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VORWORT
ОглавлениеJ. M. Coetzee, einer der größten lebenden Philosophen unter den Romanschriftstellern und einer der fähigsten lebenden Romanschriftsteller unter den Philosophen, notierte in seinem Diary of a Bad Year (Vintage Books 2008; dt. Tagebuch eines schlimmen Jahres): „Die Frage, warum das Leben einem Wettrennen gleichen muss oder warum die nationalen Wirtschaften gegeneinander um die Wette rennen müssen, statt sich der Gesundheit zuliebe gemeinsam auf einen freundschaftlichen Lauf zu begeben, wird nicht aufgeworfen“ (S. 119). Und er fügt hinzu: „Aber ganz gewiss hat Gott nicht den Markt geschaffen – Gott oder der Geist der Geschichte. Und wenn wir Menschen ihn geschaffen haben, können wir ihn nicht abschaffen und in einer freundlicheren Form wiedererschaffen? Warum muss die Welt ein Amphitheater sein, in dem Gladiatoren auf Leben und Tod miteinander kämpfen, statt zum Beispiel ein geschäftiger kooperativer Bienenkorb oder Ameisenhügel?“ (S. 119) Einfache Worte, einfache Fragen, die nicht weniger gewichtig und überzeugend sind, nur weil es an einem mit akademischem Jargon angereicherten ausgeklügelten Argument fehlt, das sich am Geist der Märkte orientiert und Punkte zu machen sucht, statt an den gesunden Menschenverstand zu appellieren und die menschliche Vernunft aus ihrem Schlummer zu wecken und zum Handeln anzuspornen. Ja, warum? Man sollte Coetzees Frage im Gedächtnis behalten, wenn wir die gegenwärtige missliche Lage der Europäischen Union zu begreifen versuchen; wenn wir herauszufinden versuchen, wie es dazu kommen konnte, dass wir uns in ihr befinden, und welche Auswege es gibt, die nicht für immer verschlossen sind. Gegenwärtige Zwänge sind nur sedimentierte und versteinerte Überbleibsel gestriger Entscheidungen – ebenso wie die heutigen Entscheidungen die selbstverständlichen „Tatsachen“ in den entstehenden Realitäten von morgen erzeugen.
Die politischen Institutionen des zeitgenössischen Europa sind Palimpseste aus vielen Schichten. Die älteren Schichten sind, als sie mit neuen Farbschichten bedeckt wurden, nicht aufgelöst, geschweige denn ausgelöscht worden; sie können noch immer unter der dünnen neuen Schicht gelesen werden. Wie in allen Geschichten verschlingen sich auch in der Geschichte und Vorgeschichte der Europäischen Union Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufs Innigste, und entscheidende Brüche mit dem Vermächtnis der Vergangenheit, klare Schnitte und wirklich neue Anfänge sind schwer zu finden und noch schwerer zu deuten. Das Ergebnis erinnert eher an eine zufällig zusammengeschusterte, tumultuarische und anarchische Schmiererei als an eine durchdachte Komposition – und am allerwenigsten an eine Komposition mit einer geplanten und im Vorhinein festgelegten eigenen Logik. Es sieht aus wie ein zum Scheitern verurteilter Versuch, Harmonie aus Inkohärenz und Einstimmigkeit aus Unvereinbarkeit zu beschwören, nutzlos oder sogar regelrecht trügerisch, wenn man versucht, ihn als Straßenkarte für effektives Handeln zu entfalten.
Das moderne Kapitel von Europas Versuchen, zur Einheit zu gelangen, und wenn schon nicht zur Einheit, dann doch wenigstens zu einer friedlichen Koexistenz, folgte auf die bislang erfolgreichste und dauerhafteste Verwirklichung in Gestalt des Imperium Romanum – und nachdem der posthume Versuch seiner Wiedergeburt in dem Phantom des Heiligen Römischen Reichs auf den postreformatorischen religiösen Schlachtfeldern sein Ende gefunden hatte. Es begann im Jahre 1555 in Augsburg, wohin die herrschenden Dynastien der durch kriegführende religiöse Faktionen am schlimmsten verwüsteten Teile Europas ihre Generalbevollmächtigen gesandt hatten, um eine Waffenstillstandsformel zu diskutieren und wenn möglich zu unterschreiben, die imstande wäre, den ersten (wenngleich, wie sich herausstellen sollte, nicht letzten) Bruderkrieg der Europäer zu beenden. Die Formel – cuius regio, eius religio – wurde geprägt und bestätigt, aber es brauchte noch beinahe ein weiteres Jahrhundert an Morden, Brandschatzungen, Zerstörungen und Epidemien, bis der Waffenstillstand akzeptiert, beherzigt und in die Praxis umgesetzt wurde; bis 1648, als die Sprecher der Hauptgegner einmal mehr am Verhandlungstisch saßen, diesmal in Münster und Osnabrück, um zu einer Vereinbarung zu gelangen, die als „Westfälischer Friede“ in die Geschichte eingegangen ist.
Was diese Formel erreichen sollte, war das Recht des Herrschers, zu entscheiden, an welchen der wetteifernden Götter, die sich damals auf den entgegengesetzten Seiten der Frontlinie verschanzt hatten, seine oder ihre Untertanen glauben sollten – und im Namen welchen Gottes sie den Entscheidungen ihrer Herrscher gehorchen sollten. Aufgrund dieser Vollmacht sollte die Formel die Idee territorialer Souveränität inthronisieren: die Idee der innerhalb der Grenzen seines Reichs bindenden und unbestrittenen Rechte des Herrschers. In der Tat bedeutete die Souveränität dieser Formel, wie sie von Macchiavelli, Luther, Jean Bodin (in seiner 21 Jahre nach dem Vertrag von Augsburg veröffentlichten, außer-gewöhnlich einflussreichen Schrift De la Republique) oder Hobbes geltend gemacht wurde, das volle, uneingeschränkte Recht der Könige oder Fürsten, Gesetze zu verkünden und auszuführen, die für jeden bindend waren, der gerade das Territorium unter ihrer Herrschaft bewohnte (verschieden bezeichnet als Vorherrschaft, Oberhoheit oder Dominanz). Souveränität bedeutete höchste – durch äußeres Eingreifen uneingeschränkte und unteilbare – Autorität innerhalb eines Territoriums. Wie Macchiavelli argumentierte, und alle ihres Namens würdigen Politiker seitdem wiederholen sollten, bestand die einzige Verpflichtung des Fürsten in der raison d’état, – wobei sich état unweigerlich auf die in ihre Grenzen eingeschlossenen territorialen Gebilde bezog. Wie es die Stanford Encyclopedia of Philosophy ausdrückt: „Souveräne Autorität wird innerhalb der Grenzen ausgeübt, aber per definitionem auch mit Blick auf andere, die in die Regierung des Souveräns nicht eingreifen dürfen“ – wo mit „andere“ offensichtlich ebenfalls territorial fixierte Autoritäten gemeint sind, obgleich sie jenseits der Grenzen lokalisiert sind. Jeder Versuch, sich in die Ordnung der Dinge einzumischen, die vom Souverän auf dem Territorium seiner eigenen Herrschaft eingerichtet war, wurde dadurch als illegal, verdammungswürdig, als casus belli proklamiert; die Augsburger Formel kann als Gründungsakt des modernen Phänomens der staatlichen Souveränität gelesen werden – ebenso wie sie mit Recht als textliche Quelle des modernen Begriffs von Staatsgrenzen gelesen wird.
Und so verband sich mit dem Westfälischen Frieden noch ein selbstverständlicher, wenn auch nicht ausdrücklich formulierter Nebeneffekt: Statt sich in einen endlosen Krieg bis zur (gegenseitigen) Erschöpfung zu verwickeln, sollten Souveräne von jetzt an in einer solidarischen Verteidigung des unbestrittenen und unverletzlichen Prinzips der unbedingten Autorität vereint sein – unteilbar und unumstritten in ihrer territorialen Begrenzung.
Einmal der Praxis des Regierens einverleibt, erwies sich die Formel des Westfälischen Friedens als in einzigartiger Weise geeignet, die Bühne für das Nationenbildungs-Kapitel in der europäischen Geschichte vorzubereiten: Es bedurfte nur der Ersetzung von „religio“ durch „natio“ (eine rein terminologische Änderung, keine inhaltliche Operation), um sie als universales Ordnungsprinzip in dem langwierigen und dornigen Prozess der Europa-begeisterten und durch Europas Macht unterstützten Transformation der Welt zu entfalten. Diese Macht war unter den Sprösslingen der göttlich gesalbten Dynastien in einer Welt aufgeteilt, die in Staaten zerschnitten war, die ihre Legitimation und ebenso ihren Anspruch auf den Gehorsam ihrer Untertanen (das heißt der Bevölkerung, die innerhalb ihrer Grenzen durch den retrospektiv postulierten gemeinsamen Ursprung und jetzt ebenso durch die vom Staat unterstützte Gemeinsamkeit der Zukunft in eine einzige Nation integriert war) auf „nationales Interesse“ gründete. („Heutzutage“, konstatiert Benjamin Barber in seiner grundlegenden Studie unter dem provokativen Titel Wenn Bürgermeister die Welt regierten: Dysfunktionale Nationen, aufstrebende Städte, „nach einer langen Geschichte regionaler Erfolge, scheitert der Nationalstaat in globalem Maßstab. Er war das vollkommene politische Rezept für die Freiheit und Unabhängigkeit autonomer Völker und Nationen. Er ist äußerst ungeeignet für eine wechselseitige Abhängigkeit.“)
Die vom Westfälischen Frieden vorausgesetzte Idee territorialer Grenzen ist in der Folge, zusammen mit dem später hinzugefügten Nachtrag der natürlichen und/oder gottgesegneten Verbindung von Nation und Staat, von europäischen Konquistadoren in den Rest der Welt exportiert worden, nachdem sie in der Episode des europäischen Kolonialismus entfaltet und auf die überseeischen Außenposten der entstehenden und aufstrebenden Europa-zentrierten Reiche angewendet wurde wie ursprünglich auf ihre europäischen Metropolen. Als bleibende Spur des europäischen kolonialistischen Abenteuers bleibt die westfälische Formulierung in ihrer säkularisierten, gleichwohl in einigen Fällen auch ursprünglichen Fassung in unserer postkolonialen Ära in der Theorie, wenn nicht in der Feldpraxis ein unverletzliches, universal bindendes und selten, wenn überhaupt je explizit bestrittenes Organisationsprinzip des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde.
Der Haken dabei ist, dass sie auch kontrafaktisch ist, und zwar in steigendem Maße – da ihre Prämissen illusorisch, ihre Postulate unrealistisch und ihre pragmatischen Empfehlungen unerfüllbar sind. Im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts haben die Prozesse der Deregulierung, entstanden, gefördert und überwacht durch staatliche Regierungen, die sich freiwillig oder gezwungen der sogenannten „neoliberalen“ Revolution“ angeschlossen haben, zu einer wachsenden Trennung und steigenden Wahrscheinlichkeit einer Trennung von Macht (das heißt, der Fähigkeit, Dinge durchzusetzen) und Politik (das heißt, der Fähigkeit zu entscheiden, welche Dinge durchgesetzt werden müssen und sollen) geführt. Viele der Kräfte, die früher in den Grenzen des Nationalstaates zusammengehalten waren, haben sich in Luft aufgelöst und sind in das Niemandsland des „Raumes der Ströme“ geflohen (wie Manuel Castell die politikfreien Weiten getauft hat), wohingegen die Politik wie zuvor territorial fixiert und beschränkt geblieben ist. Dieser Prozess hat alle Merkmale einer sich selbst antreibenden und sich selbst intensivierenden Tendenz. Ernsthaft der Macht beraubt und immer schwächer werdend, sind Regierungen gezwungen, Schritt für Schritt die Funktionen, die einstmals als natürliches und unveräußerliches Monopol der politischen Staatsorgane angesehen wurden, in die Obhut bereits „deregulierter“ Marktkräfte zu geben, wodurch sie sie aus dem Reich politischer Verantwortlichkeit und Überwachung vertreiben. Dies hat einen schnellen Niedergang des öffentlichen Vertrauens in die Fähigkeit der Regierungen zur Folge, effektiv mit den Bedrohungen der existenziellen Lage ihrer Bürger umzugehen. Die Bürger glauben immer weniger, dass die Regierungen fähig sind, ihre Versprechen zu erfüllen.
Sie haben nicht ganz unrecht. Eine der stillschweigenden, gleichwohl entscheidenden Annahmen, die dem Vertrauen in die Wirksamkeit der parlamentarischen Demokratie zugrunde liegen, ist die, dass die Bürger in Wahlen entscheiden, wer in den nächsten paar Jahren das Land regieren und wessen Politik die gewählte Regierung umzusetzen versuchen wird. Der jüngste Zusammenbruch der kreditbasierten Ökonomie hat diesen Sachverhalt krass sichtbar werden lassen. So hat John Gray, einer der klarsichtigsten Analytiker der Wurzeln der gegenwärtigen weltweiten Instabilität, im Vorwort zur Neuauflage (2009) seines Buches False Dawn: The Delusions of Global Capitalism beobachtet, als es sich fragte, warum es dem jüngsten ökonomischen Zusammenbruch nicht gelungen ist, die internationale Zusammenarbeit zu verstärken, sondern er stattdessen zentrifugale Zwänge freigesetzt hat, „dass die Regierungen zu den Opfern der Krise gehören und die Logik ihrer Handlungen, ihre Bürger zu schützen, größere Unsicherheit von allen“ bedeutet. Und das ist deshalb so, weil „die schlimmsten Bedrohungen der Menschheit ihrer Natur nach global sind“, während „es keinerlei Aussicht gibt, dass irgendeine effektive globale Regierung mit ihnen fertig wird.“
Tatsächlich sind unsere Probleme global erzeugt, während die Instrumente des politischen Handelns, die uns von den Erbauern der Nationalstaaten vermacht worden sind, auf das Maß von Dienstleistungen zugeschnitten sind, die territoriale Nationalstaaten erforderten. Sie erweisen sich deshalb als in einzigartiger Weise ungeeignet, wenn es darum geht, mit globalen Herausforderungen fertig zu werden. Für uns, die wir weiterhin im Schatten des Anspruchs auf staatliche territoriale Souveränität leben, sind sie gleichwohl die einzigen Instrumente, die wir uns vorstellen können und bei denen wir im Augenblick der Krise Zuflucht zu suchen geneigt sind, trotz ihrer krassen Unzulänglichkeit, territoriale Souveränität zu sichern, die Bedingung sine qua non der praktischen Lebensfähigkeit jenes Friedens. Das weithin beobachtete und voraussagbare Ergebnis ist die Frustration, die dadurch verursacht und durch die wechselseitige Unzulänglichkeit der Mittel für die Ziele zwangsläufig genährt wird.
Kurz gesagt: Unsere gegenwärtige Krise ist zunächst und vor allem eine Krise des Handelns – obgleich sie in letzter Instanz eine Krise der territorialen Souveränität ist. Jede formal souveräne territoriale Einheit kann heutzutage als Müllkippe für Probleme dienen, deren Ursprung weit jenseits der Reichweite ihrer Instrumente politischer Kontrolle liegt – und es ist ziemlich wenig, was sie tun kann, um diese einzudämmen, geschweige denn ihnen zuvorzukommen, wenn man die Reichweite der Macht erwägt, die ihr zur Verfügung steht.
Einige formell souveräne Einheiten, ja eine wachsende Anzahl von ihnen, sind in der Praxis auf den Rang von lokalen Polizeirevieren herabgesunken, die sich bemühen, ein Quäntchen an Recht und Ordnung zu sichern, das notwendig ist für den Verkehr, dessen Kommen und Gehen sie weder beabsichtigen noch kontrollieren können. Wie groß auch immer die Distanz zwischen ihrer Souveränität de jure und ihrer Souveränität de facto sein mag – gleichwohl sind sie alle gezwungen, lokale Lösungen für global erzeugte Problemen zu finden – eine Aufgabe, die weit über die Fähigkeit aller hinausgeht, vielleicht mit Ausnahme einer Handvoll der reichsten und erfinderischsten unter ihnen.
Die Europäer, wie die meisten anderen Bewohner des Planeten, sehen sich gegenwärtig der Krise der „Politik, wie wir sie kennen“, gegenüber, während sie mit aller Kraft versuchen, lokale Lösungen für globale Herausforderungen zu finden oder zu suchen. Sie finden, dass die gegenwärtig entwickelten Methoden, Dinge zu tun, nicht wirklich funktionieren, während alternative und effektive Weisen, Dinge zu erledigen, noch nirgends in Sicht sind (eine Situation, die von dem großen italienischen Philosophen Antonio Gramsci als Zustand des „Interregnums“ bezeichnet worden ist – das heißt, einer Zeit, in der das Alte schon tot ist oder im Sterben liegt, das Neue aber noch nicht geboren ist). Ihre Regierungen, wie so viele andere außerhalb Europas, befinden sich in einer „Doppelbindung“. Freilich anders als im Fall der meisten anderen Bewohner des Planeten ist die Welt der Europäer ein drei-, nicht ein zweistöckiges Gebäude. Zwischen den globalen Mächten und der nationalen Politik gibt es die Europäische Union. Dieses Eindringen eines „vermittelnden Gliedes“ in die Kette der Abhängigkeiten trübt die ansonsten klare Trennung vom Typ „wir-und-sie“. Auf welcher Seite steht die Europäische Union? Ist sie Teil „unserer“ (autonomen) Politik oder „ihrer“ (heteronomen) Macht? Von einer Seite aus gesehen erscheint diese Union als Schutzschild, der das Aggregat individueller Staaten, von denen viele zu schwach und zu winzig sind, als dass sie davon träumen könnten, den strengen Anforderungen an eine souveräne Existenz zu genügen, vor den schlimmsten Exzessen der ungezügelten und skrupellosen globalen Mächte schützt. Von der anderen Seite aus gesehen erscheint die Union als eine Art Fünfter Kolonne ebenderselben globalen Mächte, als ein Satrap fremder Eindringlinge, „ein innerer Feind“ – und alles in allem als eine Vorhut von Kräften, die sich verschworen haben, die Chancen der Nation wie des Staates auf Souveränität zu untergraben und letztlich null und nichtig zu machen: eine Wahrnehmung, die von den Sirenenstimmen der Neonationalisten ebenso skrupellos wie doppelzüngig als Heilung für die Krankheiten ausgebeutet wird, zu deren Ursachen ihre Realität gehört.
Europa ist heutzutage, genau wie der Rest des Planeten, eine Müllkippe für die global erzeugten Probleme und Herausforderungen. Aber anders als jener Rest des Planeten und darin beinahe einzigartig ist die Europäische Union ebenso ein Laboratorium, in dem die Methoden, diesen Herausforderungen zu begegnen und die Probleme in Angriff zu nehmen, tagtäglich geplant, debattiert und in der Praxis getestet werden. Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass dies ein (vielleicht der einzige) Faktor ist, der Europa, seine Mitgift und seinen Beitrag zu Angelegenheiten der Welt, exklusiv bedeutsam für die Zukunft des Planeten macht, der sich mit der Aussicht auf eine zweite schöpferische Transformation in der Geschichte des menschlichen Zusammenlebens konfrontiert sieht – dieses Mal auf den überwältigend mühsamen Sprung von den „vorgestellten Totalitäten“* der Nationalstaaten zur „vorgestellten Totalität“ der Menschheit. In diesem Prozess, der noch in seiner anfänglichen und frühreifen Phase steckt, aber einfach voranschreiten muss, wenn der Planet und seine Bewohner überleben sollen, hat die Europäische Union eine gute Chance, die kombinierten/verschmolzenen Aufgaben einer Forschungsexpedition, einer Mittelstation und eines vorgerückten Außenpostens zu erfüllen. Eine große Chance, obgleich keine leichte Aufgabe und ohne jede Erfolgsgarantie; zumal dazu verurteilt, den meisten anderen Europäern gegenüberzutreten, den hoi polloi ebenso wie ihren gewählten politischen Führern, mit einer Menge Reibung zwischen konfligierenden Prioritäten und schweren Entscheidungen.
Vielleicht war die Idee Europa eine Utopie und bleibt es … Aber sie war und bleibt eine aktive Utopie, die darum kämpft, die andernfalls unverbundenen und in viele Richtungen weisenden Aktionen zu verschmelzen und zu konsolidieren. Als wie aktiv sich die Utopie letztlich herausstellen wird, wird schließlich von ihren Akteuren abhängen.
Bei der Untersuchung der schicksalhaften Trennungen, die in Europa vor drei Jahrhunderten stattfanden, hat sich der herausragende deutsche Ideengeschichtler Reinhart Koselleck einer Metapher bedient, das Ersteigen eines bislang noch nicht auf Karten verzeichneten und unerreichten Bergpasses. Aber während man versucht, den Pass ganz oben zu erreichen, kann man nur raten, welche Aussicht sich einem eröffnen wird, sobald (wenn überhaupt) man schließlich dort ankommt. Alles, was man bis dahin mit Sicherheit weiß, ist, dass man, solange man braucht, um den Gipfel jenes steilen Hanges zu erreichen, weiterklettern muss; man kann nicht anhalten und sich niederlassen, Zelte aufbauen und ausruhen: Der erste Windstoß würde die Zelte wegwehen, der nächste Regenguss würde sie wegspülen. Selbst ohne Sturm oder Flut: Mitten auf einem solchen Hang unbeweglich stillzustehen fühlt sich äußerst unbehaglich an; ein Blick in den Abgrund unter einem, den man hinter sich gelassen hat, in den man aber zurückfallen kann, wenn man nur einen falschen Schritt tut, wird einen unerträglichen Schwindel verursachen … So klettert man weiter – bis zu jenem Unbekannten, von dem man sich die Rettung von den Schrecken erhofft, die man kennt …
Dies ist eine passende Metapher dafür, wie wir uns fühlen – wir, die Europäer des 21. Jahrhunderts, eingespannt zwischen eine Vergangenheit voller Schrecken und eine ferne Höhe voller Risiken. Wir können nicht wissen, welche Erfahrungen wir, einmal dort angelangt, machen werden. Aber wir wissen, dass wir nicht die Option haben, jetzt anzuhalten und Stillschweigen zu bewahren. Obwohl wir auch nicht aufhören können zu spekulieren, was wir sehen und fühlen werden, sobald wir einmal den Pass erreichen …
Gegenwärtig haben alle Lösungen, denen wir zustimmen, wenn wir ständig neuen Herausforderungen und Meinungsverschiedenheiten gegenüberstehen, einen Anschein von Vorläufigkeit. Sie scheinen nur „bis auf Weiteres“ zu gelten, und allzu oft erweist sich dies auch als richtig, mit einer eingebauten Ungültigkeitsklausel – genau wie unsere Trennungen und Koalitionen ad hoc, zerbrechlich und halbherzig sind. Noch ärger: Wir finden es schwierig, aus unseren vergangenen Unternehmungen eine vernünftige Geschichte zu machen – unsere Agenda wechselt ständig, und unsere Aufmerksamkeit ist allzu unstet, um eine solche Geschichte zu erzählen. So klang es etwas sorgenvoll, als die hoch angesehene Radio Times anlässlich der Ausstrahlung einer neuen ITV-Serie zu Gegenwartsproblemen äußerte: „Eine neue Monatszeitschrift, die versucht, internationale Nachrichten etwas gründlicher zu behandeln, muss eine gute Sache sein. Das Problem ist nur: Die Nachrichtenagenda verändert sich schnell, und wenn die Schlagzeilen von der Ukraine, Syrien und China beherrscht werden, sieht es wie eine verpasste Gelegenheit aus, wenn sich die erste Ausgabe mit Ruanda, Colorado und Norwegen befasst …“
Gleichwohl: In Le Monde vom 2. Februar 2014 präsentiert Nicolas Truong unter Bezugnahme auf die Ansichten, die vor allem von Daniel Cohn-Bendit bzw. von Alain Finkielkraut geäußert werden, zwei entgegengesetzte Szenarien für die Zukunft unseres, der Europäer, Zusammenleben: die beiden einzigen Szenarien, die zur Wahl stehen, da keine anderen realistisch oder auch nur denkbar sind. Cohn-Bendit veröffentlichte in Kooperation mit Guy Verhofstadt ein Manifest „Debout Europe!“, in dem er empfiehlt, die Schnellspur aus dem Mythos der nationalstaatlichen territorialen Souveränität heraus und über ihn hinweg zu einer mit dem Siegel der „europäischen Identität“ versehenen europäischen Föderation zu nehmen, die allerdings erst noch geduldig und konsequent konstruiert werden müsse. Finkielkraut ist nicht weniger fest davon überzeugt, dass die Zukunft Europas in einer solchen Einheit liegt – glaubt aber, dass dies eine Einheit (Kohabitation? Kooperation? Solidarität?) aus nationalen Identitäten sein müsse. Finkielkraut erinnert an Milan Kunderas Beharren darauf, dass Europa in seinen Errungenschaften, Landschaften, Städten und Monumenten verkörpert ist; Cohn-Bendit beschwört die Autorität von Jürgen Habermas, Hannah Arendt und Ulrich Beck, vereint wie sie sind in ihrer Opposition gegen den Nationalismus. Dies sind, logisch gesprochen, die beiden Pfade, die von dem Ort wegführen, an dem wir uns kollektiv am Vorabend der europäischen Parlamentswahlen befinden. Vielleicht weisen sie in entgegengesetzte Richtungen, obwohl sie vielleicht keineswegs so unversöhnlich sind wie ihre Fürsprecher versichern …
Ohne Zweifel: Die gegenwärtige institutionelle Struktur der Europäischen Union, so inkohärent sie auch sein mag, mit der Strategie ohne Politik, die in Brüssel gemacht wird, im Gegensatz zu der Politik ohne Strategie, für welche die Europäische Union bekannt ist, und mit einem Parlament mit viel Gerede und wenig Macht – eine Struktur, die langfristig nicht bestehen kann und nach einer gründlichen Überarbeitung schreit – nährt gleichzeitig beide oben erwähnten Tendenzen.
Vor achtzig Jahren warnte Edmund Husserl – wie uns Nicolas Truong erinnert – : „Die größte Gefahr, die Europa droht, ist seine Trägheit.“ Die Zeit schreitet voran, aber Warnungen altern nicht. Die Zeit, sie als überholt zu ignorieren, ist noch nicht gekommen. Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zukunft kommt.
*[A. d. Ü.: Ein Begriff, der von E. Hobsbawm stammt.]