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4. Reise in ein ungewisses Land: Laufen und Rennen

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Nach vier Tagen Fahrt sind wir an der Grenze, die das Land Afghanistan vom Iran trennt, angekommen.

Da diese Grenze geschlossen ist, können sie Reisende nicht einfach überqueren, sondern müssen einen Umweg über Pakistan machen, was nicht ganz ungefährlich ist.

Das allerdings ist unwichtig für jemanden, der unbedingt aus Afghanistan fliehen möchte. Denn es ist die einzige Möglichkeit, in den Iran zu kommen. Für Reisende, die sich in Nimrus aufhalten, ist die Situation jedoch mehr als schlecht, da sie jederzeit befürchten müssen von der Polizei erwischt und zurück nach Afghanistan geschickt zu werden. Menschen kamen und gingen auf diese Weise und hatten es mitunter sehr schwer aus Pakistan oder dem Iran wieder gesund heraus zu kommen.

In Begleitung des Freundes meines Vaters, der an alles gedacht und uns einen Schlepper besorgt hat, bin ich in den Iran gereist. Bei der ganzen Schlepper-Geschichte handelt es sich jedoch um ein illegales Geschäft, weswegen wir extrem vorsichtig zu sein und uns so unauffällig wie möglich zu verhalten hatten.

Da die Lage nicht sehr gut gewesen ist, warteten wir an der Grenze zu Nimrus noch eine ganze Woche ab bis sich der Zustand des Weges und die Situation etwas beruhigt hatte.

In dieser Zeit konnte der Schlepper weitere Kunden finden und sie einzeln einsammeln, sodass wir schließlich insgesamt neunundzwanzig Personen waren, die zusammengepfercht in einem großen Wagen der Marke „Nissan” transportiert werden sollten. Dieser alte Transporter war wie geschaffen für diese Art von Geschäft. Denn er ist relativ unauffällig und besitzt große Flächen, um Gegenstände oder wie in unserem Fall Menschen zu transportieren.

Der Schlepper und sein Begleiter, zwei sehr große und starke Männer, machten den Eindruck von Experten, die schon öfter Menschen in den Grenzbereich begleitet hatten. Sie trugen pakistanische Kleidung und verhüllten ihre Gesichter mit einem Schal, um möglichst unerkannt zu bleiben. Da sie in einem Dialekt miteinander sprachen, den wir Afghanen kaum verstehen konnten, habe ich nicht viel verstanden von dem was sie sagten. Doch auf diesem Weg muss man auch nicht alles verstehen, wurde mir bald bewusst.

Um in das Auto einzusteigen, bildeten wir eine lange Schlange, während die Männer uns einteilten und sich überlegten, wie sie uns am besten platzsparend in das Auto verfrachten konnten.

Alle neunundzwanzig Personen sollten darin unterkommen, egal wie eng es werden würde. Die Hauptsache war, dass alle einen Platz hatten, gleichwie er beschaffen war. Nach einiger Zeit war das Auto vollgefüllt mit Menschen. An sich drehen und wenden war gar nicht zu denken. Am Wichtigsten war einen einigermaßen sicheren Platz zugewiesen bekommen zu haben. Denn manchmal fuhr das Auto sehr schnell, dass kleinere Mitreisende hätten herunterfallen können.

Da es ein illegales Geschäft ist, ist es den Schleppern egal, was mit uns passiert. Besonders in extremen Situationen, in denen sie von der Polizei verfolgt werden, geben sie alles und versuchen nur sich selbst zu retten, indem sie so schnell wie möglich fahren, um nicht angehalten zu werden.

Deshalb durfte unser Auto auch nicht von anderen Fahrzeugen auf der Straße erkannt und als mit Menschen überfüllt wahrgenommen werden. Hierbei kam uns zugute, dass es schon spät am Abend und sehr dunkel war.

Der Platz des Freundes meines Vaters und meiner war im Vergleich zu denen anderer etwas besser, worüber wir froh waren, denn niemand von uns wusste wie lange wir fahren werden und in dieser Position beinahe aufeinandersitzend auszuharren hatten.

Meine Beine taten zügig weh, denn es ist eng um mich herum gewesen. Ich konnte sie nicht einmal ausstrecken. Mit angezogenen Beinen, die Knie mit meinen Händen umfasst, saß ich auf meinem kleinen Rucksack, um nicht viel Platz einzunehmen. Denn alle, die sich in der Mitte des Autos befanden, hatten sich klein zu machen.

Fahrtwind kam auf und ich spürte wie die kalten Lüfte mir das Gesicht streiften. Das Auto wurde nun immer schneller und der Weg steinig. Es ging abwechselnd in die Tiefe hinunter und dann wieder in die Höhe hinauf, da wir uns an der Grenze befanden und an ihr entlang einen unerlaubten Weg fuhren. Nach etwa dreieinhalb Stunden pausenloser Fahrt bremste das Auto ab. Ich atmete auf und streckte meinen Kopf aus, um nach draußen zu sehen. Dabei bemerkte ich, dass sich mein Körper irgendwie unnormal anfühlte. Meine Knie schmerzten und meine Oberschenkel waren eingeschlafen. Auch mein Rücken, meine Unterschenkel und mein Hals taten weh. Ich blickte auf meine Uhr und erkannte, dass es schon spät in der Nacht war. Ich versuchte den Ort ein bisschen ausfindig zu machen, um festzustellen, wo wir uns gerade befanden, aber alles war dunkel. Ich erkannte nur, dass wir uns zwischen zwei großen Bergen befanden.

Wir hatten nun auszusteigen und bekamen die Anweisung ganz leise zu sein. Ich dachte darüber nach, wer sich überhaupt um drei Uhr in der Nacht in diesem Gebiet aufhalten sollte.

Nachdem wir alle aus dem Auto ausgestiegen waren, begaben wir uns auf einen Fußmarsch. Einer der Schlepper wies uns an ihm zu folgen. Während der eine uns vorausging, begab sich der andere an das Ende der Schlange und achtete darauf, dass wir nicht miteinander redeten. Nach einigen Minuten zu Fuß waren wir angekommen.

Wir befanden uns nun an einem Ort, in welchem eine ganze Menge geflüchteter Menschen untergebracht waren. Von Wachleuten mit vermummten Gesichtern und Hunden umgeben, die beide sehr aggressiv und bereit Gewalt anzuwenden aussahen, wurden sie bewacht. Hierzu trugen sie sogar Pistolen bei sich. Die Schlepper, die uns an diesen Ort gebracht hatten, unterhielten sich nun mit ihnen in einiger Entfernung, damit wir nicht mitbekommen konnten, worüber sie sprachen. Nachdem sie ihre Besprechung beendet hatten, begleiteten sie uns zu der Menschenmenge und boten uns an, uns hier irgendwo auszuruhen. Wir konnten aufgrund der noch immer anhaltenden Dunkelheit nicht recht erkennen, wo genau wir uns befanden, sahen aber dass nicht alle Menschen schliefen, sondern einige wach waren und herumliefen. Manche von uns waren so erschöpft, dass sie sich einfach auf den kalten, steinigen Boden legten, wenngleich es auf hartem Untergrund schwierig ist zu schlafen. Doch wir hatten nichts dabei auf das wir uns hätten legen können. Ich tat es ihnen also gleich, nahm meine dicke Jacke als Ersatz für eine Decke und meinen Rucksack als Kopfkissen. Denn mir war nach dieser langen, anstrengenden Fahrt einfach nur nach schlafen zu Mute. Meine Beine schmerzten noch immer und mit ihnen mein gesamter Körper. Ich konnte es nicht mehr aushalten und schlief schließlich ein. Bereits nach einigen Stunden wachte ich jedoch wieder auf. Die Sonne schien, es war warm geworden und ich stand auf, sah mich um und erkannte, dass hier mehr Menschen waren, als wir in der Nacht gesehen hatten. Ich blickte auf meine Uhr. Es war neun Uhr am Morgen. Meine Mitreisenden schliefen noch. Die Wachmänner beobachteten uns. Sie waren aufmerksam und verfolgten gar jeden unserer Schritte. Ich sah in meinen Rucksack, um festzustellen, ob ich etwas zu essen und zu trinken dabei hatte, denn ich war sehr hungrig und durstig. Zum Glück hatte ich mir vor meiner Abreise noch etwas Kekse und Mineralwasser mitgenommen. Ich nahm etwas davon und suchte mir einen Platz im Schatten, irgendwo in einer Ecke, um mich vor der Sonne zu schützen, denn es gab hier keinen Baum oder ähnliches, was mir hätte Schatten spenden können.

Das Gebiet zu verlassen war völlig ausgeschlossen. Die Wachmänner befanden sich überall und beobachteten uns. Sie hielten uns stets an, leise zu sein und erlaubten uns nicht miteinander zu sprechen. Das Kommunizieren schien verboten, selbst das mit den Wachleuten, um ihnen mitteilen zu können, wenn wir etwas brauchten.

Wir befanden uns hier demnach wie in einem Gefängnis, das man aus Filmen kennt, ausgenommen dessen, dass wir uns im Freien befanden.

Neben den Wachleuten, die mit den Schleppern kooperierten, gab es auch Menschen, die nicht maskiert waren und uns halfen. Sie brachten uns stets gegen elf Uhr am Vormittag und gegen sechs Uhr am Abend Brot, Wasser, Milch und Kekse, was sie von einem Auto an uns verteilten.

Nachdem ich mein Mittagessen, also ein Stück Brot und Wasser, erhalten hatte, bin ich einfach ein bisschen in der Menschenmenge herumgelaufen. Ich bemerkte sogleich, dass sich hier Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen Afghanistans befanden. Nur wenige kamen direkt aus Pakistan, die in den Iran gelangen wollten. Ich versuchte mich ein bisschen abzulenken und lief durch die Gegend, mitten in der prallen Sonne und Menschenmenge, denn es gab keine andere Beschäftigung für mich. Irgendwann war ich müde und setzte mich zu einigen Jungs, die in meinem Alter waren. Ich sprach sie einfach an. Wir quatschten und dabei erzählten sie mir, dass sie schon seit über neun Tagen hier seien und nicht weiter könnten, weil der Weg sehr schlecht sei. Bereits viele Menschen seien auf dem Weg in den Iran von der Polizei in Gewahrsam genommen und nach Afghanistan zurück geschickt worden. Die Jungs beklagten sich über die Situation, aber sie erkannten auch, dass es momentan einfach keine andere Möglichkeit gab als es hier auszuhalten. „Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen abwarten und uns gedulden bis der Weg etwas besser wird“, gestanden sie sich missmutig ein. „Andernfalls ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man nie im Iran ankommen wird.“

Ich dachte darüber nach, wie lange ich wohl noch hier bleiben würde und machte mir große Sorgen. Doch ich erkannte, dass es nicht in meiner Macht stand und ich nichts dagegen unternehmen konnte. Die Schlepper entschieden, wann und wer sich von hier aus auf den Weg machen durfte. Demnach war ich der Situation wie ausgeliefert und stand unter der strengen hundertprozentigen Kontrolle der Wachleute. Nicht einmal auf die Toilette durfte ich ohne Erlaubnis gehen. Deshalb erkannte ich schnell, dass ich hier etwas brauchte, womit ich mich ablenken konnte oder Menschen, die mich ablenken würden. Ich machte mir unter den hier anwesenden Jungs ein paar Freunde, die jedoch bald schon wieder abreisen sollten. Denn sie gehörten einer Gruppe an, mit welcher ausprobiert wurde, wie der aktuelle Zustand des Weges war. Sollte diese Gruppe gut im Iran ankommen, würde sich auch unsere Gruppe, die als letztes in dieses Camp gekommen war, auf den Weg machen. Ich hatte das Glück, dass ich schließlich in eine andere Gruppe eingeteilt wurde, in der sich überwiegend Familien mit kleinen Kindern, Frauen und ältere Männer befanden, die sich erst zwei Tage später auf den Weg machen durften, während der Freund meines Vaters in der Gruppe blieb, die erst nach unserer Gruppe an die Reihe kam. Das bedeutete für mich jedoch, dass ich meinen Begleiter, den mein Vater für mich ausgesucht hatte, verlieren würde und mit anderen, mir fremden Menschen, zu gehen hatte. Doch der Freund meines Vaters meinte, dass der Weg, den die Familien zu gehen haben, besser sei als der Weg, den die anderen gehen müssen und dass ich mich deshalb freuen und glücklich schätzen könne.

Das beruhigte mich einerseits, aber andererseits machte es mich auch etwas traurig, meine Bezugsperson zurücklassen zu müssen.

Wir machten uns im Dunkeln auf den Weg mit einer Gruppe bestehend aus drei- bis vierhundert Menschen einschließlich der Schlepper, die uns begleiteten. Zunächst hatte ich keinen einzigen Freund darunter und kannte auch niemanden sonst. Dann aber habe ich eine Familie, bestehend aus fünf Personen, kennengelernt. Der Vater hieß Amir, sein neunjähriger Sohn Ali, sein sechsjähriges Mädchen Fatima und seine siebenjährige Tochter Sarah. Ich gehörte von nun an zu ihnen.

Sie kamen aus einer mir fremden Provinz Afghanistans und waren sehr nett zu mir. Stets haben sie mir ihre Hilfe angeboten, wenn ich etwas brauchte. Und natürlich half auch ich ihnen, so gut es ging.

Wir hatten nun einen langen Fußmarsch vor uns. Ein jeder lief in seinem Schritttempo durch die Berge. Ohne die Schlepper hätten wir absolut nicht gewusst, wo wir uns befanden. Sie begleiteten uns und waren sozusagen unser GPS, das uns führte.

Sie verschwiegen uns allerdings, wo genau wir uns aufhielten, aus Angst wir könnten sie und die ganze Gruppe verraten, sollten wir von der Polizei gefangen genommen werden. Deshalb trugen sie auch stets große, altmodische Funktelefone, um sich damit ständig über die aktuelle Lage des Weges zu informieren und austauschen zu können. Nur so wähnten sie sich vorbereitet, wenn etwas passieren sollte. Zu ihrer Ausrüstung zählten auch gute Taschenlampen, die sie sich mit einem Gummiband, an die Stirn befestigt, um den Kopf banden, damit sie ihre Hände frei hatten. Zusätzlich mit einem Rucksack umgürtet und einer Pistole versehen, fühlten sie sich sicher und liefen die ganze Nacht mit uns hindurch. Erst früh am Morgen erhielten wir die Anweisung, uns in diesem Gebiet nun aufhalten und ausruhen zu dürfen. Am Abend würden wir uns wieder weiter auf den Weg machen.

Ich bemerkte, dass meine Beine keine Energie mehr hatten. Nach achteinhalb Stunden Laufen und Rennen bin ich völlig fertig gewesen. Ich blickte auf meine Uhr. Es war bereits 10:40 Uhr am Morgen und die kleinen Kinder schrien laut. Wir verbrachten anschließend den ganzen Tag in der warmen Sonne und machten nichts anderes als herumzusitzen und uns auszuruhen. Gegen Nachmittag hatte ich der Überanstrengung wegen sehr starke Kopfschmerzen. Zum Glück hatte die Familie, mit der ich befreundet war, einige Medikamente dabei. Denn die Schlepper achteten nicht auf kranke Menschen. Sie nahmen auch keine Rücksicht auf die Älteren unter uns, die nicht mehr die Kraft hatten, eine so lange Strecke zu laufen. Sie ließen sie einfach auf dem Weg zurück.

Während wir am Abend abwarteten, schlief ich ein und erwachte wieder als es bereits Nacht und extrem kalt war. Obwohl die Tage sehr warm waren, wurden die Nächte unglaublich kühl. Unser zweiter Nachtlauf begann. Wir machten uns um 23:00 Uhr in der Nacht auf den Weg. Doch diesmal fiel es uns sehr schwer, da unsere Beine noch müde vom vorangegangenen Lauf waren. Wenn wir jedoch eine Pause machten, kam einer der Schlepper zu uns gelaufen und ermahnte uns weiterzugehen. Es konnte nämlich sein, dass dadurch dann eine Lücke in unserer Gruppe entstand und Einzelne einfach zurückgelassen werden würden. Das durften wir auf keinen Fall riskieren.

„Wir geben vor, wann und wo eine Pause eingelegt werden soll”, meinte einer der Schlepper streng. Deshalb begannen nun einige von uns ihre Rücksäcke zu leeren und ihre Sachen abzuwerfen, um mit etwas leichterem Gepäck weiterlaufen zu können. Auch ich ließ einige Kleidungsstücke zurück, damit mein Rucksack etwas leichter wurde. Denn ich hatte genau wie alle anderen auch keine Energie mehr und kaum mehr Kraft alles zu tragen.

Letztendlich sind wir die ganze Nacht hindurch gelaufen und haben nur zweieinhalb Stunden Pause gemacht. Meine Beine schmerzten und doch habe ich weitergemacht und auch der Familie geholfen, indem ich ihnen einen ihrer Rucksäcke abnahm und ihn für eine kurze Zeit trug. Es war ein sehr schwerer Rucksack, den mir Amir übergeben hatte, damit er und seine Frau sich um ihre kleinen Kinder kümmern konnten, während sich ihre größere Tochter Zahra für die anderen Rucksäcke verantwortlich fühlte. Ich überlegte mir nach einiger Zeit, ob ich diese Familie einfach verlassen und alleine weitergehen sollte. Doch mein inneres Gefühl hielt mich davon ab. Es riet mir ihnen weiterhin zu helfen, da auch sie überaus hilfsbereit zu mir gewesen sind. Wir kämpften uns also durch und versuchten mit jeglichen Schwierigkeiten zurecht zu kommen, auch wenn der Weg noch sehr weit war und noch härter werden sollte. Mir wurde bald klar, dass ich jetzt nicht aufgeben durfte und schon gar nicht verzweifeln. Dabei sah ich zu Zahra herüber und beobachtete wie tapfer sie die Rucksäcke trug und mit großer Hoffnung im Herzen voranschritt. Ihr Beispiel gab mir Mut. Manchmal sagte sie sogar voller Zuversicht: „Irgendwann werden wir schon ankommen!” Dabei erzählte sie mir von ihrer Schule und dem Ort, wo sie zur Schule gegangen ist. Das aber machte mich traurig. Ich wollte ihr am liebsten gar nicht zuhören. Denn dann fühlte ich mich an meine eigene Schulzeit erinnert und an meine Freunde, die ich dort schweren Herzens zurückgelassen hatte. Und daran wollte ich jetzt nicht denken. Doch es gefiel mir mich von ihr ein wenig ablenken zu lassen, zumal mich dies meine Schmerzen weniger spüren ließ und mich auf meinem Weg bestärkte.

„Seid still,“ rief plötzlich einer im Dunkeln. „Wir müssen hier nun einige Stunden warten.“ Ich blickte auf mein Handy und stellte fest, dass es 23:00 Uhr in der Nacht gewesen ist. Wir sind demnach nahezu 24 Stunden über durchgelaufen, und dies auf steinernen Pfaden. Nun konnten wir uns ein wenig ausruhen und erholen. Ich jedenfalls hatte mich nach diesem Befehl sofort hingelegt und meinen Rucksack unter meinen Kopf geschoben, und hätte nicht gedacht, dass ich so schnell einschlafen würde. Es war Amir, der mich schließlich weckte. „Wir müssen los. Du musst aufstehen“, sagte er und schüttelte mich an der Schuler. Ich blickte um mich herum und stellte zu meiner Verwunderung fest, dass schon sehr viele Menschen weitergezogen waren. Und trotzdem meinte ich zu Amir, dass ich noch ein bisschen ruhen wolle. Ich könne jetzt einfach nicht aufstehen. Mir fehle die Kraft dazu. Er aber sagte: „Nein, das geht nicht. Wir müssen weiterziehen. Alle anderen sind schon losgegangen.“ Im Halbschlaf, weder richtig wach noch schlafend, stand ich auf und fragte Zahra wie spät es sei. Sie gab mir zur Antwort: „Es ist 4:45 Uhr.“

Demnach war es früh am Morgen und wir hatten nur wenige Stunden Pause gehabt, in dieser Zeit ich tief und fest eingeschlafen war. Allmählich wurde es heller und ich fühlte wie der frische Morgenwind mein Gesicht angenehm strich. Die Sonne ließ sich sehen und trotzdem war mir kalt. Doch ich hatte nichts mehr zum Überziehen dabei, denn meine etwas dickere, wärmere Jacke hatte ich auf dem Weg zurücklassen müssen. Ich fror bis sich mein Körper durch das Laufen und Schleppen der Rucksäcke von selbst erwärmte und die Strahlen der Sonne uns in die schweren Gemüter schien. Um uns herum war nichts als Gestein und kahle Erde. Ich befand mich nun in der Mitte der Menschenschlange und man sah mir und den anderen an, dass wir seit mehreren Tagen nichts mehr richtig gegessen hatten und auch nicht duschen konnten. Die Kraftlosigkeit war in jedem Auge sichtbar. Doch wir gaben nicht auf und erreichten schließlich gegen 11:00 Uhr am Vormittag ein neues Lager, ein Aufenthaltsort der Schlepper, das uns Flüchtlinge aufnehmen sollte und worin wir uns endlich ausruhen konnten.

Dieses Lager war umgeben von einer fast zwei Meter hohen Mauer, worin sich ein großer Garten befand. Darin befanden sich bereits einige Leute, die sich vor uns auf den Weg gemacht hatten. Kurioserweise gab es in diesem Lager einen kleinen Laden, in welchem wir uns selbst Lebensmittel, wie Brot, Kekse, Wasser, Säfte und anderes kaufen konnte. Demnach war es ein etwas besseres Lager im Vergleich zu dem, das wir vorher hatten. Es gab darin sogar Palmen, in deren Schatten es sich angenehm schlafen ließ. Doch auch hier war es strengstens untersagt, das Lager zu verlassen, das von Wachleuten bewacht wurde, die uns beobachteten. Allerdings waren diese Männer hier etwas freundlicher als die am vorherigen Aufenthaltsort. Zwar trugen auch sie Pistolen, aber sie kommunizierten mit uns und waren hilfsbereit. Ich stellte fest, dass ich seit langem nicht mehr geduscht hatte. Meine letzte Dusche war in Nimrus. Ich hatte einfach vergessen, wie lange wir uns schon auf dem Weg befanden. Tage und Nächte waren seither vergangen. Ich ging nun zu einem ungefähr vierzigjährigen Mann des Wachpersonals, der sehr ernst und gefährlich aussah, und fragte ihn, obwohl ich etwas ängstlich war, höflich: „Entschuldigen Sie, gibt es hier die Möglichkeit sich zu duschen?“ Er antwortete mir freundlich: „Ja, die gibt es, aber du musst das bezahlen.” Ich erkundigte mich weiter, wo dieser Ort sei. „Dort,“ sagte er und zeigte ihn mir mit der Hand. „Dankeschön,” antwortete ich. In der Dusche angekommen, fand ich einen Spiegel, vor den ich mich stellte. Ich war braun und dünn geworden, stellte ich dabei fest. Ich sehe anders aus als vorher, aber es ist gut, dass ich im Moment hier bin und alles geschafft habe, sagte ich zu mir, um mich selbst zu ermutigen. Nach der Dusche fühlte ich mich schon viel besser und ging zu Amir und seiner Familie hin. „Oh, du siehst gut aus“, meinte er lächelnd und wollte wissen: „Wieviel kostet es zu duschen?” Ich antwortete ihm ehrlich: „Es ist zum einmaligen Duschen ziemlich viel Geld verlangt, aber es gibt nur diese eine Möglichkeit.“ Danach hatte ich Mut mit Amir zu einem der Schlepper zu gehen, um ihn zu fragen, wie lange wir noch hier zu bleiben hatten. Er gab uns zur Antwort, dass wir uns höchstwahrscheinlich morgen früh auf den Weg machen werden. Amir aber glaubte ihm nicht. Als wir uns dankend von ihm abwanden, meinte Amir zu mir: „Die Schlepper sagen uns nicht die Wahrheit”. Ich gab ihm im Nachhinein recht, denn es waren schließlich ganze vier Tage, die wir noch an diesem Ort verbringen mussten. Erst am fünften Tag konnten wir weitergehen und dieses Lager verlassen.

Am Anfang war es wirklich gut für uns gewesen, aber nach fünf Tagen in einem solchen Lager, ist einfach alles unerträglich, zumal immer mehr Menschen kamen und die Bedingungen im Lager selbst immer schlechter wurden.

Bevor wir losgingen, erhielten wir noch einige Regeln und Tipps der Schlepper, die uns erklärten auf was es ankommt, sollten wir von iranischen Polizisten angehalten werden und vor ihnen fliehen müssen. Sie teilten uns mit, was wir dann zu tun hatten. Am Wichtigsten sei es, dass wir ganz leise sind. Dies sei extrem wichtig, genauso wie die Tatsache, dass wir gebückt zu laufen hatten und nicht aufrecht gehen durften. Sie würden uns Bescheid geben, wann wir wo aufrecht und wann wo gebückt laufen müssten. Und dass wir, wenn es darauf ankam, sehr schnell zu sein hatten. Darüber hinaus beschworen sie uns, dass wenn einer unserer Gruppe von den Polizisten geschnappt werden sollte, es darauf ankam, dass er oder sie uns nicht verraten und der Polizei unter keinen Umständen mitteilen dürfe, wo sich die anderen befinden. Sollte einer aus unserer Gruppe verloren gehen und nicht wissen, wo die anderen sind, könne er sie durchaus anrufen. „Ruft uns einfach an und wir werden versuchen, euch zu finden,“ sagten sie zuletzt.

Denn der uns nun bevorstehende Abschnitt zur Grenze des Irans, war zwar ein sehr kurzer Weg, sollte aber ein sehr gefährlicher werden. Alles möglich konnte uns auf unserem Weg dorthin passieren und Schlimmes zustoßen. „Wer Pech hat, wird festgenommen und wieder zurück nach Afghanistan geschickt oder sogar auf der Flucht vor der Polizei von ihr erschossen.“ Die gute Nachricht bestand allein darin, dass wer den Weg hinter sich hat, im Iran ist und darin so gut wie sicher. Nach dieser Belehrung waren wir auf alles gefasst und hatten viel Herzklopfen, denn der größte und wichtigste Schritt stand uns nun bevor.

Hierzu wurde unsere Gruppe in eine Kleinere aufgeteilt, sodass wir nur noch ungefähr fünfzig Personen waren, die sich am Abend in die Nähe der Grenze begeben sollten. Zwei der Schlepper befanden sich vor der Gruppe und einer hinter ihr. Sie versuchten die Gruppe so gut es ging zusammenzuhalten. Ich drehte mich zu den anderen um, um Amir und seine Familie nicht zu verlieren. Auch wenn ich müde war, hielt ich allem stand. Doch dann sah ich, wie einer der Schlepper einen jungen Mann schlug. Ich fragte Amir, warum der Schlepper diesen Mann geschlagen hat und bekam zur Antwort, dass er nicht auf den Schlepper gehört hatte und eine Zigarette zum Rauchen angezündet hatte. Das Glimmen der Zigarette hätte uns verraten können, denn die Polizei kann dies aus der Ferne erkennen. Ich machte mir Sorgen und lief weiter den Berg hinab, wobei wir nicht direkt zur Grenze hin, sondern an ein kleines Dorf gelangten, das wir um 23:30 Uhr erreicht hatten und relativ schnell durchliefen. Die Schlepper gaben uns schließlich den Befehl, uns neben eines der Häuser am Ende des Dorfes zu setzen und uns bedeckt und ruhig zu halten, damit die Bewohner nichts bemerkten. Wenige Autos fuhren die Landstraße entlang und doch befand sich ganz in der Nähe dieses Dorfes eine Autobahn. Einer der Schlepper erklärte uns leise, dass in einer Stunde zwei Autos kommen würden, mit denen wir unseren Weg fortsetzen könnten und dass wir hierzu zur Autobahn laufen sollten. Wir liefen also bis an den Rand der Autobahn und warteten auf die uns versprochenen Autos. Ich freute mich, nicht mehr laufen zu müssen, holte meine Flasche hervor und trank ein bisschen Wasser, während ich zu Ali schaute und sah, wie der kleine Junge neben seinem Vater sitzend gähnte. Nach mehr als einer Stunde kam der Schlepper mit noch zwei weiteren Männern zurück, die die Autos fahren sollten. Wir liefen noch etwa 20 Minuten zu den Autos hin und erreichten schließlich eine dunkle Ecke, in welcher die Autos geparkt hatten, damit sie von der Autobahn aus nicht gesehen werden konnten. Wir sahen die Autos kaum, aber hörten die Geräusche ihrer Motoren. Für fünf Personen waren diese Autos eigentlich gedacht, doch wir stiegen zu elft ein. Ich saß ganz vorne neben dem Beifahrer, Amir und seine Frau mit den drei Kindern befanden sich im hinteren Teil des Autos, während drei weitere Jungen im Kofferraum des Autos lagen. Da die Jungs sehr schmal und klein gewesen sind, hatten sie im Vergleich zu anderen Leuten etwas mehr Glück in diesen Autos unterzukommen. Trotzdem war es eine Belastung, die wir auf uns zu nehmen hatten, um weiterzukommen. Nachdem alle aus unserer Gruppe in den Autos platziert waren, sind sie nacheinander in Richtung Autobahn losgefahren. Ich sah wie der Beifahrer ständig auf sein Handy schaute und sich mit seinen Kollegen verständigte, um über den Zustand des Weges informiert zu bleiben. Unser Auto fuhr mal schneller, mal langsamer und zwischendurch extrem schnell. Der Fahrer und Beifahrer unterhielten sich auf Persisch. Sie sprachen jedoch in einem Dialekt, den ich nicht verstand und somit nicht erkennen konnte, worüber sie sich unterhielten, und schon gar nicht was sie im Einzelnen zueinander sagten. Ich hörte nur, wie sich von hinten Amirs kleiner Sohn über seinen Platz beschwerte. Mein Platz ist auch ziemlich eng gewesen. Ich konnte mich kaum bewegen. Meine Beine waren taub und sind mit der Zeit eingeschlafen. Auch meinen Rücken hätte ich gerne gestreckt, aber es war kein Platz dazu vorhanden. Die Luft wurde nun drückend und irgendwann sind mir die Augen schwer geworden und ich bin einfach eingeschlafen, während der Mann neben mir weiter in sein Handy sprach, um Signale zu empfangen und unentwegt auf die Straße starrte. Plötzlich bremste unser Auto ab und stand auf dem Seitenstreifen der Autobahn. Alle Türen einschließlich des Kofferraums wurden geöffnet und wir angewiesen zur Seite zu gehen und uns schnell zwischen den Bäumen, ein paar Meter vom Auto und der Autobahn entfernt, zu verstecken. Die Schlepper erklärten uns, dass unser Auto von der Polizei erkannt und verfolgt worden sei. Wir waren mehr als aufgeregt und warteten ab, was passieren würde. Der Fahrer teilte uns schließlich mit, dass er mit dem Auto nicht weit weg fahren wolle und später wieder zurückkomme. Wir sollten warten bis er uns weiterfahren könne und in der Nähe bleiben. Wir hielten uns also versteckt zwischen den Bäumen und warteten seine Rückkehr ab. Es war 3:00 Uhr in der Nacht. Ich sah wie einige Polizeiautos mit Blaulicht an uns vorüberzogen. In diesem Moment ging mir der Gedanke durch den Kopf, was gewesen wäre, wenn die Polizei uns geschnappt hätte. Ich fragte mich zudem, woher die Polizei wusste, dass wir hier sind und wie der Fahrer bemerkt hatte, dass die Polizei hinter uns her war. Ich verstand dieses Geschäft und diese ganzen komplexen Zusammenhänge einfach nicht. Ich wusste absolut nicht, wie all das funktioniert und weshalb Menschen bereit sind, diese Aufgaben zu übernehmen. Ich wollte es in diesem Moment auch nicht wissen. Mir war momentan sowieso alles zu viel. Amir versuchte seinen Sohn zu beruhigen und bat ihn leise zu sein, damit wir nicht erwischt werden. Wir beobachteten die Autobahn, um festzustellen, ob noch mehr Polizeiautos vorbeifahren würden. Nichts regte sich mehr und nach etwa einer halben Stunde kamen die Schlepper wieder zurück. „Wir können wieder weiterfahren”, sagten sie, während sich Amir beim Beifahrer erkundigte, wie es den anderen Mitreisenden ergangen sei. Er antwortete ihm ehrlich: „Ein Auto, das sich nach uns auf den Weg gemacht hat, ist leider von der Polizei erwischt worden.” Amir sah ihn schweigend an und der Mann fügte dem hinzu: „Zum Glück haben wir schnell gehandelt, sonst wären wir die Nächsten gewesen.“ Daraufhin stiegen wir einigermaßen erleichtert in das Auto ein und sind die gesamte Nacht hindurchgefahren.

Um 5:00 Uhr morgens sind wir in einer Stadt namens Isfahan angekommen, eine der größten Städte des Irans. Demnach hatten wir es geschafft, die Grenze zu überqueren. Wir waren froh, endlich am Ziel angelangt zu sein oder zumindest den vermeintlich schlimmsten Teil überstanden zu haben.

Das Leuchten am Horizont

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