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2. Kapitel: Auf dem Weg nach Hergamas

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Ticchem!, dachte Ozobeq. Er hob etwas den gesichtslosen, zylindrisch geformten Kopf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Was maßest du dir nur an! Kaiser der Noroofen nennst du dich! Kaiser von Galaxis Hergamas ... Es ist lächerlich und eines Tages wirst du für deinen Hochmut und deinen Verrat bezahlen müssen!

Die Nano-Rüstung schloss sich im nächsten Moment um ihn. Abermilliarden winziger, wie Insektenschwärme durcheinanderströmender Teilchen umgaben seinen Körper und hatten bis jetzt nur den Kopf freigelassen. Doch nun war auch der bedeckt. Ozobeq wirkte nun wie eine Schattengestalt ohne näher definierbare äußere Konturen. Aber derartige Anhaltspunkte waren auch allenfalls für Primitivlinge von Bedeutung. Für Menschen zum Beispiel. Aber ein Wesen, das so außergewöhnlich differenzierte und empfindliche Sinne hatte wie Ozobeq oder irgendein anderer Noroofe, brauchte diese äußerlichen Anhaltspunkte nicht, um die Individualität des Gegenübers zu erkennen. Im Gegenteil. Sie störten sogar, lenkten sie doch vom Wesentlichen ab.

Der Präsenz.

Ozobeq legte sich in den sarkophag-ähnlichen Steuersitz, den er für eine kurze Regenerationsphase verlassen hatte. Der Sarkophag schloss sich augenblicklich.

*



DIE SINNE DES NOROOFEN waren mit dem Rochenschiff ALGO-DATA verschmolzen, das von John Bradford CAESAR genannt worden war.

ALGO-DATA, CAESAR, ALGO-DATA ... Ein Wechsel der Namen und der Herrschst über das Schiff. Der Mensch namens Bradford hatte das Schiff einst an sich gebracht und war von der KI als Kommandant akzeptiert worden. Und jetzt war die ALGO-DATA wieder in Ozobeqs Händen.

In den Händen des rechtmäßigen Besitzers, so sah es der Noroofe, der als Anführer der Hohen Sieben fungiert hatte. Und nicht allein dieses Schiff werde ich mir zurückholen ...

Ein Gefühl wilder Entschlossenheit durchströmte Ozobeq. Der Glaube, dass nichts und niemand ihn aufhalten konnte, erfüllte ihn auf angenehme Weise.

*



OZOBEQ VERLANGSAMTE den Flug der ALGO-DATA auf Unterlichtgeschwindigkeit. Zwanzig Lichtjahre war er noch vom Halo der Kleingalaxie Hergamas entfernt und durch das Abhören des Überlichtfunks hatte er bereits viel über die Lage in der ehemaligen Heimat der Noroofen erfahren.

Ehemalig?

Das war wohl nicht mehr der richtige Begriff für das, was hier vorzufinden war. Ticchem, der Verräter, der Usurpator, der ... Ozobeq versuchte seine Gedanken zu disziplinieren. Die kalte Logik größtmöglicher Effektivität wird dich ans Ziel bringen und dir die Herrschaft zurückgeben, die dir zusteht!, ging es ihm durch den Kopf. Das Notwendige tun und den maximalen Vorteil sichern ...

Die Sensoren der ALGO-DATA trugen ihm im Moment alles Mögliche zu. Informationen, die die Schiffs-KI, die denselben Namen trug wie das Schiff selbst, unter den Gesichtspunkten filterte, die Ozobeq zuvor festgelegt hatte, denn selbst ein überlegener Geist wie er hätte Mühe gehabt, all das auf einmal zu verarbeiten.

Ozobeq lag in einem der sieben Sarkophage in der Zentrale der ALGO-DATA und war vollkommen mit dem Schiff verschmolzen. Die Sensoren waren wie Erweiterungen seiner eigenen Sinne, der Körper des Schiffs war zu seinem Körper geworden.

Auf einem Parallelkurs flog das Canyaj-Schiff seiner alten Gefährtin Oziroona. Sie hatte dieses Schiff an sich gebracht, wie sie ihm berichtet hatte. Eine erstaunliche Leistung, wie Ozobeq fand. Aber vielleicht hatte er Oziroona in mancherlei Hinsicht unterschätzt. Zumindest hatte sie bisher treu zu ihm gestanden oder besser: Sie gab es vor, das zu tun. Aber Ozobeq fand, dass das in neunundneunzig Prozent aller denkbaren Fälle ohnehin auf dasselbe hinauslief. Also machte er sich über diesen Punkt keine weiteren Gedanken.

Sie war ihm hierher gefolgt, und Ozobeq hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie dies deshalb getan hatte, weil sie bereit war, ihm zu dienen. Welchen anderen Grund hätte es sonst geben können?

Vielleicht hatte sie ebenfalls einmal von der Herrschaft geträumt. Aber der lange Stase-Schlaf, den sie hinter sich hatte, war wohl dafür verantwortlich, dass sie viel von ihrer Energie verloren hatte. Sie war alt geworden. Alt und müde. Und manchmal erinnerte sich Ozobeq fast mit Wehmut an jene Zeit, als sie als eine der Hohen Sieben an Bord der ALGO-DATA geweilt und sie voller Tatendrang einem gemeinsamen Traum gefolgt waren.

Dem Traum von der Wiedererrichtung eines neuen Noroofen-Reichs.

Inwiefern Oziroona davon noch wirklich erfüllt war, konnte Ozobeq schwer beurteilen. Schon gar nicht, solange sie sich an Bord ihres eigenen Schiffes befand und er ihre Präsenz nicht unmittelbar spüren konnte.

Aber in Ozobeq war dieser Traum noch sehr wach.

Ein Traum, der ihm geraubt zu werden drohte.

Durch Ticchem, den Verräter ...

Er hatte sich an jene Stelle gesetzt, die einzunehmen eigentlich nur einem zustand. Ozobeq fühlte sich betrogen und verraten, denn in Hergamas schien das, was er erschaffen wollte, längst errichtet worden zu sein.

Die Überlichtfunk-Botschaften, die er bisher empfangen hatte, ließen keinerlei Zweifel daran. Ticchem hatte ein neues Imperium der Noroofen gegründet und Ozobeq damit seinen Traum gestohlen.

Aber der Anführer der Hohen Sieben war entschlossen, sich diesen Traum ebenso zurückzuholen wie sein Schiff, das von ein paar dahergelaufenen überwiegend menschlichen Primitivlingen eingenommen worden war.

Mit Genugtuung registrierte Ozobeq, wie Oziroonas Schiff sich der von ihm vorgenommenen Geschwindigkeitsveränderung angepasst hatte. Sei mein Schatten, teure Gefährtin aus uralter Zeit ...

Die KI meldete sich und wies ihn auf ein Sonnensystem hin, das der Kleingalaxie Hergamas etwa 26 Lichtjahre vorgelagert war. Es gab eine relativ spärliche Funkaktivität und auch Anzeichen für Raumschiffverkehr. Wahrscheinlich ein Vorposten, lautete die Analyse ALGO-DATAs.

Ist eine Annäherung ohne größeren Zeitverlust möglich?, erkundigte sich Ozobeq.

Ja, bestätigte ALGO-DATA und zeigte dem von ihr anerkannten Schiffskommandanten eine Projektion, die den weiteren Weg des Schiffes und dessen mögliche Abweichung erfassbar machte.

Für einen schwachen Geist mit schwachen, im Grunde nur ansatzweise vorhandenen Sinnen erfassbar!

Gewöhn dir diese primitiven Darstellungsformen ab!, wies Ozobeq die KI in Gedanken an.

Ich werde es in Zukunft bedenken, gab die KI zurück.

Ozobeq setzte noch hinzu: Du setzt mich mit diesem Menschen namens Bradford gleich. Mag sein, dass du auf dessen schwachen Verstand Rücksicht nehmen musstest. Aber ich brauche solche Hilfen nicht.

Die KI schien dazu ihre eigene Meinung zu haben, blieb aber in ihrer Erwiderung sehr diplomatisch.

Kommandant, auch wenn deine Sinne eins mit den Schiffssensoren sind, dachte ich, dass diese Art von Hilfe das Verständnis verbessern kann ...

Gewöhn dir das ab, verlangte Ozobeq.

Er war überzeugt davon, keinerlei Veranschaulichungen oder Vereinfachungen zu brauchen. Wie konnte die KI ihn nur mit einem Wesen wie Bradford vergleichen? Einem Wesen, das auf Augen und Ohren angewiesen war, um überhaupt ein wenig von seiner Umgebung wahrzunehmen und dessen physiologische Voraussetzungen im Grunde gar nicht zur ausgefeilten Technik der ALGO-DATA passten. Kein Wunder, wenn da eine zusätzliche Unterstützung der Bord-KI nötig war. Ozobeq hingegen hatte ein Vorstellungsvermögen, das groß genug war, um die Daten auch ohne plumpe Veranschaulichungen zu interpretieren.

Wir statten diesem System einen Besuch ab, verlangte er von der KI.

Jawohl, Kommandant, kam die Bestätigung.

Ozobeq erklärte: Wir gehen bis auf 260 Astronomische Einheiten an das Zentralgestirn heran und nähern uns ab da im Schleichflug mit minimaler Emission.

Die Zeit, die Ozobeq bei diesem Umweg verlor, war minimal, der Nutzen, den er daraus an Informationsgewinn ziehen konnte, wog das allemal auf.

*



EIN ÜBERLICHT-FUNKKANAL wurde geschaltet. Oziroona nahm von ihrem Canyaj-Schiff aus Kontakt mit ihm auf. Sie hatte den Kurswechsel der ALGO-DATA gewiss registriert, denn über die Sensoren konnte Ozobeq erkennen, dass sie den Kurs ihres eigenen Schiffes bereits angepasst hatte.

„Sei gegrüßt, Oziroona“, meinte Ozobeq, wobei es einer akademischen Unterscheidung gleichkam, ob dies nun Worte oder Gedanken waren. Die KI verwandelte Ozobeqs Gedanken in Funkimpulse, die von der KI des Canyaj-Schiffs in akustisch hörbare Rede übertragen wurden. Noroofen, die sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden bevorzugten hingegen häufig die telepathische Kommunikation. Insbesondere dann, wenn es darum ging, sich schnell zu verständigen.

„Sei gegrüßt, Ozobeq. Du hast den Kurs geändert. Ich nehme an, du willst den Vorposten genauer untersuchen.“

Alt ist sie geworden!, dachte er. ALGO-DATA sorgte für eine lebensechte Projektion, die auch die kristalline Umgebung an Bord des Canyaj-Schiffs ausschnittweise mit einbezog. Sie hatte den Kopf nicht mit ihrer Nano-Rüstung bedeckt. Ich glaube kaum, dass sie mir wirklich eine große Hilfe sein wird. Die alte Entschlusskraft und Boshaftigkeit fehlt ihr. Das macht sie berechenbarer, ungefährlicher und ... nutzloser.

„Ist es denn wirklich ein Vorposten?“, fragte Ozobeq. „Meine Daten lassen das lediglich als Möglichkeit erscheinen – wenn auch mit hoher Wahrscheinlichkeit.“

„Meine Daten sind da eindeutiger. Ich lasse sie dir gerne zukommen.“

„Schick sie ALGO-DATA über einen gesonderten Datenstrom.“

„Ich werde deinen Wunsch erfüllen. Ansonsten möchte ich dich auf etwas hinweisen, das mir Sorgen macht.“

„Und das wäre?“

„Für eine sehr kurze Zeit hat die Ortung meines Schiffs etwas aufgezeichnet, das sich bei näherer Analyse wie eine Hegriv-typische Signatur interpretieren lässt. Die Übereinstimmung ist im relevanten Bereich.“

„Ich brauche die Daten für eine genauere Analyse durch ALGO-DATA!“, verlangte Ozobeq. Mein diesbezügliches Hilfsersuchen wird dieser eingebildeten KI ein innerer Vorbeimarsch sein!, ging es dem Kommandanten der ALGO-DATA dabei gleichzeitig durch den Kopf. Sie wird es als Bestätigung dafür interpretieren, dass ich doch Unterstützung durch Veranschaulichungen brauche und wahrscheinlich dazu übergehen, sie mir in so unaufdringlicher Weise zu präsentieren, dass ich sie kaum bemerke, sie aber dennoch in meine Überlegungen mit einbeziehe.

„Du bekommst die Daten. Es ist allerdings nur eine kurze Sequenz, Ozobeq.“

„Warum?“

„Das betreffende Objekt verschwand hinter dem Ortungsschatten von Planet II dieses Sonnensystems, bei dem es sich um einen Gasriesen handelt, der auch noch über einen ziemlich ausgeprägtes Magnetfeld verfügt ...“

„Ich verstehe ...“

*



DIE ALGO-DATA NÄHERTE sich dem Sonnensystem. Es handelte sich um einen roten Zwerg, der von drei Planeten und 65 Zwergplaneten sowie einem Asteroidengürtel umkreist wurde. In den alten Sternkatalogen der Noroofen trug das System den Namen Kana-Hergamas, was nichts anderes bedeutete als 'Auf dem Weg nach Hergamas'. Es hatte dort bereits in der Zeit des alten Noroofen-Reichs einen Beobachtungsposten gegeben und offenbar war der durch Kaiser Ticchem reaktiviert worden. Der größte Teil des Datenstroms war verschlüsselt und ALGO-DATA hatte ihre liebe Mühe damit, die Codes zu knacken. Aber der Teil der Datenmasse, die ohne weitere Mühe entschlüsselbar war, reichte schon aus, um einige wichtige Rückschlüsse zu ziehen.

Planet I und II waren Gasriesen, deren Eigenrotationen mit der großen Nähe zu ihrem Zentralgestirn mit dem Sonnenumlauf so synchronisiert waren, dass sie Kana-Hergamas stets dieselbe Seite zuwandten.

Auf einigen der Monde von Nummer II schien es Stationen zu geben.

Der Hauptteil der noroofischen Präsenz war allerdings wohl auf Nummer III zu finden, einem kalten, stark eisenhaltigen Brocken, dessen Sauerstoffatmosphäre so dünn war, dass sie einem veritablen Vakuum entsprach und nicht einmal dazu ausgereicht hatte, den Planeten mit einer erkennbaren Oxidationsschicht zu überziehen. Die alte Station befand sich im Inneren des Planeten und verfügte über Raumschiffhangars und gut ausgebaute militärische Anlagen sowie recht feine Ortungsanlagen.

Ob all das inzwischen wieder in Betrieb genommen worden war, musste sich natürlich erst herausstellen, aber Ozobeq war durchaus bewusst, dass er vorsichtig sein musste. Mit einer kleinen Flotte von Kampfraumschiffen können wir es durchaus aufnehmen, erklärte ihm ALGO-DATA. Gleichgültig, ob es sich jetzt um noroofische Schiffe oder um Hegriv handelt ...

Die ALGO-DATA war schließlich die Arche der Noroofen. Ein Schiff, dessen Ausstattung und Kampfkraft allenfalls mit den anderen Kopien des Rochenschiffes vergleichbar war, die im Kubus entstanden und von dort aus einst ausgeschwärmt waren, um dem Noroofen-Reich zu alter Herrlichkeit zu verhelfen.

Ozobeq empfing die Daten über die angebliche Hegriv-Signatur.

Übereinstimmung 78 Prozent mit bisher bekannten Hegriv-Signaturen!, lautete ALGO-DATAs kühle Analyse. Das ließ Raum für Spekulationen.

Eigentlich war es unmöglich, dass es noch Hegriv in Hergamas gab. Die Agotas hatten den alten Feind der Noroofen schließlich restlos vernichtet. Zumindest war Ozobeq davon bisher ausgegangen.

Noch unwahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass Hegriv den Vernichtungsfeldzug der Agotas überlebt hatten, erschien Ozobeq allerdings die Option, dass sie friedlich mit Noroofen zusammen lebten - und diesen Schluss musste man ziehen. Schließlich war das Objekt mit der potenziellen Hegriv-Signatur in unmittelbarer Nähe von Schiffen mit eindeutig noroofischer Kennung geortet worden. Dass die Noroofen-Einheiten nichts von dem Objekt und seiner Signatur bemerkt hatten, konnte man wohl ausschließen.

Und Anzeichen für Kampfhandlungen irgendwelcher Art waren auch nicht zu erkennen.

Dieser Sache werde ich auf den Grund gehen müssen, bevor wir uns nach Vanghor wenden ..., entschied Ozobeq.

Vanghor ...

Der ehemalige Geheimplanet des Noroofen-Reichs und das Ziel von Ticchems Reise nach Hergamas und wahrscheinlich jetzt das Zentrum seiner Macht ...

Vanghor war daher auch Ozobeqs vorrangiges Ziel.

Hast dich während meiner Abwesenheit offenbar erfolgreich etabliert, Ticchem. Es wird das Klügste für dich sein, diese Macht freiwillig wieder an jenen abzutreten, dem sie zusteht!

*



JOHN BRADFORD LIESS sich in einen der Sitzmöbel fallen, die sich plötzlich gebildet hatten und seiner menschlichen Anatomie nahezu perfekt anpassten. Man merkt, dass die Schiffs-KI der ALGO-DATA doch eine ganze Weile unter dem Kommando von Menschen stand, ging es Bradford dabei durch den Kopf. Josephine, Otlej, Marcus und Miij befanden sich noch im Raum. Das bedrückte Schweigen hielt jetzt schon zwei volle Minuten lang an, nachdem zuvor in aller Heftigkeit die Lage erörtert worden war.

Die Lage war deprimierend.

Anders konnte man es nicht zusammenfassen. Bradford ärgerte sich maßlos darüber, das Schiff erneut an Ozobeq verloren zu haben. Eigentlich sollte man denselben Fehler niemals zweimal begehen, aber in diesem Fall war es wohl unvermeidlich ..., überlegte Bradford. Die überlegene Technologie, mit deren Hilfe Ozobeq sich das Schiff zurückerobert hatte, hatte ihn und seine Gefährten schlicht und ergreifend Schachmatt gesetzt. Jetzt beginnen wir an einem Punkt, an dem wir schon einmal waren ... Und der Schlüssel zur Rückeroberung des Schiffes kann wohl nur ALGO-DATA sein...

Aber derzeit stand die Bord-KI fest auf Ozobeqs Seite. Bradford und seine Besatzung konnten sich zwar an Bord relativ frei bewegen, waren aber von allen wichtigen Informationen abgeschnitten – und von einer Kontrolle der Schiffssysteme ohnehin. ALGO-DATA verweigerte den Zugriff auf die Sensorendaten und so wussten sie noch nicht einmal, wo sie sich derzeit befanden. Irgendwo auf dem Weg von der Milchstraße zur Großen Magellanschen Wolke beziehungsweise Hergamas, wie die Noroofen diese der Milchstraße vorgelagerte Kleingalaxie nennen ...

Eine sehr vage Beschreibung.

„Ozobeqs Ziel wird Vanghor sein“, meinte Bradford schließlich und unterbrach damit die Stille.

„Genau dorthin wollten wir ja eigentlich auch“, stellte Josephine fest.

„Nur unter etwas anderen Vorzeichen“, stimmte Marcus zu. Sein aus Milliarden winzigster Teilchen bestehender Nano-Körper stand vollkommen ruhig da. Umso größer war die innere Unruhe seiner Gestalt, die nur den Umrissen nach noch etwas Menschliches an sich hatte. Die Nano-Teilchen flossen durcheinander. Ströme bildeten sich, verdrängten sich gegenseitig und teilten sich auf. Bradford hatte sich schon abgewöhnt, die Gestalt dieser mit dem Bewusstsein eines Gen-Android-Menschen beseelten Noroofen-Rüstung länger als unbedingt nötig anzusehen, wenn er sich gleichzeitig auf etwas anders konzentrieren wollte, denn dieses Bild der dauernden Unruhe wirkte ungemein ablenkend. Auf der Erde des 21. Jahrhunderts, deren Kinder Marcus und ich ja beide sind, hätte man diesen Nano-Körper sicher als ein Medium bei Hypnosebehandlungen einsetzen können, dachte Bradford und dabei wurde ihm schmerzlich bewusst, wie fern und unerreichbar die Welt war, der er entstammte. Eine Zeit, in der er als Astronaut, der sich anschickte den Mars zu betreten, ein Held gewesen war und in der die Menschheit gerade ihre ersten schüchternen Schritte ins All unternommen hatte.

Der Pflanzenhüter-Klon Otlej und der geflügelte Miij hatten bisher geschwiegen. Der geflügelte Ellobarge stand in seiner Rüstung da und Bradford machte auf Miij einen ebenso ratlosen Eindruck wie Otlej, der Pflanzenhüter-Klon, der sich in der Zeit seit der erneuten Kommandoübernahme Ozobeqs fast gänzlich zurückgezogen hatte. Die Zwiesprache mit den Pflanzen, die er in seinen Räumen hielt, schien ihm wichtiger zu sein, als der Austausch mit seinen Leidensgenossen an Bord der ALGO-DATA.

Aber vielleicht war diese zurückgezogene Haltung auch nur darin begründet, dass er einfach keine Möglichkeit sah, sich zu wehren. Ein Techniker war Otlej nie gewesen und ohne ein noch tieferes Verständnis der von Ozobeq angewandten Noroofen-Technik, war ein erneuter Umsturz wohl nicht möglich.

Josephine verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Sie war die ganze Zeit über hin und her gelaufen wie ein gefangenes Tier in seinem Käfig. Man hatte ihr ansehen können, wie sehr sie darauf brannte, etwas zu unternehmen, irgendetwas, was zumindest die Chance beinhaltete, das Blatt noch einmal zu wenden ... Aber danach sah es im Augenblick einfach nicht aus. Alles, was auch nur entfernt nach einer Hoffnung aussah, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Illusion.

„Mir persönlich wäre es lieber, Ozobeq würde uns gefangen halten“, bekannte sie. „Dann wüsste ich zumindest, dass wir ihm gefährlich werden könnten!“

Bradford nickte.

„Du hast Recht, er fühlt sich absolut sicher. Nur deswegen gibt er uns so große Freiheiten.“

„Möglicherweise verspricht er sich auch noch irgendeinen Vorteil davon, dass er uns an Bord gelassen hat!“, meinte Marcus. „Nach allem, was wir von ihm wissen, dürfte man ihn als einen absoluten Utilitaristen bezeichnen können.“

„Fragt sich nur, was das für ein Vorteil sein sollte“, meinte Josephine. „Schließlich kann er sich doch denken, dass wir unsere Freiheit nur dazu nutzen werden, um den Spieß irgendwann wieder umzudrehen und Ozobeqs Kommando über das Schiff zu beenden ...“

„Davon abgesehen wird er technisch in der Lage sein, uns überall auf dem Schiff zu belauschen“, stellte John Bradford fest und erhob sich von seinem Platz. „ALGO-DATA ist schließlich auf seiner Seite und wenn Ozobeq ihr die entsprechenden Filter vorgibt, müssen wir davon ausgehen, dass er sofort alarmiert wird, wenn in unserer Kommunikation irgendetwas enthalten sein sollte, was ihm bedrohlich erscheint ...“

„... was bisher ganz offensichtlich noch nicht der Fall war“, ergänzte Josephine. Sie schüttelte den Kopf. „Aber das kann ja wohl nicht heißen, dass wir jetzt einfach die Hände in den Schoss legen und aufgeben, oder?“

Einige Augenblicke herrschte Schweigen.

„Eine gute Gelegenheit muss abgewartet werden“, sagte schließlich Otlej, der dem bisherigen Gespräch eher teilnahmslos gefolgt war und kaum zu erkennen gegeben hatte, inwiefern er sich inhaltlich überhaupt damit auseinandergesetzt hatte, Ozobeq zu stürzen.

„Bei Oziroona hatte ich den Eindruck, dass sie einiges dazugelernt hat“, meinte Josephine, sich an ihren gemeinsamen Aufenthalt auf Gogran erinnernd. „Ich wüsste gerne, wo sie jetzt ist ...“

„Und ich finde, wir sollten uns zunächst einmal über unser eigenes Schicksal Sorgen machen“, meinte Marcus.

Und Bradford ergänzte: „Im Zweifelsfall ist Oziroona nämlich nicht nur eine der Hohen Sieben, sondern auch Ozobeqs treu ergebene Gefährtin, die ihm wahrscheinlich in die schlimmste Hölle folgen würde. Was immer du auch an Wandlungen in ihrem Charakter festgestellt haben magst, Josephine – ein Wort von Ozobeq, nein, ein Gedanke von Ozobeq und sie tut, was er will.“

„Oziroona ist ihm tatsächlich gefolgt“, stellte Marcus fest. „Es ist mir gelungen, mich für kurze Zeit mit dem Kommunikationssystem zu verbinden und so die Abschirmung des Schiffs zu überwinden. Ich konnte auf diese Weise Teile eines Funkspruchs auffangen, der an Ozobeq gerichtet war.“

John Bradford runzelte die Stirn. „Und das sagst du uns erst jetzt?“

„So lange ist es ja noch nicht her“, entschuldigte sich Marcus. „Davon abgesehen war es auch nur ein mehr oder minder sinnloses Fragment. Der Datenstrom enthielt allerdings erstens eine Kennung, die typisch für Oziroona ist und zweitens ...“

„Ja?“

Marcus verschränkte jetzt die Arme, was einen eigenartigen Anblick bot, denn nun hatte man den Eindruck, dass die insektenähnlichen Schwärme der Nano-Partikel aus denen seine Körpersubstanz bestand, in zwei sich umeinander windenden Bahnen daherströmten, sodass ein menschliches Auge rein optisch den Eindruck bekommen musste, dass Marcus’ Arme sich zu einem zopfähnlichen Gebilde verdrehten. Seit er Rograks Geschenk erhalten hatte, war es ihm möglich, jedwedes von ihm erfasste Lebewesen täuschend echt zu imitieren. Dazu gehörte auch ein Marcus aus Fleisch und Blut, wie es ihn früher gegeben hatte.

Eigenartigerweise benutzte er seine ursprüngliche Gestalt zurzeit gar nicht. Bradford fragte sich manchmal, ob das vielleicht daran lag, dass sich Marcus inzwischen an seinen Nano-Körper so sehr gewöhnt hatte, dass es ihm nicht mehr so wichtig war, in seiner alten Gestalt zu erscheinen. Warum auch immer ... Vielleicht ist seine alte – menschliche – Gestalt für ihn inzwischen nichts weiter als eine schmerzliche Erinnerung an ein verlorenes Leben, das so, wie es war nicht wiederkehren wird. Auch dann nicht, wenn er äußerlich so erscheint ... Bradford hatte Marcus bisher nicht näher darauf angesprochen. Diese Sache war etwas sehr persönlich und Bradford fand, dass es ihm nicht zustand, darüber nähere Informationen zu fordern.

„Da war noch die Positionsangabe des Canyaj-Schiffs, mit dem Oziroona ihrem Geliebten Ozobeq offenbar gefolgt ist“, erklärte Marcus. „Und da diese Positionsangabe noch nicht sehr alt ist, können wir vermuten, dass wir uns nicht sehr weit davon entfernt befinden müssen.“

„Und was heißt das konkret?“, mischte sich Josephine in einem leicht genervt wirkenden Unterton ein.

„Keine dreißig Lichtjahre mehr bis zur großen Magellanschen Wolke“, sagte Marcus.

Bradford nickte leicht. „Dann hat Ozobeq sein Ziel also beinahe erreicht ...“

Er atmete tief durch. Wie plant man eine Meuterei, wenn der Kommandant jedes Wort hören kann, das gesprochen wird – und wenn er will sogar die Gedanken?, lautete wohl die Frage, die man sich jetzt stellen musste. Gute Aussichten sahen jedenfalls anders aus.


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