art Monopoly vertreiben und nach Belieben irgendwelche Universen erschaffen. Aber dass in jedem Universum auch noch parallel Welten existieren, die unterschiedlich alt sind, das ist mir neu. Wusstest du davon?“

„Nein, auch ich habe jetzt zum ersten Mal davon gehört.“

„Okay. Also, auf dieser Ur-Erde, deren Statthalter offensichtlich ebenfalls Drol ist, lebten unter anderem eine Kriegerin und ein Magier, die sich ineinander verknallten und sich weigerten, ihren Job zu machen. Ich fasse das mal zusammen. Das fand Drol nicht witzig und hat den beiden ihre wichtigsten Fähigkeiten genommen. Bis dahin hatten sie aber schon sieben Kinder gezeugt, die ihre Fähigkeiten nicht verloren, allerdings spezialisiert waren. Die gelten als Ur-Wesen, ihnen verdanken wir Vampire, Werwölfe und andere Plagen. Wie zum Teufel gelangen diese Wesen dann in andere Welten? Passierte das in den anderen Welten genauso?“

„Sie wurden kopiert“, sagt Sarah von hinten.

Katharina und ich drehen unsere Köpfe. Sie hat es anscheinend geschafft, uns beide zu überraschen. Sie trägt einen schwarzen Bikini und setzt sich neben uns an den Beckenrand. Unwillkürlich bleibt mein Blick an ihrem Busen hängen. Auch wenn sie nicht mein Typ ist, sexy ist sie trotzdem.

Ich zwinge mich, auf ihren Mund zu sehen.

„Kopiert?“, wiederholt Katharina dann.

„So hat es uns Dargk erklärt. Wenn die Götter ein Universum starten, gibt es darin nur eine Welt, die Ur-Welt. Meistens finden sie nur eine Welt langweilig und kopieren die Ur-Welt. Und nochmal. Und nochmal. Oder sie kopieren eine der anderen Welten. Das heißt, alles was es in der Ur-Welt gab, bevor sie zum ersten Mal kopiert wurde, gibt es in allen anderen Welten auch. Deswegen hat jede Welt zum Beispiel eine Erde und Menschen.“

„Na, ob das gut ist, das weiß ich aber nicht“, bemerke ich.

Katharina grinst. „Dasselbe habe ich auch grad gedacht.“

„Wir sind halt beide abgrundtief zynisch. Also gut, das erklärt die Ausbreitung der Ur-Wesen. Gibt es die demnach auch so oft?“

„Nein, die sind einmalig. Ich glaube, sie wurden verbannt, bevor ihre Welt kopiert wurde. So ganz verstehe ich das zwar nicht, denn dann müssten zumindest ihre an Amnesie leidenden Hüllen kopiert worden sein, aber Dargk meinte, solche Wesen würden nicht mitkopiert.“

„Wenigstens war der Programmierer nicht völlig bescheuert. Also gut, unter den Umständen kann ich verstehen, dass diese Ur-Wesen ziemlich sauer auf Drol sind. Leben ihre Eltern eigentlich noch?“

„Das weiß ich nicht, aber ich glaube, eher nicht.“

„Also schön. Dann existiert also das Universum so vor sich hin, neue Welten kommen hinzu, unter anderem diese. Und eure, nur später. Richtig?“

„Klingt gut.“

„Irgendwie kommen noch die Noispeds ins Spiel, die, wenn ich es richtig verstanden habe, irgendwie auch von diesen Ur-Wesen abstammen. Ich glaube, Nasnat sagte mir was, sie wären ein altes Volk von Magiern. Und Garoan gehört zu ihnen, ist allerdings in direkter Linie mit Gald, dem Ur-Zauberer, verwandt. Sie haben, warum auch immer, beschlossen, dass das Universum besser dran ist, wenn sie das Sagen haben. Irgendwelchen anderen Leuten hat das aber nicht gefallen und ...“

„Woher weißt du das alles?“, unterbricht mich Katharina. „Sarah hat das nicht erzählt.“

„Ich verknüpfe gerade Informationen aus unterschiedlichen Quellen. Das mit den Noispeds hat mir Nasnat erzählt, nach der Scheiße in Kanaan.“

„Okay, dann verknüpf mal bitte weiter.“

„So, die Noispeds haben irgendwelche bösen Sachen gemacht und irgendjemand hatte etwas dagegen. Ich möchte fast wetten, auch da hatte Drol die Finger im Spiel. Auch wenn er nicht direkt ins Geschehen eingreifen darf, wie er mir schon öfter mitgeteilt hat, kann er ja die Ereignisse indirekt beeinflussen, indem zum Beispiel jemand wie Dargk erschaffen wird.“

„Oder wie die Zweite Kriegerin“, sagt Sarah.

„Die lassen wir jetzt mal außen vor, zu dem Zeitpunkt war sie anscheinend damit beschäftigt, Teenager zu sein. Immerhin war sie 96 schon keine Jungfrau mehr … Ähm, das war grad eine völlig unwichtige Information, vergesst es einfach wieder.“ Oh Mann. „Also, Dargk verhindert irgendwie den großen Putsch und resettet dabei das Universum. Das führt zu der Frage: Wie passiert so was eigentlich? Hat er dafür das Universum verlassen?“

„Theoretisch möglich“, erwidert Sarah nachdenklich. „Ich könnte mir vorstellen, dass es mit Visz zu tun hat. Visz scheint etwas ganz Besonderes zu sein und ist eigentlich kein Bestandteil des Universums. Wenn ich Engelkind richtig verstanden habe, dann ist Visz eine Art göttlicher Stoff, der die Universen zusammenhält.“

„Also gut. Eigentlich ist es unwichtig, wie er es getan hat, wichtig ist nur, dass er es getan hat. Und damit könnte alles wieder perfekt sein, wäre da nicht Garoan.“

„Garoan ist ein Überlebender aus den Reihen der Noispeds. Er ist doppelt sauer. Einerseits wegen der Geschichte mit seinen Vorfahren und zum anderen wegen Dargk. So wie es aussieht, hat er sich vorgenommen, die Ur-Wesen zu befreien und, wohl im Gegensatz zu seiner Familie vor dreizehn Jahren, weiß er auch, wie er das anstellen muss. Und wir müssen befürchten, dass die Ur-Wesen bereits frei sind.“

„So sieht es aus“, bestätigt Katharina.

„Und weil in irgendwelchen Legenden in irgendwelchen Drachenchroniken in einem monströs dicken Buch, das sich in der Bibliothek der Liliths befindet, etwas von einer Zweiten Kriegerin steht, die auserwählt wurde, die Welt, nein, sorry, gleich das ganze Universum zu retten und in meiner Person manifestiert sein könnte, außerdem noch von einem Ort am Ende des Universums, wo es auch noch die Hüter des Schlüssels gibt und dieser Ort der Kernel sein könnte, werden wir zu diesem Kernel reisen, und zwar nicht klassisch mit Raumschiff Enterprise, nein, das würde ja viel zu lange dauern, sondern in der Verborgenen Welt, und zwar mithilfe von Emily, die den Weg kennt. Habe ich das in etwa richtig wiedergegeben?“

„In etwa!“, sagt Sarah lachend.

„Leute, wenn mir vor drei Jahren jemand erzählt hätte, Emily wird uns mal in eine andere Welt führen, hätte ich den für verrückt erklärt. Und wenn ich jemanden für verrückt erkläre, dann heißt das schon was.“

„Wie hast du sie überhaupt kennengelernt?“, erkundigt sich Katharina.

„Äh … blutig. Sie und sieben Gopfs haben eine Bank ausgeraubt und sind dabei als Schneewittchen und die sieben Zwerge aufgetreten. Es war eine ziemliche Schweinerei, weil die Gopfs bevorzugt Menschenfleisch essen. Am liebsten, während das Herz noch schlägt und das Hirn noch fühlt.“

„Iiieh!“, kreischt Sarah.

„Jedenfalls habe ich sie irgendwann gefunden und nach und nach die Hintergründe erfahren. Da gibt es David, Nasnats Neffen, der anscheinend nur mit dem Finger schnippen muss und die Frauen prügeln sich darum, ihm einen blasen zu dürfen. Oder so ähnlich. Ein emotionales Arschloch eben. Und er hat Emily den Spiegel gestohlen.“

„Oh, oh!“

„Eben. Emily war etwas aufgebracht, zumal sie einige Regeln der Liliths verletzt hatte für David. Also machte sie sich auf die Suche. Dass Nasnat mich dabei auch noch belogen hat, sei nur mal am Rande erwähnt. Jedenfalls, bei dem Versuch, David und den Spiegel zu finden, gerieten wir in die Gefangenschaft der Vampire. Bei der Gelegenheit lernte ich Anne Marie kennen. Sie verliebte sich dann auch noch in mich. Da ich aber ...“

„Ja?“, fragt Katharina, als ich nicht fortfahre.

Ich sehe sie an.

„Oh.“

„Kann mir das mal jemand erklären?“, erkundigt sich Sarah jammernd.

„Das war zu der Zeit, als Katharina und ich keinen Kontakt hatten“, erwidere ich.

„Ja, und?“

„Fiona will sagen, dass ich nach unserem ersten Abenteuer in der Verborgenen Welt vor vier Jahren vor ihr geflohen bin. Sie war verheiratet, ich war verheiratet, außerdem hatte ich Angst vor den Komplikationen. Und wie ich inzwischen weiß, hat Fiona ziemlich darunter gelitten.“

„Vier Jahre lang?“

„Ja“, antworte ich leise.

Katharina packt meinen Kopf, dreht mein Gesicht in ihre Richtung und küsst mich wild. Als sie sich von mir löst, ist ihr Gesicht tränenüberströmt.

„Soll ich euch alleinlassen?“, fragt Sarah.

„Wir werden bestimmt nicht hier Sex haben“, erwidere ich, obwohl ich spüre, dass mein Körper durchaus nichts dagegen hätte. Und ich ertappe mich dabei, dass ich mir vorstelle, wie Sarahs Kuss wohl schmecken würde. Der Anblick ihres prallen Busens im Bikini hat mich anscheinend vollends um den Verstand gebracht.

„Schade, aber verständlich.“

Wir starren sie an.

„Ich bin anders aufgewachsen. Ich war eine Prinzessin und nahm mir halt, was ich haben wollte. Ich glaube, es gibt keine Ecke des Schlosses, in der ich es nicht mit Thomas oder Lanaya getrieben hätte.“

„Wer ist Lanaya?“

„Sie … sie gehörte zu unserer Clique. Und gehörte zu denen, die gehängt wurden.“ Sarah starrt kurz ins Leere, dann hebt sie den Kopf und lächelt etwas gezwungen.

„Tut mir leid. Aber das klingt, als würdest du dich auch nicht festlegen wollen, zu welchem Geschlecht du dich hingezogen fühlst.“

„Ganz sicher nicht. Allerdings, seitdem ich das mit dem Missbrauch wieder weiß, seitdem waren es fast nur Frauen. Schwänze lösten eine Zeitlang eine allergische Reaktion bei mir aus. Was bisschen seltsam ist, denn meine Mutter hat auch fleißig mitgemacht.“

„Scheiße“, sage ich und muss an die Opfer meines Onkels denken. „Verdammte Scheiße.“

„Tja, es ist vorbei, beide tot.“

„Ich denke lieber gar nicht darüber nach, was ich in dieser Hinsicht in 400 Jahren alles erlebt oder gehört habe“, bemerkt Katharina. „Wenn es eine Therapie für Dämonen gebe, wäre ich da wohl Dauerabonnent.“

„Wie ist es eigentlich mit Emily weitergegangen?“, fragt Sarah.

„Michael und Nasnat haben mich befreit, da habe ich zum ersten Mal den Trick mit den Feuerbällen gesehen. Dabei wurde ihr bewusst, dass Nasnat und David etwas miteinander zu tun haben und ist ausgerastet, weswegen wir sie gegen meinen Widerstand zurückließen. Sie hat dann mit den Vampiren zusammen das Haus von Nasnat überfallen, sodass Nasnat schließlich eine Visz-Bombe gezündet hat. Wir haben gedacht, Emily wäre tot, aber sie hat überlebt und ich traf sie zufällig einige Monate später. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren. Vermutlich war sie bei der Explosion weggeschleudert worden. Sie hatte sich zur Chefin eines Bordells hochgearbeitet und plante eine ganz wirre Revolution der Frauen, indem sie die Kunden erpresste. Wir haben dann die Inneneinrichtung etwas demoliert, aber danach konnte sie sich wieder erinnern und kam allmählich zur Besinnung und beruhigte sich auch. So sehr schließlich, dass sie darauf verzichtete, David finden zu wollen. Den Spiegel hatte da schon Nasnat. Wir haben ihn überredet, ihn wieder den Liliths zu überlassen. Emily und ich brachten ihn gemeinsam nach Augle. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob er nicht besser bei Nasnat und seiner Gilde aufgehoben gewesen wäre.“

„Was für einer Gilde?“

Fiona - Sterben

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