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Kapitel 4 ABENTEUER IN ISTANBUL

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Es ging erst mal in dem Irrsinnstempo weiter. Nur drei Tage nach unserem letzten Saisonspiel stand ich im Trikot mit dem Bundesadler zum ersten – und leider auch letzten – Mal bei einem Länderspiel auf dem Platz. Die U20 wurde damals von Uli Stielike trainiert und ich gehörte für den ehemaligen Weltklassespieler tatsächlich zum erweiterten Kreis der Nationalmannschaft. Jetzt, so kurz nach der Saison, hatten sich viele gestandene U20-Kicker lieber in den Sommerurlaub verabschiedet, weshalb Stielike den Kader aus diesem erweiterten Kreis zusammenstellen musste, um überhaupt genug Spieler nominieren zu können. Während also viele andere Profis sich nicht gerade darum rissen, dieses Länderspiel bestreiten zu dürfen, musste mich der Coach nicht zweimal fragen. Ich werde wohl geahnt haben, dass es für mich nicht so viele Chancen geben würde, das Nationalmannschaftstrikot zu tragen.

Meine Länderspielpremiere, ein Testspiel gegen den Nachwuchs Österreichs, fand vor 3000 Zuschauern im Stadion Müllerwiese von Budissa Bautzen statt. Eben noch hatte ich vor knapp 75 000 Zuschauern im Olympiastadion gespielt, jetzt kickte ich in Bautzen. Und trotzdem genoss ich jede Sekunde, war stolz darauf, zu dieser – wenn auch ausgedünnten – Elite zu gehören und hatte eine Gänsehaut, als die Nationalhymne gespielt wurde. Wer weiß, vielleicht hätte meine Karriere als Nationalspieler ja doch ein wenig länger gedauert, wenn wir gegen Österreich nicht mit 2:3 verloren hätten. So aber war das Kapitel Nationalelf schon nach 90 Minuten für mich zu Ende. Zwar wurde ich einige Monate später vom U21-Trainer Dieter Eilts zu einem Sichtungslehrgang im Vorfeld des Spiels gegen Holland eingeladen, aber letztlich schaffte ich es nicht in seinen Kader – es gab keine weitere Einladung mehr. In den Jahren danach wurde immer mal wieder leise der Gedanke geäußert, ob ich nicht vielleicht doch ein Kandidat für die A-Nationalmannschaft sei, aber zum einen gab es eben einige Kollegen, die einfach besser waren als ich, und zum anderen spielte ich dafür im falschen Verein. Die Eintracht schien einfach ein bisschen außerhalb des Blickfelds des Nationaltrainers zu sein. Zu beobachten war das etwa im Fall von Patrick Ochs oder Bastian Oczipka, die zu ihren besten Zeiten eine Einladung unbedingt verdient gehabt hätten, aber dann doch zu Hause vor dem Fernseher saßen, wenn die Nationalhymne angestimmt wurde. Keine Ahnung, woran das lag oder ob ich mir das nur einbilde, aber gefühlt wurden Kicker aus anderen Klubs eher eingeladen als Frankfurter Jungs.

Apropos Nationalmannschaft. Der Sommer 2006 stand natürlich ganz im Zeichen der Weltmeisterschaft im eigenen Lande. Ich hatte zwar keine Tickets, um ein Spiel im Stadion zu sehen, schaute aber eh lieber mit Freunden im Garten. Das emotionalste Match war für mich das Viertelfinale gegen Argentinien. Nach dem Sieg im Elfmeterschießen setzten auch wir uns in den Wagen und reihten uns ein in den riesigen hupenden Autokorso, mit dem in Frankfurt der Halbfinaleinzug gefeiert wurde. Als Fußballer fand ich das „Sommermärchen“ gleich in mehrfacher Hinsicht hochinteressant. Denn durch Jürgen Klinsmann mit seinen innovativen Trainingsmethoden und seinem Vertrauen in junge Spieler wurde letztlich auch in der Bundesliga ein längst überfälliger Umbruch eingeläutet. Ernährung, Prävention, Trainingslehre – all das waren Aspekte des Profisports, die teils überhaupt erst mal berücksichtigt werden mussten oder zu denen es teils schon länger neuere Erkenntnisse gab, die bisher nicht herangezogen wurden. Klinsmanns Neuerungen fanden nach und nach ihren Weg in die Klubs von Hamburg bis München. Bald darauf sollte ich in einem Trainingslager das erste Mal in meinem Leben Yogaübungen machen. Am Anfang war das schon merkwürdig, denn was die Vorbereitung angeht, sind wir Fußballer ziemlich konservativ veranlagt. Bloß nichts ändern, was man immer schon so und nicht anders gemacht hat! Weil Fußballer aber auch Gewohnheitstiere sind, gehörten die Yogaeinheiten vor dem Frühstück schon bald zur Alltagsroutine.

Als junger Abwehrspieler fokussierte ich mich bei den TV-Übertragungen der deutschen WM-Spiele natürlich in erster Linie auf die DFB-Viererkette. Gerade Per Mertesacker wurde in diesem Sommer zum Role Model für Innenverteidiger. Ich kannte ihn ja schon aus der Bundesliga, aber nach der WM kannte ihn die ganze Welt. Oder zumindest jeder deutsche Fußballfan. Gemeinsam mit Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski machte Mertesacker unmissverständlich klar, was schon bald deutlich zu erkennen war: Es gab neue Sheriffs in der Stadt – und sie gehörten wie ich zu den Jahrgängen 1984/85. Sie waren die Zukunft, sie sollten bald in der Bundesliga den Ton angeben. Und für Deutschland exakt acht Jahre nach diesem großartigen Sommer den vierten Weltmeisterschaftstitel holen.

Für die neue Spielzeit bekamen wir Verstärkung vom Rivalen aus Mainz. Dort hatte sich Michael Thurk als ausgebuffter Torjäger ins Rampenlicht gespielt. An ihm zeigte sich allerdings beispielhaft, wie schwer es manche Spieler bei der Eintracht haben, wenn sie als vermeintlich vorbelastet an den Main kommen. Im Falle von Thurk wurde diese Vorbelastung natürlich in seinem früheren Arbeitgeber gesehen. Bereits zu Zweitligazeiten hatte sich der Stürmer zu einem der beliebtesten Mainzer hochgearbeitet, und dass der Publikumsliebling vom Bruchweg nun ausgerechnet mit dem Adler auf der Brust auflaufen sollte, brachte viele unserer Fans auf die Palme. Im Nachhinein muss man wohl nüchtern feststellen, dass sein Engagement allein deshalb zum Scheitern verurteilt war. Michael hätte schon 20 Saisontore schießen müssen, um die Frankfurter von sich zu überzeugen, stattdessen waren es am Ende sechs in 33 Spielen, darunter ein Hattrick im ersten UEFA-Cup-Spiel gegen Brøndby IF. Mir tat er leid, es muss extrem schwer sein, wenn die eigenen Fans solche Vorbehalte gegen dich haben. Nur eineinhalb Jahre später wechselte er dann zum FC Augsburg und schoss da alles kurz und klein. Ich verstand mich sehr gut mit ihm, er war ein toller Kicker und ein sehr lustiger Typ, ein in jeder Hinsicht echter Gewinn für die Mannschaft. Schade, dass es ihm so schwer gemacht wurde. Und er war beileibe nicht der Einzige, der mit diesem Problem zu kämpfen hatte. Wenn unser Stadion heute glückselig an den „Fußballgott“ Alex Meier denkt, dann vergessen wahrscheinlich viele, wie holprig sein Start bei der Eintracht war. Es lag wohl an seiner zuweilen lethargischen Körpersprache, dann kamen noch ein paar unglückliche Aktionen hinzu, und prompt war Alex als lauffauler Chancentod verschrien. Es hat ihn viel Mühe gekostet, den Frankfurter Anhang von sich zu überzeugen, und am Ende zählte er sogar zu den beliebtesten Frankfurtern der vergangenen drei Jahrzehnte. So sehr einen das Publikum pushen kann, so sehr kann es einen auch negativ beeinflussen. Als Spieler spürst du, wenn sich der Wind dreht, wenn nach jedem Fehlpass ein Raunen durchs Stadion geht und die Leute scheinbar nur darauf warten, dass du den nächsten Bock schießt. Dieser Druck ist enorm und viele zerbrechen daran. Ich kann von Glück sagen, dass die Erwartungshaltung bei mir nie so hoch war und ich relativ entspannt meinen Weg gehen durfte. Andere hatten da nicht so viel Glück.

Einer dieser Unglücklichen war Albert Streit. Albert war ein überragender Kicker, der es fünf Jahre vor mir aus der eigenen Jugend in die erste Mannschaft der Eintracht geschafft hatte. Nach Jahren in Wolfsburg und Köln kehrte er zu Beginn der Saison ablösefrei zu uns zurück und natürlich war er noch immer ein begnadeter Kicker. Leider prangte auf seiner Stirn ein fetter unsichtbarer Stempel, der ihn als vermeintlichen Problemfußballer auswies. Spätestens nach der verrückten Kopfstoßaktion mit Norbert Meier ein paar Monate zuvor war Alberts Ruf ziemlich ramponiert. In den Medien wurde er regelmäßig als „Bad Boy“ und schwieriger Charakter beschrieben, Zuschreibungen, die ich bereits nach den ersten Trainingseinheiten überhaupt nicht nachvollziehen konnte – im Gegenteil. So wie es Jahre später auch mit Kevin-Prince Boateng lief, war es auch mit Albert, den ich als sehr ruhigen und umgänglichen Typen kennenlernte. Sehr schade, dass seine Karriere später so ein merkwürdiges Ende nahm.

Als die Spielzeit 2006/07 begann, hatte ich mich als Stammspieler etabliert. Jetzt stand ich vor der nächsten Herausforderung meiner Karriere. Denn wer einen Stammplatz hat, der will ihn auch unbedingt behalten. Dass man dafür auch einiges wegstecken können muss, sollte ich spätestens am dritten Spieltag im Derby gegen Mainz erfahren. Beim Stand von 1:1 lag ich kurz vor Schluss am Boden, als mir mein Gegenspieler Ranisav Jovanovic an den Haaren zog, woraufhin ich natürlich wütend hochfuhr. Nach einem kurzen Wortgefecht war die Sache dann auch schon wieder vergessen. Jedenfalls für mich. In der Nachberichterstattung bekam Jovanovic noch ordentlich sein Fett weg. Ich war bei solchen oder ähnlichen Aktionen nie nachtragend. Fußball ist ein Kampfspiel und in 90 Minuten kann es häufig auch mal weh tun. Anders als vielleicht die Verteidigergenerationen vor mir hatte ich kein Interesse daran, meine Gegenspieler mit überharten Aktionen einzuschüchtern. Außerdem standen Mitte der Nullerjahre schon überall Kameras um den Platz. Wenn mich mein innerer Uli Borowka dazu verleitet hätte, einen gegnerischen Stürmer über die Bande zu treten, wäre ich höchstwahrscheinlich hart dafür bestraft worden. Gleichzeitig war das Spiel inzwischen so schnell geworden, dass gar keine Zeit blieb für etwaige Racheaktionen oder etwas in der Art. Der nächste Zweikampf stand schon bevor und erforderte volle Konzentration. Natürlich kochte auch ich manchmal über, aber dann legte ich all meine Energie in eine gute altbewährte Grätsche mit Ball, für die man höchstens eine Gelbe Karte kassierte.

Gegen anständigen Trash-Talk hatte ich dagegen nichts einzuwenden. Für mich gehörte es dazu, den Gegenspieler auch verbal aus dem Konzept zu bringen, mit ein wenig Fantasie boten sich da viele Möglichkeiten. Die schlimmsten Duelle in dieser Hinsicht hatte ich mit dem Albaner Fatmir Vata von Arminia Bielefeld. Vata misst nur 1,70 Meter, hat aber eine riesengroße Klappe. Er konnte sehr gut austeilen, aber zu seiner Ehrenrettung muss ich bestätigen: auch sehr gut einstecken. Wenn wir aufeinandertrafen, flogen die Fetzen. Was wir uns dabei alles an den Kopf warfen, will ich hier nicht wiedergeben, es war auf jeden Fall nicht jugendfrei. Wenn die Fernsehteams schon damals so hochsensible Mikrofone am Seitenrand aufgebaut hätten, wären wir beide vermutlich für viele Wochen gesperrt worden. Was ich am Fußball allerdings so liebe: Wenn der Schiri die Partie abpfiff, war selbst der heftigste Beef vergeben und vergessen. Und da spielte es für mich auch keine Rolle, wer gerade mein Gegenspieler war. Selbst wenn Mats Hummels und ich – und wir verstanden uns ansonsten immer richtig gut –während der 90 Minuten Beleidigungen an den Kopf warfen, blieb davon nach dem Schlusspfiff nichts mehr hängen.

Am vierten Spieltag gegen Leverkusen gelang uns der erste Sieg der Saison. Mit meinen 21 Jahren hatte ich einen so abgeklärten Auftritt hingelegt, dass die Medien anschließend schrieben, ich hätte die „Souveränität eines alten Hasen“ an den Tag gelegt. Noch schöner war allerdings das Lob von Friedhelm Funkel. „Er hat einen Riesenschritt gemacht“, erklärte er den Journalisten, „ich vertraue ihm hundertprozentig.“ Es war noch gar nicht so lange her, da hatte ich sein Vertrauen auf eine schwere Probe gestellt. Umso wichtiger, dass ich es ihm jetzt so zurückzahlen konnte. Gleichzeitig war ich nun schon lange genug dabei, um genau zu wissen, welche Halbwertszeit solche Lobeshymnen hatten. Typisch Fußball: An dem einen Spieltag bist du der überragende Mann, am nächsten schon der größte Loser. Wer sich nur an den Zeitungsartikeln und TV-Berichten orientiert, verliert bald den Überblick. Viel entscheidender sind der Zuspruch des Trainers und eine gesunde Selbsteinschätzung. Stimmt diese Mischung, kommt das Selbstvertrauen von allein. Und das ist der Treibstoff, der Fußballer zu Höchstleistungen animiert. Ich war zwar kein alles überragendes Talent und es gab genügend Defizite in meinem Spiel, aber ich war von Beginn an in der Lage, meine Arbeit realistisch einzuschätzen. So etwas spürt man schon nach wenigen Minuten auf dem Platz – wenn die Pässe ankommen, die Zweikämpfe gewonnen werden, das Stellungsspiel stimmt. Nach diesem inneren Radar sollten sich Fußballer richten, es ist der einzige Maßstab der wirklich zählt. Was natürlich nicht heißen soll, dass ich für Komplimente nicht empfänglich gewesen wäre. Keine Frage: Es war schon immer etwas ganz Besonderes, wenn ich in den Mannschaftssitzungen lobend erwähnt wurde oder mir nach dem Spiel meine Kollegen um den Hals fielen, weil sie wussten, dass ich maßgeblich dazu beigetragen hatte, den Laden hinten dicht zu halten.

Und als wäre es darum gegangen, unter Beweis zu stellen, dass ich wirklich über eine gute Selbsteinschätzung verfügte, musste ich mich nach der nächsten Partie gegen den VfB Stuttgart kritisch mit meiner eigenen Leistung auseinandersetzen. Mario Gomez hatte mich in der 73. Minute in einem Kopfballduell besiegt und das Tor für die Stuttgarter erzielt. Zum Glück gelang Alex Meier kurz vor Schluss noch der Ausgleich. „Gomez war mein Mann“, gestand ich den Journalisten, „ich stand tief, und plötzlich kam er aus vollem Lauf. Das war mein Fehler, ganz klar.“ Ich habe einige Kollegen im Laufe der Jahre kennengelernt, die große Probleme hatten, eigene Fehler zuzugeben, was mir zum Glück immer recht leichtfiel. Zum Glück, weil ich davon überzeugt bin, dass es letztlich eine große Stärke ist, wenn man offen über seine Patzer sprechen kann. Gerade als Profifußballer, wo jeder Zuschauer im Stadion und noch mehr die Leute zu Hause vor den Fernsehern sehen, wenn der Russ zu spät gegen den Gomez ins Kopfballduell geht. Und diese Aufrichtigkeit, das Eingestehen von Fehlern, wird von den Leuten honoriert. Fußballfans können es nicht leiden, wenn sich Fußballer nicht gerade machen können. „Eier, wir brauchen Eier“, hat Oliver Kahn mal gefordert, zu Recht. Natürlich ist es wichtig, dass man anschließend auch an seinen Fehlern arbeitet. Bringt ja nichts, wenn man Woche vor Woche Reue zeigt, aber offensichtlich nichts dazulernt. Dieser Lernprozess dauert die ganze Karriere über an. Gerade als Abwehrspieler. Es gibt immer etwas zu verbessern. Ich wette, selbst Sergio Ramos – für mich einer der besten Defensivspieler aller Zeiten – holt sich noch Tipps von seinen Trainern. Und wenn der das macht, sollte sich auch ein Marco Russ nicht schämen, an seinem Zweikampfverhalten zu arbeiten.

Der ständige Lernprozess fand für einen jungen Spieler wie mich auch außerhalb des Platzes statt. Je mehr Bundesligaspiele ich machte, je mehr ich in der Öffentlichkeit stand, umso bekannter wurde mein Gesicht. Es war gar nicht so lange her, da hatte ich völlig unerkannt durch Frankfurt oder Hanau laufen können, doch jetzt kam es immer häufiger vor, dass ich nach Autogrammen gefragt oder um ein Foto gebeten wurde. So, wie alles zwei Seiten hat, ist es auch mit der Prominenz. Natürlich hatte ich nichts dagegen, wenn mir wildfremde Menschen auf die Schultern klopften, im Restaurant immer ein Tisch für mich frei war und ich vor den Clubs nicht mehr in der Schlange stehen musste. Gleichzeitig türmten sich die vermeintlich unschlagbaren Angebote von Versicherungsvertretern, Vermögensverwaltern oder Immobilienhaien. Von dem bisschen Ruhm, das ich mir inzwischen erspielt hatte, wollten offenbar eine Menge Leute etwas abhaben. Mein Glück war, dass ich noch immer mit den gleichen Jungs aus unserer Clique abhing, mit denen ich schon seit Teenagerzeiten befreundet war. Selbst wenn ich mich von meiner sportlichen Bekanntheit hätte blenden lassen wollen, meine Freunde hätten das nicht zugelassen. Klar, auch ihnen gefiel es, wenn wir in der Disco wie Ehrengäste behandelt wurden, aber erstens hingen wir sowieso lieber irgendwo privat ab und zweitens sorgten sie auf ihre Weise schon dafür, dass ich auf dem Boden blieb. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich sehr dankbar dafür, dass ich so eine solide Basis hatte. Andere, deutlich naivere Kicker, denen diese Bindung fehlte, waren leichte Opfer für die vielen Blutsauger, die sich hinter der Bande versteckten. Zudem profitierte ich auch davon, schon in jungen Jahren eine feste Beziehung zu haben, denn die vielen schönen Frauen, die dich auf einmal wahnsinnig attraktiv finden, weil du gut gegen einen Ball treten kannst, sind auch nicht gerade förderlich, wenn man mit beiden Beinen auf dem Teppich bleiben will. Wer sich als Bundesligafußballer sexuell austoben möchte, hat dazu unglaublich viele Möglichkeiten. Und bis zu einem gewissen Grad finde ich das auch völlig okay. Es darf halt nur keiner darunter leiden.

Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, auf der Straße erkannt oder angesprochen zu werden. Ich akzeptierte das als Ausdruck von Sympathie oder Respekt, gleichzeitig sehnte ich mich danach – wie vermutlich jede halbwegs prominente Person –, einfach unerkannt durch die Heimatstadt laufen oder ganz in Ruhe im Supermarkt einkaufen gehen zu können. Umso schöner waren jene Stunden, die ich wie früher bei meinen Jungs auf der Couch verbrachte, um Playstation zu zocken und Blödsinn zu labern. Und nur weil ich jetzt ganz gut Kohle verdiente und in der Bundesliga spielte, stand da trotzdem kein Champagner auf dem Tisch. Bier schmeckte uns allen eh viel besser.

In der Liga hatten wir uns nach der Hälfte der Saison in der Tabellenmitte eingenistet. Eine passable Ausgangsposition. Ich selbst machte meine Sache als weiterhin ganz anständig. Gegen Werder Bremen schoss ich im Dezember gar mein erstes Bundesligator. Schade nur, dass sich nach der 2:6-Niederlage niemand mehr daran erinnerte. Immer mal wieder unterliefen mir allerdings auch Leichtsinnsfehler, wobei ich das Glück hatte, dass mir der Trainer und die Teamkameraden diese Pannen auch mal zugestanden. Es gibt keinen Fußballer auf der Welt, der von Anfang an auf Topniveau spielt – Ausnahmeerscheinungen wie Ronaldo, Messi oder Neymar mal ausgenommen. Formschwankungen gehören für einen jungen Sportler dazu und sind Teil des Entwicklungsprozesses. Das Entscheidende dabei ist immer die Frage: Wie wird mit diesen Fehlern umgegangen? In meinem Fall hatte ich mit Friedhelm Funkel einen Trainer, der mich nach schwachen Spielen vor der Öffentlichkeit in Schutz nahm und mir hinter verschlossenen Türen oder beim nächsten Training ganz in Ruhe erklärte, was ich noch verbessern musste. Es gibt in der Bundesliga leider viele Trainer, die einen jungen Fußballer nach zwei, drei schlechteren Auftritten aus der Mannschaft nehmen, wodurch das Selbstvertrauen dieser Kicker häufig einen enormen Knick bekommt. Funkel war da glücklicherweise anders. Zusätzlich war unsere Mannschaft so intakt, dass individuelle Fehler vom Kollektiv verziehen wurden. Es ist auf diesem Niveau nicht selten, dass gerade ältere Spieler jüngere Kollegen an den Pranger stellen, um sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Diese Erfahrung blieb mir erspart. Im Gegenteil: Nach von mir verschuldeten Gegentoren oder schwächeren Spielen nahmen mich die Routiniers beiseite und gaben mir Tipps, wie ich mich auf und abseits des Rasens verhalten sollte. Viele dieser Ratschläge habe ich später selbst an die jungen Spieler der nächsten Generation weitergegeben. Zum Beispiel diesen Klassiker: Nach schlechten Spielen keine Zeitung lesen – und noch weniger nach guten Spielen. Im Windschatten dieser alten Hasen wurde ich ganz behutsam an den Bundesligaalltag herangeführt und profitierte dabei auch davon, bei einem Verein wie Eintracht Frankfurt heranzuwachsen. Bei einem Klub mit deutlich ambitionierteren Zielen – beispielsweise Bayer Leverkusen – hätte ich es vermutlich viel schwieriger gehabt, mich in Ruhe zu entwickeln. Das war und ist der Vorteil von einem Klub, der sich wie die Eintracht als Ausbildungsverein versteht: Hier werden Fehler akzeptiert, hier ist der Druck, sofort funktionieren zu müssen, nicht so hoch.

Das absolute Highlight meiner ersten vollwertigen Erstliga-Hinrunde fand knapp zwei Wochen vor Heiligabend statt. Dank unserer Pokalfinalteilnahme hatten wir uns für den UEFA-Cup qualifiziert und es mit einem Sieg und einem Unentschieden in den Entscheidungsspielen gegen Brøndby IF bis in die Gruppenphase geschafft. An diesem letzten Spieltag reisten wir nach Istanbul, um dort gegen Fenerbahçe die letzte Chance auf die Teilnahme an der Zwischenrunde zu wahren. Im Auswärtsspiel gegen die Spanier von Celta Vigo hatte ich 25 Minuten lang zum ersten Mal Europapokal-Luft geschnuppert, gegen die Türken ließ mich Funkel von Beginn an ran. Wahnsinn, dachte ich, als wir auf dem Flughafen in Istanbul landeten. Gegen solche Teams hast du früher nur auf der Playstation gespielt! Von der fußballverrückten Stadt hatte ich schon viel gehört, doch die ersten Eindrücke vor Ort übertrafen noch einmal die Erwartungen. Unser Hotel lag etwas erhöht auf einem Hügel, von dort hatten wir einen fantastischen Blick über die riesige City, die Nahtstelle zwischen Europa und Asien. Wie im UEFA-Cup üblich, durften wir das Abschlusstraining im Stadion absolvieren und schon allein dieser Umstand sorgte für eine besondere Anspannung, die ich in dieser Form noch nicht erlebt hatte.

Und die Spannung wurde nur noch größer, als wir wenige Stunden vor dem Anpfiff mit dem Bus vom Hotel Richtung Şükrü-Saracoğlu-Stadion fuhren, der Heimspielstätte von Fener. Schon auf der Brücke, die den europäischen und asiatischen Kontinent miteinander verbindet, empfingen uns die heißblütigen Fans unseres Gastgebers. Durch ein Spalier von bengalischen Feuern fuhren wir unserem Arbeitsplatz entgegen, und ich, der trotz der paar Einsatzminuten im Grunde immer noch UEFA-Cup-Novize war, empfand das als ein grandioses Spektakel. Mit einer Polizeieskorte kamen wir am Stadion an, wo schon 50 000 Zuschauer auf uns warteten, darunter auch einige tausend aus Frankfurt. Fener hatte damals eine richtige Startruppe, mit dem Ghanaer Stephen Appiah, dem Brasilianer Alex und dem Serben Mateja Kezman in der Offensive. Und dann noch diese fantastische Stimmung in diesem wunderbaren Stadion. Ich war richtig elektrisiert, als wir zum Warmmachen aufs Feld liefen und mir von den Gesängen die Ohren klingelten. Ich liebte Auswärtsspiele und sog die besondere Atmosphäre förmlich auf. Die fremdartigen Gesänge, Choreos, die vereinstypische Fankultur – genau um so etwas zu erleben, hatte ich immer Fußballprofi werden wollen. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass solche Spiele auch mal ohne Fans stattfinden würden, was ich zum Ende meiner Karriere noch selbst erlebt habe, als aufgrund der Coronapandemie nur noch Geisterspiele ausgetragen wurden. Ein Pflichtspiel ohne Fans ist mit einem Match vor vollem Haus nicht zu vergleichen. Keine Ahnung, wie sich die Spieler während der Pandemie dennoch motivieren konnten, ich weiß nicht, ob mir das vor so einer trostlosen Kulisse gelungen wäre. Denn ist es nicht genau das, was den Fußball so besonders macht? Wenn zigtausend Menschen schreien, klatschen und pfeifen? Wenn du auf dem Platz deine eigene Stimme nicht verstehst, weil die Zuschauer ihre Hymnen singen? Wenn die Arena bei Torschüssen regelrecht explodiert oder du mit Tempogegenstößen für kollektives Luftanhalten sorgst? Ich für meinen Teil habe davon gelebt, in vollen Stadien zu spielen, in denen mich die Energie der Leute über den Rasen trug und dafür sorgte, dass ich mich auch noch in der 89. Minute in jeden Zweikampf warf.

Im Dezember 2006 war Corona noch ganz weit entfernt – und der Einzug in die Zwischenrunde zum Greifen nah. Ein Sieg gegen Fenerbahçe und wir hätten die Gruppenphase als krasser Außenseiter überstanden. Leichter gesagt als getan, doch schon nach acht Minuten brachte uns Takahara in Führung und die frenetischen türkischen Fans zum Schweigen. Auch das ist ein unbeschreibliches Gefühl: wenn du mit deiner Mannschaft dafür sorgst, dass so ein Hexenkessel auf einmal ganz leise ist und nur im Auswärtsblock gefeiert wird. Und es kam noch besser: Kurz nach dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit erzielte Takahara das 2:0 und die darauf einsetzende Stille war fast schon gespenstisch. Zu diesem Zeitpunkt waren zwar noch 40 Minuten zu spielen, aber ich war fest davon überzeugt, dass wir das Spiel gewinnen würden. Unser Gegner pfiff bereits auf dem letzten Loch. Keine Ahnung, was die am Vorabend getan hatten, aber in diesem Moment waren sie stehend k. o. Umso bitterer, dass ich knapp zehn Minuten nach unserem zweiten Tor unter einer Ecke durchsegelte und Tuncay den Anschlusstreffer erzielen konnte. Als der Ball im Netz landete, schien die Hölle über uns zusammenzubrechen. So eine Lautstärke hatte ich bis dahin beim Fußball noch nicht erlebt. Die letzte halbe Stunde würde richtig weh tun, das war uns allen klar. Und tatsächlich kam in der 82. Minute, was kommen musste: Nach einem Konter traf Semih Şentürk per Seitfallzieher zum Ausgleich. Zehn Minuten später war das Spiel vorbei und unser Traum von Europa hatte sich in Luft aufgelöst. Eine heftige Erfahrung, die mich noch einen Tag länger als üblich beschäftigen sollte. Dabei hilft das Pensum als Fußballer, solche Misserfolge abzuhaken, denn die nächste Aufgabe wartet ja schon, und so bleibt einfach nicht viel Zeit, um solchen Spielen hinterherzutrauern.

Vielleicht war es im Nachhinein sogar besser, dass wir uns gezwungenermaßen der Doppelbelastung aus UEFA-Cup und Bundesliga entledigt hatten. So blieben mehr Zeit und Energie, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das war wie in jedem Bundesligajahr der Klassenerhalt. Zwar hatten wir die Hinrunde auf einem passablen zehnten Platz abgeschlossen, doch nach nur drei Punkten aus den ersten sechs Spielen der Rückrunde fanden wir uns auf einmal auf Rang 17 wieder. Bei anderen Vereinen hätte dieser freie Fall sehr wahrscheinlich zu Panik, Hysterie und Trainerrauswurf geführt, doch in Frankfurt war man in dieser Hinsicht schon ziemlich abgehärtet. Als Mannschaft im Abstiegskampf zu bestehen, ist eine ganz spezielle Herausforderung. Es gibt Teams mit nominell überragenden Kadern, die kein Bein mehr auf den Boden bekommen, wenn sie sich auf einmal im Abstiegsstrudel befinden. Aber das war bei der Eintracht im Frühjahr 2006 nicht der Fall. Von A wie Amanatidis bis V wie Vasoski hatten wir Spieler, die bereit waren, auf dem Platz um ihr Leben zu kämpfen. Überdies konnten wir uns auf eine Vereinsführung verlassen, die selbst in dieser sportlich schwierigen Situation nicht in Hektik und Aktionismus verfiel und weiter eng mit einem Trainer zusammenarbeitete, der in Sachen Abstiegskampf über reichlich Erfahrung verfügte. Es lag an dieser besonderen Kombination, dass ich trotz der brenzligen Lage das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen hatte, das ich für mein Spiel benötigte. Mehr noch, ich schien für den rauen Alltag am Ende der Tabelle geradezu gemacht zu sein. Zwar verfügte ich über eine saubere Technik, doch mein Spiel lebte von der Robustheit, der Einsatzfreude und vor allem von gewonnenen Zweikämpfen. Exakt die Eigenschaften, die es braucht, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Wie zur Bestätigung veränderte sich unser Trainingsalltag, je tiefer wir in den Tabellenkeller rutschten. In vielen kleinen und intensiven Spielformen wurden die direkten Duelle forciert, alle paar Sekunden schepperte es irgendwo auf dem Platz. Was sich jedoch nicht so einfach antrainieren lässt, im sportlichen Überlebenskampf aber enorm wichtig ist, ist diese besondere Abgezocktheit, die Fußballer erst im Laufe der Jahre an den Tag legen. Mehr als einmal wies mich der Trainer in dieser Saison auf diese fehlenden Qualitäten hin. Um sich auf diesem Niveau zu behaupten – gerade im Abstiegskampf – muss man in der Lage sein, unter allen Umständen Punkte zu sammeln. Doch während unsere Routiniers beim Stand von 1:0 kurz vor dem Abpfiff die Bälle auf die Tribüne bolzten oder nach harmlosen Zweikämpfen deutlich länger als nötig liegen blieben, versuchte ich Greenhorn solche Situationen mit Stil und Eleganz zu lösen. Was dagegenspricht: Mit Stil und Eleganz wurde noch kein Abstieg verhindert.

Gerade in den Duellen mit deutlich erfahreneren Profis wurde mir bewusst, wie viel ich noch zu lernen hatte, um auf diesem Niveau konstant gute Leistungen zu bringen. Einer der abgezocktesten Kicker war der Hamburger David Jarolím. Wenn sein Verein führte und er in der 87. Minute einen leichten Bodycheck kassierte, blieb er so lange liegen, dass man schon Angst bekam, er würde nie wieder aufstehen. Nur um sich dann nach seiner Wunderheilung ohne Rücksicht auf Verluste in den nächsten Zweikampf zu werfen. Zum Vorbild für eine ganze Verteidigergeneration war in dieser Zeit der Spanier Sergio Ramos von Real Madrid geworden. Der war schnell, technisch stark, enorm robust und konnte im richtigen Moment zum erbarmungslosen Drecksack mutieren. Oft bewegte er sich im regeltechnischen Grenzbereich, ohne jedoch – meistens jedenfalls – wirklich unfair zu spielen. Ich persönlich orientierte mich damals eher an Per Mertesacker, der abseits des Rasens immer sehr ruhig und bedächtig rüberkam, seine Arbeit auf dem Platz aber mit absoluter Souveränität erledigte.

Doch Mertesacker und Ramos standen nicht zur Verfügung, um uns im Frühjahr 2007 in der Bundesliga zu halten. Den Job mussten wir schon selbst übernehmen. Nach dem 1:3 gegen die auf dem vorletzten Platz rangierenden Hamburger am 23. Spieltag war die Kacke richtig am Dampfen. In solchen Situationen, wo das letzte Erfolgserlebnis schon viel zu lange her ist, wo die Medien den „freien Fall der Adler“ betrauern und die Fans immer unruhiger werden, braucht es einen echten Befreiungsschlag, um sich wieder Luft für den Schlussspurt zu verschaffen. Wer hätte vor der Saison gedacht, dass wir diesen Wendepunkt ausgerechnet auf dem Bieberer Berg schaffen würden? Das Mainderby hat eine lange Geschichte. Schon 1935 traten beide Teams so übel aufeinander ein, dass sich ein Offenbacher das Bein brach und aufgebrachte Kickers-Fans daraufhin die Frankfurter an der Abfahrt hinderten. Und dass die Eintracht 1959 mit dem kurz zuvor aus Offenbach losgeeisten Trainer Paul Oßwald Meister wurde – nach einem dramatischen Finale gegen die Kickers –, dürfte die Abneigung gegeneinander auch nicht gerade verringert haben. Mit dieser Rivalität wuchs auch ich auf. Bei uns war man entweder Eintracht- oder Kickers-Fan. Und wer sich für eine Mannschaft entschied, hasste damit automatisch den anderen Klub von ganzem Herzen. Diese Erfahrungen gehören zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen! Später, als sich abzeichnete, dass ich mal selbst ein ganz passabler Fußballer werden würde, hieß es von allen Seiten: „Du darfst ja wirklich alles machen – nur geh niemals nach Offenbach!“ Umso kurioser, dass dieser Wechsel kurzzeitig ja sogar mal im Raum stand. Auch hierfür gebührt mein Dank Friedhelm Funkel. Wer weiß, ob meine Leute mir diese Sünde verziehen hätten. Ich selbst verstand die Beziehung zu den Nachbarn im Süden als gesunde und aus langer Tradition gepflegte Rivalität. Von Hass konnte bei mir aber keine Rede sein. Gleichzeitig wusste ich natürlich, wie viel so ein Sieg gegen Offenbach unserem Anhang bedeutete. Sportlich bewegten sich beide Klubs schon lange nicht mehr auf Augenhöhe. Direkte Duelle in Pflichtspielen kamen nur dann zustande, wenn sich die Losfee im DFB-Pokal dafür entschied. Das letzte Aufeinandertreffen beider Teams hatte ich noch vor dem Fernseher miterlebt. In der ersten Pokalrunde im Jahr 2003 fiel die Entscheidung erst im Elfmeterschießen, dass die Eintracht gewann. Jetzt, im Februar 2007, hatte unser Weg nach Erfolgen gegen die Sportfreunde Siegen, Rot-Weiss Essen und den 1. FC Köln bis ins Viertelfinale geführt, wohin es überraschenderweise auch die Offenbacher geschafft hatten. Nur drei Tage nach der krachenden Niederlage gegen Hamburg fuhren wir also ein paar Kilometer weiter Richtung Süden, um vor 24 000 Zuschauern am Bieberer Berg aufzulaufen. Allerdings nicht auf der ursprünglich geplanten Route, sondern auf einer kurzfristig von der Polizei geänderten Strecke – um mögliche Konfrontationen mit den Kickers-Fans zu vermeiden. Ein erster Vorgeschmack auf das, was uns im Stadion erwarten sollte.

Über die Bedeutung dieses Spiel waren wir uns alle völlig im Klaren. In der Bundesliga standen wir auf einem Abstiegsplatz. Falls wir jetzt auch noch im DFB-Pokal gegen den regionalen Erzrivalen rausfliegen würden, wäre das der Super-GAU. Keine Ahnung, ob unsere Fans uns so ein Debakel verzeihen würden. Wir wollten es erst gar nicht darauf ankommen lassen, das rauszufinden. Entsprechend angespannt war die allgemeine Stimmung in den Tagen und Stunden vor dem Anpfiff. „Ihr dürft die nicht auf die leichte Schulter nehmen!“, mahnte Funkel schon fast mantrahaft. Seine größte Sorge: dass wir uns mit Blick auf den Klassenunterschied nicht mit voller Energie und Leidenschaft in die Partie werfen würden. Doch diese Befürchtung war unberechtigt. Bei solchen Konstellationen musste man als Profi von Eintracht Frankfurt schon völlig übergeschnappt sein, um den Ernst der Lage nicht zu begreifen. Viertelfinale, Mainderby, in der Liga mit dem Rücken an die Wand – wir alle waren bis in die Haarspitzen motiviert. Für das Flutlichtspiel am Dienstagabend vertraute Funkel in der Innenverteidigung auf mich und einen Mann, der es vermutlich auch durchs Spartaner-Casting für den Film „300“ geschafft hätte. Der Grieche Sotiris Kyrgiakos war sechs Jahre älter, drei Zentimeter größer und zum damaligen Zeitpunkt hundertmal erfahrener als ich. Ein Berg von einem Mann, der vor der Saison von den Glasgow Rangers zu uns gewechselt war und den EM-Sieg 2004 nur deshalb verpasste, weil er sich kurz vor dem Turnier verletzt hatte. Im Vergleich zu Sotiris war ich ein kleiner Bub. Er war ein richtiger Schrank, ein Verteidiger wie aus dem Bilderbuch, ein Fels in der Brandung – und im Übrigen ein richtig feiner Kerl. Mit so einer Kante an meiner Seite wollte ich hier und heute nichts anbrennen lassen.

Und genauso kam es. Schon nach elf Minuten brachte uns Michael Fink in Führung, und Takahara besiegelte mit seinen zwei Toren in der zweiten Halbzeit nicht nur den Sieg, der uns ins Pokal-Halbfinale brachte, sondern dieser Erfolg brachte uns wieder in die Spur und befreite uns aus der Krise. In den folgenden vier Ligaspielen sammelten wir acht Punkte. Und es hätten sogar noch zwei mehr werden müssen, doch gegen Nürnberg hatten wir es nicht geschafft, nach einer klaren 2:0-Führung die drei Punkte mitzunehmen. Dafür erreichten wir Historisches. Am 26. Spieltag schlugen wir die Bayern mit 1:0 – der erste Frankfurter Sieg gegen die Münchener seit sieben langen Jahren. Und was für ein Sieg! Unvergessen, wie Christoph Preuß in der 78. Minute die Flanke von Patrick Ochs zum schönsten Tor seiner Karriere verwertete. Der Fallrückzieher gegen die Bayern darf bis heute in keiner Best-of-Sammlung fehlen. Für mich hatte dieser wichtige Sieg jedoch einen leicht bitteren Beigeschmack. Vor der Partie entschied sich Funkel für eine taktische Änderung in der Defensive und nahm mich aus der Startelf. Stattdessen sollten nun Vasoski und Chris gemeinsam mit Kyrgiakos gegen Podolski, Makaay und Schweinsteiger verteidigen. Selbstverständlich hätte ich in diesem Match gerne auf dem Platz gestanden. Aber ein Trainer ist eben auch dafür da, im Sinne der Mannschaft unpopuläre Entscheidungen zu treffen und in diesem Fall hieß das für mich: Ersatzbank statt Startelf. Und der Erfolg gab Funkel recht, mit drei Punkten gegen die Bayern hätte vorher vermutlich keiner gerechnet. Ich kam nach 65 Minuten für Chris ins Spiel und hatte so immerhin beste Sicht, als Preuß mit seinem Fallrückzieher Kahn keine Chance ließ. Für diese vermutlich einmalige Wundertat musste sich unser Held des Tages natürlich noch lange ein paar Sprüche gefallen lassen. Und das nächste Mannschaftsessen ging selbstverständlich auf seine Rechnung. Man muss die Feste eben feiern, wie sie fallen.

Wer die großen Bayern schlägt, dürfte doch eigentlich nichts mit dem Abstieg zu tun haben, oder? In unserem Fall galt das zumindest nicht, denn zwischenzeitlich sah es wirklich so aus, als würden wir den Klassenerhalt am Ende doch noch verspielen. Nach einer richtig bitteren 1:3-Pleite gegen Energie Cottbus am 28. Spieltag hatten wir nur noch einen Punkt Vorsprung auf Platz 16, und auch drei Spieltage später hatte sich an dieser Ausgangslage nichts geändert. In der Zwischenzeit hatten wir uns mit einer schmerzhaften 0:4-Niederlage gegen den 1. FC Nürnberg im Halbfinale aus dem Pokalwettbewerb verabschiedet und blickten nun direkt in den Abgrund, und das bedeutete: Zweite Liga. Jetzt war noch mal ein echter Kraftakt erforderlich, um sich doch noch gegen den drohenden Abstieg zu stemmen. Drei Spieltage vor Saisonende empfingen wir Alemannia Aachen im Waldstadion, die zu diesem Zeitpunkt auf Platz 16 und damit nach der damaligen Regelung auf einem direkten Abstiegsplatz standen. Alles andere als ein Sieg hätten wir, hätten die Fans, hätte ganz Frankfurt nicht akzeptiert. Kurz vor dem Anstoß hatte ich keine Zweifel daran, dass wir heute als Sieger vom Platz gehen würden. Die Stimmung in der Kabine war so aufgeladen, so voller Energie, dass sich all der aufgestaute Frust der vergangenen Wochen und schließlich auf dem Platz entlud. Arme Alemannia. Die Aachener hatten nicht den Hauch einer Chance. Dass es am Ende nur 4:0 für uns stand, grenzte an ein Wunder. Rekordverdächtige 31-mal schossen wir aufs Tor, sechsmal prallte der Ball gegen Pfosten oder Latte. Das Spiel hätte ohne Weiteres auch 8:0 oder 9:0 ausgehen können. Entsprechend gelöst war die Atmosphäre nach dem Abpfiff. Und noch viel wichtiger: Auf dieser Welle der Euphorie surften wir auch nach Bremen, wo wir am 33. Spieltag mit dem sensationellen 2:1-Sieg den Klassenerhalt vorzeitig sicherten. Zwar war ich in diesen beiden entscheidenden Spielen insgesamt nur 17 Minuten im Einsatz gewesen, aber das interessierte mich in diesem Moment herzlich wenig. Die Eintracht hatte es mal wieder geschafft: Wir waren ein weiteres Jahr in der Bundesliga dabei.

Passend zu dieser Spielzeit voller Aufs und Abs mussten wir uns dann noch von einem Kollegen verabschieden, der eigentlich die besten Voraussetzungen gehabt hatte, eine echte Eintracht-Legende werden zu können. Doch Jermaine Jones hatte sich entschieden, zu Schalke 04 zu wechseln, und als diese Information an die Öffentlichkeit gelangte, entfachten unsere Fans einen Sturm der Entrüstung. Und Jonesy machte alles nur noch schlimmer, als er sich in einem Fanforum zu rechtfertigen versuchte, wonach die ganze Situation vollends eskalierte. Seitdem ist unser Anhang nicht gut auf ihn zu sprechen, um es mal vorsichtig zu formulieren. Ich fand das sehr schade, einen Kicker wie ihn hätte ich sehr gerne weiterhin in meiner Mannschaft gehabt. So aber wurden die Karten wieder einmal neu gemischt. Neue Saison, neues Glück. Schade nur, dass uns dieses Glück am Ende nicht ganz hold sein sollte.

Kämpfen. Siegen. Leben.

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