Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 2 - Agnes M. Holdborg - Страница 6

Kaf­fee oder Tee

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Sie ver­lie­ßen die Woh­nung der Nells, die zu ei­nem Wohn­haus in ei­ner klei­nen Stadt bei Düs­sel­dorf ge­hör­te und na­he am Wald lag. Dem Wald, wo Vik­tor sei­ne An­na da­mals im Ju­li auf der Lich­tung an­ge­spro­chen und der sich seit­dem stark ver­än­dert hat­te.

Jetzt, im Ok­to­ber, hat­te der Herbst deut­lich sei­ne Füh­ler aus­ge­streckt. Nun herrsch­ten hier leuch­ten­de Fa­r­ben vor, in rot-oran­ge­n­en, rost­brau­nen, ocker­gol­de­nen Schat­tie­run­gen und Nu­an­cen. Als hät­te der Herbst ein lo­dern­des Feu­er ent­facht. Dies Fa­rb­spek­ta­kel stand dem som­mer­li­chen Lich­ter­spiel in Grün, Gold und Sil­ber in nichts nach.

Der kräf­ti­ge Wind hat­te den Bäu­men be­reits al­ler­hand Blät­ter ge­stoh­len und am Bo­den zu ei­nem ra­scheln­den Tep­pich auf­ge­schich­tet. Auf dem ver­schlun­ge­nen Wald­weg knis­ter­te es ge­heim­nis­voll, als sie zu An­nas klei­ner Lich­tung schlen­der­ten, um dort wie je­des Mal in lei­den­schaft­li­cher Um­ar­mung in­ne­zu­hal­ten.

Da An­na zit­ter­te, zog Vik­tor ih­re Ja­cke fes­ter zu und wi­ckel­te ihr sei­nen Schal um.

All­mäh­lich wird es merk­lich küh­ler, über­leg­te er und grins­te ver­stoh­len bei ei­ner ganz be­stimm­ten Er­in­ne­rung, die ihm in den Sinn kam:


… Noch vor ei­nem Mo­nat war es hier herr­lich warm und er konn­te nicht wi­der­ste­hen, An­na auf dem wei­chen Moos­bett un­ter der Bir­ke nach al­len Re­geln der Kunst zu ver­füh­ren. Zu­erst sträub­te sie sich, weil sie be­fürch­te­te, je­den Mo­ment von Frem­den über­rascht zu wer­den. Dass Vi­tus die Lich­tung schon Wo­chen zu­vor mit ei­nem Schutz­bann be­legt hat­te, um Frem­de von dort fern­zu­hal­ten, hat­te Vik­tor ihr ver­schwie­gen. Be­son­ders, als er be­merk­te, dass sie, trotz al­ler Vor­be­hal­te, bei sei­nen Be­rüh­run­gen mehr und mehr weg­schmolz, bis sie sich ihm be­din­gungs­los hin­gab.

Him­mel, er war be­rauscht von ih­rer Sinn­lich­keit, im­mer wie­der aufs Neue.

Spä­ter, in sei­nem Zim­mer, beich­te­te er ihr, dass sie auf­grund der Schutz­bar­rie­ren nie­mand beim Lie­bes­s­piel hät­te be­ob­ach­ten kön­nen. Dar­auf­hin stürz­te An­na sich mit ge­wei­te­ten Au­gen auf ihn, schimpf­te ihn einen »per­ver­sen, üb­len Lust­molch«, schubs­te ihn aufs Bett und ver­speis­te ihn letzt­end­lich mit Haut und Haar. …


»Vik­tor?« Er sah in ih­re amü­siert fun­keln­den Au­gen. »Du hast ge­träumt. Aber glaub mir eins, Vik­tor Mül­ler, mir ist es heu­te ein­deu­tig zu kalt für dei­ne durch­trie­be­nen Spiel­chen hier auf un­se­rer Lich­tung.«

»Oh.« Er grins­te ver­le­gen. Manch­mal ver­gaß er, dass nicht nur er in der La­ge war, Ge­dan­ken zu le­sen. An­na konn­te es in­zwi­schen auch ganz gut.

»Ja­ja, auch du schaffst es nicht im­mer, dich er­folg­reich vor mir zu ver­schlie­ßen, du lüs­ter­ner Un­hold.«

»Un­hold? Was soll das denn sein?«

»Das sagt Ma­ma hin und wie­der zu Pa­pa.« An­na ki­cher­te. »Frü­her dach­te ich, es wür­de so et­was wie Witz­bold be­deu­ten. Goo­gle hat mich ei­nes Bes­se­ren be­lehrt. Na­tür­lich bist du kein Scheu­sal, ge­nau­so we­nig wie Pa­pa. Aber ich glau­be, ich weiß jetzt, was Ma­ma da­mit meint.« Sie streck­te sich und zog ihn zu­sätz­lich zu sich hin­un­ter, um ihn auf die Na­sen­spit­ze zu küs­sen. »Lass uns zu dir nach Hau­se ge­hen, ja? Mit steht näm­lich der Sinn nach Kaf­fee, Kek­sen und dei­nem war­men Bett.«

Vik­tor leg­te den Kopf schief. »In der Rei­hen­fol­ge?« Das brach­te ihm einen kräf­ti­gen Stoß in die Rip­pen ein. »Aua!«, lach­te er, nahm sie dann aber zärt­lich in den Arm. »Hhm, du riechst mal wie­der so gut, Sü­ße.«

»Ist doch nur ›Boss Oran­ge‹. Nix Be­son­de­res.«

»Nein, nein, das ist nicht nur dein Pa­r­fum. Das ist die gan­ze An­na-Mi­schung.«

»Na ja«, fuhr er fort, als sie ihn fra­gend an­sah, »das ist die An­na-Spe­zi­al-Mi­schung, be­ste­hend aus An­na und Pa­r­fum, An­na und Sham­poo, An­na und Dusch­gel und, und, und. Aber vor al­len Din­gen aus An­na. Dei­nen Duft wür­de ich un­ter al­len Düf­ten des Uni­ver­sums wie­der­er­ken­nen.«

»Wie soll das denn ge­hen?« Sie sah ihn er­staunt, aber auch be­lus­tigt an. »Da­mit könn­test du oh­ne Wei­te­res bei Wet­ten, dass … mit­ma­chen«, mein­te sie. »Aber du re­dest ja so­wie­so aus­ge­mach­ten Blöd­sinn, Vik­tor. Schließ­lich bis du kein Hund.«

»Hhm, aber ein hal­ber El­fe!«

»Siehst du? Den hal­b­en El­fen hast du mal wie­der ver­ges­sen. Doch ei­gent­lich liegt es nicht dar­an, dass ich ein hal­ber El­fe bin, Sü­ße, son­dern nur an dir und an dei­nem Wahn­sinns­duft.« Dann run­zel­te er die Stirn. »Wet­ten – was

An­na glucks­te. »Das ist so ei­ne Fern­seh­s­how. Wun­dert mich, dass du sie nicht ge­se­hen hast, bei dei­nem Fern­seh­kon­sum. Ob­wohl, sie wur­de ab­ge­setzt, glaub ich.«

»Ab­ge­setzt?«

»Ach, un­wich­tig. Komm jetzt. Und die Rei­hen­fol­ge we­gen Kaf­fee und Kek­sen und so liegt ja wohl klar auf der Hand.«

Sie lä­chel­te ihn mit ge­röte­ten Wan­gen an, schein­bar er­freut dar­über, dass sei­ne Ge­dan­ken sich bei ih­ren letz­ten Wor­ten deut­lich um ei­ne ein­zi­ge Sa­che dreh­ten.

»Un­er­sätt­lich! Ob das wohl auch am hal­b­en El­fen liegt?«

»Nein, Sü­ße, ganz ein­deu­tig nicht«, be­ant­wor­te­te er ih­re ge­dach­te Fra­ge. »Auch das liegt al­lein an dir und an dei­ner Un­er­sätt­lich­keit

Er sah ihr tief in die Au­gen. »Ge­nug jetzt, sonst ist es mir herz­lich egal, wie kalt es hier drau­ßen ist, und du wirst dir lei­der einen Schnup­fen ho­len.«

La­chend zog er sie hin­ter sich her, zog sie tie­fer in den Wald zum Ein­gang zur El­fen­welt, um kurz dar­auf an ei­nem wei­te­ren Por­tal wie­der in die Men­schen­welt ein­zu­t­au­chen. Dort, wo Vik­to­ri­as und sein Haus stand. Das Reet­dach­haus.

***

An­na wuss­te, dass dies mit­tels spe­zi­el­ler Wor­te ge­sch­ah, die Vik­tor an be­stimm­ten Stel­len aus­sprach. Trotz der vie­len Ma­le, die sie das Pro­ze­de­re be­reits mit­er­lebt hat­te, war ihr im­mer noch nicht klar, wie ge­nau das ei­gent­lich funk­tio­nier­te.

Es kam ihr stets rät­sel­haft vor, wie es sein konn­te, dass sie so mir nichts, dir nichts, von ei­nem Mo­ment zum an­de­ren nicht mehr über wei­chen Wald­grund wan­del­te, son­dern über einen mit wei­ßem Kies be­deck­ten und un­ter den Fü­ßen knir­schen­den Weg. Die­ser Weg wur­de rechts und links von ei­nem mit blü­hen­den Herbst­stau­den be­pflanz­ten Vor­gar­ten flan­kiert und wies ihr den Blick ge­ra­de­wegs auf das gro­ße zwei­ge­schos­si­ge Reet­dach­haus der Zwil­lin­ge. Ei­nem Haus mit hüb­schen ro­ten Na­tur­klin­ker­stei­nen und rie­si­gen Spros­sen­fens­tern.

Es lag fast ex­akt fünf­zig Ki­lo­me­ter weit von ih­rem Zu­hau­se ent­fernt und konn­te trotz­dem in­ner­halb we­ni­ger Geh­mi­nu­ten durch den Wald er­reicht wer­den.

Im hel­len und luf­tig mo­dern ein­ge­rich­te­ten Haus an­ge­kom­men rief Vik­tor nach sei­ner Schwes­ter und schau­te sich ver­wun­dert um, als die­se sich nicht mel­de­te. Dann fand er einen Zet­tel auf dem Kü­chen­tisch:

Liebs­ter Bru­der!

Ich ha­be ver­geb­lich ver­sucht, durch dei­ne fri­vo­len Ge­dan­ken zu dir durch­zu­drin­gen.

Kei­ne Chan­ce! – Auch nicht bei An­na!

Und der Ak­ku von mei­nem ›Ai­fohn‹ ist an­schei­nend auch mal wie­der leer.

Drum schrei­be ich dir die­se ba­na­le Zet­tel­bot­schaft:

Ke­tu ist vor­bei­ge­kom­men, um mich ab­zu­ho­len und sei­nen El­tern vor­zu­stel­len.

Nun müs­sen Vi­tus oder du und Jens ihm wohl doch nicht in den Arsch tre­ten – hi­hi.

Wünsch mir Glück!

Bis spä­ter.

In Lie­be

Dei­ne Schwes­ter

P.S. Gruß und Kuss an An­na!


An­na hat­te den Zet­tel über Vik­tors Schul­ter hin­weg mit­ge­le­sen.

»Fri­vo­le Ge­dan­ken? Gott, wie pein­lich ist das denn schon wie­der?«

»So ein Quatsch, An­na. Vik­to­ria ist zur­zeit wohl die Letz­te, die uns we­gen so was an­pran­gert. Sie be­steht doch der­zeit selbst nur aus Hor­mo­nen. Glaub mir, ich krie­ge das stän­dig mit, wenn Ke­tu und sie …«

»Stopp, Stopp!« An­na mach­te mit den Hän­den ei­ne ab­weh­ren­de Ges­te. »So ge­nau will ich das gar nicht wis­sen.«

Sie ging rü­ber zur Kaf­fee­ma­schi­ne.

»Was tust du da, An­na?«

»Na, was denn wohl? Ich ko­che Kaf­fee und dann …«

»Oh nein, ganz si­cher nicht!«

»Aber …«

Zu spät! Vik­tor hat­te sie blitz­schnell über sei­ne Schul­ter ge­wor­fen und war schon auf der Trep­pe, be­vor sie über­haupt re­gis­trie­ren konn­te, wie ihr ge­sch­ah.

»Vik­tor, was machst du denn da?«

»Wo­nach sieht es denn aus, mei­ne Sü­ße? Ich tra­ge Sor­ge da­für, dass die rich­ti­ge Rei­hen­fol­ge ein­ge­hal­ten wird.«

***

Spä­ter la­gen sie eng um­schlun­gen im Bett und Vik­tor strich, tief im Nach­klang der Er­in­ne­rung ver­sun­ken, lie­be­voll über das schim­mern­de Haar sei­ner schla­fen­den Freun­din:

Es war wie­der wun­der­schön ge­we­sen. Al­lein die Nach­be­trach­tung ließ ihn ver­hei­ßungs­voll er­schau­ern. Sie gab ihm im­mer al­les, al­les und noch mehr. Und sie war wirk­lich un­er­sätt­lich, ge­nau wie er. Er lä­chel­te bei dem Ge­dan­ken dar­an, dass sie ein­fach nicht ge­nug von­ein­an­der be­kom­men konn­ten.

Aber sein Lä­cheln ver­flog, da er wie­der ih­re Zwei­fel ge­se­hen hat­te. Sei­ne Brau­en zo­gen sich zu der ty­pi­schen Den­kers­teil­fal­te zu­sam­men. Selbst wäh­rend sie sich ge­liebt hat­ten, war An­na nicht in der La­ge ge­we­sen, sei­ne ehr­lich ge­mein­ten Kom­pli­men­te zu ih­rem fas­zi­nie­ren­den Kör­per an­zu­neh­men.

Auch wenn sie je­des Mal ver­such­te, die Un­si­cher­heit zu ver­ber­gen, so sah er den­noch glas­klar, dass sie an sei­ner Lie­be zwei­fel­te. Noch im­mer ver­stand sie nicht, wie ernst es ihm war, dass ih­re Schön­heit und ihr gan­zes lieb­li­ches We­sen ihm schlicht­weg den Atem raub­ten. An­nas stän­di­ger Arg­wohn und ge­rin­ges Selbst­wert­ge­fühl nag­ten al­ler­dings nicht nur an ihr, son­dern auch an ihm.

Be­vor sie blin­zelnd auf­wach­te, mur­mel­te An­na ein paar un­ver­ständ­li­che Wor­te und ih­re Na­se zuck­te.

Mit­zu­er­le­ben, wie An­na aus ih­ren Träu­men auf- und ganz all­mäh­lich zu­rück in die Ge­gen­wart eintauch­te, sich da­bei meist wie ein klei­nes Kind die Au­gen rieb, war ei­ne wah­re Won­ne. Und das war der Grund, war­um er so we­nig schlief, wenn sie bei ihm war. Er lieb­te es, sie in ih­rem Schlaf zu be­ob­ach­ten, den Mo­ment auf­zusau­gen, in dem sie wach wur­de und ihn, so wie jetzt, ih­re leuch­tend hel­len Sa­phi­rau­gen an­strahl­ten.

»Hab ich ge­schla­fen?«

Ganz wie er­war­tet rieb sie sich die Au­gen. Sie streck­te die Ar­me aus, gähn­te herz­haft und blick­te dar­auf­hin ge­ra­de­wegs zu Vik­tor.

»Oh, Ent­schul­di­gung.« Sie wur­de tat­säch­lich rot, als sie be­merk­te, wie er sie be­trach­te­te. »Ich dach­te, du schläfst auch. Be­stimmt se­he ich to­tal be­scheu­ert aus mit so ei­nem weit auf­ge­ris­se­nen Maul.«

Vik­tors spür­te, wie sich sei­ne Stirn­fal­te er­neut bil­de­te.

»Him­mel noch mal, An­na!«, herrsch­te er sie an. »Du siehst nie­mals be­scheu­ert aus! Du hast le­dig­lich nach ei­nem Ni­cke­r­chen ge­gähnt, das ist al­les!«

Prompt rich­te­te An­na sich auf. »Wie­so bist du denn so sau­er? Hab ich im Schlaf ge­re­det, oder was?«

»Nein, hast du nicht. Ganz im Ge­gen­teil. Du sahst sehr still und fried­lich aus, wie im­mer, und wun­der­schön.«

Da war es wie­der, das un­gläu­bi­ge Fla­ckern in ih­ren Au­gen!

»Oh ver­dammt, An­na Nell! Wann hörst du end­lich da­mit auf?«

»Auf­hö­ren? Wo­mit?« An­na wirk­te völ­lig ver­stört über Vik­tors Re­ak­ti­on. Ge­ra­de hat­ten sie sich noch lei­den­schaft­lich und be­gie­rig ge­liebt und nun war er mit ei­nem Mal rich­tig­ge­hend wü­tend. Es war ei­gent­lich gar nicht sei­ne Art.

»Was ist denn nur los mit ihm? Was ha­be ich falsch ge­macht?«

Er sah ih­re Fra­gen. Au­ßer­dem mach­te sie ein der­art un­g­lü­ck­li­ches Ge­sicht, dass Vik­tor sie reue­voll zu sich zog und zärt­lich auf Stirn und Haar küss­te.

»Ent­schul­di­ge bit­te. Es gibt kei­nen Grund da­für, dass ich mich so auf­füh­re. Nur wä­re es mir sehr lieb, wenn du nicht stän­dig an mei­nen Ge­füh­len für dich zwei­feln wür­dest. Ich lie­be dich näm­lich über al­les. Es tut mir weh, wenn ich mit­be­kom­me, dass du mir nicht glaubst.«

An­na schau­te ihn mit ih­ren un­wi­der­steh­li­chen Au­gen an. »Ich glau­be dir doch«, hauch­te sie. »Ich lie­be dich auch. Es ist nur hin und wie­der so un­wirk­lich, weil …«

»Ist es nicht!«, fiel Vik­tor ihr un­ge­dul­dig ins Wort. »Und ich brau­che dich auch nicht zu knei­fen, wie du im­mer meinst. Du brauchst nicht ge­knif­fen zu wer­den, um zu wis­sen, dass das al­les re­al ist, ver­flucht noch eins! Al­les ist wahr und echt, An­na. Das hat­ten wir doch schon so oft.«

Er über­leg­te. »Weißt du noch, wie ich dir da­mals am Bach er­zählt ha­be, was ich bin, dass man­che Mär­chen und Fa­bel­ge­schich­ten wahr sind?«

Vik­tor be­ob­ach­te­te, wie An­na in ihr trau­ri­ges Ge­sicht hin­ein­lä­chel­te und ver­son­nen ei­nem Ge­dan­ken nach­hing.

»Ei­ne mei­ner schöns­ten und ver­wir­rends­ten Er­in­ne­run­gen.«

»Da hast du von ver­schie­de­nen Ro­man­hel­den ge­spro­chen: Har­ry Pot­ter, Le­go­las, Ed­ward und Bel­la. Ich wuss­te da­mals nicht, von wem du sprichst, je­den­falls nicht bei al­len. Des­halb ha­be ich sie ge­g­oo­gelt und mir auch die Fil­me da­zu an­ge­se­hen.« Er ver­zog ver­le­gen den Mund. »Na, ja, du kennst mich ja. Aber ich ha­be auch die Bü­cher ge­le­sen, weil ich wuss­te, dass du sie ge­le­sen hast. Sie ste­hen in dei­nem Zim­mer di­rekt ne­ben Ja­ne Aus­ten, Isa­bell Al­len­de und Fried­rich Dür­ren­matt. Üb­ri­gens ei­ne wil­de Mi­schung, wenn du mich fragst.«

Er be­dach­te sie mit sei­nem war­men Lä­cheln. »Weißt du, An­na, du bist fast ge­nau­so wie Ed­wards Bel­la. Sie mein­te auch, nicht gut ge­nug für ihn zu sein. Aber sie war es, An­na. Bel­la war ab­so­lut die Rich­ti­ge und Ein­zi­ge für Ed­ward, so wie Eli­z­abeth Ben­net für Dar­cy und …«

»Du hast die Twi­light-Bü­cher ge­le­sen und Stolz und Vor­ur­teil?«, un­ter­brach ihn An­na.

»Bit­te, was? Ja, und al­le Har­ry Pot­ters und auch Tol­kiens Herr der Rin­ge, aber …«

»Du hast das al­les ge­le­sen? Wes­we­gen? Um zu ver­ste­hen, was ich dir da­mals ge­sagt ha­be und wie ich so ti­cke? Um mich zu ver­ste­hen?«

Er seufz­te tief. »Ja, hab ich. Aber dar­um geht’s doch im Au­gen­blick gar nicht, ich …«

Wei­ter kam er nicht, denn An­na hat­te sich auf ihn ge­stürzt und be­dach­te ihn mit hei­ßen Küs­sen.

»Ich ar­bei­te doch dran, Herr Mül­ler. Ich brau­che noch ein biss­chen. Aber ich ar­bei­te dran. Ver­spro­chen.«

Vik­tor at­me­te tief durch. »Okay – hhm – ar­bei­te bit­te wei­ter.«

Es war fast Abend und schon dun­kel, als sie la­chend und mit knur­ren­den Mä­gen die Trep­pe zur Kü­che hin­un­ter­lie­fen, um end­lich et­was zu es­sen. Kaf­fee woll­ten sie nun nicht mehr. Statt­des­sen setz­te An­na Tee auf und Vik­tor kram­te im Vor­rats­schrank nach Kek­sen. Er fand ei­ne Tü­te Ama­ret­ti­ni und ein Pa­ket But­ter­kek­se. Nun denn, fürs Ers­te müss­ten die rei­chen, ent­schied er. Au­ßer­dem ent­deck­te er er­freut einen Beu­tel mit Tee­lich­tern. So könn­ten sie es sich im Wohn­zim­mer mit Ker­zen­licht, Tee und den Kek­sen ge­müt­lich ma­chen und da­bei Mu­sik hö­ren.

Er pack­te al­les aufs Ta­blett, worauf An­na schon Tas­sen und Kan­ne ge­stellt hat­te, und folg­te ihr zum Wohn­zim­mer. In der Tür blieb sie wie an­ge­wur­zelt ste­hen, was Vik­tor be­droh­lich schwan­ken und die Tas­sen zu­dem klir­ren ließ, als er mit dem voll­be­la­de­nen Ta­blett in der Hand bei ihr an­s­tieß.

»Was ist denn los? – Oh.«

Mit dem Zei­ge­fin­ger auf ih­ren Lip­pen deu­te­te An­na ihm, still zu sein. Auf dem So­fa lag sein Va­ter lang aus­ge­streckt und schlief.

»Und jetzt?«, flüs­ter­te sie.

Vik­tor nick­te mit dem Kopf gen Trep­pe. »Lass uns nach oben ge­hen«, hauch­te er.

»Das braucht ihr nicht. Ich bin wach und könn­te auch einen Schluck Tee ver­tra­gen.« Vi­tus rich­te­te sich auf und be­dach­te bei­de mit ei­nem strah­len­den Lä­cheln.

***

We­nig spä­ter sa­ßen die drei ge­mein­sam am Wohn­zim­mer­tisch, tran­ken Tee und knab­ber­ten Kek­se.

»Ich ha­be üb­ri­gens mehr­mals ge­klin­gelt und euch ge­dank­lich ge­ru­fen – euch bei­de«, er­klär­te Vi­tus, wäh­rend er miss­trau­isch den Ama­ret­ti­ni in sei­ner Hand be­äug­te, ihn dann aber oh­ne viel Fe­der­le­sens und ach­sel­zu­ckend ver­speis­te. »Schließ­lich ha­be ich euch ver­spro­chen, nicht mehr ein­fach so, oh­ne Vor­war­nung, hier her­ein­zu­plat­zen. Es war halt ei­ne spon­ta­ne Idee, euch zu be­su­chen. Au­ßer­dem bin ich, ehr­lich ge­sagt, viel zu mü­de, um noch kehrtz­u­ma­chen. Tut mir sehr leid.«

Vi­tus schau­te al­ler­dings kei­nes­wegs reu­mü­tig drein, son­dern grins­te süf­fi­sant.

Mitt­ler­wei­le hat­te An­na es sich ab­ge­wöhnt, sol­che Si­tua­ti­o­nen pein­lich zu fin­den. Fast! All­mäh­lich ge­wann sie den Ein­druck, dass so et­was un­ter El­fen und auch Hal­bel­fen an­dau­ernd vor­kam. Vi­tus hat­te schon des Öf­te­ren mit­be­kom­men, wie sich sein Sohn mit ihr oben in sei­nem Zim­mer »be­schäf­tig­te«. Sie wuss­te, dass er sich über­haupt nicht dar­an stör­te und es zu­dem gar nicht pein­lich fand.

Ob­wohl ihr klar war, dass Vi­tus sei­nen Geist vor den Lie­ben­den ver­schloss, um so­mit de­ren Pri­vat­sphä­re zu wah­ren, hat­te sie den­noch Pro­ble­me da­mit. Des­halb konn­te sie die wie­der ein­mal in ihr auf­stei­gen­de Rö­te nicht ver­hin­dern. Das hielt sie al­ler­dings nicht da­von ab, Vi­tus ge­nau­es­tens zu mus­tern:

Mit sei­nen knapp acht­und­drei­ßig Jah­ren war er ein Mann im bes­ten Al­ter und sah in ih­ren Au­gen un­ver­schämt gut aus – nicht so gut wie Vik­tor na­tür­lich.

Mit sei­nen einen Me­ter und fünf­und­neun­zig, schätz­te An­na, war Vi­tus noch grö­ßer als Vik­tor. Sein lan­ges ra­ben­schwa­r­zes Haar band er meist mit ei­ner Le­der­schnur zu­rück. Was An­na al­ler­dings be­reits beim ers­ten Ken­nen­ler­nen ge­fan­gen­ge­nom­men hat­te, wa­ren Vi­tus’ Au­gen. Sie strahl­ten in ei­nem un­wirk­lich blau­en Grün, schim­mer­ten hel­ler als die Nord­see bei Son­nen­schein. Sie hat­ten die Fa­r­be von süd­li­chen Mee­ren, so wie das Mit­tel­meer auf den Bil­dern, die Le­na ihr von Mal­lor­ca ge­zeigt hat­te.

Viel­leicht äh­nel­ten sich Va­ter und Sohn nicht über­mä­ßig. Den­noch gab es so man­che Ge­mein­sam­kei­ten: der mus­ku­lö­se Kör­per­bau, die ge­ra­den Brau­en und das Lä­cheln mit den un­wi­der­steh­li­chen Grüb­chen, dem An­na bei Vik­tor nie wi­der­ste­hen konn­te, und das sie an Vi­tus bei­na­he eben­so an­zie­hend fand.

Der­zeit mach­te er je­doch einen aus­ge­spro­chen ab­ge­spann­ten Ein­druck. Dunk­le Schat­ten la­gen un­ter sei­nen Au­gen, um die her­um im­mer noch ro­te Fle­cken prang­ten, wie auch auf der rech­ten Wan­ge und auf der Stirn. Al­le her­vor­ge­ru­fen durch das glü­hen­de Gift, das Ka­na ihm vor Wo­chen di­rekt ins Ge­sicht ge­spuckt hat­te.

»Du siehst mü­de aus«, stell­te An­na fest. »Ich hat­te ge­hofft, du hät­test dich all­mäh­lich von Ka­nas An­griff er­holt.«

»Doch, doch, es geht mir gut, dan­ke. Ich bin nur ein we­nig er­schöpft, weil ich Ka­nas Brü­dern im süd­li­chen El­fen­reich einen wei­te­ren Be­such ab­stat­ten muss­te. Lei­der wa­ren die nicht ge­ra­de be­geis­tert über mein er­neu­tes Er­schei­nen.« Er seufz­te. »Ich woll­te ih­nen un­be­dingt er­klä­ren, wie und war­um ih­re Schwes­ter zu To­de ge­kom­men ist. Es brauch­te ei­ni­ge Zeit, sie da­von zu über­zeu­gen, mich an­zu­hö­ren. Atros und Mit­ris sind furcht­bar an­stren­gend. Letzt­lich hat sich mei­ne Hart­nä­ckig­keit dann aber aus­ge­zahlt und ich ha­be sie da­zu über­re­den kön­nen, Ein­blick in mei­nen Geist zu neh­men. Jetzt glau­ben sie mir. End­lich!«

Vi­tus lä­chel­te schwach. »Un­se­re iri­schen Freun­de hat­ten da­mals durch­aus recht da­mit, die bei­den als Hohl­köp­fe zu be­zeich­nen. Sie sind wirk­lich äu­ßerst ein­fach ge­strickt, wie ihr Men­schen so schön sagt, so­gar noch ein­fa­cher, als ich sie in Er­in­ne­rung hat­te.« Er mach­te ei­ne kur­ze Pau­se, um einen Schluck Tee zu trin­ken. »Doch nun ist al­les gut.«

»Ich könn­te mir vor­stel­len, dass das süd­li­che El­fen­volk heil­froh ist, nicht mehr un­ter Ka­nas und Kaouls Knu­te zu ste­hen«, mein­te Vik­tor.

»Das kannst du wohl laut sa­gen«, er­wi­der­te Vi­tus. »Vor­sichts­hal­ber ha­be ich den Brü­dern noch ein paar Rat­schlä­ge ge­ge­ben, da­mit sie wis­sen, wie sie sich künf­tig zu ver­hal­ten ha­ben, um so­wohl ih­rem Volk als auch ih­ren Ehe­frau­en kei­ne Schan­de mehr zu ma­chen. Ich den­ke, sie ha­ben ver­stan­den, dass ich sie wei­ter­hin im Au­ge be­hal­te.«

Nun grins­te er breit. »Tja, und die bei­den zu­vor so oft be­tro­ge­nen Ehe­frau­en sind oh­ne­hin auf mei­ner Sei­te. Wie sie mir er­zählt ha­ben, hat­te sich Kaoul einen üb­len Scherz mit der Männ­lich­keit der Brü­der er­laubt. Jetzt sind die Frau­en ein­fach nur heil­froh, dass die­ser Zau­ber nach Kaouls Tod von ih­ren Män­nern ab­ge­fal­len ist. – Ja, mit et­was Un­ter­stüt­zung durch ein paar von mir in­stru­ier­te Be­ra­ter, wer­den Atros und Mit­ris ihr Land ganz or­dent­lich re­gie­ren.«

Vi­tus griff sich den letz­ten But­ter­keks aus der Scha­le und be­trach­te­te ihn an­ge­wi­dert.

»Kön­nen wir nicht Piz­za be­stel­len?«

Sonnenwarm und Regensanft - Band 2

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