Читать книгу Die Rache des Inquisitors - Alexander Hartung - Страница 8

2
Agnes

Оглавление

Die Glocken der Kirchen läuteten die Zusammenkunft ein. Alle Bürger waren gekommen und strömten in den großen Versammlungssaal. Der Saal war oft Ort hitziger Diskussionen gewesen, als über die Verteilung von Weiderechten und Wegzöllen diskutiert worden war, aber jetzt feierte man hier ausgelassene Feste, beging Hochzeiten oder hob das Glas auf die Geburt eines neuen Stammhalters.

Klara hatte nur gute Erinnerungen an diesen Saal, doch als sie mit ihrem Onkel in den düsteren Raum hineinging, schien jede Freude aus ihm gewichen zu sein. Die beiden Dominikanerpriester saßen auf ihren Stühlen und musterten die einströmende Menge. Auch wenn der alte Priester blind war, so war sein trüber Blick starr auf den Gang gerichtet, als könnte er die Menschen sehen.

Die Kamine im Raum waren aus, nur spärliches Kerzenlicht erhellte den Saal. Die Angst der Bewohner war fast mit Händen zu greifen. Niemand sprach ein Wort. Alle blickten zu Boden, und selbst die Kinder schienen sich des Ernstes dieser Versammlung bewusst zu sein. Sie redeten nicht, tollten nicht umher und ließen sich zu keinerlei Streichen anstiften.

Die Bänke waren voll besetzt, als Pater Baselius aufstand. Klara biss sich nervös auf die Lippe. Sie redete nicht schlecht über Gott, ging jeden Sonntag in die Kirche und betete morgens und vor dem Schlafengehen.

Noch vor ein paar Tagen hatte sie mit Agnes über Recht und Unrecht gesprochen. Es war um die Bestrafung eines Viehhirten gegangen, der seine Tiere auf einer ungenutzten Wiese seines Nachbarn hatte grasen lassen. Wie immer hatte Agnes zu keiner Zeit gesagt, »das war richtig« oder »das war falsch«. Sie hatte von Klara verlangt, selbst zu beurteilen, was in einem solchen Fall zu tun war. Als Klara dann die Entscheidung getroffen hatte, dass es nicht anstößig war, seine Tiere auf eine brachliegende Wiese zu treiben, auch wenn sie einem nicht gehörte, hatte Agnes nur zufrieden genickt. Ihre Meinung dazu hatte sie wie immer für sich behalten.

Es gab keinen Grund für Klara, ein schlechtes Gewissen zu haben, das war ihr bewusst, und doch konnte sie den Dominikanern nicht in die Augen sehen, sondern senkte eingeschüchtert den Blick. Vielleicht lag es an der Macht über Leben und Tod, die die Männer innehatten. Möglicherweise war es auch die Angst, die durch die unzähligen grausigen Geschichten von der Inquisition geschürt worden war.

Ihre Hand umfasste das silberne Kreuz, eines der wenigen Schmuckstücke, die ihr noch von ihrer Mutter geblieben waren. Sie schloss die Augen und dachte an ihr sanftes Lächeln. Immer wenn sie sich fürchtete, war ihre Mutter in ihr Zimmer gekommen, hatte sie in die Arme geschlossen und ihr sanft über den Rücken gestrichen. Dann waren die Schreckgespenster aus den Albträumen verschwunden, das Gewitter nicht mehr so bedrohlich erschienen und die bösen Kreaturen vor ihrem Fenster geflohen.

Die kratzige Stimme des älteren Priesters riss sie aus ihren Erinnerungen. »Da wir, Pater Baselius und Pater Thomas vom heiligen Orden der Dominikaner, mit all unserer Kraft dafür kämpfen, dass das christliche Volk und der katholische Glaube geschützt und von allem ketzerischen Ungemach ferngehalten werde, haben wir diesen Prozess einberufen. Dies geschehe zum Ruhm und zur Ehre des verehrungswürdigen Namens Jesu Christi und zur Vernichtung der Häresie und des Hexentums hier in Reheim.«

Pater Baselius machte eine kurze Pause. »Man hat uns von ketzerischen Handlungen berichtet, von Schaden an Mensch und Tier, von Hexerei und dem Verkehr mit Dämonen. Jeder, der die heilige Inquisition in ihrer Arbeit behindert, soll vom Stab der Exkommunikation niedergestreckt werden. Jede Enthüllung, die einen Ketzer überführt, wird mit Absolution der Sünden vergolten.«

Der Dominikaner setzte sich wieder und winkte einem seiner Soldaten. »Man bringe die Gefangene.«

Die Menge im Versammlungssaal wurde unruhig. Klara blickte sich um und versuchte festzustellen, ob alle Bürger gekommen waren, wer fehlte. Von ihrer Bank aus hatte sie schlechte Sicht, daher wollte sie sich erheben, aber ihr Onkel fasste sie am Arm und zog sie auf ihren Platz. Sein ernster, warnender Blick ließ keinen Widerspruch zu, und so setzte sie sich.

Aus dem hinteren Teil des Saals hörte man das Klirren von Ketten. Die Soldaten führten eine kleine Gestalt hinein. Sie zog ihr rechtes Bein ein wenig nach. Ihr Kopf wurde von einem Sack verborgen, und ihr hagerer Körper war von einer alten, zerrissenen Kutte bedeckt. Klara versuchte zu erkennen, wer es war.

Die Frau wurde nach vorne gebracht, sodass sie von jedem Besucher gesehen werden konnte. Auf einen Wink von Pater Baselius zogen die Soldaten der Gefangenen den Sack vom Kopf und rissen ihr das Gewand vom Leib.

Klara erblickte Agnes. Die Haare waren ihr vom Kopf geschoren worden. Ihr linkes Auge war geschwollen und ihre Nase offenbar gebrochen. Ihr Körper war von Peitschenhieben verunziert, und ihr linker Arm hing in einem grotesken Winkel schräg von ihrer Schulter weg. Der kleine Finger ihrer linken Hand war nur noch ein Stumpf, und auf ihrer Brust waren mehrere Brandwunden.

Klara übergab sich auf den Boden. Der Saal war in Aufruhr. Mütter bedeckten ihren Kindern die Augen, Frauen fingen an zu weinen, und selbst die stärksten Männer wandten sich von diesem Anblick ab.

Agnes stand zitternd in der Mitte des Saals und konnte sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten. Ihr Blick war starr zu Boden gerichtet.

»Bedeckt sie«, sagte Pater Thomas. Die Soldaten warfen ihr das Gewand über die Schulter, das ihre Blöße nur unzureichend verhüllte.

Der junge Inquisitor erhob sich von seinem Platz, entrollte ein Schriftstück und begann, laut vorzulesen. »Agnes Barand. Ihr habt Euch der Ketzerei schuldig gemacht. Ihr habt Christus entsagt, die Sakramente geschändet und dem Teufel Opfer dargebracht. Man wirft Euch die Schuld am Tod dreier Kinder vor, weiter sollt Ihr ein Viehsterben verursacht und die Felder eines Bauern verhext haben. Ihr wurdet gesehen, wie ihr zum Hexensabbat geflogen seid. Dort habt Ihr Unzucht mit dem Teufel in Gestalt eines großen Ziegenbocks getrieben. Bei der anschließenden Zusammenkunft mit anderen Hexen habt ihr ihm kniend gehuldigt, ihn angebetet und einen Pakt mit ihm geschlossen.«

Thomas rollte das Schriftstück zusammen und wandte sich direkt an die Gefangene. »Im Angesicht dieser rechtschaffenen Bürger bitte ich Euch, gesteht Eure Häresie. Widerruft den Pakt mit dem Teufel und kehrt zurück in die Gemeinschaft der Gläubigen.«

Agnes blickte noch immer zu Boden. Sie schüttelte leicht den Kopf.

Thomas flüsterte Baselius etwas zu. Die beiden Männer besprachen sich einen Moment, dann erhob der Prior die Stimme.

»Ruft den ersten Zeugen.«

Thomas erhob sich und rief in die Menge der Zuschauer. »Maria Höfner. Tretet vor.«

Die alte Frau stand auf und trat zögernd nach vorne. Ihr Blick war auf ihre Füße gerichtet, als schämte sie sich, hier zu sein. Für einen Moment sah sie zu Agnes, doch ihr Anblick schien ihr Qualen zu bereiten, und so wandte sie sich schnell wieder ab. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie vor den Tisch trat.

»Maria Höfner«, sagte Thomas mit ruhiger Stimme. »Entspricht es der Wahrheit, dass Euer Mann die der Ketzerei angeklagte Agnes Barand kannte?«

Maria nickte nur ein wenig, hielt den Kopf aber gesenkt.

»Sprecht laut«, fuhr Pater Baselius dazwischen und schlug mit der Hand auf den Tisch.

Maria zuckte wie von einem Peitschenschlag getroffen zusammen. »Ja«, sagte sie laut.

»Und entspricht es der Wahrheit«, fuhr Thomas fort, »dass Euer Mann die der Ketzerei angeklagte Agnes mehrfach eine Hexe nannte?«

»Ja.«

»Entspricht es der Wahrheit, dass Agnes Barand Euren Mann, als dieser schwer erkrankte, mit Tränken und Salben behandelt hat?«

»Nun, Agnes ist nicht nachtragend, daher kam sie sofort, als ich …«

»Ein einfaches ›Ja‹ genügt«, unterbrach sie Thomas. Der strenge Blick von Pater Baselius war auf sie gerichtet. Maria begann zu zittern.

»Ja«, antwortete sie leise.

»Und entspricht es der Wahrheit, dass Euer Mann kurz darauf starb?«

»Er war schwer krank, und Agnes war gekommen, um seine Schmerzen zu lindern.«

»Ja oder nein?«, fragte Thomas ungeduldig.

»Ja.«

»Und entspricht es der Wahrheit, dass Euer Mann nur wenige Tage nach der Walpurgisnacht, der Nacht, in der die Hexen ihre größte Macht erlangen, erkrankt ist?«

»Ich verstehe nicht …«

»Ihr sollt die Fragen nur mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ beantworten«, befahl Baselius mit drohendem Unterton. »Jedes weitere Wort sehen wir als Missachtung der heiligen Inquisition und somit als Ketzerei an.«

Maria nickte ängstlich mit dem Kopf.

»Entspricht es also der Wahrheit, dass Euer Mann nur wenige Tage nach der Walpurgisnacht, der Nacht, in der die Hexen ihre größte Macht erlangen, erkrankt ist?«

»Ja.«

»Und kam die Krankheit für Euch überraschend?«

»Ja«, antwortete Maria. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Und wäre es denkbar, dass jemand, der mit den dunklen Mächten im Bündnis steht, Eurem Mann diese Krankheit angehext haben könnte?«

»Ja.«

»Und entspricht es der Wahrheit, dass das Grab Eures Mannes nur wenige Tage danach zerwühlt vorgefunden wurde?«

Maria fiel auf die Knie und schluchzte hemmungslos.

Klara beobachtete dieses Schauspiel mit regungsloser Miene. Alles war ein einziger Albtraum. Die gefolterte Agnes, das Gebaren der Inquisitoren und die bedauernswerte Maria, die zum Verrat an ihrer Jugendfreundin getrieben wurde. Jeder wusste, dass der Friedhof von einer Rotte Eber zerstört worden war. Das Grab von Marias Mann war nicht das einzige gewesen, und doch konnte sie nichts gegen diese heimtückische Befragung tun, ohne sich selbst der Ketzerei schuldig zu machen.

»Antwortet auf die Frage«, herrschte Thomas sie an.

»Ja«, schluchzte Maria.

Thomas schüttelte den Kopf und blickte Maria voller Verachtung an.

»Bringt sie weg«, sagte er. Ein Soldat ging zu ihr und hob die alte Frau auf. Die tränenüberströmten Augen von Maria trafen sich mit denen von Agnes. Ihr geschundenes Gesicht war kaum zu einer Regung fähig, doch sie nickte leicht und schien für einen winzigen Augenblick zu lächeln, als wollte sie ihrer alten Freundin bedeuten, sich nicht zu grämen. Dann wurde Maria hinausgeführt.

Thomas wartete, bis die Frau den Raum verlassen hatte, bevor er sich wieder von seinem Stuhl erhob.

»Ich rufe den nächsten Zeugen, Vater Liborius.«

Der Aufgerufene erhob sich von seinem Platz in der ersten Reihe und ging nach vorne. Er war als einer der Ersten in die Versammlung gekommen, hatte aber kein Wort gesprochen und nur schamerfüllt zu Boden gesehen.

Er war in eine weite Kutte gekleidet, die er auch sonntags zur Predigt trug. Seine lichtes Haar war zurückgekämmt, und seine Stiefel waren geputzt. Als er nach vorne ging, blickte er Agnes in die Augen. Sein Gesicht war in Schuld und Kummer verzerrt. Er hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

Die Zuschauer warteten angespannt. Die schlurfenden Schritte des Paters waren die einzigen Geräusche in der Halle. Der Priester drehte sich zu Thomas um.

»Vater Liborius, wie lange seit Ihr schon Hirte in Reheim?«, fragte der junge Inquisitor mit einem Lächeln.

»Seit fast 20 Jahren.«

»Eine lange Zeit.« Thomas nickte anerkennend. »Sicher sind Euch die Bewohner ans Herz gewachsen?«

»Als wären sie meine eigenen Kinder«, sagte der Pfarrer lächelnd. In diesem belanglosen Gespräch schien seine Anspannung etwas abzufallen.

»Und Ihr unternehmt alles, um sie vor ketzerischen Kräften zu schützen?«

»Ich würde mein Leben dafür geben, diese Gemeinde vor dem Bösen zu bewahren.«

Für einen Augenblick erschien ein tückisches Lächeln auf Thomas’ Gesicht, fast als wollte er eine Erwiderung darauf geben. Dann sprach er mit regungsloser Miene weiter.

»Erzählt uns von der ungewöhnlichen Kindersterblichkeit in diesem Jahr.«

»Es kommt manchmal vor, dass der Herr eine kleine Seele schon früh zu sich ruft. In diesem Jahr waren es derer drei. Für ein Dorf wie Reheim sind das ungewöhnlich viele tote Kinder, da wir uns nur selten über Nachwuchs freuen dürfen.«

»Könnte dies das Werk des Bösen sein?«

»Dessen bin ich mir sicher. Gott in seiner Herrlichkeit würde uns niemals so schwer bestrafen.«

»Sicher habt Ihr schon von Ketzern gehört, die einen Pakt mit dem Teufel eingehen?«

»Ja.«

»Und von Hexen, die den Gehörnten anbeten und von ihm ketzerische Kräfte erhalten?«

»Natürlich.«

»Frauen, deren harmloses Äußeres über ihre dunklen Seelen täuschen kann?«

»Ja.«

»Und die Tod und Verderben über ein Dorf wie dieses bringen können?«

»Ja.«

»Und für den Tod der drei Neugeborenen verantwortlich sein können?«

»Ja.«

»Nun, da wir festgestellt haben, dass das Böse in Reheim Fuß gefasst hat, frage ich Euch, wen Ihr dieser Taten beschuldigt?«

Vater Liborius zögerte mit seiner Antwort. »Ich verstehe nicht«, sagte er unsicher.

»Wen beschuldigt Ihr der Ketzerei?«, wiederholte Thomas mit ruhiger Stimme.

»Ich kenne alle Bewohner von Reheim und denke nicht, dass einer von ihnen …«

»Unsinn«, rief Pater Baselius erzürnt und stand von seinem Stuhl auf. Er richtete seine blinden Augen auf den Priester.

»Ihr habt einen Ketzer in eurer Gemeinde, der für eine Vielzahl an Schrecken verantwortlich ist. Wir haben sie alle aufgezählt, oder wollt Ihr diese Vorfälle leugnen?«

»Nein«, antwortete Vater Liborius ängstlich und schüttelte den Kopf.

»Dann sagt uns einen Namen.«

»Aber …«

»Wenn Ihr uns nicht sofort den Namen des Ketzers nennt, werden wir Euch einer peinlichen Befragung unterziehen.«

»Nein«, flehte Vater Liborius, »beim Namen des Herrn, verschont mich mit Folter. Ich bin schon alt …«

»Den Namen«, schrie Pater Baselius.

»Bitte, Herr«, flehte der Priester und fiel auf die Knie. Sein Blick wandte sich Hilfe suchend zu Agnes. Die alte Frau sah ihm in die Augen. Sie schien fast so etwas wie Mitleid mit dem alten Mann zu haben. Dann nickte sie ernst. Für einen Moment spiegelte sich Verzweiflung im Gesicht von Liborius. Er schloss kurz die Augen, als würde er im Stillen um Vergebung bitten. Seine Hände zitterten, als er sich wieder dem Inquisitor zuwandte. Er schluckte und flüsterte: »Agnes Barand.«

Ein Aufstöhnen ging durch die Menge. Pater Baselius blieb noch einen Moment stehen. Dann schien er zufrieden zu sein, und der zornige Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. Er setzte sich wieder hin und gab Thomas ein Zeichen, weiterzusprechen.

»Ihr bezeichnet Agnes Barand als Ketzerin?«, fragte der junge Priester.

»Ja«, sagte Liborius und stand wieder auf.

»Welcher Taten hat sie sich schuldig gemacht?«

Der alte Priester blickte hilflos zu Thomas.

»Ihr wisst, dass eine falsche Anschuldigung zu einer schweren Bestrafung führt«, fuhr Thomas weiter fort. »Habt Ihr Agnes Barand unrechtmäßig beschuldigt?«, fragte er mit drohendem Unterton.

»Nein«, rief Liborius hastig. »Agnes Barand ist eine Hexe, bestimmt. Ich habe sie gesehen, wie sie auf ihrem Besen zum Hexensabbat fliegt. Dort trifft sie sich mit ihresgleichen. Sie treiben Unzucht, trinken Blut unschuldiger Opfer und essen das Fleisch von Kindern.«

Klara wollte aufspringen und diesen Lügen etwas entgegenschreien, aber ihr Onkel hielt sie am Arm fest. Sie versuchte, sich loszureißen, doch er packte sie mit beiden Händen und drückte sie auf die Bank. Sein Blick war zornig und enthielt eine unausgesprochene Warnung. Klara hatte ihren Onkel noch nie so erlebt, und so blieb sie sitzen, während Vater Liborius mit teilnahmsloser Stimme weitersprach. »Sie hat die Seelen der toten Kinder geraubt und dem Teufel als Geschenk dargebracht, damit sie weiter in seiner Gunst bleibt. Vom ersten Tag an habe ich das Böse in ihren Augen gesehen, doch solange der Teufel sie unter ihrem Schutz hatte, konnte ich nichts gegen sie unternehmen.«

»Genug«, unterbrach Thomas. »Die Anschuldigungen sind ausreichend. Ihr dürft Euch zurückziehen.«

Vater Liborius nickte untertänig und verließ den Versammlungssaal. Seine Augen waren starr auf den Ausgang gerichtet, sein Gesicht wie eingefroren. Er ging, als wäre er in kurzer Zeit um Jahre gealtert.

Es war still geworden. Das Weinen war verstummt. In den Augen der Zuschauer stand die Angst, und keiner sah die Inquisitoren an. Nur Klara konnte den Blick nicht abwenden.

Der Priester namens Thomas war noch jung, nicht viel älter als sie. Seine Gesichtszüge waren weich, und er hatte kaum Bartwuchs. Einzig seine Augen, die sich bei der Befragung ab und an verengten und dann vor Zorn glitzerten, machten aus ihm einen hassenswerten Mann. Er und der blinde Priester besprachen sich leise. Der junge Mann nickte immer wieder, als er den Worten des Älteren lauschte. Dann setzte er sich, während sich Baselius von seinem Stuhl erhob.

»Die Anschuldigungen gegen Agnes Barand sind schwerwiegend und zahlreich. Wir werden uns zurückziehen und um den Beistand Gottes bitten. Das Urteil gegen die Beschuldigte wird morgen früh verkündet.«

Baselius drehte sich um und verließ den Versammlungssaal. Thomas fasste ihn an seinem Arm und führte ihn sicher zur Tür hinaus. Zwei Soldaten aus ihrer Garde folgten ihnen.

Klara sah Agnes an, die noch immer zusammengekrümmt dastand. Dann hob die alte Frau den Kopf und erwiderte ihren Blick. Sie lächelte ihre Schülerin an. In ihre Augen waren der Glanz und die Stärke zurückgekehrt, die Klara an ihr immer so geschätzt hatte. Dann wandte Agnes ihren Blick zu Markus. Für einen Moment schienen sie und ihr Onkel eine Art stumme Übereinkunft zu treffen. Markus nickte leicht, nahm Klara am Arm und zog sie aus dem Versammlungssaal.

Klara wehrte sich nicht und ging mit ihrem Onkel hinaus. Das Letzte, was sie von Agnes sah, waren die Soldaten, die ihr die Augen verbanden und sie durch den Hinterausgang nach draußen führten.

Agnes lag auf dem Boden der Zelle. Ihr Kopf war in das schmutzige Stroh gebettet. Sie versuchte, die Schmerzen ihrer Brandwunden und ihrer gebrochenen Knochen zu ignorieren. Ihre Kehle war trocken, und sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser. Sie roch den Wind, der durch das vergitterte Fenster wehte und den Geruch der Bäume mit sich brachte. Der Wald war immer ihr Zuhause gewesen. Wann immer sie Sorgen gehabt hatte, war sie durch seine verborgenen Wege gewandert, hatte den lehmigen Boden unter ihren Füßen gespürt und dem Rauschen der Blätter im Wind gelauscht. An warmen Sommertagen hatte sie sich an einen großen Stamm gelehnt, ihre Augen geschlossen und sich in die Geborgenheit der Bäume hinabgleiten lassen.

Es war kein Leben, wie sie es sich als Kind vorgestellt hatte, und doch war sie zufrieden. Wenn sie auch in vielen dunklen Tagen der Verzweiflung nahe gewesen war, so hatten die glücklichen Tage überwogen. Sie hätte sich gewünscht, noch einmal ihr Heim zu sehen, die Wärme des Kamins an ihren Füßen zu spüren und ihrer Hütte Lebewohl zu sagen, doch Agnes wusste, dass dies niemals geschehen würde.

Sie versuchte, ihre gefesselten Hände zu falten, aber mit den gebrochenen Fingern war das nicht möglich. Eine Binde war über ihre Augen gezogen, und doch schloss sie die Augen, wie immer, wenn sie zu Gott betete. An diesem Tag waren die Worte in ihrem Geist andere. Heute dankte sie ihm nicht für einen weiteren Sonnenaufgang und bat nicht um Verzeihung für Verfehlungen, heute beschwor sie Gott um Kraft. Sie flehte um die Stärke, dem Tod mit Würde entgegentreten zu können. In ihren Worten war kein Hass, kein Zorn auf die Menschen, die ihr das angetan hatten, oder auf die Henker, die ihr Leben rauben würden. Das Urteil war noch nicht gesprochen, doch sie war sich ihres Endes sicher. Sie wollte ihre letzten Gedanken nur mit Liebe erfüllen.

Noch einmal atmete sie den Duft des Waldes ein und beendete ihr Gebet. Sie fühlte eine schwere Müdigkeit, die sich ihres Körpers bemächtigte. Bevor sie in den gnädigen Schlaf hinabsank, wandten sich ihre Gedanken Klara zu, der jungen Frau, die so stark sein wollte, aber noch so wenig über die Welt außerhalb Reheims und deren dunkle Abgründe wusste. Vielleicht hatte sie wenigstens diesen unschuldigen Geist bewahren können.

Klara erwachte zum dritten Mal in dieser Nacht. Nachdem sie von der Versammlung zurückgekehrt waren, hatte sie bis zum Abend geweint. Ihr Onkel hatte ihr einen Tee aufgebrüht, von dem sie schnell müde geworden war. Doch die Schrecknisse des Tages ließen ihr keine Ruhe und suchten sie in ihren Träumen heim. Immer wieder sah sie Agnes, wie sie gefoltert und nackt vor der Versammlung stand. Dann wachte sie zitternd auf und hoffte, dass dies alles nur ein schlechter Traum gewesen war. Doch dann kamen die Erinnerungen an den Prozess, die Inquisitoren und die Befragung.

Nachdem sie ein drittes Mal hochgeschreckt war, sah sie aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Sie war noch immer müde, aber sie fürchtete sich davor, einzuschlafen und den Prozess in ihren Träumen wieder und wieder erleben zu müssen. Schläfrig stand sie auf, zog eine Decke um ihre Schultern und begab sich zum Fenster. Ihr Blick wurde von einer Bewegung angehalten. Zwei Personen standen vor dem Haus. Eine davon war ihr Onkel. Seine große, massige Gestalt und seine etwas gebeugte Haltung machten ihn unverkennbar.

Der Mann neben ihm war kleiner und schmaler. Er trug einen weiten Mantel, und ein breiter Hut verdeckte sein Gesicht. Der Silhouette nach hatte er wohl einen buschigen Bart, aber es war zu dunkel, um mehr zu erkennen. Ihr Onkel schien mit seinem Besucher etwas zu besprechen. Kaum einer von ihnen machte eine Geste, aber ihre Köpfe waren dicht beieinander, als wären die Worte für niemand anderen bestimmt.

Klara drehte sich kurz vom Fenster weg und zog einen Schemel zu sich, um besser an die Schließe des Fensters zu kommen. Sie stellte sich auf den Tritt und griff nach dem Riegel, doch als sie wieder aus dem Fenster blickte, waren ihr Onkel und die fremde Gestalt verschwunden. Sie lauschte, ob die Tür aufging oder eine Diele knarrte, aber alles blieb ruhig.

Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie sich das nur eingebildet. Erst jetzt schien ihr die Kälte der Nacht bewusst zu werden. Sie zog die Decke enger um ihre Schultern und ging zu Bett. Noch während sie über diese seltsame Begegnung nachdachte, schlief sie ein.

»Warum seid ihr so ungeduldig?«, fragte Baselius, zu Thomas gewandt.

»Ich bewundere Eure Sorgfalt«, antwortete Thomas zögerlich, »aber ich verstehe nicht, warum wir nicht schon jetzt das Urteil sprechen. Eine Dorfbewohnerin und der Priester von Reheim haben sie schwer belastet. Die Angeklagte hat nicht abgeschworen, und das kann nur den Tod auf dem Scheiterhaufen bedeuten.«

»Ein müder Geist kann kein Recht sprechen«, versuchte Baselius zu erklären. »Ich möchte, bevor ich ein Urteil fälle, noch einmal den Rat und die Hilfe Gottes erbitten. Ich danke Euch für Eure Unterstützung, aber ich bitte Euch, mich jetzt allein zu lassen. Wir werden morgen früh weitersprechen und dann eine Entscheidung treffen.«

Thomas stand auf. »Sehr wohl, Prior. Gute Nacht.«

Baselius wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte. Er rieb sich müde übers Gesicht und atmete ruhig aus. Dann ließ er sich auf die Knie nieder und bekreuzigte sich. Er verstand den Einwand des jungen Mannes. Sie hatten die der Ketzerei verdächtigte Agnes Barand zu den Vorwürfen verhört, eine Zeugin vernommen und sogar den Priester von Reheim befragt. Was auch immer die alte Frau in der Vergangenheit für die Bürger dieses Dorfes getan hatte, die Anschuldigungen waren schwerwiegend. Sie hatte sich selbst unter der peinlichen Befragung geweigert, ihre Schuld einzugestehen, was sie in seinen Augen noch verdächtiger machte. Nur ein vom Teufel besessener Körper konnte solche Schmerzen ertragen. Es schien nur folgerichtig, sogleich den Tod auf dem Scheiterhaufen anzuordnen, aber er würde dieses Urteil nicht ohne Gottes Rat treffen.

Baselius faltete die Hände und suchte die Einkehr im Gebet. Vielleicht hatte er etwas übersehen, daher hoffte er, dass die Ruhe des Gebets ihm helfen würde, seine Urteilskraft zu stärken.

Die Sonne sandte ihre ersten Strahlen in das Zimmer. Klara öffnete müde die Augen. Als sie sah, wie hell es in ihrer Stube war, zog sie ihre Decke weg und sprang aus dem Bett. Sie lief nach unten und machte sich auf die Suche nach ihrem Onkel. Unten angekommen, sah sie Markus mit einem Stapel Holz zur Tür hereinkommen. Als er Klara erblickte, lächelte er. Polternd legte er das Holz neben den Kamin und fachte das Feuer an.

»Wie hast du geschlafen?«, fragte er, während er ein Holzscheit auf die Glut legte.

Klara schüttelte nur den Kopf und ging zu einem Eimer in der Ecke des Raumes. Sie nahm eine Holzkelle zur Hand und trank einen Schluck Wasser.

»Ich bin gleich so weit«, sagte sie müde. »Ich ziehe mich schnell an, und dann können wir zur Versammlung.«

»Wenigstens da habe ich eine gute Nachricht«, sagte Markus lächelnd und wandte sich wieder dem Kamin zu. »Die Urteilsverkündung wurde verschoben. Ein Freund von mir ist heute Morgen zu mir gekommen und hat mir die Neuigkeit mitgeteilt. Anscheinend haben sich die Inquisitoren noch nicht entschieden, ob sie den Zeugenaussagen glauben sollen.«

Für einen Moment fasste Klara wieder Mut. Sie hatte geglaubt, dass das Todesurteil über Agnes schon gesprochen war.

»Glaubst du, es gibt noch Hoffnung für Agnes?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Markus und stand vom Kamin auf. Dann nahm er Klara in seine kräftigen Arme und drückte sie fest an sich.

»Lass uns das Vieh versorgen«, sagte er und ließ Klara los. Er nahm einen großen Weidenkorb. Klara griff nach dem Eimer mit Hühnerfutter und folgte nur einen Schritt dahinter. Ein Lächeln war in ihr Gesicht zurückgekehrt, und sie machte sich an die Arbeit.

Agnes’ Zelle war dunkel und zugig. Nur am frühen Morgen gab es eine kurze Zeit, in der das Licht seinen Weg hineinfand. Ihre Augen waren noch immer verbunden, aber selbst durch das Tuch konnte sie die veränderte Helligkeit wahrnehmen, als sie aufwachte.

Sie war froh, dass diese Nacht endlich vorbei war. Was immer die Inquisitoren mit ihr vorhatten, es konnte kaum schlimmer sein, als gefesselt mit gebrochenen Knochen in einer kalten Zelle zu liegen. Sie versuchte, sich ein wenig aufzurichten, aber ein scharfer Schmerz fuhr in ihre Schulter, daher begab sie sich in ihre alte Position zurück.

Ihre Kehle war ausgetrocknet und ihre Zunge angeschwollen. Ihr Bauch schmerzte vor Hunger, und ihr Körper zitterte. Für einen Moment drohte sie sich der Verzweiflung über ihre Lage hinzugeben. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie begann zu weinen. Doch mehr als vor Schmerzen und vor dem Tod fürchtete sie sich vor der Angst, der lähmenden Furcht, die einem den Verstand raubt. Sie atmete tief durch und versuchte, an die schönen Momente in ihrem Leben zu denken.

Als ihre Zelle geöffnet wurde, war Agnes im Herzen längst weit, weit weg. Sie zogen sie auf die Beine und führten sie vor das Gefängnis. Der Wind streichelte sanft ihre Wange, als wollte er ihr Mut zusprechen und die Leiden der vergangenen Tage mildern. Er brachte den erdigen Geruch des Waldes mit sich, von dem Ort, der so lange ihre Heimat gewesen war.

Es war Mittag, als Klara von ihrer Arbeit ins Haus zurückkehrte. Sie war noch immer wie betäubt. Klara hatte gehofft, bei der Arbeit das Erlebte zumindest für kurze Zeit vergessen zu können, aber das Bild der gefolterten Agnes wich nicht mehr aus ihrem Kopf. Warum hatte man sie nur so gequält? Welcher unvorstellbaren Taten hatte man sie verdächtigt, dass man sie so behandelte?

Klara hängte ihren Umhang an einen Haken und stellte den Korb mit Futter auf den Boden. Früher hatte sie sich gerne um die Tiere gekümmert, aber auch ihre Nähe hatte ihr heute keinen Trost schenken können. Die Angst vor der kommenden Verhandlung ließ sie keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Sie öffnete die Tür zur Kammer, um etwas Brot herauszuholen, aber als sie den sanften Duft der Kamille roch, die sie dort zum Trocknen aufgehängt hatte, suchten sie die Erinnerungen an die unbeschwerte Zeit in Agnes’ Hütte heim. Klara schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, ihre Tränen zu bändigen. Sie weinte um ihre Mentorin, die gefoltert und allein in einer kalten Zelle lag und einem grausamen Tod auf dem Scheiterhaufen entgegensah.

Ein Poltern am Eingang ließ sie aufschrecken. Markus war von der Arbeit gekommen. Er stellte eine große Schaufel an die Wand und rieb sich vergnügt die Hände, als freute er sich auf das Essen. Klara griff nach einem Brot und einem Käse und beeilte sich, an den Tisch zu kommen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, als sie sich setzten. Markus schnitt zwei Stück Käse und zwei große Brotscheiben ab. Ohne ein weiteres Wort begannen sie zu essen. Klara biss nur wenig von ihrem Käse ab und schaute dann ihrem Onkel beim Essen zu. Wie immer vergaß er alles um sich herum und schlang das Brot hungrig hinunter.

Klara lächelte, aber die Angst um Agnes war noch immer da. Am liebsten wäre sie sofort losgelaufen, um sie in ihrer Zelle aufzusuchen, doch sie wusste, dass die Gefangene keinen Besuch empfangen durfte. Auch fürchtete sie sich davor, Agnes ein weiteres Mal in solch einem furchtbaren Zustand wie gestern sehen zu müssen. Sie war so sehr in dunkle Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie ihr Onkel aufhörte zu essen.

»Was ist mit dir, Klara?«, fragte er.

Klara erwachte wie aus einer Trance und sah Markus überrascht an. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass die Versammlung ein gutes Ende nimmt.« Sie sah ihm in die Augen. »Du kennst die Inquisition doch. Gibt es nichts, was wir für Agnes tun können?«

Markus stand auf und drehte sich zum Fenster. Dort hinter dem kleinen Hügel, ein Stück durch den Wald, war Reheim. Klara hatte das Gefühl, er suchte die richtigen Worte.

»Für eine junge Frau wie dich ist es schwierig, das alles zu verstehen. Ich werde mir aber Mühe geben, es zu erklären.« Markus ging zum Tisch zurück und setzte sich. Er faltete die Hände und mied ihren Blick. »Die Inquisition fühlt sich von Gott berufen, ihre Arbeit zu vollziehen. Aus diesem Grund können sich Inquisitoren also nicht irren. Ihrer Meinung nach wenigstens. Wohin sie auch immer kommen, sie werden eine arme Seele finden, der sie Ketzerei vorwerfen können, auch wenn sie unschuldig ist. Hierbei geht es nicht allein um Glauben und Unglauben, es ist eine Frage der Macht.

Menschen lieben es, Macht auszuüben. Es verleiht ihnen ein Gefühl der Stärke und der Bedeutung. Und was könnte größer sein als die Macht über das Leben? Jeder Mensch, der einmal von diesem Trank gekostet hat, wird ihn nie wieder hergeben. Keine Frau kann dir mehr Wonne bereiten, und kein Bier wird dich je in einen größeren Rausch fallen lassen.«

Markus seufzte. »Als die Inquisitoren nach Reheim kamen, war das Urteil über Agnes im Grunde schon gesprochen. Eine allein lebende Frau wie sie, erfahren mit dem Behandeln von Krankheiten und dem Lindern von Schmerzen, ist das perfekte Opfer für die Inquisitoren. Wenn es nicht Agnes gewesen wäre, so hätten sie sich jemanden anderen aus dem Dorf genommen. Sie wären niemals weitergezogen, ohne einen von uns der Ketzerei zu überführen.

Agnes fühlte genauso. Sie ist alt, hat ihr Leben gelebt und muss keine Kinder versorgen. Auch sie ist nicht unsterblich, und so findet sie Trost in dem Gedanken, dass nicht du oder ein anderer Mensch, der ihr am Herzen liegt, sterben muss.«

Markus blickte auf und sah in das tränenüberströmte Gesicht von Klara. »Sie opfert sich für uns, Klara, und das Einzige, was sie in diesen dunklen Stunden mit Zufriedenheit erfüllt, ist das Wissen, dass sie dich und andere vor den Schrecken der Inquisition bewahrt hat.«

Klara stand auf. Plötzlich verstand sie. Sie wusste, was Agnes und ihr Onkel in stiller Eintracht vereinbart haben mussten. Sie konnte die Worte fast hören. Jetzt begriff sie auch Vater Liborius’ Verzweiflung und warum er Agnes der Hexerei bezichtigt hatte.

Hastig rannte sie hinaus. Ihr Onkel schien ihr noch etwas nachzurufen, doch sie hörte seine Worte nicht. Sie lief in den Wald und betrat den Weg nach Reheim. Es schien ihr wie eine Ewigkeit vorzukommen, bis sie das erste Haus des Dorfes erreicht hatte.

Als sie den Rauch roch, wollte die Verzweiflung sie überwältigen. Sie bog um eine letzte Ecke und erreichte den Marktplatz. Die Bürger standen dicht gedrängt um ein großes Feuer. Die Flammen stiegen meterhoch in den Himmel. In der Mitte, noch immer an einen Pfahl gebunden, hing ein verkohlter Leichnam. Der Mund war wie von stummem Schreien verzerrt gen Himmel gerichtet.

Klara sank auf die Knie. Sie barg ihr Gesicht in den Händen und krümmte sich wie unter Schmerzen auf dem Boden. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. Es war zu spät.

Baselius stand am Rand des Marktplatzes und hatte seine blinden Augen geschlossen. Er spürte den heißen Schein des Feuers und genoss die Wärme. Sie beruhigte ihn. Er hatte seine Arbeit getan und wieder eine Sünderin dem Herrn zugeführt. Das reinigende Feuer hatte alles Verderbte aus dem Körper herausgewaschen, sodass die Seele in das Himmelsreich aufsteigen konnte.

Der Prior war müde. Die Befragung der Hexe war mühsam gewesen und hatte ihm nur wenig Schlaf beschert. In Momenten wie diesen wünschte er sich in die Ruhe seines Klosters zurück, einzig mit der Anbetung Gottes beschäftigt, umgeben von seinen Brüdern. Doch er wusste um die immer größer werdende Gefahr der Ketzerei, des Unglaubens und der Hexenkunde. Die Sünden der Menschen hatten zugenommen. In seinen ersten Tagen als Inquisitor hatte er es mit einer kleinen Menge an Fanatikern zu tun gehabt, die offen die Kirche verachteten und Gott verspotteten. Doch Jahr für Jahr wurden die Häresien mehr und die Tarnungen der Ketzer raffinierter. Waren es anfänglich noch Bettler, Diebe und Halsabschneider gewesen, die sich Gottes Wort widersetzt hatten, so überführten sie nun immer mehr Gelehrte, Wohlhabende und Adlige, die sich gegen die Kirche wandten. Die falschen Lehren breiteten sich von den Städten in die Dörfer aus. Er durfte noch nicht ruhen. Das Kloster musste noch warten.

Die Wärme der Flammen wurde weniger. Baselius hob seine Hand und spürte kurz darauf den Arm von Thomas auf seinem liegen. Der junge Mann führte ihn zurück zu seinem Zimmer. Vielleicht konnte er noch etwas Schlaf bekommen, bevor sie abreisten.

Klara nahm nichts mehr wahr. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Weder der kalte Stein noch die Wärme des Feuers drangen bis zu ihr durch. Sie hörte Stimmen um sie herum. Irgendjemand fasste sie an der Schulter und richtete sie auf. Ein großer Mann sah ihr in die Augen. Sie kannte das Gesicht, konnte ihm aber keinen Namen geben. Klara wollte sich wieder hinlegen, doch der Mann nahm sie in den Arm und führte sie vom Marktplatz weg. Die Wärme wurde weniger, und der Geruch des Feuers ließ nach. Ohne zu denken, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie liefen durch den Wald, einen Weg entlang bis zu einem Haus. Das Gebäude weckte für einen Augenblick Erinnerungen in ihr, doch wie ein Hauch in der kalten Luft waren sie bald verschwunden.

Klara ließ sich eine Treppe hinaufführen, in ein Zimmer, dessen Geruch sie kannte. Ein Bett stand vor einem kleinen Fenster, in das das Licht des Tages hineinfiel. Sie legte sich gehorsam hinein. Der Mann zog ihr die Schuhe aus und breitete eine Decke über sie.

Er redete mit ihr, schien sie etwas zu fragen, aber die Geräusche ergaben keinen Sinn. Klara blieb regungslos in ihrem Bett liegen und starrte die kahle Decke an. Als die Nacht hereingebrochen war, standen ihre Augen immer noch offen. Nur ab und zu lief eine Träne ihre Wange hinunter, als wäre dies das einzige Lebenszeichen, zu dem sie noch fähig war.

Markus saß neben Klaras Bett und blickte seine Nichte mit sorgenvollen Augen an. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte er versucht, ihr ein Freund zu sein, und über ihr Leben gewacht. Heute fühlte er sich hilflos wie selten zuvor. In Momenten wie diesen hatte er sich immer an Agnes gewandt und sie um Rat gebeten, aber Klaras weise Freundin war tot.

Er blickte in die reglosen Augen der jungen Frau. Er hatte sie nie Tochter genannt, und doch wusste er, dass sie einen Platz in seinem Herzen einnahm, der dem eines leiblichen Kindes gleichkam.

Markus schloss die Augen und versuchte, ruhiger zu werden. Er spürte den Zorn in sich aufwallen und wusste, dass er ihm nicht nachgeben durfte. Unten, zwischen den Holzscheiten, lag sein altes Schwert. Mit dem scharfen Eisen, das hier so unschuldig in ein dunkles Tuch eingeschlagen ruhte, hatte er schon viele Leben beendet. Der Mord an einem Mann der Kirche schreckte ihn nicht. Seine Seele war schon längst verdammt.

Dann öffnete er die Augen und blickte auf die zierliche Gestalt im Bett. Nach dem Tod von Agnes war er der Einzige, der noch für Klara da war. Er öffnete seine geballte Faust und versuchte, seine Wut zu vergessen. Egal, was passierte, er würde sie nicht allein lassen.

Baselius saß am Fenster seines Zimmers und spürte die Kühle der kommenden Nacht. Er hörte, wie die Soldaten die Überreste des Scheiterhaufens und der Toten wegschafften. Sie würden vor die Stadt fahren und sie in einem Loch verscharren. Sie warteten immer bis zur Nacht, damit der verbrannte Ketzer den Tag über noch als Warnung für andere Gotteslästerer stehen bleiben konnte. Der Prior sank auf die Knie und faltete die Hände. Bevor er zu Bett ging, wollte er noch die Ruhe des Gebets suchen.

Es war still in Reheim. Mit der einbrechenden Dunkelheit schliefen die meisten Bürger schon, da sie den ganzen Tag auf dem Feld verbracht oder ihr Vieh versorgt hatten. Nur für die Hinrichtung von Agnes hatten sie ihre Arbeit unterbrochen. Doch die Stille in dieser Nacht war anders als sonst. Ein Fremder hätte wohl keinen Unterschied bemerkt, wäre er durch die Gassen des Dorfes gewandert. Aber hinter den geschlossenen Läden wälzten sich die Bürger unruhig in den Betten. Die Idylle war zerstört. Die unbarmherzige Hand der Inquisition hatte sie erreicht und würde Reheim für immer verändert zurücklassen.

Friedrich Birsch lag in seinem Bett und starrte müde an die Decke. Der Tag brach bald an, doch Friedrich wusste, dass ihm die Strahlen der Sonne keine Freude bereiten würden. Das erste Mal in seinem Leben hatte er gespürt, wie schwach und hilflos er gegen die Autorität der Kirche war. Seit vielen Jahrzehnten war er ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft von Reheim. Seine Stimme hatte Gewicht, und sein Rat wurde gehört, aber in den letzten Tagen hatte man vor seinen Augen eine Frau aus dem Dorf verhaftet, gefoltert und für eine Tat verurteilt, die sie nicht begangen hatte. Als Agnes’ Schreie das Flackern der Flammen übertönt hatten, war ihm die Macht der Inquisition bewusst geworden. Von da an hatte er den Schauergeschichten geglaubt, die die fahrenden Händler erzählten. Mit diesem Gefühl der Hilflosigkeit war die Angst gekommen. Die Furcht, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, selbst Opfer der Willkür und der Folter zu werden und ein grausames Ende im Feuer zu finden. In diesem Moment hatte Friedrich verstanden, dass all seine Mühen, mit der Inquisition zu reden, vergebens waren. Nichts, was er hätte sagen können, hätte Agnes vor dem Feuertod bewahrt, und trotzdem fühlte er sich schlecht. Er schämte sich für den Gedanken, froh zu sein, dass Agnes dieses Schicksal ereilt hatte und nicht ihn oder jemanden aus seiner Familie. Für einen Moment dankte er dem Herrn, dass er nur Zuschauer gewesen war und dass nicht andere sein Sterben hatten mit ansehen müssen. Es war eine dunkle Nacht, und die Furcht in seiner Seele ließ ihn fast verrückt werden. Verzweifelt drehte sich Friedrich auf die Seite und legte den Arm um seine Frau. Er spürte den Schlag ihres Herzens und lauschte dem leisen Geräusch ihres Atems. Er schloss die Augen und flehte den Herrn um ein Ende dieses Schreckens an.

Normalerweise machte Johanna ihre Arbeit gerne. Sie war für die Sauberkeit der Versammlungshalle zuständig und pflegte die wenigen Blumen am Marktplatz. Sie erhielt dafür nicht viel Geld vom Stadtrat, gab aber keinen Laut der Unzufriedenheit von sich. Jeden Morgen begann sie schon vor Sonnenaufgang mit ihrem Tagewerk. Sie liebte den anbrechenden Morgen, wenn die Gassen des Dorfes noch leer waren und die Sonne zaghaft die ersten Strahlen über den kleinen Hügel schickte. Doch mit der Inquisition hatte Reheim seine stille Unschuld verloren. Jetzt schlich Johanna durch die Straßen, und mit jedem Schritt fürchtete sie sich davor, einem Soldaten zu begegnen. Die Lampe in ihrer Hand war fast vollständig abgedunkelt. Sie beleuchtete nur ein kurzes Stück des Weges. Nach Agnes’ Feuertod hätte sie sich am liebsten zu Hause eingeschlossen. Doch seit ihr Mann gestorben war, brauchte sie das wenige Geld, das sie bei dieser Arbeit verdiente.

Johanna stieg die wenigen Stufen zur Stadthalle hoch und blickte sich ängstlich um. Sie wusste nicht, warum, aber ein unangenehmes Gefühl gesellte sich plötzlich zu der Angst vor den Soldaten hinzu. Vorsichtig schob sie den Riegel der Tür hoch und ging hinein. Sie sah, dass ihre Hand zitterte, als sie die Klappe der Lampe hob, um mehr Licht in den Raum zu lassen, riss sich aber zusammen. Bis die Bauern auf den Feldern waren, wollte sie die Stadthalle ausgefegt haben. Doch noch bevor sie den Besen aus der kleinen Kammer holen konnte, erblickte sie die Gestalt an der Decke. Sie ließ die Lampe fallen und kauerte sich hinter eine Bank, schreiend vor Entsetzen.

Friedrich war sofort wach. Die Müdigkeit fiel von ihm ab, und er sprang aus dem Bett. Noch während er sich eilig anzog, hörte er, wie sich Fensterläden öffneten und Stimmen durch die Gassen hallten. Er zog im Hinunterlaufen seine Jacke über, sprang in seine Stiefel und riss den Riegel der Tür zurück. Als er aus dem Haus rannte, stieß er mit einem jungen Mann zusammen, der gerade in seine Hose schlüpfte. Er wollte ein paar Worte der Entschuldigung murmeln, als er seinen Sohn Peter erkannte.

Friedrich schüttelte den Kopf. Für einen Moment war die Angst, die ihm bei dem Schrei durch Mark und Bein gefahren war, vergessen. Offensichtlich hatte Peter die Nacht wieder bei einer Frau verbracht, die ebenso wenig ehrbare Absichten hatte wie sein Sohn.

Peter grinste nur verlegen und lief weiter, während er versuchte, seine Hose nicht zu verlieren. Dieser kleine Umstand ermöglichte es Friedrich, vor seinem Sohn auf dem Marktplatz anzukommen. Das flackernde Licht der Lampen blendete den Stadtrat für einen Moment. Er hob die Hände vor die Augen und versuchte, etwas zu erkennen. Er kannte viele der Stimmen, die aufgeregt durcheinandersprachen, doch konnte er den Grund für den Schrei nicht erkennen.

Er trat etwas näher und sah Johanna auf den Stufen der Stadthalle sitzen. Eine Freundin hielt sie in den Armen, während sie ihr Gesicht in einem Taschentuch vergrub. Ihr Körper schüttelte sich in Weinkrämpfen.

Die Tür zur Stadthalle stand offen, und Friedrich wusste, dass die Ursache für diesen Schrei dort drin zu finden war. Er nahm sich eine Lampe und ging hinein. Mit jedem Schritt wuchs seine Unruhe. Er wusste nicht, was ihn erwartete, aber er wollte vor den immer zahlreicher zum Marktplatz strömenden Bürgern keine Schwäche zeigen.

Drinnen angekommen, hob er die Lampe über den Kopf. Vorne, gegenüber der Anklagebank, an der Agnes während der Verhandlung gestanden hatte, hing der schlaffe Körper einer Frau. Friedrich musste nicht näher gehen, um zu erkennen, dass Maria Höfner ihrem Leben hier ein Ende bereitet hatte. Ihr Gesicht war in Schmerzen verzerrt. Gott hatte ihr nicht den gnädigen Tod durch Genickbruch geschenkt, sondern sie qualvoll ersticken lassen.

Friedrich bekreuzigte sich, als er hinter sich eine Stimme vernahm.

»Wer ist die Tote?«, fragte der junge Dominikaner Thomas.

Friedrich zuckte zusammen. Er ballte seine Faust und versuchte, keine Schwäche zu zeigen. Er drehte sich um, hatte aber nicht die Kraft, dem Inquisitor in die Augen zu sehen. Der junge Mann war in sein weißes Gewand gekleidet, und seine kurzen Haare waren sauber gekämmt. Neben ihm stand Pater Baselius, dessen graue Augen auf Friedrich gerichtet waren.

»Maria Höfner«, antwortete Friedrich leise. »Sie war eine gute Frau mit einem großen Herzen.«

»Sie ist eine Mörderin!«, rief der Prior erbost. »Wir gehören alle Gott. Nur Gott darf Leben nehmen! Die Frau hat sich einer Todsünde schuldig gemacht, und ihre Seele wird für immer in der Hölle schmoren. Hängt sie ab, schlagt ihr den Kopf ab und verscharrt sie an einem Kreuzweg«, sagte er mit kalter Stimme. »So kann ihre Seele nicht mehr zurückkehren und die Lebenden heimsuchen.« Dann legte er seine Hand auf Thomas’ Arm und ließ sich aus dem Saal führen.

Für einen Moment stand Friedrich allein in dem großen Saal. Er schloss die Augen und verachtete sich wegen seiner Feigheit. Maria Höfner war eine gute Frau gewesen, und sie hätte ein würdevolles Begräbnis verdient gehabt. Sicher hätte er Vater Liborius davon überzeugen können, sie mit christlichen Ehren zu begraben, doch er wollte sich nicht gegen den Willen der Inquisition stellen. Er liebte sein Leben und durfte sich und seine Familie nicht in Gefahr bringen. Er hoffte, dass Maria ihren Frieden gefunden hatte und Gott gnädig über sie richten würde.

Friedrich ging hinaus und sprach einen der Männer an: »Holt eine Leiter, eine Schaufel und einen Wagen.« Er würde Maria an eine alte Kreuzung zum Nachbardorf bringen. Dort war sie auf die Welt gekommen, und dort hatte sie auch ihre Kindheit verbracht. Vielleicht würde es ihrer Seele ein wenig Frieden schenken, wenn sie nahe bei ihrem Geburtsort begraben läge.

Markus hatte die ganze Nacht neben dem Bett von Klara gewacht. Sie hatte kaum geschlafen und in den kurzen Zeiten des Schlafs hatten schlimme Albträume sie heimgesucht. Sie hatte sich dann umhergewälzt und Agnes’ Namen gerufen. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, und ihr ganzer Körper zitterte. Markus strich ihr mit einem feuchten Tuch über die Stirn und verschaffte ihr ein wenig Linderung. Wenn sie wach war und ihre Augen wieder starr nach oben gerichtet waren, sprach Markus mit ihr. Er versuchte, mit seiner Stimme zu ihr durchzudringen und ihr das Gefühl zu geben, dass sie in dieser dunklen Welt nicht allein war. Außerdem hatte er ihr einen Kamillentee gekocht und neben das Bett gestellt. Er hoffte, dass der Geruch der Kamille, den sie so sehr liebte, sie wieder zu ihm zurückbringen würde. Doch außer während ihrer Albträume hatte sie noch kein Wort gesprochen.

Schließlich wurden Klaras Atemzüge ruhiger, und ihre Augen fielen zu. Markus legte das Tuch zur Seite und betrachtete die junge Frau. Sie schien endlich wieder traumlos zu schlafen. Markus lächelte zufrieden und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er wollte nur für einen Moment die Augen schließen.

Friedrich begleitete den kleinen Wagen mit Marias Leiche. Es war schwer für ihn zu glauben, dass eine so sanfte Frau eine solch verzweifelte Tat begangen hatte. Sie war gläubige Christin gewesen, daher hatte sie gewusst, dass der Freitod eine unverzeihliche Sünde war, doch schien der Gram über ihren Glauben gesiegt zu haben. Sie war von den Inquisitoren zu ihrer Aussage gezwungen worden. Jeder in dem Raum hatte das gesehen, und doch hatte sie sich am grausamen Tod von Agnes so schuldig gefühlt, dass sie nicht mehr leben wollte. Egal, was sie gesagt hätte, es hätte nichts am Schicksal der alten Kräuterfrau geändert. Doch diese Erkenntnis hatte ihr Leid nicht mildern können.

Friedrich bekreuzigte sich. Wie verzweifelt musste ein Mensch sein, in der dunklen Nacht in einen kalten, abweisenden Raum zu gehen, einen Strick um einen Balken zu werfen und sich eine Schlinge um den Hals zu legen, fern von Freunden und Verwandten, mit dem Wissen, dass die eigene Seele der ewigen Verdammnis anheimfallen würde? Er blickte auf den Wagen. Marias kleiner Körper war unter einer alten Pferdedecke verborgen. Gleichwohl konnte er ihren letzten Gesichtsausdruck nicht verdrängen, die Augen im Schrecken geöffnet und die Zunge grotesk aus ihrem Mund hängend. Friedrich versuchte, sich die schönen Erinnerungen an Maria ins Gedächtnis zu rufen, ihre zuvorkommende Art, ihren Fleiß bei allem, was sie tat. Doch sosehr er sich bemühte, diese Bilder wurden ständig von der hängenden Maria abgelöst, die ihrem Leben auf eine solch grausame Art ein Ende gesetzt hatte.

Bei dem Begräbnis eines Selbstmörders durften keine Gebete gesprochen werden, und niemand würde den toten Körper segnen, daher faltete Friedrich die Hände und begann leise mit dem Vaterunser. Er hoffte, dass Gott in seiner Gnade die Wahrheit hinter dieser Tat verstehen und Marias Seele nicht der ewigen Verdammnis aussetzen würde. In dieser Nacht galten seine Gebete ihr.

Peter saß auf einem Baumstumpf oben auf dem kleinen Hügel. Von dort aus hatte man eine gute Sicht über das Dorf. Hierhin zog er sich immer zurück, wenn er seine Ruhe wollte. Einzig mit Klara hatte er diesen Ort geteilt. Dann hatten sie zum Himmel geblickt, die Augen geschlossen und sich von der Sonne das Gesicht wärmen lassen. Doch heute waren graue Wolken aufgezogen, die den Wald in ein kaltes, abweisendes Licht tauchten.

Er vermisste Klara, ihre sture Art und ihre ständigen Nörgeleien. Er sehnte sich nach den kleinen Predigten über Anstand und Moral, die sie ihm hielt, wenn sie ihn wieder bei einer amourösen Liebschaft ertappt hatte, und nach ihren kleinen Zornausbrüchen, wenn er darüber eine anzügliche Bemerkung gemacht hatte. Wie oft hatte sie schon Steinchen nach ihm geworfen oder versucht, ihn mit einem Ast zu schlagen! Jedes Mal war er dann lachend weggelaufen, mit dem zufriedenen Wissen, ihren wunden Punkt getroffen zu haben. Er wünschte sich, wie früher einfach zu ihrem Haus gehen, sich in die Küche setzen und, unter den strengen Blicken ihres Onkels, den ganzen Abend ihren Erzählungen lauschen zu können. Heute Morgen war er bis vor ihr Haus gegangen. Dann hatte ihn der Mut verlassen. Er hatte sich geschworen, sie erst zu besuchen, wenn er ihr von einem Ende dieses Schreckens berichten konnte. Heute wollten die Inquisitoren abreisen, daher harrte er hier aus, um den Moment ihrer Abreise nicht zu verpassen. Vielleicht würde diese Nachricht den Schmerz über Agnes’ Tod ein wenig lindern.

Peter nahm einen Ast vom Boden, zog sein Messer aus seiner Hosentasche und begann, kleine Stücke aus dem Holz herauszuschnitzen. Er arbeitete ohne Ziel und ohne das Wirtshaus am Marktplatz aus dem Auge zu lassen. Der Waldboden vor seinen Füßen war von Spänen übersät, als der erste Soldat das Gebäude verließ. Sein Weg führte in den angeschlossenen Stall, in dem die Pferde und die Kutsche standen. Anscheinend wurde alles für die Abreise vorbereitet.

Peter ließ den Ast fallen und lief den Hügel hinunter. Er schlich die Straße entlang, bis er am Marktplatz angekommen war. Dort verbarg er sich in einer dunklen Ecke und beobachtete die Vorbereitungen des Aufbruchs. Der Wirt kam heraus. Schweiß tropfte von seiner Stirn, als er das Gepäck der Inquisitoren nach unten trug. Trotz seines beeindruckenden Gewichtes rannte Rainald ständig hinein und hinaus, als könnte er es selbst kaum erwarten, dass seine Gäste ihn wieder verließen. Der Markplatz war leer. Peter spürte unzählige Blicke hinter verschlossenen Läden oder aus verwinkelten Nebengassen, doch niemand schien der Inquisition noch einmal vor die Augen treten zu wollen. Der junge Inquisitor Thomas kam aus dem Wirtshaus und führte den blinden Prior in die Kutsche. Er wollte dem älteren Mann hineinfolgen, als ein Soldat gelaufen kam und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Peter ballte die Fäuste und hätte vor Zorn beinahe aufgeschrien.

Sicher hat es nichts mit uns zu tun, redete er sich ein. Vielleicht besprachen sie den Weg zu ihrem nächsten Ziel oder unterhielten sich über Belangloses. Das Gespräch schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, bis Thomas dem Soldaten zunickte. Er besprach sich mit dem Prior in der Kutsche. Dann ließ er zwei Soldaten absitzen und winkte sie zu sich. Peter ahnte, dass irgendetwas vorgefallen war. Kaum dass die Soldaten von ihren Pferden gestiegen waren, lief er los. Sein Weg führte ihn über den Marktplatz tiefer in das Dorf hinein.

Die Rache des Inquisitors

Подняться наверх