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Die versteinerten Tränen

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Wir wateten in der seichten Mulde eines breiten Flußbetts landeinwärts, dessen Wasser schon längst vertrocknet waren, und zu beiden Seiten der flachen Uferböschung zogen sich Hunderte von erratischen Blöcken wie eine Garnison versteinerter Träumer dahin. Sie nickten einander unmerklich zu, und über ihren Köpfen brauste ein Föhnsturm mit lautem Rauschen dahin. Und über dem ganzen Flußgrund verteilte sich, von der spröden Hitze in den Schlamm gefressen, ein merkwürdiges, netzartiges Muster von Rissen, dessen Zentrum sich direkt unter mir befand. Da wurde mir erst klar, daß der Boden aus unzähligen kleinen Granitplättchen bestand, die ein kompliziertes Muster bildeten, dessen Linien sternförmig unter meinen Füßen zusammenliefen. Das Seltsame aber war, daß sich der Boden gewissermaßen zu meinen Schritten mitbewegte, denn mit jedem meiner Schritte ging eine wellenförmige Bewegung durch das ganze Flußbett, so daß sich der ganze Boden im Rhythmus meiner Bewegungen auf eine Weise verschob, daß ich immer im Zentrum der strahlenförmigen Linien verblieb.

«Was ist das für ein seltsamer Pfad?» fragte ich.

«Es ist die Straße der Selbsterkenntnis», sagte Akron ruhig, «die aus den Visionen der Träumer gepflastert ist, die die Straße säumen.»

«Höre ich recht?» wandte ich ein: «Diese Steine sind Träume?»

«Es sind versteinerte Träume, gewiß», antwortete er gedehnt.

«Steine können nicht träumen», wandte ich entschieden ein.

«Du bist schon ein seltsamer Heiliger», sagte Akron und schaute mich von der Seite mißbilligend an, «gerade noch hattest du einen imaginären Gipfel bestiegen, der nur in deinem Kopf existierte, und aus einer Handvoll Plankton ein Ungeheuer gezaubert, das dich verschlingen wollte, und nun willst du plötzlich mit tödlicher Sicherheit wissen, daß Steine niemals träumen können.»

«Nun gut», mußte ich einräumen, denn er hatte natürlich recht. «Doch wie träumen Steine», wollte ich wissen, «und wie unterscheiden sie sich von den anderen Träumern?» Meine Kehle war wie verdorrt.

«Der Plankton-Träumer sucht weder nach Begriffen, noch will er etwas begreifen, er will vielmehr ein Bild, das nicht nur die Teile, sondern das gesammelte Empfinden seines inneren Erlebens berührt, empfangen», versuchte er mir die Sache näherzubringen. «Die Steine träumen dagegen diskursiv, sie verbeißen sich in die Träume und suchen den Sinn des Lebens aus den unbewußten Bildern herauszupressen.»

«Und was hat das alles für mich zu bedeuten, Akron?» Es war sehr seltsam. Ich nahm diese Szene plötzlich als Erinnerung wahr. Irgendwie hatte ich das sonderbare Gefühl, daß dieses Erleben etwas war, das schon lange in mir stattgefunden hatte und an das ich mich plötzlich wieder erinnern konnte. Das war weder ein Traum noch irgendeiner von Akrons Zaubertricks.

Akron drehte sich mit einem Ruck um: «Ich sehe es dir an, daß du dich plötzlich erinnerst, und nun müssen wir blitzschnell in deine Erinnerungen eindringen, bevor die Bilder wieder in deinem Hirn versickern.»

«In die Erinnerungen eindringen?» Einen Augenblick lang sah ich eine riesige Silhouette aus Stein, einen gewaltigen Findling, der am Ende der Straße lag.

«Ja! Die Träume der Steine bereisen. Möglicherweise wird dir dann klar, daß es deine Erinnerungen sind. Und dann fällt dir auch wieder ein, wer die Steine sind.» Er blickte mich offen an: «Ich spüre, du bist dir nicht so sicher, doch ist unser Manöver zu wichtig, als daß ich jetzt mit dir darüber diskutieren möchte. Du mußt den Geist der Steine selbst fragen. Heb einen von diesen kleinen Steinen auf, und bitte ihn um Erlaubnis, seine Träume bereisen zu dürfen. Sag einfach, du suchst den Stein der Weisen, den du in seinen Träumen zu finden hoffst, oder frag ihn, was der Sinn des Lebens sei. Am besten du fragst ihn, auf was er in dieser Hölle hofft. Es ist doch nicht dein Herz?» sagte er schallend lachend: «Du magst’s erahnen: Er träumt den depressiven Lebensschmerz!»

Ich hob einen Stein vom Boden auf und sah mich ängstlich nach Akron um. «Soll ich ihn wirklich fragen?» wollte ich noch einmal wissen.

«Ja, los doch, frag!»

«Eine sehr heikle Situation», stellte ich fest, denn ich wußte nicht recht, wie ich aus meiner Position den kleinen Stein in meiner Hand ansprechen sollte. Schließlich murmelte ich leise: «Was ist der Sinn deiner Träume, Geist?»

Dann geschah etwas Sonderbares. Der Stein löste in mir auf eine mysteriöse Weise ein inneres Gefühl für die Worte aus, die er mir sagen wollte, ohne sie aber selbst zu formulieren, denn ich nahm plötzlich ein paar Gedanken in mir wahr, die ich kaum zu denken wagte, ohne mich nicht selbst als verrückt bezeichnen zu müssen: daß nämlich nicht ich, sondern er der Frager sei, der auf mich am Weg die ganze Zeit gewartet habe, weil er jetzt von mir wissen wolle, warum ich meine himmlischen Sehnsüchte und Träume nicht einfach zulassen könne und ich jedes innere Entzücken ständig mit strukturierenden Höllen zupflastern müsse. Denn die Welt, die ich hier sähe, existiere nur aufgrund der Vorstellung, die ich mir von ihr mache. Es sei auch nicht der bittere Lebensschmerz, den ich suche, wie mir mein Seelenführer weismachen wolle; ich suche nach Wärme für mein kaltes Herz. Akrons Aussage entspräche nur meinem intellektuellen Empfinden, die Bilder meines inneren Erlebens mit dem Inventar meines äußeren Wissens in Übereinstimmung zu bringen. Jeder Sünder enthalte in seiner Seele nämlich ein reflexives Abbild im Spiegel seiner Bewußtseinsmuster, und er, den ich im Spiegel meiner Vorstellung erkenne, sei nur das Gespiegelte meiner Denkstruktur. Mein Geist sei in die Datennetze dieser ganzen Hölle eingebunden und deshalb auf sublime Weise auch mit ihm verbunden, obwohl ich mir dessen nicht bewußt wäre. Auf seine Weise spinne er die Träume im Bewußtsein dieser Hölle fort, deshalb seien für mich alle inneren Freuden statt leuchtender Sonnen bloß träumende Steine, die nur auf der Rückseite des Mondes existieren können, weil ich sie von mir abgespalten und aus mir selbst entfernt habe. Deshalb fände ich die wahre Antwort in dieser Hölle immer auf der Rückseite dessen, was ich für meine Wirklichkeit hielte.

«Dann dreh ihn um», ermunterte mich Akron, «wenn er dies wünscht: Vielleicht zeigt sich dort der gesuchte Sinn?»

Ich drehte den Stein in meiner Hand und betrachtete die Worte, die auf seiner Rückseite eingeritzt waren. «Dies ist der Unsinn der Frage nach Sinn …», las ich.

Akron kugelte sich vor Lachen: «Die Frage nach dem Sinn ist das Ablenkungsmanöver des materiellen Denkens, und der Sinn besteht gerade darin, den Hintergrund solcher Fragen zu erkennen, den Widerspruch einer jeden Frage nach Sinn, denn dieser ist ihr doch gerade durch sich selbst verlorengegangen.»

«Das versteh ich nicht», sagte ich kopfschüttelnd.

«Er wollte dir durch die Blume sagen», erwiderte Akron grinsend, «daß es töricht ist, nach Wissen zu streben, wenn man dem schon vorhandenen Wissen so wenig Beachtung schenkt wie du. Probleme sind nie einfach nur Manifestationen in der Außenwelt, sondern aus dem Unbewußten heraus agieren Menschen so, daß sie sie sich selbst schaffen. Somit liegen die Ursachen vieler Probleme schon in der Grundhaltung unserer Art, Umwelt wahrzunehmen. Da unsere Probleme also darüber mitbestimmen, wie wir die Welt betrachten, können wir die Lösung unserer Probleme erst dann erfahren, wenn wir uns der Art und Weise bewußt sind, wie wir die Welt anschauen. Dann nämlich, wenn wir erkennen: Jede Art der Welterkenntnis ist ein Akt der Selbstbetrachtung!»

Mir kam eine seltsame Idee. Als ich den Stein anschaute, hatte ich den Eindruck, daß er ein Teil eines komplexen Musters war, das auf ein Ziel hinführte, das mehr als die Summe seiner Teile war. Die Straße erschien mir wie ein universeller Code, der alle Erfahrungen der Vergangenheit speicherte und zugleich das gesamte Potential einer zukünftigen Evolution enthielt; und ich selbst war der Brennpunkt, in welchem sich das kausale Denken als Teil der Erfahrung einer sich selbst entwickelnden holistischen Struktur erkannte.

«Bin ich das Ziel?» wollte ich plötzlich wissen, denn der Stein ließ mich innerlich spüren, daß mein Hiersein eine nicht unbeträchtliche Voraussetzung seines Leidens wäre.

Akron sah mich fragend an. Er schien überrascht von dem, was ich sagte, und kratzte sich bedächtig am Kinn: «Diese Frage geht eigentlich über das hinaus, was du wissen kannst, denn diese Straße ist eine Ebene, die du oben in deinem Bewußtsein noch gar nicht wahrgenommen hast, und deshalb kann das Ziel, auf das sie hinführt, niemals das Ich sein, so wie du es von deinem Bewußtsein her kennst. Andererseits kann sie natürlich niemals von dem wegführen, was du bist. Sie führt dich in die unendlichen Tiefen deiner Innenwelt und damit in die höllischen Untergründe der Seele. Dort gewährt sie dir einen Blick hinter den Spiegel, ins Reich des Unbewußten, aus dem dir deine Sehnsüchte und Abgründe entgegenblicken, denn der Fische-Nebel heftet sich an die inneren Gefühle deiner Träume und projiziert sie wie Bilder in die Realität der Sehnsüchte, die für dich zur Wirklichkeit werden können. Der Saturnpfad ist hingegen der Führer, um das Labyrinth der Schatten zu erkunden, die Struktur der Projektionen zu erklären und sie den Sinnen zugänglich zu machen. Die Angst vor dem Bösen ist die Angst vor dir selbst, und in dieser Angst, die du vor dir selbst verbirgst, verfängst du dich im Fäulnisgeruch deiner eigenen Seele. Deshalb stellt sich hier die Frage, wer du bist, und zwar außerhalb der Person, die du zu sein glaubst, denn unterhalb des Ich, das du kennst, hast du eine unergründliche Seele, von der dieses Ich ein Teil ist, und gleichzeitig ist dieser Teil vom Ganzen getrennt durch einen Wächter, der prüft, ob dieser Teil der Erfahrung von deinem Bewußtsein aufgenommen werden kann oder nicht.»

«Wächter», echote ich verblüfft, «da existiert ein Wächter?» Ich war entzückt: «Kann ich ihn sehen?»

«Du wirst ihm begegnen», sagte Akron ruhig.

«Wie sieht er aus?»

«Mir ist er schon in vielen Masken begegnet, und deshalb ist es schwer zu sagen, in welcher du ihn sehen wirst, aber ich denke als geträumten Stein. Oder als körperlose Stimme. Er wird dich prüfen, und wenn er dich für reif genug hält, diese Sphäre zu betreten, dann geleitet er dich über die Schwelle, die zwischen Vorhölle und Hölle liegt, denn du weißt unendlich mehr über die Abgründe der Seele, als du rational vermuten kannst. Sei aber vorsichtig, er ist niemandes Freund; er ist der Wächter einer anderen Welt.»

«Welcher Welt? Der Welt der Toten?»

«Der Nacht der Seele! Das tiefe Unbewußte ist die Quelle, aus der die Bilder strömen, und er ist der Prüfer, der über die Weiterreise der Seele bestimmt.»

Dann stand er plötzlich da. Vor dem flammenden Tor zur Wahrheit stand er plötzlich da: eine Silhouette aus Stein. Meine Blicke umkreisten den gewaltigen grauen Findling, der am Ende der Straße unerschütterlich aufgerichtet war. Und in diesen Felsen eingefressen sah ich ein Skelett, ein Knochengeflecht, halb entblößt und halb in den düsteren Mantel der Verwesung eingehüllt, das mich aus tiefstem Nichts ansah.

«Bist du der Wächter?» fragte ich.

Er schwieg.

«Er ist die Summe deiner Erfahrungen auf allen Realitätsebenen, der Geist des Ewigen oder der Rahmen, in dessen Reflexionen sich der Kosmos erkennt», erwiderte Akron ernst, «frage nicht, sondern versuche den Durchbruch mit deinem inneren Willen zu erzwingen!»

Ich trat näher und erkannte, daß der Stein mein eigenes Grabmal war. Auf dem Grabsockel war eine Schrift, ich las meinen eigenen Namen und darunter die Worte: «Sei willkommen am Tor, das dich zur Wahrheit führt …»

Der Wächter blickte auf mich herab, und ich war verwundert über die Schönheit der Jahrtausende, die auf mich niedersahen, als er mir mit den Worten über die Schwelle half: «Jede Türe ist versperrt, weil der Mensch selbst die Türe ist, die die Lebendigen von den Toten trennt. Doch du kannst die Türe öffnen. Sprich einfach die Worte: ‹Sehnsucht, öffne mir das Tor!›»

Über seinem Kopf brauste der Sturmwind mit lautem Rauschen dahin; die Wolken zogen sich zusammen, Blitze zuckten übers Firmament und ich war entzückt über die triumphale Erhabenheit dieses Augenblicks, der am Ende meines Lebens am Horizont aufdämmerte. Und mein innerer Wille befahl mir, mich in den steinernen Koloß hineinzubegeben, um seine erstarrte Seele zu wärmen und seinen harten Panzer zu lösen. Da zerfloß die ganze Welt in einer Sphäre glitzernden Lichts, und in den Tiefen meiner Seele sah ich die bleichen Mütter lauern, bei deren Anblick die Toten schauderten. Also träumte ich mich in seine Seele hinein. Plötzlich schoß eine schäumende Lava aus dem Stein, ein heftiger Windstoß durchpeitschte den Äther, die Erde erbebte in ihren Fundamenten und über mir sah ich einen mächtigen Wasserstrom, der sich über die Felskante auf mich hinunterstürzte.

«Sehnsucht, öffne mir das Tor!» schrie ich ins Getöse, bevor mir das Inferno den Schrei von den Lippen riß. Da öffnete sich mit einem Schlag der Weg ins Licht, vor mir bildete sich ein tiefer Riß, der die Felswand durchschnitt, und während ich noch staunend hinblickte, erweiterte sich der Spalt mit jäher Gewalt, blendendes Licht umhüllte mich, und ich spürte, wie ich ein Teil des Lichtes wurde und zusammen mit ihm aus der Dunkelheit schoß, wie ein strahlendes Bewußtsein auf mich zufließend. Ich brauchte nur meinen Blick auf die Felswand zu richten und schon wurde ich in einen tosenden Wirbel hineingerissen. Es war, als hätte der Felsen mich verschluckt, aber nur um mich sofort wieder auszuspucken, und dann verwandelte ich mich in jene übermächtige Gestalt, die auf meine Frage «Bist du der Wächter?» endlich die letzte aller Antworten fand: «Jetzt, da du erkannt hast, daß du selbst der Wächter bist, der das Mysterium schützt, und daß das Geheimnis wiederum nur ein Trick des Verstandes ist, um den wirklichen Sinn hinter einem scheinbaren Ziel verborgen zu halten, öffnet sich das Tor! Denn hinter den Polaritäten leuchtet der Gral, und wer das erkannt hat, für den steigt der Weg in lichte Höhen an, und die Dämmerung der Seele verwandelt sich in Morgenröte.»

Als ich wieder zu mir kam, war alles still. Die Zeit stand still, kein Hauch bewegte den Staub der Straße; die ganze Szenerie war verschwunden. Ich drehte mich um. Aber auch hinter mir sah ich nur das ausgetrocknete Flußbett, das sich in sanften Windungen zum Meer hinunterdrehte, und ganz weit unten hörte ich das Rauschen der Brandung in der Bucht. Dann spürte ich Akrons Daumen auf meinem Gesicht. Sanft massierte er mir die verhärteten Tränen, und ich fühlte deutlich, wie mir das Wasser in die Augen stieg. Sanft lächelte er und sprach: «Der Wächter dieser anderen Welt ist eine Träne, die dich in den Räumen der Seele willkommen heißt, sobald du deine Erstarrungen loslassen kannst!»

Das Wasser stieg in meinen Augenlichtern, diesen Altären schäumender Traumgesichte, und plötzlich stand ich selbst in der tosenden Flut: «In diesem Moment wirst du dich als der Empfänger einer gottähnlichen Kraft erfahren, da du meine Inspiration erhältst. Je empfänglicher du für die höheren Schwingungen bist, desto mehr kannst du in die unbekannten Geheimnisse dieser Hölle eintauchen», hörte ich den Wächter sagen, «denn um geträumt zu werden, brauche ich eine gewisse Tiefe des Träumenden. Erst in der spirituellen Tiefe des Träumens erreiche ich die nötige Verdichtung, um dich zu den verborgenen Geysiren des wärmenden Erkennens zu führen, deren Wiederentdeckung die Versteinerung der Herzen sprengt …»

Ein Blitzstrahl zuckte durch die Sphäre, ein heftiger Windstoß brauste durch den Äther, und die Erde erzitterte in ihren Fundamenten. Ich drehte mich um, um zu sehen, woher dieser Einbruch kam. Da war eine tiefe Kluft, die die Felswand durchschnitt, und genau an dieser Stelle, wo sich das Auge des unheimlichen Wächters verbarg, sah ich eine mächtige Quelle aus dem Gestein herausschießen, die sich schäumend über die Felswand hinunterstürzte.

Und dort, wo sich die riesige Felswand in die Höhe türmte, stand Akron vor mir in der brausenden Gischt. Das Wasser strömte über sein ganzes Gesicht. Er schrie: «Ja! Löse sie! Weine deine Tränen!»

Dantes Inferno I

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