Читать книгу Das Leuchten am Horizont - AKBAR EBRAHIMI - Страница 9

3. Meine Welt und die Welt da draußen: Terror und Krieg

Оглавление

Wie jeden Tag, so auch diesen, bin ich von der Schule nach Hause gekommen und von meiner Mutter gefragt worden, wie mein Tag in der Schule gewesen sei.

„Er war ganz okay, eigentlich wie immer“, gab ich ihr zur Antwort. Doch diesmal reagierte sie etwas anders. Ich spürte, dass sie mir etwas sagen wollte. Sie meinte, dass ich bitte mit ins Wohnzimmer kommen soll, wo sie und mein Vater ein Gespräch mit mir führen wollten. Ich machte mir keine großen Gedanken darüber, denn es ist eigentlich ganz normal für mich gewesen, dass sie mich ab und an zu sich riefen, um mit mir etwas zu besprechen. Schließlich bin ich der älteste Sohn und schon etwas groß geworden.

„Hast du Hunger?“, fragte mich meine Mutter. „Ja, ich habe riesigen Hunger“ entgegnete ich ihr beinahe vorwurfsvoll, „denn es ist schon spät am Nachmittag oder habt ihr die Zeit ganz vergessen?“ Meine Mutter nickte und begab sich in die Küche: „Das dachte ich mir schon. Ich hole für dich Kachalo Qaurma, das vom Mittagessen übriggeblieben ist.”

Mit einem Teller in der einen Hand und etwas Brot in der anderen kam sie zurück. „Du kannst schon mal anfangen. Ich hole noch den Rest”, sagte sie lächelnd. Dann setzte sie sich zu mir. Während ich aß, sah mich meine Mutter etwas anders als gewöhnlich an. Normalerweise lacht sie dabei auch viel und fragt mich nach meinem Tag in der Schule. Doch diesmal nicht.

Diesmal betrachtete sie mich irgendwie seltsam. Etwas lag ihr auf dem Herzen. Vielleicht hatte sie einen schlechten Tag gehabt oder es gab Probleme, von denen ich noch nichts wusste.

Sie sah zu mir herüber und sagte schließlich: „Dein Vater und ich haben lange darüber nachgedacht und uns überlegt mit dir über ein wichtiges Thema zu sprechen.“ Ich blickte schockiert auf und fragte mich, was denn so wichtig sein könnte.

Ich erkannte, dass es sich um ein ernstes Thema handeln musste, das sie mit mir besprechen wollten. Vielleicht deshalb, weil ich langsam erwachsen werde und ein bisschen Mitspracherecht erhalten soll, dachte ich. Unzählige Gedanken gingen mir nun durch den Kopf.

Ich lächelte sacht und antwortete ebenso ernst: „Okay, ich höre zu“. Meine Mutter blickte zu meinem Vater und dann wieder zu mir. „Wir haben es uns wirklich sehr lange überlegt.“ Ich bemerkte, dass es ihr scheinbar nicht leicht fiel mir zu sagen, was sie zu sagen hatte. „Dein Vater und ich sind der Meinung, dass wir dich in den Iran schicken sollen. Du sollst erst in den Iran gehen und dann vielleicht weiter nach Europa”, meinte sie mit etwas zittriger Stimme.

In dem Moment, in dem sie das sagte, verstand ich den Satz noch nicht richtig in seiner vollen Bedeutung. Ich meinte fast, es geschehe aus Spaß, denn ich konnte es einfach nicht fassen, nicht glauben, was sie da sagte. Doch sie meinte es tatsächlich ernst.

Ich bekundete ihnen nun mein Erstaunen: „Ich glaube, ich habe das nicht ganz verstanden,“ stammelte ich. „Ich soll wirklich in den Iran?” fragte ich und sah zu meiner Mutter herüber. „Und danach nach Europa?“ Ich bemerkte, wie sich meine Mutter kontrollieren musste, um nicht zu weinen.

„Okay, Europa! Ich weiß von der Landkarte her ungefähr wo Europa liegt, aber nicht, wie man dort hingelangt,“ sagte ich so halb zu mir, halb zu meinen Eltern gesprochen. Denn ich konnte ihre Worte, die sie soeben mit mir gewechselt hatten, nicht fassen, sie nicht begreifen, geschweige denn akzeptieren.

Ich war in diesem Moment einfach komplett schockiert und fragte etwas unbeholfen, ob wir denn alle zusammen nach Europa gehen. Meine Mama verneinte es mit schüttelndem Kopf. Sie sah zum Fenster hinaus und trocknete ihre Tränen mit ihrem Kopftuch.

Ich fragte mich, warum sie zu weinen begann. Mein Vater aber, der im Gegensatz zu meiner Mutter noch etwas Fassung wahrte, beantwortete meine Frage mit: „Nein, denn dazu braucht man viel Geld und so viel Geld haben wir nicht.“

Ich schluckte: „Ihr meint also, dass ich ganz alleine gehen soll.“ „Ja, du bist ein großer Junge,“ antwortete mir meine Mutter unter Tränen. „Ja, ich bin groß geworden,“ sagte ich „aber ich habe keine Ahnung, wie ich das machen soll. Ich bin doch noch nicht einmal alleine in Kabul gewesen. Wie soll ich da jetzt auf einmal in den Iran und dann auch noch nach Europa kommen?” Ich machte ihnen Vorwürfe, was meine Mutter erkannte, so dass sie mich zu beschwichtigen versuchte: „Du musst keine Angst haben. Es wird alles gut werden. Wir sind an deiner Seite,” meinte sie mir Zuversicht schenkend. Doch ich wollte nicht nachlassen. „Was ist mit meiner Schule und mit meinen ganzen Freunden?”

Sie antwortete mir: „Das ist doch nicht schlimm. Du kannst überall auf der Welt zur Schule gehen und Freunde finden.“ Ich aber entgegnete ihr empört: „Ich möchte aber meine Freunde hier haben und meinen kleinen Bruder Ismaiel nicht zurücklassen. Warum soll ich in den Iran gehen und dort irgendwann Arbeit finden?“

Sie wurde strenger: „Du musst gehen! Du kannst hier nicht mehr bleiben! Denn hier ist es nicht mehr gut für dich! Es ist zu gefährlich!“ Ich schluckte ohne etwas darauf zu antworten.

„Siehst du denn nicht, wie hier tagtäglich Menschen getötet werden,“ antwortete mir nun mein Vater vorwurfsvoll. „Diese Situation ist für dich wohl schon ganz normal.“ Ich blickte unter mich. „Aber das ist sie nicht! Sieh dich doch nur einmal um und schau, was da draußen jeden Tag passiert,“ entgegnete er mir und ich erkannte, dass er recht hatte, mit dem was er sagte. Jetzt hatte ich es verstanden.

Um es mir noch deutlicher zu machen, fügte er dem hinzu: „Du bist zu sehr mit der Schule und deinen Freunden beschäftigt, so dass du gar nicht mehr mit offenen Augen durch die Welt gehst.“

Ich gestand mir nun ein, dass ich tief in meiner Teenagerwelt steckte und darin so sehr verstrickt schien, dass ich mir nicht einmal Gedanken über die vergangenen Vorfälle gemacht hatte.

Wir hörten in der letzten Zeit zwar viel in der Schule davon, aber bereits nach fünf Minuten hatten wir alles wieder vergessen und kümmerten uns um unsere eigenen Sachen.

„Und darum hast du sicherlich auch nicht mitbekommen, was geschehen ist, nicht wahr?“ Ich bestätigte es. Mein Vater erklärte mir daraufhin, dass am Mittwochnachmittag ein Anschlag auf die Mädchenschule meiner Heimatstadt erfolgte und dabei zahlreiche Schülerinnen getötet wurden. Das Schulgebäude wurde bei diesem Angriff vollständig zerstört. Nun erkannte ich, was er meinte.

Meine Eltern hatten völlig recht mit dem was sie sagten. Die Situation in unserem Land wurde tatsächlich tagtäglich schlechter. Ständig hörte man von schlimmen Dingen; von Explosionen, Anschlägen, Erpressung und Mord.

Ich sah ein, dass es keine andere Wahl für mich gab, als mich auf den Weg zu machen, zumal ich mir nach dem Vortrag meines Vaters ernsthafte Gedanken darüber machte und erstmals Sorgen hatte. Ich verstand plötzlich, dass es wirklich gefährlich war, hier zu leben. Deshalb blickte ich meinen Vater an und entgegnete ihm tapfer: „Ja, ich werde das machen. Ich muss das tun!“ Er nickte und Ängste überkamen mich. „Doch sage mir, wie soll ich das schaffen? Ganz allein auf mich selbst gestellt! Das kann ich allein nicht schaffen!“

Er blieb streng: „Ja, das wissen wir auch, doch in diesem Fall musst du das machen. Du hast keine andere Wahl“, und beruhigte mich: „Ich werde jedoch versuchen, jemanden zu finden, dem ich dich anvertrauen kann. Gemeinsam sollt ihr in den Iran gehen.“

Ich atmete ein wenig erleichtert auf. „Derzeit gehen viele Menschen in den Iran. Doch ich möchte dich nicht mit unbekannten Menschen dorthin schicken,” meinte mein Vater, nun doch etwas um mich besorgt.

Ich ging nun hinaus aus dem Haus, um mir etwas frische Luft zu verschaffen, während meine Eltern im Wohnzimmer sitzen blieben.

Denn ich musste all das Gehörte erst einmal verarbeiten und es realisieren. Ich mochte es einfach nicht glauben, was ich da gehört hatte und wollte nicht wahrhaben, dass in weniger als einer Stunde über mein weiteres Leben entschieden worden war. Es kam einfach alles sehr überraschend für mich. Ich war noch immer irgendwie schockiert. Ihre Entscheidung konnte ich zwar verstehen, aber ich wollte sie nicht verstehen und begreifen müssen und schon gar nicht akzeptieren. Natürlich verstand ich ihre Sorgen und respektierte ihre Meinung bzw. Entscheidung, aber es war einfach zu viel von mir verlangt. Dennoch wusste ich, dass sie nur mein Bestes wollten und dass ihnen diese Entscheidung sicherlich nicht leicht gefallen ist. Sie hatten lange darüber nachgedacht und es sich sorgfältig überlegt. Schließlich ist es ihr Ziel, mich zu beschützen, nicht mir zu schaden. Noch immer sehe ich meine Mama vor Augen und wie sie sich mit dem Tuch die Tränen wegwischt. Ihre Tränen waren eigentlich das Unerträglichste für mich.

Und so entschied ich mich in den Iran zu gehen. Hierbei gingen mir unzählige Gedanken durch den Kopf. Es wurde mir plötzlich bewusst, dass ich die mir in Afghanistan noch verbleibende Zeit gut nutzen musste, um viel mit meinen Freunden zu unternehmen. Denn ich war mir nicht sicher, wann und ob ich sie jemals wiedersehen würde.

Gewiss war nur, dass ich sie verlassen musste. All meine Freunde, Bekannte und sogar meine Familie hatte ich zu verlassen und hier in Afghanistan zurückzulassen, um mich in ein fremdes Land zu begeben.

Der Gedanke daran war einfach zu schwer. Es stimmte mich sentimental. Nur manchmal hatte ich auch positive Gefühle dabei, zum Beispiel wenn ich daran dachte, dass ich mich aus dieser gefährlichen Situation befreie.

Mich quälte allerdings der Gedanke, wie ich nach Europa gelangen sollte und wenn ich nicht in Europa ankommen würde, wenn ich dabei sogar sterben würde.

Tausende Fragen waren nun in meinem Kopf, die ich nicht in der Lage war, sachgemäß zu beantworten.

Ich erinnerte mich an Ahmad. Wir gingen damals in dieselbe Schule und Klasse und wohnten nicht weit entfernt voneinander. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und oft gemeinsam unsere Hausaufgaben gemacht.

Vor etwa vier Monaten wollte er in den Iran gehen. Dabei hatte er allerdings vor der Polizei zu fliehen und wurde zusammen mit zwei weiteren Mitreisenden erschossen.

Als ich davon hörte, habe ich viel geweint. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass Ahmad gestorben war.

Und genau wie Ahmad sollte nun auch ich mich auf diese gefährliche Reise begeben. Es fiel mir schwer.

Die Erinnerungen an meinen Freund Ahmad waren fest in meinem Kopf verankert. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Meine Angst vervielfachte sich bei diesen Gedanken. Doch ich hatte keine andere Wahl. Ich musste gehen.

Bald schon stellte ich jedoch fest, dass die Situation in unserem Land tatsächlich immer schlimmer wurde und es schwierig war zur Schule zu gehen.

Dies erleichterte mir die Entscheidung zu gehen. Ich entschloss mich selbst dazu. Denn man merkte förmlich, wie es jeden Tag schlimmer und immer schlimmer wurde.

Ich gab meinem Vater recht und er war froh, dass ich mich nun aus dieser Hölle hinausbegeben sollte.

Mein Vater hielt bereits seit über drei Wochen nach jemandem Ausschau, dem er vertrauen konnte und der sich mit mir in den Iran begeben würde. Nach langer Suche hatte er schließlich die richtige Person gefunden; den Freund eines Freundes. Dieser sollte mich begleiten, zusammen mit weiteren achtzehn Menschen aus meiner Stadt, mit denen ich höchstwahrscheinlich noch in dieser Woche mit einem Auto abgeholt werden würde.

Es war schließlich an einem Dienstagnachmittag, den ich nie vergessen werde. Gegen 15:00 Uhr begleitete mich mein Papa nach draußen und nahm meinen Rucksack auf seine Schultern.

Zuvor habe ich mich von meiner Mama und meinen Geschwistern verabschiedet und bemerkt, dass es mir wirklich schwerfiel, sie hinter mir zu lassen, um mich auf den Weg zu machen.

Ich hätte nicht gedacht, dass es mir so schwerfallen würde. Ich sagte mir, dass es nur eine Verabschiedung auf Zeit sei und nicht für immer. Dennoch weinte ich, obwohl mich sonst nicht wirklich viele Dinge zu Tränen rühren.

Ich versuchte stark zu sein, um mir nichts anmerken zu lassen, aber diese Situation war einfach zu extrem für mich, sodass ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte und sie in meinem Halstuch verbarg.

Mein kleiner Bruder Ismaiel hielt mich nun fest umschlungen. Er fragte immerzu mit seiner süßen Kinderstimme, wann ich wiederkommen würde. „Ich werde bald wiederkommen,“ sagte ich ihm zur Beruhigung. „Wir sehen uns bestimmt wieder Ismaiel.”

Er fragte: „Bringst du mir dann auch Schokolade mit, wenn du wiederkommst?” Ich lächelte gerührt: „Ja, natürlich bringe ich dir dann ganz viel Schokolade mit.” Meine Mutter aber weinte und meinte, dass mein Vater schon warte. Mit einem Zeichen gab er mir zu verstehen, dass es Zeit zu gehen sei.

„Die anderen warten schon auf uns, wir müssen in zwanzig Minuten beim Auto sein,“ sagte er sanft. Er begleitete mich zum Wagen, wo sich bereits andere Passagiere eingefunden hatten. Der Fahrer rief nun: „Ich muss nochmals kurz weg, den Wagen volltanken.“ Einige der Mitfahrenden lachten und überbrückten die Zeit mit Rauchen oder dem Telefonieren mit Angehörigen. Mein Vater und ich setzten uns auf eine nahegelegene Bank. Er teilte mir dabei mit, dass ich auf mich aufpassen solle. Ich nickte, drehte mich um und sah meine Mutter, die doch noch dazu gekommen war. Sie umarmte mich noch einmal und streichelte mir das Haar. Auch sie meinte, dass ich auf mich aufpassen müsse, während mich nun mein Vater fest umarmte.

Zu dritt standen wir nun Arm in Arm zusammen und warteten auf den Fahrer. Er kam zurück und meinte, dass noch zwei weitere Personen fehlen. Wir warteten auf sie, sodass ich noch etwas länger Zeit hatte mich von meinen Eltern zu verabschieden.

Mir war nun klar, dass ich sie für eine längere Zeit nicht mehr sehen sollte, da ich nicht wusste, wann ich wiederkommen würde und ob ich überhaupt wiederkommen würde und am Leben bliebe.

Weinend stieg ich in das Auto ein, indessen mir mein Vater und meine Mutter zum Abschied winkten.

Das Leuchten am Horizont

Подняться наверх