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Talos in der heutigen Welt

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Die eine Leitung mit der mysteriösen Kraft, die Talos belebte, wurde mit einem Drehstromkreislauf verglichen. Bronze, die zum Großteil aus Kupfer besteht, ist von hoher elektrischer Leitfähigkeit, was aber in der Antike noch nicht bekannt war (obwohl Bronzekolosse auch als Blitzableiter fungierten). 2017 verglich ein Autor in der Zeitschrift Popular Mechanic Talos’ Ichor mit der blauen Flüssigkeit, die in der beliebten TV-Serie Humans aus imaginären humanoiden Robotern herausblutet (sie wird beschrieben als ein „synthetischer magneto-dynamischer Leiter“). Die antiken Darstellungen von Talos’ Leitung mit dem geheimnisvollen Ichor sind vergleichbar mit dem, was Kognitionswissenschaftler als „intuitive Theorien“ von Kindern und Erwachsenen in Bezug auf Physik und Biologie bezeichnen. Selbst viele heutige Menschen, die eigentlich wissen, dass ein elektrischer Stromkreis zwei Drähte benötigt, stellen sich noch vor, wie da eine kraftspendende „Flüssigkeit“ durch ein einzelnes Kabel fließt. Unsere „vorwissenschaftliche“ intuitive Sichtweise existiert offenbar neben unserer modernen wissenschaftlichen Erkenntnis.44

1958 schrieb der Autor einer kurzen Geschichte der Roboter in der Zeitschrift Popular Electronics, dass Talos’ „einzige Ader von seinem Nacken bis zu den Füßen reichte und irgendwo an seinem Fuß mit einem großen Bronzestift zugestöpselt war“. Mit „modernen Begriffen“ belegt, so der Autor, wäre diese Leitung „sein Hauptstromkabel gewesen und der Stift seine Sicherung“. Der Autor, der zum Höhepunkt des Kalten Krieges schrieb, erklärte sodann, dass Talos ein antikes „Waffen-Frühwarnsystem und Lenkflugkörper in einem“ gewesen sei!45

Im selben Jahr wurde die größte Boden-Luft-Rakete der Welt fertiggestellt. Passenderweise wurde, angesichts von Talos’ Rolle als automatischer Gehilfe der überlegenen minoischen Marine, diese neue Waffe der US-Marine tatsächlich Talos getauft. Als deren Entwicklung 1947 begann und die Militärplaner einen „passenden Namen“ suchten, fanden sie ihn in Thomas Bulfinchs beliebtem Sagenwerk Age of Fable (1855). Laut der offiziellen Geschichte dieser Rakete bewachte „Talos die Insel Kreta. Er war aus Metall, und es hieß, er würde mit einer derart sagenhaften Geschwindigkeit durch die Luft fliegen, dass er glühend rot wurde. Seine Methode, mit seinen Feinden umzugehen, bestand darin, sie eng an seine Brust zu drücken und dadurch zu Asche werden zu lassen.“ Nach dieser modernen Sichtweise kam Talos durch die Luft, was an die Bilder des geflügelten Talos auf den Münzen aus Phaistos erinnert, und wurde durch große Reibung erhitzt. Doch diese Details findet man weder in einer Bulfinch-Ausgabe noch in einem antiken Text.


Abb. 1.12: Talos: RIM-8-Rakete, 1950er-Jahre.

Auch die 1948 entwickelte Strahltriebwerkrakete wurde nach Talos benannt. Die gelenkten Talos-Raketen waren auf großen Flugzeugträgern stationiert und patrouillierten auf See, bereit, ihre Gefechtsköpfe auf Feinde zu schleudern. In einer gewissen Parallele zu den Aufgaben des mythischen Bronzeroboters auf Kreta dienten die Talos-Raketen als Frontverteidigung; sie hatten eine Reichweite von ca. 320 km und erreichten eine Geschwindigkeit von 2,5 Mach. Mit mehr als 3000 km/h waren sie also zwölf Mal so schnell wie der Bronze-Talos, wenn man der Schätzung glauben mag. Ebenso wie Talos sein Territorium endlos umschritt, Eindringlinge aufspürte und Felsbrocken nach ihnen warf, wurde auch das Talos-Verteidigungssystem automatisch gesteuert, konnte aber auf kürzere Reichweite auch teilweise autonom agieren. Die gesteuerten Raketen „ritten“ den Großteil des Weges bis kurz vor dem Ziel auf einem Radarstrahl, um dann „semiaktiv“ das Ziel anzupeilen.46

Die Faszination des heutigen Militärs für die antike Fiktion von einem unbesiegbaren Krieger, der aus stärksten Materialien und fortschrittlichster Technologie besteht, ging noch weiter. Inspiriert vom Mythos des großen Bronzeroboters, legten das US Special Operations Command (SOCOM) und die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) 2013 ein Projekt auf, das einen futuristischen, roboterhaften, gepanzerten Exoskelett-„Anzug“ für Soldaten in besonderen Einsätzen entwickeln sollte (special operations) – ähnlich den als Waffe genutzten Anzügen der Superhelden im Film Iron Man (2008). Die Verbesserung des Menschen und die immer stärker werdende todbringende Gewalt sind sehr alte Ideen, wie wir in Kapitel 3 sehen werden. Die Idee für den Hightech-Panzeranzug entstand aufgrund des Wunsches eines Kommandanten, seine Männer in unkonventionellen Gefechtssituationen in Afghanistan und im Irak zu schützen. Den griechischen Mythos im Hinterkopf, ersann SOCOM den Namen Tactical Assault Light Operator Suit, der sich zu dem Akronym TALOS verkürzen lässt und so viel bedeutet wie „leichter, bedienbarer, taktischer Militäranzug“. Der Ganzkörper-Schutzanzug sollte übermenschliche Stärke, hypersensorisches Bewusstsein und ballistischen Schutz bieten. Dafür wurden ihm Computer, Biosensoren, Sonnenkollektoren und besondere Technologien eingebaut, die die Seh- und Hörfähigkeit verbessern und Treffer dämpfen sollten. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte sogar im Rahmen des TALOS-Programms ein elektronisch aktiviertes „flüssiges Körperschutz“-System – es erinnert an den Ichor der unsterblichen Götter. Zum Zeitpunkt der Recherche für dieses Buch wurde das TALOS-Programm allerdings noch nicht realisiert.47


Abb. 1.13: Entwurf für den Exoskelett-Militäranzug TALOS (Tactical Assault Light Operator Suit) des US Special Operations Command (SOCOM) und der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA).

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