Читать книгу Eigentlich bin ich ein super Typ - Alex Raack - Страница 11

KAPITEL 5 BREMEN

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Während Mario Basler in Berlin schon gedanklich seine Abreise Richtung Bundesliga vorbereitet, macht sich Werder Bremen mal wieder daran, die Bayern zu jagen. Unter der Leitung von Trainer Otto Rehhagel, der bereits seit 1981 bei Werder an der Seitenlinie steht, ist aus dem einst eher unscheinbaren Nordlicht eine der aufregendsten Mannschaften im deutschen Profifußball geworden. Auf den Rest des Landes mag der Trainer etwas kauzig wirken, wenn er auf seinem kleinen Finger pfeift oder bei einer Tasse Kaffee Goethe zitiert, aber in Bremen wird Rehhagel vergöttert. Auch weil er offenbar ein Faible für besondere Spielertypen hat und es gleichzeitig schafft, aus einer Ansammlung von Charakterköpfen eine erfolgreiche und funktionierende Fußballmannschaft zu formen. „Werder“, sagt Rune Bratseth, „war ein harmonischer Verein.“

Und jetzt kommt Mario Basler. Der lässt sich für sein erstes Interview mit einem überregionalen Medium mit Sohnemann Marcel ablichten und im kicker mit den Worten zitieren: „Ich kenne kein Lampenfieber. Erst recht keine Angst.“

In der Woche nach unserer Rückkehr aus dem Trainingslager gab ich mein nächstes Interview. Diesmal der Sport-Bild. Eigentlich sagte ich darin nur, dass ich besser bin als Andreas Herzog. Gut, der hatte Werder gerade zur Meisterschaft geführt und galt als einer der besten Spielmacher in Europa und ich war nur ein Unbekannter aus der Zweiten Liga. Aber trotz allem war ich völlig davon überzeugt, der bessere Fußballer von uns beiden zu sein.

Rehhagel hielt meine Aussage über Herzog für nicht angebracht. Vor der nächsten Trainingseinheit geigte er mir vor versammelter Mannschaft die Meinung. Während mir Otto die Leviten lies, schaute ich in die Runde und in die Gesichter meiner neuen Kollegen. Die beiden Torhüter Oli Reck und Hansi Gundelach, mit denen ich mich bereits angefreundet hatte, weil auch sie nicht unbedingt ins Glas spuckten. Uli Borowka, auch er würde ein guter Kumpel werden. Rune Bratseth, unser Libero, den sie den Elch nannten, weil er aus Norwegen kam und fast so schnell sprinten konnte wie ich. „Eisen-Dieter“ Eilts, Uwe Harttgen, Thorsten Legat, Thomas Wolter, Mirko Votava, Wynton Rufer und all die anderen. Eine richtig starke Mannschaft. Gute Jungs. Viel erfahrener als ich. Deutsche Meister und Europapokalsieger. Aber gab es in diesem Kader irgendeinen Spieler, hinter dem ich mich verstecken musste? Nein. Ich wusste: Wenn man mir hier eine Chance gab, würde ich allen zeigen, was ich wirklich draufhatte.

Schon in den ersten Wochen hatte ich bemerkt, dass es eine besondere Verbindung zwischen mir und Otto Rehhagel gab. Wie bei jedem anderen Spieler auch stellte sich Otto von Beginn an voll hinter mich – die klare Ansage änderte nichts daran. Und dieses Vertrauen war genau das, was ich brauchte, um mich als Fußballer wohlzufühlen. Otto gab mir das Gefühl, dass er alles für mich tun würde. Dafür erwartete er allerdings, dass ich ihm dieses Vertrauen am Wochenende auf dem Rasen zurückzahlte. Und ich brannte darauf, genau das zu tun. Aber zunächst hatte ich mich – wie erwartet – hintenanzustellen.

„Mario mag ein bisschen verrückt sein“, erklärte uns Otto nach Marios Verpflichtung, „aber der bringt was Besonderes mit, was diese Mannschaft noch besser machen kann.“ Wir waren bereits vor Marios Ankunft eine sehr verschworene Gemeinschaft, aber gleichzeitig offen und tolerant genug, jeden Neuling gut aufzunehmen, seine Stärken zu fördern und seine Schwächen zu tolerieren. Worin uns vor allem Otto Rehhagel ein Vorbild war, der uns Spielern bei aller Disziplin die Freiräume gab, die wir benötigten. Mir gab er beispielsweise regelmäßig trainingsfrei, damit ich für meine Klausuren büffeln konnte – ich studierte damals an einer Fernuni. Und bei Mario war es eben okay, wenn er mal eine halbe Stunde zu spät zum Training auftauchte oder seine Zigaretten rauchte.

(Marco Bode, Ex-Teamkollege und heute Aufsichtsratsvorsitzender von Werder Bremen)

Mario kam in eine feste Struktur. Wir waren ein eingespieltes Team und gerade deshalb Meister geworden. Er war kein einfacher Typ und tat sich deshalb zu Beginn schwer, seinen Platz in der Mannschaft zu finden. Ich habe ihn als recht sensiblen Typen kennengelernt, der vom ersten Tag an um Anerkennung und Anschluss kämpfte. Bei seiner obligatorischen Einstandsfeier, wo jeder Neuling mit jedem neuen Mitspieler Schnaps trinken muss und am Ende natürlich total betrunken ist, wurde er vor versammelter Mannschaft kurz ganz sentimental und klagte darüber, dass ihn niemand wirklich mögen würde. Sein Vorteil war, dass dieses Team damals in der Lage war, auch einen Charakter wie Mario aufzunehmen. Das war vor allem Ottos Leistung. „Meine Herren“, sagte er, „um 15:30 Uhr ist Anstoß, um 17:15 Uhr Abpfiff. Was Sie mit der restlichen Zeit anfangen, ist Ihre Sache. Aber am Spieltag haben Sie zu funktionieren.“ Und wir merkten sehr bald, wie wertvoll Mario für uns sein konnte.

(Hansi Gundelach, Ex-Mitspieler bei Werder)

Für die hervorragende Bremer Kneipenszene habe ich mich – den ein oder anderen wird das jetzt vielleicht überraschen – zunächst nicht interessiert. Erstmal hatte ich hier meine Leistung abzuliefern, bevor ich feiernd von Theke zu Theke ziehen konnte. Entsprechend gefrustet war ich, dass ich beim ersten Pflichtspiel der Saison nicht in der Startelf stand. Im Supercup gegen den Pokalsieger Bayer Leverkusen saß ich zunächst auf der Bank, nach der Halbzeit brachte mich Otto für Didi Beiersdorfer. Weil es nach der Verlängerung 2:2 gestanden hatte, musste die Partie im Elfmeterschießen entschieden werden. Meine erste Bewährungsprobe: Souverän haute ich unseren vierten Elfer ins Tor von Rüdiger Vollborn. Weil Olli Reck am Ende den Schuss von Markus Happe parieren konnte, durfte ich im ersten Spiel für Werder den ersten Titel feiern. Das ging ja gut los.

Weniger gut war, dass mich Rehhagel zum Saisonauftakt gegen den VfB Stuttgart wieder auf die Bank setzte. Es dauerte bis zur 81. Minute, ehe mich Rehhagel endlich auf den Rasen schickte und ich mein Debüt im Weserstadion feiern konnte. Zu dem Zeitpunkt stand es allerdings schon 4:1 für uns, die Partie war durch. Egal, ich wollte den Leuten trotzdem zeigen, was ich draufhatte. Gleich meine erste Flanke landete bei Wynton Rufer, der die Kugel versenkte – 5:1. Die erste Torvorlage meiner noch jungen Bundesligakarriere.

Doch auch im zweiten Ligaspiel blieb ich zunächst draußen, gegen die Eintracht aus Frankfurt verpassten wir es mehrfach, den Sack zuzumachen und – noch schlimmer – erst in der 88. Minute brachte mich der Trainer für Uli Borowka. Ein paar Minuten von der Uhr nehmen, zu mehr war ich also nicht zu gebrauchen? Und es war wieder Uli, für den ich dann am dritten Spieltag gegen den VfB Leipzig erneut auflief – diesmal aber von Beginn an. Mein erster Startelfeinsatz. Hier war sie, meine Chance. Ich wollte, nein, ich musste sie nutzen! Und siehe da: Nicht nur, dass ich bei unserem 3:1-Auswärtssieg eine ordentliche Leistung ablieferte, ich schoss auch noch unser drittes Tor. Acht Tage später stand ich 120 Minuten lang auf dem Platz, als wir uns recht glücklich gegen die Stuttgarter Kickers durch die erste Runde im DFB-Pokal wurschtelten. So konnte es weitergehen.

Nicht ganz. Denn wegen einer kleinen Verletzung verpasst Basler die nächsten beiden Spiele gegen Kaiserslautern und Duisburg. Gegen den MSV kassiert Werder eine deftige 1:5-Niederlage. Beim 1: 0-Sieg am sechsten Spieltag gegen den 1. FC Nürnberg steht Basler wieder in der Startformation, doch im darauffolgenden Spitzenspiel gegen den FC Bayern darf er nur zugucken. 40.000 sehen im Weserstadion, welch perfide Taktik Bayern-Trainer Erich Ribbeck seinen Spielern offenbar mit auf den Weg gegeben hat. Sein Vorstopper Jan Wouters geht von der ersten Minute an äußerst aggressiv in seine Zweikämpfe mit Werder-Spielmacher Herzog. In der 27. Minute verpasst er dem Mittelfeldstrategen einen so wuchtigen Ellenbogenschlag, dass Herzog mit einer Schädelprellung ausgewechselt werden muss und vorsorglich ins Krankenhaus gebracht wird. Rehhagel muss jetzt blitzschnell entscheiden und wechselt Basler ein. Kurz nach seiner Einwechslung schießt dieser einen Freistoß gegen den Pfosten, Bayern-Keeper Raimond Aumann wäre chancenlos gewesen. Werder gewinnt den Nord-Süd-Klassiker mit 1: 0 durch ein Tor von Bernd Hobsch in der 52. Minute. Vorlage: Mario Basler. Doch nicht der starke Auftritt des Zweitliga-Neuzugangs ist nach Schlusspfiff Thema, sondern die Verletzung von Herzog. Rehhagel faucht Erich Ribbeck noch auf dem Spielfeld an, was wiederum Bayern-Manager Hoeneß zu der Aussage provoziert, Herzog wäre ein „Burgschauspieler“ und „ängstlicher Märtyrer“.

Mario Basler ist fortan Stammspieler.

Trotz des Erfolgs gegen die Bayern ruckelten wir ziemlich unbeständig durch die Saison. Ein ständiges Auf und Ab, meine erste richtige Bundesligasaison war zumindest nicht langweilig. Während wir durch die Liga schlingerten und im DFB-Pokal weiter auf Kurs blieben, galt unser Augenmerk natürlich der Champions League. Der Modus in der Saison 1993/94 sah zwei K.-o.-Runden vor und anschließend zwei Gruppen á vier Mannschaften, von denen jeweils die ersten zwei das Halbfinale bestreiten würden. Gegen den weißrussischen Meister Dinamo Minsk hatten wir in der ersten Runde keine Probleme, jetzt wartete Levski Sofia auf uns. Nur weil Dieter Eilts eines der besten Spiele seiner Karriere machte, nahmen wir ein schmeichelhaftes 2:2 aus Bulgarien mit.

Zum Rückspiel am 3. November 1993 empfingen wir Levski vor 27.000 Zuschauern. Es wurde ein ziemlich unattraktives Spiel, jeder auf dem Platz schien nervös zu sein und wollte keinen Fehler machen. In der 74. Minute wurde es mir zu bunt. Im Mittelfeld bekam ich den Ball, zog Richtung gegnerisches Tor und haute einfach mal drauf. Der Ball krachte unhaltbar unter die Latte, 1: 0 für uns. Und dabei blieb es, mit meinem Tor hatte ich uns unter die besten acht Mannschaften Europas geschossen. Unser Manager Willi Lemke war außer Rand und Band. „Das Tor werde ich mein Lebtag nicht vergessen!“, rief er, als er mir nach dem Spiel um den Hals fiel. Vermutlich auch deshalb, weil Willi ganz genau wusste, wie viel mein Treffer wert war: Die UEFA hatte vor der Saison festgelegt, dass jeder der Gruppenteilnehmer pro Heimspiel pauschal rund vier Millionen D-Mark und für jeden gewonnen Punkt noch einmal 700.000 D-Mark kassiert – und Einnahmen durch die Eintrittsgelder kamen ja auch noch mit dazu.

„Weißt du eigentlich, was dieses Tor für Werder bedeutet?“, fragte mich ein Journalist nach der Partie und gab sich einfach selbst die Antwort: „Das war das Zehn-Millionen-Tor!“

Der so wichtige Treffer, nicht nur von Dieter Eilts als „Traumtor“ bezeichnet, verändert auch Baslers Status in der Mannschaft. Für den Geschmack einiger Werder-Spieler hatten die zuweilen schwankenden Leistungen der ersten Monate nicht so richtig zu dem speziellen Ego des Neulings gepasst. Oder um es mit den Worten von Hansi Gundelach zu sagen: „Fresse war groß, Leistung war klein.“ Doch nun versteht auch Oliver Reck, was Otto Rehhagel vor Saisonbeginn gemeint hatte, als er davon sprach, dass Basler etwas „Besonderes“ mitbringen würde, was die Mannschaft noch besser machen könne. „Jetzt schoss er seine verrückten Tore nicht mehr nur im Training, sondern auch im entscheidenden Spiel in der Champions League. Und je besser er spielte, desto größer wurde sein ohnehin großes Selbstvertrauen. Einmal kam er zum Training, stellte zwei Cola-Dosen auf die Latte, legte sich den Ball an die Strafraumkante und fragte: ‚Wie viele Versuche brauche ich?‘ Viele waren es jedenfalls nicht.“

Hansi Gundelach sagt: „Es war die große Kunst dieser Mannschaft, die Spieler so zu akzeptieren, wie sie waren. Bei Mario war es so, dass ihn vielleicht nicht jeder liebte, aber jeder wusste, dass er letztlich ein korrekter Typ war und vor allem ein Fußballer, der den Unterschied ausmachen konnte. Und deshalb war auch jeder bereit, sich für diesen genialen Offensivmann in die Bresche zu werfen.“

Mit Uli Borowka, Hansi Gundelach und Oli Reck hatte sich bald eine Truppe gefunden, die gerne auch mal um die Häuser zog und Partys feierte. Oft sah man uns in Jimmy’s Bar oder der Gartenlaube in Bremerhaven, nicht selten bis vier oder fünf Uhr morgens. Für Fußballer war Bremen in dieser Hinsicht ein Paradies. Hier musste man nicht befürchten, von irgendwem verpfiffen zu werden. Manchmal gingen wir sogar im Trainingsanzug in die Disco. Und selbst wenn die Verantwortlichen spitzbekamen, was wir so trieben, wussten wir immer, dass der Verein hinter uns stand. Wie oft hat Willi Lemke dafür gesorgt, dass wir unsere Führerscheine doch behalten durften oder auch sonst keinen Ärger bekamen. Und wenn man den Trainer fragte, ob man, statt zu trainieren, nicht etwas länger schlafen durfte, dann ging das auch mal in Ordnung. Natürlich nur, wenn man am Wochenende ablieferte. Gerade was das Training anging, war Otto flexibler, als viele vielleicht denken mögen. Nicht nur, dass man sich ab und an auch einfach massieren lassen durfte, statt durch den Wald zu laufen (ein Angebot, das ich gerne in Anspruch nahm), man konnte auch eigene Ideen einbringen. Manchmal stellte er dann einfach sein Training um, da war er uneitel.

Otto war für jeden Spieler sowieso erst mal Papa. Der hat sich um alles und jeden gekümmert. Ganz besonders um mich. Nachdem ich mir meinen Platz erkämpft hatte, sagt er zu den Kollegen: „Der Mario, der hat so einen außergewöhnlichen rechten Fuß, mit dem muss er nicht immer in der eigenen Hälfte stehen.“ Er gab mir alle Freiheiten, weil er wusste, dass ich es ihm früher oder später zurückzahlen würde.

Rein sportlich erlebte ich im November 1993 – dem Weiterkommen in der Champions League zum Trotz – meine erste größere Krise bei Werder. Das 2:0 gegen Sofia sollte das letzte Erfolgserlebnis in diesem Monat sein: In der Liga verloren wir hintereinander gegen Köln, Dresden und meine alte Liebe Borussia Mönchengladbach. Und im ersten Gruppenspiel in der Königsklasse schrammten wir nur knapp an einer Vollkatastrophe vorbei.

Gegen den FC Porto steht es nach 82 Minuten 0:3. Immerhin gelingen Bernd Hobsch und Wynton Rufer noch zwei Anschlusstreffer. Werders Situation ist trotzdem prekär. In der Bundesliga als amtierender Meister nur auf Platz sieben, im Europapokal böse unter die Räder gekommen. Rune Bratseth diagnostiziert: „In allen Mannschaftsteilen ist die Abstimmung nicht in Ordnung.“ Und Spielmacher Andreas Herzog fordert: „Es muss jetzt etwas passieren, wir können nicht alles mit Pech erklären und entschuldigen. Unser Stimmungsbarometer ist stark gefallen.“ Im Hamburger Abendblatt ist zu lesen, dass sich der Österreicher und Werder „so schnell wie möglich“ trennen wollen. Die Beschwerde von Herzog, zu selten auf seiner angestammten Position hinter den Spitzen aufgestellt zu werden, verhallt bei Rehhagel: „Es geht nicht, dass ein Spieler bestimmt, wann und wo er spielt. Das hat es hier noch nie gegeben, und so wird es auch bleiben.“ Für Bremer Verhältnisse ist die Kacke ganz schön am Dampfen.

Vierzehn Tage später empfingen wir den Tabellenführer aus Frankfurt. Die Stimmung war tatsächlich ziemlich angespannt, aber eigentlich war mir immer bewusst, dass unsere Mannschaft gut genug war, um jeden Gegner besiegen zu können. Ich machte eine meiner besten Partien im Werder-Trikot und gab kurz nach der Pause die Vorlage zum entscheidenden 1: 0 durch Rufer. Franz Beckenbauer adelte mich am Premiere-Mikrofon und sagte: „Der wird mir langsam unheimlich.“ Der Mann hatte halt Ahnung. Erstmals wurde ich in die „kicker-Elf-des-Tages“ gewählt und erstmals brachte mich die Presse mit der Nationalmannschaft in Verbindung. Nur vier Tage später stand das zweite Gruppenspiel in der Champions League an. Gegen den RSC Anderlecht aus Belgien. Albert, Walem, Boffin, Bosman? Nie gehört. Egal, ich war in Topform. Was sollte da also schon groß schief gehen?

In Belgien weiß man ganz genau, wer Mario Basler ist und wie seine Mitspieler heißen. „Wir wissen Bescheid“, sagt Kapitän Philippe Albert, „wir werden Werder nicht unterschätzen, wir kennen die meisten Spieler, wir kennen das System.“ Bremen empfängt Anderlecht an diesem Mittwoch, dem 8. Dezember, mit eiskaltem Nieselregen. Gastgeschenke, vermuten die Belgier, werden hier und heute nicht verteilt. Doch in der 16. Minute macht Oli Reck genau das: Seine Faustabwehr landet direkt vor den Füßen von Kapitän Albert, der das 1: 0 schießt. Zwei Minuten später erhöht Danny Boffin, der über Baslers Seite kommt, auf 2:0. Und in der 33. Minute ist es erneut Boffin, der auf 3:0 erhöht. Schon wieder steht der SV Werder vor einem Debakel.

In der Halbzeit ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Rehhagel bringt Wolter für Herzog und stellt Mario Basler auf die Spielmacher-Position. Eine taktische Maßnahme, die der Trainer nach der Partie mit den Worten kommentieren wird: „In den ersten 20 Minuten hat das gar nicht geklappt.“ Dann aber findet Basler seinen Rhythmus. Auf dem Papier eigentlich in der Zentrale aufgestellt, treibt er das Bremer Offensivspiel von seiner angestammten rechten Außenbahn an, auch wenn die Dribblings und Flanken zunächst noch recht ungefährlich bleiben. Besser macht es Dieter Eilts, der in der 66. Minute ungewohnt elegant zwei Gegenspieler aussteigen lässt und Kollege Rufer mit einem famosen Steilpass bedient: nur noch 1:3. Sechs Minuten später unterläuft Anderlechts Torwart Filip de Wilde eine Flanke von Beiersdorfer und Bratseth verkürzt auf 2:3. Viele Fans, die das Stadion schon zur Halbzeit verlassen haben, eilen jetzt zurück auf ihre Plätze. Sie sehen gerade noch, wie Bernd Hobsch in der 80. Minute der Ausgleich gelingt und kurz darauf Marco Bode sogar den Führungstreffer für Werder erzielt. In der 87. Minute holt Rehhagel den völlig ausgelaugten Mario Basler vom Feld und bringt Andree Wiedener. Wild mit den Armen rudernd, versucht Basler das Publikum noch einmal aufzupeitschen. Eine Flanke von Wiedener versenkt Wynton Rufer schließlich zum 5:3. Als das Spiel beendet ist, läuft der Neuseeländer vor Freude auf den Händen über den Rasen. Bremen ist mal wieder ein Wunder von der Weser gelungen. Auch weil Mario Basler bewiesen hat, dass er Verantwortung übernehmen kann.

In den Tagen danach feiert die verzückte Presse die atemberaubende Aufholjagd und einige Sportjournalisten versuchen die eigentümliche Dynamik dieses denkwürdigen Spiels zu verstehen, wie zum Beispiel Peter Hess, der in der FAZ schreibt: „Was genau spielt sich in Körper und Geist eines Fußballprofis ab, wenn das Ziel des Spiels erreicht, wenn ein Tor gefallen ist? Wieso löst eine an sich unbedeutende Ergebniskorrektur in der einen Mannschaft eine Euphorie und in der anderen eine Hysterie aus, der sich kein Spieler entziehen kann?“ Otto Rehhagel, der sonst gerne die Fahne der deutschen Alltagslyrik hochhält, reagiert pragmatischer. „Freunde, was sucht ihr nach Erklärungen? Freut euch doch lieber, dass der Fußball so ist.“

Unser erstes Pflichtspiel in diesem für mich so besonderen Jahr 1994 war ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Im Nachholspiel des DFB-Pokal-Viertelfinales bekamen wir Besuch vom 1. FC Kaiserslautern, meinem früheren Verein. Ich ging mit gemischten Gefühlen in diese Partie: Natürlich war ich immer noch ziemlich enttäuscht davon, wie man damals mit mir umgegangen war, gerade von Seiten des Managers Reiner Geye. Gleichzeitig spielte ich jetzt für Werder Bremen und der FCK war nur ein weiterer Gegner auf dem Weg ins Endspiel von Berlin. Es wurde ein denkwürdiges Viertelfinale. Ciriaco Sforza brachte Lautern in Führung, Wynton Rufer konnte ausgleichen. In der Nachspielzeit traf Marco Bode zum 2:1, aber Axel Roos erzielte kurz danach das 2:2. Das Spiel musste also im Elfmeterschießen entschieden werden. Beim Stand von 5:5 war ich an der Reihe. Legat hatte für uns verschossen, Andi Brehme für den FCK. Ich verwandelte sicher, Oli parierte den Schuss von Thomas Ritter und wir waren durch. Ich empfand echte Genugtuung. Nach dem Spiel sagte ich in die Kameras: „Ich wollte den Letzten schießen. Ich wusste, ich treffe.“

In einem anderen Interview wird Basler einen Monat später sagen: „Es war für mich das Schönste, den letzten Elfmeter gegen Kaiserslautern zu verwandeln und dem Geyer von Weitem in die Augen zu schauen. Schade, dass er nicht direkt vor mir stand.“

Während Baslers Formkurve stark nach oben geht, scheint sich die Mannschaft weiterhin in einer Krise zu befinden. Den älteren Routiniers merkt man die Erschöpfung der vergangenen Schlachten an, der geniale Linksfuß Herzog liegt im Dauerclinch mit Trainer Rehhagel.

Beim 2:2 gegen den stark abstiegsbedrohten 1. FC Nürnberg am 23. Spieltag ist es Basler zu verdanken, dass Werder immerhin noch einen Punkt im Weserstadion behält. Erst legt er Herzog das 1:1 auf und erzielt später das 2:1 selbst. Der kicker findet: „Kein Rufer, kein Herzog – Basler gibt den Takt bei Werder vor.“ Längst haben die Medien auch außerhalb von Bremen mitbekommen, wie viel dieser Basler hergibt. Nicht nur, dass er aktuell der bekannteste Shootingstar im deutschen Fußball ist, er haut auch gerne mal einen guten Spruch raus. Drei Tage nach dem Nürnberg-Spiel, der SV Werder bereitet sich auf das Auswärtsspiel in der Champions League gegen den großen AC Mailand vor, erscheint im kicker ein Interview mit Milan-Trainer Fabio Capello, der zu diesem Zeitpunkt schon Stars wie Paolo Maldini, Ruud Gullit oder Marco van Basten trainiert hat.

kicker: „Falls Sie einen Spieler von Werder Bremen holen könnten, welchen würden Sie verpflichten?

Capello: „Natürlich Herzog, aber auch die Nummer 2. Wie heißt der noch?“

kicker: „Sie meinen Mario Basler!“

Capello: „Richtig, ein toller Spieler auf der rechten Seite, den ich bewundere.“

Noch neun Monate zuvor war Basler in der 74. Minute gegen den FC 08 Homburg ausgewechselt worden. Jetzt wird er von Fabio Capello bewundert.

Vor der Abreise nach Mailand gab ich einer Zeitung noch ein Interview: „Wenn mir im San Siro ein Treffer gelingen würde, wäre das schon ein großer Hammer.“ Das Mailänder Stadion gehörte damals zu den schönsten der Welt. 80.000 passten rein, doch bei unserem Besuch war es gerade mal halb gefüllt. Hier war man offenbar Besseres gewohnt als den amtierenden Deutschen Meister. Dafür hatten sich 5000 Verrückte aus Bremen auf den Weg gemacht, um uns zu unterstützen. Milan hatte damals eine tolle Mannschaft mit großen Namen: Maldini, Costacurta, Baresi, Savicevic, Massaro … Aber wir waren ja auch nicht schlecht. Maldini brachte Mailand in Führung. Zehn Minuten nach der Pause kam eine kurz gespielte Ecke zu mir, ich legte mir den Ball an der rechten Strafraumkante auf den rechten Fuß und zog ab. Torwart Sebastiano Rossi griff daneben – 1:1! Auf einer größeren Bühne hatte ich in meinem Fußballleben noch nicht gespielt. Und jetzt dieses Tor – ein ganz besonderer Moment für mich. Leider rutschte wenig später Frank Neubarth aus und half Savicevic damit, den Siegtreffer für die Italiener zu erzielen. Ein bitteres Gegentor, eine unnötige Niederlage.

Am Wochenende nach der Pleite von Mailand empfingen wir die Bayern. Die wurden inzwischen von Franz Beckenbauer trainiert. Wenig kaiserlich war, was mir in der 26. Minute passierte: Nach einem Tritt gegen Mehmet Scholl schmiss mich Schiri Georg Dardenne vom Platz. Ohne mich verloren wir 0:2. Das Sportgericht brummte mir zwei Spiele Sperre auf, im Pokalhalbfinale gegen Dresden und gegen den KSC würde ich pausieren müssen.

Am 9. März 1994 erscheint das erste große Interview mit Mario Basler in der Sport-Bild. Auszüge:

„Ich habe keine Lieblingsrolle. Mir ist völlig egal, wo ich spiele. Hauptsache ist, dass ich spiele.“

„Rehhagel hat mir gesagt, dass ich das Zeug zum Natio nalspieler hätte. Das weiß ich auch. Das braucht der Trainer nicht sagen.“

„Ich bin kein Duckmäuser. Es gibt viele Schleimer im Fußball.“

Frage Sport-Bild: „Was können Sie denn?“

Antwort Basler: „Alles! Ich habe sämtliche Voraussetzungen, die ein Fußballer braucht, um in jeder Mannschaft spielen zu können.“

Ich war nun seit einem dreiviertel Jahr in Bremen. Vom schüchternen Zweitliga-Spieler war ich zu einem sehr selbstbewussten Stammspieler beim Deutschen Meister geworden und hatte nun schon mehrfach mit meinen Aktionen Aufsehen erregt. Was wiederum dazu führte, dass irgendwann Bundestrainer Berti Vogts im Weserstadion auftauchte, um mich zu beobachten. Deutschland war 1990 Weltmeister geworden und 1992 Vizeeuropameister. Der ohnehin schon starke Kader war durch die Wiedervereinigung noch einmal mit neuen Spitzenspielern wie Matthias Sammer oder Ulf Kirsten aufgefüllt worden. Jetzt, im April 1994, war Vogts dabei, seinen Kader für die WM 1994 in den USA zusammenzustellen.

Eines Tages rief mich Willi Lemke in sein Büro: „Ich habe gerade einen Anruf bekommen. Du bist Nationalspieler. Herzlichen Glückwunsch!“ Wow, das war mal eine besondere Nachricht! Seit ich Fußballer werden wollte, hatte es für mich nur ein Ziel gegeben: einmal für Deutschland zu spielen, die Hymne zu singen und den Adler auf der Brust zu tragen. Für das Freundschaftsspiel gegen Italien am 23. März 1994 gehörte ich zum Kader der DFB-Auswahl.

Der Klassiker gegen Italien sollte in Stuttgart stattfinden. In einem Hotel in Degerloch traf ich erstmals meine neuen Mitspieler. Die Atmosphäre war ganz entspannt. Das Spiel selbst verfolgte ich allerdings zunächst nur von der Bank. Erst nach 78 Minuten, beim Stand von 2:1 für uns, wechselte mich Vogts für Icke Häßler ein. Zur Begrüßung knallte ich einen Freistoß gegen den Pfosten. Einstand kurz, aber geglückt. „Ich habe nicht mehr viele Plätze frei“, sagte der Bundestrainer nach dem Spiel zu mir, „aber du wirst deine Chancen bekommen.“

Was Mario zum Nationalspieler gemacht hat, war seine Unberechenbarkeit. Er konnte Dinge mit dem Fußball, die andere nicht konnten und die kein Gegner vorhersah. Plötzlich zog er den Ball mit der Hacke nach hinten, am Gegenspieler vorbei und knallte ihn aus spitzem Winkel aufs Tor. Aus 30 Metern Entfernung. Es war unglaublich. Ich habe mich jedes Mal gefragt: Wer ist so bekloppt und macht das?

Außerhalb vom Platz erlebte ich ihn als einen echten Kumpel. Einmal bekam ich Stress mit einem Typen in der Bar. Wir standen uns schon Auge in Auge gegenüber. Da tauchte auf einmal Mario neben mir auf und blaffte den Kerl an: „Pass auf, Kollege, wenn du hier meinen Freund Hansi angehst, dann gehst du auch mich an!“ Letztendlich klärte sich die Situation friedlich. Marios Haltung während der Auseinandersetzung hat mich aber nachhaltig beeindruckt. Nicht wenige meiner Mitspieler hätten in dieser Szene den Abgang gemacht. Mario nicht.

(Hansi Gundelach)

Wie schnell man im Fußball doch wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden kann. In meinem ersten Spiel für Werder, nachdem ich als Nationalspieler debütiert hatte, verloren wir 0:1 gegen Schalke. Und es sollte noch dicker kommen. In der Champions League brauchten wir nach dem 1:1 ausgegangenen Rückspiel gegen den AC Mailand unbedingt einen Sieg gegen Porto. Doch schon nach elf Minuten lagen wir mit 0:1 zurück. Erst Legat, dann Bode, dann meine Wenigkeit hatten die Chance, den Ausgleich zu erzielen, nicht genutzt und als Emil Kostadinov in der 35. Minute das zweite Tor für Porto erzielte, wusste ich, dass wir heute verlieren würden. Dass es am Ende mit 0:5 richtig bitter ausging, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Wir wurden völlig auseinandergenommen – vielleicht war das die peinlichste Niederlage in meiner Zeit bei Werder. Die ersehnte Teilnahme am Halbfinale der Königsklasse konnten wir uns damit abschminken. In der Nacht nach dem Spiel schlief ich nur zwei Stunden. Eine brutale Pleite. Gerade weil wir uns in der Kabine so viel vorgenommen hatten.

Jetzt ging es vor allem darum, dass wir nicht noch weiter in der Liga abrutschten. Oli Reck brachte es auf den Punkt, als er der Presse sagte: „Jetzt heißt es Ärmel hochkrempeln und rein in den Dreck.“ Leider wurde es nur noch schlimmer: Gegen Dortmund gelang mir zwar ein Doppelpack aus Vorlage und Tor, trotzdem verloren wir mit 2:3.

Zum ersten Mal in den 13 Jahren unter Otto Rehhagel scheinen für Werder die Abstiegsplätze in gefährliche Nähe zu rücken. Mit 27:29 Punkten steht der Deutsche Meister nur auf Rang 12 und ist die fünftschlechteste Mannschaft der Rückrunde. „Alle müssen jetzt hellwach sein“, mahnt Manager Willi Lemke, „damit das Boot nicht untergeht.“ Genau in dieser kritischen Phase, als sich viele wichtige Spieler in einem Formtief befinden, beweist Mario Basler seine enormen Offensivqualitäten. Beim wichtigen 3:2-Sieg gegen den SC Freiburg legt er beide Tore von Frank Neubarth mustergültig auf, im anschließenden Derby gegen den HSV, das 1:1 ausgeht, ist er einer der Besten. Beim 2:1-Erfolg gegen Bayer Leverkusen schießt er beide Bremer Tore und verdient sich von seinem Trainer das Prädikat „Weltklasse“. Der Super-GAU ist abgewendet und aus der Champions League hat man sich mit einem Sieg gegen den RSC Anderlecht zumindest würdig verabschiedet.

In dieser Mannschaft, die sich nach Jahren des Erfolgs im Umbruch befindet, scheint Mario Basler der einzige Gewinner der Saison zu sein. Auch für das nächste Testspiel der Nationalmannschaft, diesmal gegen die Vereinigten Arabischen Emirate, wird er nominiert. Am Tag des Spiels veröffentlicht die Sport-Bild einen Artikel über Basler. Überschrift: „Der Mann von Null auf 100“: „Basler schlägt sieben Fliegen mit einer Klappe. Er entlockt seinem rechten Fuß genaue 50-Meter-Pässe – wie Lothar Matthäus. Er schießt gefährliche Freistöße – wie Thomas Häßler. Er bedient die Stürmer mit dem so genannten ‚tödlichen Pass‘ – wie Uwe Bein. Er bringt präzise Flanken in den Strafraum – wie Andreas Brehme. Er ist antrittsschnell – wie Andreas Möller. Er hat eine exzellente Ballbehandlung – wie Andreas Thom. Und sein Selbstbewusstsein ist sehr ausgeprägt – wie das von Stefan Effenberg. Ist es da ein Wunder, dass Basler die Frage ‚Was können Sie?‘ schlicht und ergreifend mit ‚Alles‘ beantwortet?“

Die Zeitschrift zitiert Otto Rehhagel: „Mario hat Gold im rechten Fuß. Man kann ihn vielseitig einsetzen, er reißt das Spiel an sich. Er ist wie ein Quarterback im Football, der guckt, wie die Spieler laufen, und dann kommt der Ball über 60 Meter auf den Punkt dorthin. Basler gehört zu den wenigen Profis der Bundesliga, die etwas Überraschendes, Geniales machen können.“

Gegen die Vereinigten Arabischen Emirate spielt Basler 90 Minuten. Deutschland gewinnt mit 2:0. Der nächste Schritt in Richtung Weltmeisterschaft ist getan. Bis zur WM in den USA bleiben noch zweieinhalb Monate und drei Testspiele.

Die Bundesligasaison war nach dem Sieg gegen Leverkusen eigentlich abgehakt. Am Ende wurden wir Achter, ein Platz im Niemandsland. Aber ein Highlight hatte diese Spielzeit ja noch zu bieten: das Finale im DFB-Pokal. Dort hatte es tatsächlich mein alter Verein Rot-Weiss Essen nach Siegen gegen Duisburg, Jena und TeBe Berlin ins Endspiel geschafft. Wegen manipulierter Unterlagen im Lizensierungsverfahren vor der Saison hatte man RWE erneut mit dem Zwangsabstieg bestraft.

Natürlich waren wir haushoher Favorit für den Pokalgewinn in Berlin. Aber die lange Saison schien doch schwer auf uns zu lasten. In den ersten 15 Minuten spielten wir so vorsichtig, als würden nicht die Essener, sondern wir in der nächsten Saison drittklassig spielen. Erst ein herrlicher Pass von Rune Bratseth in den Lauf von Marco Bode brach das Eis, seine Hereingabe musste Didi Beiersdorfer nur noch über die Linie schieben – 1: 0 für uns. Mit dem Tor fand auch ich meine Sicherheit im Spiel wieder und eigentlich hätte ich Mitte der ersten Hälfte das 2:0 machen müssen, doch unerklärlicherweise rauschte der Ball am gegnerischen Kasten vorbei. Es dauerte bis zur 38. Minute, bis auch ich etwas für den Spielstand tat: Rufer hatte sich auf links durchgesetzt und den Ball in die Mitte gespielt, an Freund und Feind vorbei war das Ding schließlich rechts vom Tor tief im Strafraum bei mir gelandet. Eine schnelle Drehung, ein gezielter Flachpass und Andi Herzog konnte zum 2:0 abstauben. Damit sollte doch eigentlich alles klar sein, oder?

Kurz vor dem Halbzeitpfiff setzt Basler auf seiner rechten Seite noch einmal zu einem Sprint an, umkurvt drei Gegenspieler, legt sich den Ball aber zu weit vor und kann ihn von der Torauslinie nur zu einer harmlosen Flanke in die Mitte lenken. Die 20.000 mitgereisten Bremer Fans johlen vergnügt und wer das Spiel vor dem Fernseher verfolgt, hört jetzt aus dem Off einen von Basler verzückten Dieter Kürten: „Ah, der rackert ja heute! Das wird Berti Vogts gefallen. Ja, Junge, Spitze bist du heute!“ Halbzeit.

In der Kabine schwört Rehhagel seine Truppe auf die zweite Hälfte ein: „Wir müssen vor allem in den ersten zehn Minuten hellwach sein, die werden jetzt noch einmal alles nach vorne werfen!“ Fünf Minuten sind gespielt, als ein abgefälschter Schuss überraschend bei dem Essener Daouda Bangoura landet, der den Ball am herausgestürzten Oli Reck vorbei ins Bremer Tor spitzelt. 30.000 Fans des Außenseiters wittern noch einmal Morgenluft. Dieter Kürten orakelt: „Jetzt geht’s noch einmal rund!“ Und wie es rund geht. Denn die Zwangsabsteiger aus dem Ruhrgebiet schmeißen sich jetzt mit äußerster Vehemenz in jeden Zweikampf und schnüren den Erstligisten in dessen eigener Hälfte förmlich ein. Mehrfach müssen in den nächsten 25 Minuten die Arme von Torwart Reck und die langen Beine seiner Verteidiger in höchster Not klären, Werder hat durch das Gegentor komplett die Kontrolle über die Partie verloren. Und Mario Basler, von dem in der ersten Halbzeit beinahe jeder Angriff ausging, bekommt nun keinen Ball mehr. So wertvoll Basler vor dem Seitenwechsel für das Bremer Spiel war, so wertlos ist er jetzt, wo nicht mehr spektakuläre Sturmläufe das Finale entscheiden werden, sondern kraftraubende Zweikämpfe und Drecksarbeit in der eigenen Hälfte. Ein Job, für den Basler nicht vorgesehen ist. Als er in der 73. Minute nur halbherzig in einen Zweikampf mit dem heranrauschenden Kristian Zedi geht, dem es daraufhin gelingt, bis in den Bremer Strafraum vorzustoßen, hat Otto Rehhagel die Faxen dicke. „Wie sollen sie ihre Jungs wieder stabilisieren?“, fragt Kürten, als die Kamera Rehhagel und seinen Assistenten Kalli Kamp einfängt. Rehhagel trifft eine Entscheidung und bringt in der 75. Minute Andree Wiedener für Mario Basler. Grußlos verabschiedet sich Bremens frisch gebackener Nationalspieler in die Kabine. Zehn Minuten später nimmt Rehhagel auch Herzog vom Platz, auch er verweigert seinem Trainer den Handschlag. In der 88. Minute erlöst Wynton Rufer alle Bremer, er verwandelt einen Handelfmeter zum 3:1 Endstand und macht damit den dritten Pokalsieg in Werders Historie perfekt.

Ganz Bremen jubelt. Ganz Bremen? Während draußen die ersten Champagnerkorken knallen und sich Andi Herzog mit Mütze und Fahne ausstaffiert, hockt Basler stinksauer in der Kabine. Der Unmut über seine Auswechslung ist natürlich auch ZDF-Reporter Rolf Töpperwien nicht entgangen, im Interview mit Otto Rehhagel spricht er den Trainer darauf an. Rehhagel antwortet: „Er (Basler) hat zu wenig gemacht aus seinen Möglichkeiten und wir müssen das Pokalspiel gewinnen. Da zählt dann nachher kein Name. Ob das Herr Basler oder Herr Herzog ist. Hier geht es um den Verein Werder Bremen und in erster Linie um die Mannschaft.“

In wenigen Augenblicken soll die Pokalübergabe stattfinden, Bundespräsident Richard von Weizsäcker wartet schon. Doch noch immer ist die Mannschaft des Siegers unvollständig, Mario Basler sitzt weiterhin grantelnd in der Umkleide. Wer genau den schmollenden Mittelfeldmann aus dem Kabinentrakt auf die Ehrentribüne holt, darüber sind sich die Beteiligten nicht ganz einig. Uli Borowka behauptet in seinem Buch, dass er und Oli Reck die erforderlichen „pädagogischen Erste-Hilfe-Maßnahmen“ eingeleitet hätten, Basler und mit ihm die meisten Werder-Chroniken meinen sich zu erinnern, dass es Bremens Vizepräsident Klaus-Dieter Fischer war. Am glaubhaftesten sind allerdings die Erinnerungen der beiden Torhüter und Basler-Kumpel Oliver Reck und Hansi Gundelach.

Reck: „Die Auswechslung musste einfach sein. Otto behauptet bis heute, dass wir noch verloren hätten, wenn er Mario drin gelassen hätte. Weil Hansi und ich ihm am nächsten standen, gingen wir in die Kabine und versuchten ihn davon zu überzeugen, rauszukommen und unseren Pokalsieg zu feiern. Er war ziemlich enttäuscht, weil ihn Otto ausgerechnet im Finale gegen seinen Ex-Klub ausgewechselt hatte, aber schließlich schaffte er es doch auf die Ehrentribüne.“

Gundelach: „Mario war ein Vollblutfußballer. Es gibt keinen Vollblutfußballer, der gerne in so einer Partie ausgewechselt wird. Vielleicht hat er die Maßnahme von Otto einfach falsch interpretiert: Es ging ja nicht um ihn persönlich, sondern um seine Leistung in der zweiten Halbzeit. Als Oli und ich in die Kabine kamen, war er noch auf 180, meckerte und motzte, aber aus Erfahrung wussten wir, dass er sich auch wieder schnell beruhigen würde. Also redeten wir ihm gut zu: ‚Junge, wir sind ein Team. Wir verlieren zusammen und wir gewinnen zusammen. Jetzt kommst du mit uns raus und bekennst Farbe zu deinem Verein.‘ Er war wie ein kleiner Junge, der sich trotzig in die Ecke stellt und schmollt. Aber er war halt auch noch recht unerfahren. Ich glaube, ein paar Jahre später hätte er anders gehandelt.“

Apropos Farbe bekennen: Als einziger Pokalsieger trägt Basler ein lilafarbenes T-Shirt bei der Pokalübergabe und auf den offiziellen Mannschaftsfotos. Wie er da ganz kurz den goldenen Cup anhebt und schwer enttäuscht die Mundwinkel hängen lässt, könnte man glauben, er habe soeben davon erfahren, dass man ihn wieder nach Essen transferiert habe. Otto Rehhagel findet deutliche Worte: „Ich habe Basler ausgewechselt, um den Sieg zu retten. Er ist ein genialer Spieler, aber er muss auch bereit sein, die Ärmel hochzukrempeln. Bei der WM wird er sich wundern!“

„Gab es nach dem Finale Streit mit Ihrem Trainer?“, will der kicker einige Tage später von Basler wissen. Der antwortet: „Mit Otto kann man nicht streiten. Weder theoretisch noch praktisch.“ Die Saison 1993/94 ist damit offiziell beendet.

Eigentlich bin ich ein super Typ

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