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BERATER BERATEN BERATER: EINE WELT VOLLER EXPERTEN


Stanford University 1998. Zwei Studenten gründen ein Unternehmen. Ihr Produkt: eine Software, mit der sich Geld zwischen den ersten Smartphones überweisen lässt. Sie sind damit so erfolgreich, dass sich ihr Unternehmen zu einem Spezialisten für Online-Bezahlsysteme entwickelt. Es fusioniert mit einem weiteren Anbieter für Payment-Lösungen. In den Jahren des Aufbaus wächst ein Netzwerk aus kreativen und intelligenten Menschen, die sich aus Vorlesungen und Wohngemeinschaften kennen und nun zusammen arbeiten. Sie entwickeln gemeinsam eine ganz eigene Art der Gemeinschaft, des Miteinanders, der Verschworenheit. Sie sind Investoren des neugegründeten Unternehmens, Executive Vice President, Designer, Ingenieur, Chief Operating Officer, Marketingdirektor, Finanzchef und Vice President Engineering. Nur vier Jahre später bringen die Gründer das Unternehmen an die Börse – und Ebay kauft es für 1,5 Milliarden Dollar. Seine Gründer und die Mitarbeiter der Anfangszeit sind nun reich – und steigen nach und nach aus dem Geschäft aus. Sie gründen andere Unternehmen wie LinkedIn, Youtube, Eventbrite, Yelp, Tesla Motors. Sie bleiben sich innerhalb ihres Netzwerks verbunden, sitzen in den jeweiligen Verwaltungs- und Aufsichtsräten, bringen sich als Investoren ein. Sie sind so erfolgreich, dass sie ihre Start-ups für Milliardenbeträge an die Tech-Giganten des Silicon Valley verkaufen können: Microsoft, Google, Facebook – nur um sich weiteren neuen Ideen, Projekten, Firmen zu widmen, die sie zum Teil gemeinsam gründen, fördern, nach oben bringen.

Sie ahnen wahrscheinlich schon längst, welches Netzwerk ich hier beschreibe – es ist die „Paypal-Mafia“. Entstanden aus der Keimzelle der Paypal-Gründer Peter Thiel, Max Levchin, Elon Musk und wichtigen Mitarbeitern der Anfangsjahre bei Paypal, wird dieses Netzwerk gerne als Parallel-Universum und Gelddruckmaschine bezeichnet. Sicherlich gehören ihm die klügsten Denker und erfolgreichsten Unternehmer des Silicon Valley an: Jeder für sich ist genial, alleine waren sie nichts, zusammen sind sie alles. Ein Netzwerk aus Experten, die sich gegenseitig beflügeln, unterstützen und fördern. An der ersten Hollywood-Produktion, die uns die Figuren, die Geschichten und die Glorie, aber auch die Intrigen und Grabenkämpfe hinter den Kulissen zeigt, wird bestimmt schon geschrieben – aber bis dahin nehme ich die Paypal-Mafia gerne als Beispiel für ein Experten-Netzwerk der Superlative!

FROM PICKS TO BRICKS TO CLICKS


Der Erfolg der Experten-Netzwerke – er wäre nicht denkbar ohne den Faktor Wissen. Er ist der wichtigste Produktionsfaktor unserer Arbeitswelt, und für die Zukunft wird der „Wissensarbeit“ sogar ein weiterer steiler Aufstieg vorausgesagt. Das war nicht immer so. From picks to bricks to clicks – unser Zusammenleben hat sich von der Agrargesellschaft über die Industriegesellschaft bis zur Wissensgesellschaft entwickelt. In der Agrargesellschaft bildeten Werkzeuge die Grundlage allen Tuns (picks). In der Industriegesellschaft waren es die Fabriken und Industriebauten aus Backstein (bricks). Und in der heutigen digitalen Welt wird alles per Mausklick gesteuert (clicks). Waren in der Agrargesellschaft der Grund und Boden sowie die harte körperliche Arbeit der Menschen die entscheidenden Produktionsfaktoren, so wurden es in der Industriegesellschaft das Kapital, die Maschinen und die hohe Anzahl von Menschen. Heute ist es das Wissen. Es ist der wichtigste Produktionsfaktor der digitalisierten Welt. Um 1850 arbeiteten 70 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft, 20 Prozent in der Industrie und 10 Prozent im Bereich der Dienstleistungen – so eine Statistik des französischen Ökonomen Jean Fourastié. Er prognostizierte für das Jahr 2050, dass sich dieses Verhältnis umgekehrt haben würde: 70 Prozent der Menschen sollten dann im Dienstleistungsbereich arbeiten, 20 Prozent in der Industrie und 10 Prozent in der Landwirtschaft. Bereits heute sieht die Situation deutlich anders aus als vorhergesagt: 75 Prozent der Menschen arbeiten in der Dienstleistung, nur noch 1,8 Prozent in der Landwirtschaft. Irgendwo dazwischen liegt der Anteil der Menschen, die in der Industrie arbeiten. Die Prognose von Fourastié wurde also mehrere Dekaden früher erfüllt.

Die Entwicklung unserer Gesellschaft von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft hat ganz unterschiedliche Konsequenzen nach sich gezogen. So hat sich unser Wissen exponentiell vermehrt – und es geht immer so weiter. Derzeit verdoppelt es sich ungefähr alle drei bis sieben Jahre. Dafür gibt es mehrere Indikatoren. 1963 quantifizierte der Professor für Wissenschaftsgeschichte und Mitbegründer der Szientometrie, Derek John de Solla Price, das Wissen unserer Gesellschaft anhand der Anzahl der wissenschaftlichen Originalpublikationen. Damals verdoppelte sich das Wissen noch alle 15 Jahre. Mittlerweile sind etliche andere Indikatoren gebräuchlich, um das Wissen der Menschheit zu ‚vermessen‘: die Anzahl der Patente und Erfindungen, der Informationsgehalt des Internets, die Kapazität von Speichermedien, die Anzahl der Beschäftigten mit wissenschaftlich-technologischer Ausbildung und viele mehr.

Alles zusammengenommen lässt sich klar feststellen: Wissen ist in der modernen westlichen Welt der Produktionsfaktor Nummer eins. Doch so sehr wir uns auch bemühen und so leicht uns Algorithmen das Vermessen von Klicks vermeintlich machen: Was wir heute als „Wissen“ bezeichnen, ist wesentlich schwerer zu quantifizieren und vor allem viel schwerer in seiner Substanz zu bewerten als Ziegel und Werkzeuge. Und vor allem: Das sogenannte „kollektive Wissen“ hat als wissenschaftliche Größe immer einen gewissen Beigeschmack. Denn kein Mensch kann sein eigenes Wissen exponentiell vervielfältigen, geschweige denn alles wissen. Solange wir nicht alle eine LAN-Klinke im Hinterkopf haben wie Neo in „Matrix“, ist vorhandenes Wissen noch längst nicht gleichwertig mit individuell verfügbarem Wissen.

Bleibt die Frage: Wie viel ist unser Wissen tatsächlich wert, und: Wie schlau sind wir, als Einzelner, denn eigentlich wirklich?

KEINER KANN ALLES WISSEN


Aus der Übermacht des Wissens als Produktionsfaktor der modernen Welt ergeben sich verschiedene Informationsasymmetrien. Zunächst in der Beziehung zwischen Leistungsanbietern und ihren Kunden: Anbieter und Dienstleister wissen deutlich mehr als die Kunden. Sie sind die Experten, egal, ob es sich um Versicherungsverträge, Finanzprodukte oder andere wissensbasierte Produkte oder komplexe Themen handelt. Der Dienstleister ist der Spezialist. Das bedeutet zunächst: Eine Geschäftsbeziehung kommt nur zustande, wenn die Kunden den Anbietern vertrauen – und sich in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben. Durch die Wissensexplosion betrifft diese Asymmetrie des Wissens aber nicht mehr nur die Beziehung zwischen Anbietern und Kunden, sondern auch die Beziehungen zwischen Anbietern und Anbietern. Denn mit dem Wissen haben sich auch die Anwendungsgebiete des Wissens vervielfacht – und die Notwendigkeit, je nach Tätigkeit und gesellschaftlicher Position auf viel mehr Wissen zuzugreifen. Ein Beispiel: Früher musste ein Handwerker in seinem Fach gut sein – der Rest war Mundpropaganda und Bedarf. Heute muss sich ein Handwerker auch in vielfältigen wirtschaftlichen Belangen auskennen und sich gegen gestiegene (internationale) Konkurrenz positionieren. Außerdem muss er verkäuferisches Talent haben, um sich im Wettbewerb durchzusetzen. Am besten betreibt er sogar einen themenverwandten Online-Shop oder bietet mindestens einen elektronischen Terminbuchungsservice an. Selbst Markenkommunikation ist ihm im Idealfall nicht fremd. Und Social-Media-Experte sollte er natürlich auch sein, sowieso, ist ja klar.

Wer ist in so vielen Gebieten Experte? Welcher Handwerker ist nebenbei Verkaufs-, Marketing- und Social-Media-Profi? Genau: So ungefähr keiner. Der Markt verlangt das aber, wenn er auf seinem Gebiet was gelten will. Folge: Der Handwerker muss irgendwie das Wissen anderer anzapfen. Und so geht es beileibe nicht nur unserem Handwerker, sondern – uns allen. Mehr oder weniger. Die Wissensgesellschaft macht vor allem eines sehr deutlich: die individuellen Wissensmängel. Was wir als Einzelne wissen, bemisst sich am Ende ja nicht an der Menge von Informationen in unserem Kopf – sondern im Verhältnis zu allem Wissen, das wir kollektiv als Menschheit angehäuft haben. Ob der Einzelne in dieser Gleichung heute wirklich besser dasteht als vor 100 Jahren?

Das Dilemma des Handwerkers trifft jeden, der wirtschaftet. Die Komplexität des B2B-Wissensmarkts wächst und wächst deshalb. Je größer das Unternehmen, desto größer die Notwendigkeit des Wissenstransfers von Anbieter zu Anbieter. So haben Projektorganisationen in großen Unternehmen eigene Anwälte, die sich auf die spezifischen Belange der jeweiligen Industrie spezialisiert haben. Die Anwälte aus der „normalen“ Rechtsabteilung des Unternehmens können das dafür notwendige Wissen oft nicht mehr bieten – sie sind nicht „spezialisiert“ genug. (Wären sie es, würden sie ihre Kompetenz höchstwahrscheinlich als selbstständige Spezial-Anwälte teuer verkaufen …) IT-Abteilungen brauchen Experten für Data Mining, die wissen, wie man aus den gesammelten Daten verwertbare Informationen macht. Manager brauchen Experten, die ihnen sagen, ob die Strategie, die sie sich ausgedacht haben, auch technisch möglich und rechtlich erlaubt ist.

In meinem eigenen Fachgebiet, dem Gesundheitswesen, sind die „Onko-Boards“ ein typisches Beispiel. Diese Onko-Boards gibt es in den meisten Kliniken, in denen Krebspatienten behandelt werden. Bei diesen Meetings treffen sich beispielsweise Chirurg, Onkologe, Strahlentherapeut, Psychoonkologe und weitere Experten und beraten gemeinsam, wie ein bestimmter Patient zu behandeln ist. Fachübergreifend. Denn komplexe Themen lassen sich heute nur noch lösen, wenn sich verschiedene Experten untereinander abstimmen. Experten haben zwar ein enormes Wissen in ihrem Segment – aber weil sich Wissen so stark vermehrt hat und sich immer weiter vermehrt, können sie nicht mehr im Detail wissen, was in den Segmenten der anderen Experten gerade tagesaktuell stattfindet. Ein Chirurg beispielsweise kennt die neuesten OP-Methoden. Er weiß aber nicht im Detail, was sich im Bereich der Chemotherapien tut. Er hat auch keine Kapazitäten mehr, um sich in diesem Gebiet – und all den Hunderten anderen medizinischen Spezialgebieten – auf dem jeweils neuesten Stand zu halten. Das heißt: Je mehr er sich in sein Gebiet vertieft, desto mehr muss er darauf verzichten, Know-how in anderen Bereichen aufzubauen. Damit beispielsweise eine Klinik Patienten erfolgreich behandeln kann, sind ihre Experten darauf angewiesen, ihr Wissen untereinander zu teilen und gemeinsam über die Behandlung des Patienten zu entscheiden. Je komplexer das Krankheitsbild, desto mehr. In dieser Hinsicht sind sie voneinander abhängig.

Bei den Onko-Boards und jedem anderen professionellen Wissenstransfer geht es um das Teilen von Wissen – aber es geht hier auch um Vertrauen. Ein Experte muss darauf vertrauen, dass die anderen Experten sich ebenfalls mit einbringen, um ein Problem möglichst gut zu lösen. Und er muss auch darauf vertrauen, dass alle anderen, die sich Experten nennen, auch wirklich auf dem neuesten Stand des Wissens in ihrem Teilgebiet sind. Überprüfen kann er das nämlich nicht. Dazu müsste er Experte auf deren Gebiet sein.

So entsteht also eine Wissensasymmetrie. Nicht nur zwischen Kunde und Dienstleister bzw. Leistungsanbieter, sondern auch zwischen Dienstleister und Dienstleister, zwischen Experte und Experte. Aus der Perspektive der industrialisieren Welt von vor 100 Jahren ist das bei genauer Betrachtung schon ein bisschen verrückt. Damals gab es Produzenten und Händler und Konsumenten. Heute gibt es so viele Abstufungen von Experten, dass viele Eltern – geschweige denn Großeltern – nicht mehr wirklich verstehen, was ihre Kinder und Enkel beruflich eigentlich wirklich tun.

Die Wissensasymmetrien haben die Welt ganz schön kompliziert gemacht. Und jeden einzelnen ganz schön abhängig von der Expertise anderer. Gut für die Experten. Gut für uns Faker.

DIE WISSENSEXPLOSION FÜHRT ZU EINER EXPERTENEXPLOSION


Halten wir fest: Wissen vervielfältigt sich. Jeden einzelnen Tag. Es explodiert. Deshalb braucht es Menschen, die sich in den einzelnen Fachgebieten auskennen. Experten. Die Zeit der Allrounder, der Generalisten ist vorbei. Genauso wie die Zeit der Egomanen und Einzelentscheider.

Als Experte und Individuum muss ich mich nun fragen: Wie gehe ich mit der Asymmetrie um? Wie nutze ich sie für mich? Es gibt darauf nur eine Antwort: Andere müssen mich sehen. Ganz entscheidend dabei: Nicht nur Kunden müssen mich sehen, sondern auch Kollegen. Andere Experten. Andere Berater. Denn Berater beraten Berater. Sichtbar werden ist deshalb ein entscheidendes Thema. Ich muss mich als Experte deutlich positionieren und dafür sorgen, dass mich sowohl meine Kunden als auch die anderen Experten als den Experten wahrnehmen und sehen, der ich bin oder der ich sein möchte und deshalb schon jetzt vorgebe zu sein – denn das ist ja die Idee des Fakes. Der Fake braucht die anderen. Die Nachfrager und die anderen Experten. Kunden und Kollegen. Schließlich brauchen wir Abnehmer für unsere Expertise. Aus dieser schlichten Erkenntnis ist die Kultur des Fakes geboren. Sie ist ganz einfach eine Notwendigkeit.

Die logische Folge: Die Wissens- und Informationsexplosion führt letztendlich auch zu einer Expertenexplosion. Es gibt täglich mehr. Es entsteht so etwas wie ein Wissensteppich. Was wiederum dazu führt, dass wir auch Experten dafür brauchen, wie man sich als Experte sichtbar macht. Die Themen Positionierung und Personal Branding explodieren gefühlt mindestens in ähnlichem Ausmaß wie das verfügbare Wissen. Alle Menschen, die etwas davon verstehen – die Experten –, empfehlen deshalb, sich mit seinem Dienstleistungsangebot auf eine Nische zu spezialisieren. Spezialisierung als Bewältigungsstrategie für Komplexität. Heute soll man sich auf ein Wissensfeld konzentrieren, je kleiner, desto besser. Brücken hinter sich abreißen, sich voll und ganz auf ein Thema, einen Bereich, einen Aspekt konzentrieren. Das ist der Königsweg. Ich denke: Damit liegen die Experten goldrichtig. Auch wenn ich mich selbst für einen etwas anderen Weg entschieden habe. Aber dazu gleich mehr.

Sich auf eine Nische zu spezialisieren, ist deshalb der richtige Weg, weil ihn trotz allem unter dem Strich doch eher wenige gehen. Denn: Die wenigsten Menschen bringen es übers Herz, das eigene Können und das eigene Wissen und die eigenen Potenziale auf die Nische zu reduzieren. Sich von Dingen und Wissen zu verabschieden, die sie im Lauf ihres Berufslebens angehäuft haben – das zwar oft nicht mehr aktuell und relevant ist, an dem sie aber wehleidig hängen.

Ich kenne eine Projektmanagerin, die schon seit zwanzig Jahren sehr erfolgreich in ihrem Beruf arbeitet, schon viel gemacht und ganz verschiedene Themen bearbeitet hat. Immer wenn sie ihre Website überarbeitet und sich im Zuge dessen mit ihrer eigenen Positionierung beschäftigt, ist sie wild entschlossen, sich nur auf das Thema Change Management zu spezialisieren. Wenn sie mir dann jedoch nach getaner Arbeit stolz ihre überarbeitete Website präsentiert, sehe ich darauf nicht nur ihr Spezialgebiet Change Management, sondern immer auch noch mindestens vier andere. Wenn ich sie dann damit ein bisschen necke, sagt sie regelmäßig: „Ja, aber ich kann halt auch Kundenorientierung, und Prozesse auch, das war das Thema meiner Doktorarbeit, das kann ich doch nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen! Und überhaupt: Wenn ein neuer Kunde nach einer Projektmanagerin sucht, die Change Management kann, und dann feststellt, dass ich auch noch gut in Kundenorientierung und Prozessen bin, kann das doch nur von Vorteil sein, oder?“

In solchen Gesprächen stelle ich immer wieder fest: Sich von dem zu trennen, was man sich einmal intensiv angeeignet hat, fällt den Menschen schwer. Unerträglich schwer. Damals, als wir uns nur zwischen Jagen und Sammeln entscheiden mussten, war das Leben des Berufstätigen doch um einiges einfacher.

FREUNDE NEHMEN DEN HINTEREINGANG


Die Kunst besteht darin, sich zwar mit einem speziellen Nischenthema zu positionieren, aber diesen Begriff gleichzeitig so zu wählen, dass er noch Spielräume offen lässt. Und diesen Spielraum dann auch noch zu schärfen. Ein Beispiel: Nehmen wir einmal an, Sie überlegen, ob Sie sich als Kommunikationsexperte oder als NLP-Experte positionieren. Auf den ersten Blick scheint die Antwort auf diese Frage eindeutig: Kommunikationsexperte ist viel zu breit und unspezifisch, deshalb kommt nur der NLP-Experte in Frage. Richtig? Falsch! Ich würde mich niemals als NLP-Experte positionieren, denn NLP ist lediglich ein Werkzeug, ein Tool unter vielen. Hier gilt es zu überlegen, wie man das übergeordnete Thema Kommunikation noch weiter spezifizieren kann.

Die Frage stellt sich heute in jeder Branche: Bin ich Anbieter von Schlüssel und Schloss, oder bin ich Experte für Zutrittssysteme? Bin ich ein Schottertransportdienst oder Experte für Schüttgutlogistik? Ich weiß: Leicht ist das nicht. Vor allem die Suche nach dem richtigen Überbegriff!

Mit meiner eigenen Positionierung bin ich deshalb einen anderen Weg gegangen. Dabei habe auch ich mich von einem Coach unterstützen lassen – eine sehr wertvolle Hilfe. Als ich mit dem Coaching begann, stellte ich mich ihm als Experte für Expertenorganisationen vor. Damals war ich mir sicher, damit ins Schwarze getroffen zu haben. Ich beriet Krankenhäuser, und was war denn ein Krankenhaus anderes als ein System, eine Organisation voller Experten? Und ich war derjenige, der sich mit diesem System bestens auskannte und es dabei beriet, noch besser zu werden. Experte für Expertenorganisationen also. Großartig!

Mein Coach zeigte sich davon allerdings nur leidlich beeindruckt. „Was ist denn eine Expertenorganisation?“, fragte er mich als Erstes, „Noch nie gehört. Ich kann mir genau gar nichts darunter vorstellen.“ Mein Gesicht hätte ich in diesem Moment gerne selbst sehen wollen.

Nun gut. War ich eben nicht mehr Experte für Expertenorganisationen. Wir haben dann gemeinsam viel hin und her überlegt und letztendlich kam ich zu dem Schluss, mich auf meiner Website als „Stratege und Speaker“ vorzustellen. Ich weiß: Das ist sehr weit gefasst. Und Sie könnten jetzt sicherlich sagen: Ah, der Zulehner. Da hat er selber Schwierigkeiten gehabt, auf den Punkt zu bringen, was er für ein Experte ist. Mag sein. Ich habe auf dem Weg zu dieser Positionierung jedoch festgestellt: Ich bin ja kein Berufsanfänger, der sich erst noch einen Ruf aufbauen muss. Vor allem habe ich gelernt, sehr genau zu unterscheiden, was ich kommuniziere und was ich tatsächlich tue.

Es ist nämlich so, und zwar nicht nur bei mir: Den größten Teil meines Einkommens verdiene ich nach wie vor als Berater im Gesundheitswesen. Und das wird vielleicht auch weiterhin so bleiben. Auf meiner Website ist das allerdings nicht ersichtlich. Dort steht, dass ich Stratege und Speaker bin. Und jetzt kommen wir auf das Wesen des Fakes zurück: Ich habe keine Ahnung, ob ich das tatsächlich bin. Aber das ist die Richtung, in die ich mich entwickeln will. Das ist der Fake. Ich gebe vor, etwas zu sein, obwohl ich es noch nicht wirklich bin – aber indem ich es öffentlich mache, verspreche ich mir selbst und dem Markt, dass ich es sein werde. Viele wollen das nicht „Fake“ nennen, weil sie sagen: Das klingt unaufrichtig. Stattdessen nennen sie es „Positionierung“. Ist das aufrichtiger?

Übrigens: Nicht lange, nachdem ich meine Website veröffentlicht hatte, wurde ich darüber tatsächlich als Speaker gebucht – beim Europäischen Forum Alpbach Pflege. Und das ist ja nun nicht nichts. Das Forum Alpbach ist seit 1945 eine international bedeutsame Plattform, auf der Referenten und Teilnehmer aus allen Teilen der Welt, aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammenkommen, um aktuelle Fragen der Zeit zu diskutieren und interdisziplinäre Lösungsansätze zu finden. Dort habe ich zum Thema „Ko-Kompetenz. Die Zukunft der Zusammenarbeit“ gesprochen. Ich wage mal zu behaupten, dass diese Buchung ausgeblieben wäre, wenn ich mich auf meiner Website als „Berater im Gesundheitswesen“ vermarktet hätte.

Ich denke, dass jeder Experte diese Entscheidung treffen muss: Was kommuniziert er nach außen, und was tut er tatsächlich? Er sollte Brücken abbrennen, wenn es um die Kommunikation geht, aber nicht wenn es um den Broterwerb geht. Gefährden Sie Ihre Existenzgrundlage nicht radikal!

Stellen Sie sich einfach ein Haus vor – mit einem repräsentativen Vordereingang und einem unspektakulären Hintereingang. Zum Vordereingang gehen alle diejenigen hinein, die Sie offiziell und zu einem bestimmten Termin eingeladen haben. Den Hintereingang benutzen Ihre Freunde – sie wissen vielleicht noch nicht mal, wie repräsentativ Ihr Vordereingang aussieht, aber das ist ihnen auch egal. Sie wissen genau, was sie von Ihnen erwarten dürfen und wie Sie in Jogginghosen aussehen. Genauso sollten Sie auch Ihre Positionierung betrachten: Sie haben einen repräsentativen „Vordereingang“ mit einem glänzend polierten Firmenschild – dort gehen die Menschen hinein, die Sie noch nicht kennen. Ihre Kunden werden genau das von Ihnen haben oder wissen wollen, was Sie auf Ihrem Schild anbieten. Und das ist, bis zu einem gewissen Grad, Fake. Den Hintereingang benutzen Ihre „Freunde“, sprich: Menschen, die schon seit Jahren mit Ihnen zusammenarbeiten, die genau wissen, was sie von Ihnen wollen und denen es egal ist, ob das nun auch zu Ihrem offiziellen Portfolio gehört oder nicht.

Und wenn Sie jetzt sagen: Ja Moment mal, auf dem Türschild meines Hausarzts steht „Facharzt für Allgemeinmedizin“, und da weiß ich, was ich bekomme – das ist doch wohl kein Fake! Dann denken Sie an den Wissenstransfer in der modernen Medizin, den ich oben beschrieben habe, und dessen Notwendigkeit, und überlegen Sie noch einmal: Auch dieses Schild enthält einen guten Teil Fake.

DAS UNSICHTBARE SICHTBAR MACHEN: DER FAKE ALS ORIENTIERUNGSHILFE


Es gibt also immer mehr Experten, und Experten müssen sich deutlich gegenüber Kunden und Kollegen positionieren, wenn sie sichtbar sein wollen. Inwieweit sind diese beiden Faktoren nun Markttreiber? Welche Prozesse stecken dahinter? Und wer auf dem Markt hat etwas davon?

Zunächst einmal gibt es hier zwei Märkte – den Markt im Sinne der Anbieter und den Markt im Sinne der Kunden, die beim Anbieter Produkte und Dienstleistungen kaufen. Der Kunde profitiert davon, wenn es Experten gibt und diese sich deutlich sichtbar positionieren: Er bekommt Orientierung, Transparenz und Überblick. Er erfährt schnell, welche Experten es zu dem Thema gibt, für das er sich interessiert, und was diese Experten ihm anbieten beziehungsweise was sie können. Er bekommt sein Problem zügig gelöst.

Aber auch der Experte kann sich schnell Orientierung verschaffen – nämlich darüber, wer auf demselben Gebiet Experte ist wie er selbst und wer das eigene Wissensfeld ergänzt, sprich: mit wem er als Experte zusammenarbeiten möchte und gegenüber wem er sich stärker abheben muss.

Das Mittel zu diesem Zweck ist wieder: der Fake. Er dient dem Experten dazu, sich seinen Kunden auch dann schnell sichtbar zu machen, wenn er noch ganz am Anfang seiner Karriere steht. Er hilft ihm außerdem dabei, sich von den Experten mit ähnlichem Spezialgebiet abzugrenzen und Kontakt zu denjenigen herzustellen, die sein eigenes Wissen sinnvoll ergänzen.

Vom Fake haben also beide Seiten etwas – Anbieter und Markt. Beide verschaffen sich Orientierung, Markttransparenz und Sichtbarkeit. Was im Ergebnis bedeutet: schnelle Problemlösungen. Und gerade Letzteres ist wichtig – angesichts der immer noch stattfindenden Wissensexplosion. Beim Fake geht es um zielgerichtete Kommunikation. Wenn ich richtig fake, werde ich gefunden, wenn nach mir gesucht wird. Gleichzeitig mache ich dem Abnehmer das Leben leichter, wenn ich für ein ganz bestimmtes Thema stehe und er nicht lange nach mir suchen muss. Alles ist eindeutig. Oder kämen Sie auf die Idee, für ein Candlelight-Dinner zu McDonalds zu gehen? Sehen Sie. Das ist der Vorteil einer eindeutigen Positionierung.

Dieses Sich-sichtbar-machen, die Positionierung unter Zuhilfenahme des Fakes, ist nicht nur für Selbstständige und Freiberufler wichtig. Menschen, die in Unternehmen angestellt sind, profitieren genauso davon. Auch sie wollen gesehen werden – von Vorgesetzten, Führungskräften, Kollegen, Kunden. Auch sie können ihre Expertise – also das Spezialgebiet, in dem sie sich profilieren wollen – durch den Fake aktiv beeinflussen. Sich die eigene Expertise bewusst zu machen und sinnvoll zu steuern, zu reflektieren und sich damit intensiv auseinanderzusetzen, sehr gezielt Energie zu investieren, um sich zu dem zu entwickeln, der man sein möchte – all diese gezielte Filterarbeit gegenüber dem vorhandenen und verfügbaren Wissen, die kein Abnehmer mehr ohne Hilfe der Anbieter bewältigen kann, gehört zur Kunst des Fakes. Wie Sie das konkret bewerkstelligen – dazu mehr im nächsten Kapitel.

DYNAMISCHER WISSENSTEPPICH


Wir haben schon festgestellt: Durch die Wissensexplosion entsteht gleichzeitig eine Expertenexplosion. Experten, wohin man schaut. Ein eng geknüpftes Netzwerk – so eng, dass man die Maschen mit bloßem Auge gar nicht mehr wahrnehmen kann. Mehr noch: Dieser Wissensteppich, das viele Wissen, ist nicht statisch. Es unterliegt einer unglaublichen Dynamik.

Dieser Dynamik hecheln wir als Experten hinterher. Wir müssen uns in dieser Flut von Information und Desinformation, unvorhergesehener Ereignisse und sich allmählich vollziehender Entwicklungen permanent neu verorten. Aus ihrem Expertenfeld andere, neue Felder machen, die besser zum Zeitgeist passen. Andere Akzente setzen, um in einer Welt voller Experten weiterhin wahrgenommen zu werden. Sich von einem Religionsexperten zu einem Nahostexperten zu einem IS-Experten entwickeln – um es mal an einem Beispiel festzumachen. Vor ein paar wenigen Jahren gab es noch keinen IS, aber nun gibt es ihn, und so ein Experte für Religionen des Nahen Ostens kann sich nicht auf seiner Expertise ausruhen, die er sich vor zwanzig Jahren einmal zugelegt hat. Als ich begonnen habe, als Berater im Gesundheitswesen zu arbeiten, war ich Experte für Prozesse. Danach kräht heute kein Hahn mehr. Später war ich Experte für Betriebsorganisation. Heute bin ich Experte für Strategie. Das Wissen dieser Welt verändert sich täglich, und die Experten müssen sich dieser Dynamik laufend anpassen, wenn sie noch etwas zu melden haben wollen. Oft auch dann, wenn die Veränderung sich weitgehend auf die Begrifflichkeit beschränkt. Denn eigentlich kann ein Experte für die Religionen des Nahen Ostens sicher sehr viel dazu sagen, wer der IS ist, was er will und wie es dazu kommen konnte. Nur will das eben niemand von ihm wissen, wenn er sich nicht eindeutig als IS-Experte ausweist.

Die Dynamik des Wissensteppichs ergibt sich aber nicht nur durch die Wissensexplosion – sie entsteht auch dadurch, dass sich für etliche Themen und Wissensgebiete einfach zu viele Experten am Markt tummeln. Das führt zu einer Experteninflation. Die Experten auf einem solchen Gebiet können sich dann nicht mehr so sichtbar machen, wie es für sie erforderlich ist, und müssen nach neuen Mitteln und Wegen suchen. Manchmal finden sie nur neue Namen für das, was sie sowieso schon immer getan haben – aber manchmal müssen sie sich komplett neu erfinden und ihre Expertise so verpacken, dass sie wieder marktkompatibel ist. Auch das funktioniert am besten mit der Methode des Fakes.

„Marktkompatibel“ heißt in diesem Fall, vom Markt wahrgenommen werden – denn darum geht es ja bei der bewussten Inszenierung des Fakes: sich im Markt mit einer bestimmten Expertise, einem bestimmten Angebot sichtbar zu machen. Dabei muss man sich eines immer vor Augen halten: „Der Markt“ ist ein sehr kapriziöses Wesen. Seine Aufmerksamkeitsmechanismen sind launisch und unkalkulierbar.

Warum wurde beispielsweise Paypal, die Experten-Mafia, weltweit so erfolgreich, dass sie es sogar an den Anfang dieses Kapitels geschafft hat? Das amerikanische Online-Bezahlsystem hatte bei seiner Einführung durchaus eine solide Existenzberechtigung in den USA – weil dort Überweisungen von einem Bundesstaat in den anderen verboten waren. Am deutschen Markt und vielen anderen hingegen gab es für das eigentliche Dienstleistungsmodell schon längst eine Lösung: den bargeldlosen Zahlungsverkehr über Lastschriftverfahren abzuwickeln, gehört seit vielen Jahren zum Standard. Trotzdem gelang es Paypal, sich über seine Positionierung – als „guter Freund“ für alle Bezahlsituationen – sehr erfolgreich auch auf dem deutschsprachigen Markt zu etablieren und zu behaupten. Es ist für uns eigentlich ein überflüssiges und ineffizientes System, das überdies völlig unnötig Intermediäre reich macht. Eigentlich. Wahrnehmung und Aufmerksamkeitsmechanismen des Marktes haben dafür gesorgt, dass es trotzdem funktioniert. Und wie.

Je stärker die „Attention Economy“ (Aufmerksamkeits-Wirtschaft) unseren Markt bestimmt, desto attraktiver muss sich ein Experte machen, um in der Expertenschwemme überhaupt noch die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen – selbst wenn andere Experten oder andere Lösungen substanziell betrachtet besser dafür in Frage kämen. Paypal hat das sehr gut gemacht. So gut, dass wir auch hierzulande ein System benutzen, das wir eigentlich gar nicht brauchen.

SPEZIALISIERUNG ALS ÜBERLEBENSSTRATEGIE


Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Wissens- und Informationsexplosion kann mich als Experten vernichten. Ich überlebe nur, wenn ich dem etwas entgegensetze. Also spezialisiere ich mich. Das ist meine Strategie, mit der ich der Wissensexplosion begegne. Schließlich habe ich existenzielle Bedürfnisse: Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen! Und auch psychisch und sozial als Marktteilnehmer überleben. Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust sind der ohnehin überforderten Seele nicht gerade zuträglich. Wenn ich also nicht verzweifeln und mich in dem oft genug undurchschaubaren und hyperdynamischen Wissensteppich als Experte und Dienstleister positionieren will, greife ich auf den Fake zurück. Gerade weil ich (noch) viel zu wenig weiß, tue ich so, als wüsste ich mehr. Ich suche meine Position auf dem Spielfeld. Und schaue in die Welt, als hätte ich immer noch einen Trumpf im Ärmel.

Übrigens: Es gibt noch einige wenige Positionen, die unter den vielen Experten und Dienstleistern nicht durchgängig besetzt sind – die der Meta-Berater. Ja, Sie haben richtig gelesen. Meta-Berater. Schließlich muss es ja noch jemanden geben, der das Wissen der ganzen Experten überschaut, zusammenbringt und in Richtung Ziel vorantreibt. Berater beraten Berater. In einer Welt voller Experten braucht es den Super-Experten. Auch der weiß natürlich nicht alles. Er weiß vielmehr besonders genau, was er nicht weiß und nicht wissen muss. Überschauen und wissen ist nicht dasselbe.

Was der Meta-Experte ganz genau weiß, ist, was er zu tun hat. Und Sie wissen das jetzt auch.

Make the Fake.

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