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Ärmliche Verhältnisse eines Adoptivkindes

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Alle mit der Jahrhundertfeier Amerikas verknüpften Erwartungen und Enttäuschungen treffen geradezu exemplarisch auf Jack London zu. Das Bestreben nach geografischer Ausdehnung über den gesamten Kontinent sowie die sich abzeichnende Überschreitung der kontinentalen Grenzen in den Atlantik, die Karibik und den Pazifik spiegeln sich in Londons grenzenlosem Abenteuergeist, unbekannte Regionen Amerikas und der Welt zu entdecken. Die reklamierte Größe in einer modernen Zeit mit unübersehbaren politischen und ökonomischen Schwierigkeiten sowie die unaufhaltsame multiethnische Dynamisierung der Gesellschaft hat der in ärmlichen Verhältnissen geborene Schriftsteller am eigenen Leibe erlebt, bevor er zum kommerziell erfolgreichsten amerikanischen Autor der Moderne aufstieg und als kosmopolitisch gesinnter Amerikaner international bekannt wurde.

Jack Londons Familiensgeschichte umgreift den gesamten Raum des amerikanischen Kontinents. Die Ost-West-Bewegung über den Kontinent beginnt mit seiner Mutter Flora Wellman. Ihr Vater Marshall Wellman war der Spross einer alteingesessenen Familie in Neuengland, die nach dem Verlust ihres Landes in Connecticut im Zweiten Unabhängigkeitskrieg mit England (1812–15) in die als Kompensation zur Verfügung gestellten Gebiete an der Frontier in Ohio umgesiedelt wurde. In dieser Pionierumgebung kamen Floras Vater und ihr Onkel Hiram durch Handwerk und Unternehmergeist in der Stadt Massillon schnell zu Ruhm und Reichtum. Die 1843 geborene Flora wuchs als fünftes Kind von Marshall und Eleanor Wellman in einem stattlichen Anwesen der begüterten bürgerlichen Familie auf. Im Alter von vier Jahren musste sie den Tod ihrer Mutter erleiden, und die schnelle Wiederverheiratung ihres Vaters war ein großer emotionaler Schock für sie. Dennoch genoss sie in der um vier Stiefgeschwister angewachsenen Familie die besondere Zuneigung ihres Vaters und ihrer Stiefmutter Julia Wellman. Sie erhielt die beste Ausbildung und sah sich gerne als Mittelpunkt des Interesses in einer für liberale Ideen wie Frauenemanzipation und Abschaffung der Sklaverei aufgeschlossenen Familie. Neben ihrer Vorliebe für öffentliche Auftritte beim Rezitieren von Gedichten und einer Expertise im Klavierspiel entwickelte sie ein lebhaftes Interesse für die immer populärer werdenden spiritualistischen Séancen und begriff sich gerne als ein Medium für die Vorhersage zukünftiger Entwicklungen und für die Kommunikation mit dem Reich der Toten.

Floras luxuriöses Leben in einer liebevollen Umgebung wurde durch zwei einschneidende Ereignisse unterbrochen. Im Alter von 12 Jahren erkrankte sie schwer an Typhus, wodurch ihr Wachstum und ihre Sehkraft dauerhaft beeinträchtigt wurden. In der Finanzkrise von 1858 verlor ihr Vater einen erheblichen Teil seines Vermögens und zwang die Familie zu einem reduzierten Lebensstil. Aufgrund dieser ökonomischen Veränderungen und wahrscheinlich im Disput mit ihrer Stiefmutter verließ Flora das Elternhaus und lebte ab 1860 kurzfristig bei ihrer verheirateten Schwester. Gerüchte über eine Affäre mit einem verheirateten Mann als Grund für den Auszug aus der Familie wurden später nicht bestätigt. Am Ende des Bürgerkriegs half sie bei der Versorgung verwundeter Soldaten mit Verbandsmaterial, bevor sich ihre Spuren verloren, bis sie 1871 in Seattle an der Westküste auftauchte. Hier bestritt sie ihren Unterhalt mit Klavierstunden und traf auf den 22 Jahre älteren William H. Chaney, der die Landarbeit auf einer Farm an der Ostküste in Maine nach dem Tod der Eltern aufgegeben hatte, vorübergehend zur See gefahren und schließlich als Astrologe durchs Land gezogen war.

Die Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn ermöglichte seine Reise in den Westen, wo er in Flora eine gleichgesinnte Partnerin fand, die spiritistische Sitzungen besuchte. Für Chaney war die Astrologie seinen eigenen Ausführungen zufolge Teil eines humanitären Engagements zur Verbesserung der Menschheit, das mit zeitgenössischen Vorstellungen über Eugenetik und die Überlegenheit der Angelsachsen verbunden war, die als WASP (weiße angelsächsische Protestanten) die eigentlichen 100-Prozent-Amerikaner darstellten. Gemeinsam verließen William H. Chaney und Flora Wellman Seattle und lebten in San Francisco 1874–75 ohne Trauschein zusammen. Da in dem auf das Erdbeben 1906 in San Francisco folgenden Feuer die meisten Dokumente verbrannten, ist der genaue Status der Beziehung nicht rekonstruierbar. Dokumentiert ist ihr freizügiger Lebenswandel als Mitglieder einer gegenkulturellen Gruppe, die für freie Liebe, freigeistige Ideen sowie für die Emanzipation der Afroamerikaner und der Arbeiterklasse eintraten. Von den insgesamt sechs ehelichen Verbindungen William H. Chaneys war nach dem Tod der ersten und der Scheidung von der zweiten Frau im Osten die Beziehung mit Flora die einzige mit Folgen. Als Flora schwanger wurde, verließ Chaney sie, weil sie sich seiner Aufforderung zum Schwangerschaftsabbruch widersetzte. Zwei verzweifelte Selbstmordversuche mit Tabletten und einer Pistole, über die am 4. Juni 1875 in der Zeitung San Francisco Chronicle berichtet wurden, blieben folgenlos, sodass sie am 12. Januar 1876 einen Sohn zur Welt brachte, den sie John Griffith Chaney nannte. Kurze Zeit später lernte sie den aus Pennsylvania stammenden, 47-jährigen, verwitweten Bürgerkriegsveteranen John London kennen, den sie am 4. September 1876 heiratete. Von den elf Kindern aus seiner ersten Ehe brachte John die 8-jährige Eliza und die 6-jährige Ida in die Ehe mit und erkannte Floras Sohn an, der nun seinen Namen erhielt.

Ergänzt wurde diese neue Patchwork-Familie durch Daphne Virginia Prentiss, eine 1832 in Tennessee geborene, Jennie genannte Sklavin. Sie lernte schon als Kind Lesen und Schreiben und profitierte von dem liberalen Umgang der Familie der Plantagenbesitzer, bei der sie aufwuchs. Die Zerstörung der Plantage durch Unionstruppen aus dem Norden während des Bürgerkriegs zwang sie zu einem vorübergehenden Aufenthalt in St. Louis. Nach dem Bürgerkrieg kehrte sie nach Nashville in Tennessee zurück, wo sie als Haushälterin für Ruth und Alonzo Prentiss, einen Zimmermann, arbeitete. Alonzo Prentiss war schon 1862 unehrenhaft aus der Armee entlassen worden, weil eine Untersuchungsbehörde seine angebliche Abstammung von einer Mulattin zum Anlass nahm, den weiß aussehenden Mann als einen Schwarzen zu deklarieren, der illegal in einer Truppe weißer Soldaten kämpfte. Als Alonzos Frau ihn nach dem Krieg mit den drei Kindern verließ, verliebte er sich in Jennie und heiratete sie im März 1867. Obwohl beide rechtlich als schwarz galten, unterstellte man ihnen aufgrund der unterschiedlichen Hautfarbe Rassenmischung, sodass sie zunächst nach Chicago gingen und von dort nach San Francisco, wo Alonzo Arbeit als Zimmermann fand und beide unbehelligt in der multiethnischen Großstadt leben konnten. Verschiedene Biografen gehen davon aus, dass die Verbindung zwischen Jack Londons Mutter und seinem Stiefvater John London über die Prentiss-Familie zustande kam, weil John ebenfalls als Zimmermann arbeitete und ein Arbeitskollege von Alonzo war. Nachgewiesen ist allerdings, dass die Verbindung über einen Frauenarzt gestiftet wurde, der die zeitgleiche Geburt von Floras und Jennies Kindern begleitet hatte. Jennies Entsetzen über die Totgeburt ihres dritten Kindes wurde durch die Übernahme der Mutterrolle für Floras Kind kompensiert, die überfordert war und nicht stillen konnte. Mehr als die in den Südstaaten übliche schwarze Amme wurde „Mammy Jennie“ zur emotionalen Identifikationsfigur für Jack London. Die ersten drei Jahre seines Lebens verbrachte das Johnny genannte Kind in Alonzo und Jennie Prentiss’ Familie und wuchs zusammen mit deren 1867 und 1873 geborenen Kindern William und Priscilla Anne auf. Obwohl seine leibliche Mutter ihn während dieser Zeit bei seiner Pflegefamilie ab und zu besuchte, wird das von vielen Biografen beschriebene distanzierte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn verständlich. Anstelle einer engen emotionalen Bindung muss vielmehr von einer professionellen Geschäftsverbindung ausgegangen werden. So wie Flora die spätere Schriftstellerkarriere Jacks förderte, so unterstützte der Sohn zeitlebens seine Mutter finanziell. Die Sozialisation in der multiethnischen Stadt und die enge Bindung an seine afroamerikanische Familie waren die Grundlage für Jack Londons spätere transkulturelle und transnationale Orientierung und seinen unbändigen Abenteuergeist. Auch Flora teilte aufgrund ihrer liberalen Einstellung die Ideen ihres Sohnes und es entwickelte sich eine lebenslange enge Verbindung zwischen den Mutterfiguren in Londons Leben. Nach dem Tod des Autors lebten Flora und Jennie bis zu ihrem Tod 1922 zusammen.

Die Bindung an Mammy Jennie und die geliebte Stiefschwester Eliza sowie sein Vertrauen in die Vaterfigur John London boten dem jungen Johnny eine stabile Basis, die schwierigen Jahre seiner Kindheit zu überstehen. Erst nach dem Tod John Londons 1897, erfuhr der 21-jährige Jack von seinem vermutlichen biologischen Vater und nahm brieflich Kontakt zu William H. Chaney auf, der allerdings die Vaterschaft mit Verweis auf seine altersbedingte Impotenz und sexuelle Affären der Mutter leugnete. Eine endgültige Klärung der tatsächlichen Vaterschaft erfolgte nicht.

John London hatte verantwortungsvoll die Vaterrolle für den aufgeweckten und tatkräftigen Jungen übernommen. Er band ihn ein in die Arbeit auf der in Almeda südlich von San Francisco gepachteten Farm, wo Jack seine Liebe zu Tieren entdeckte und beim Anbau und Verkauf von Gemüse half. Das florierende Geschäft ging allerdings zu Ende, als die auf Betreiben der Mutter aufgenommenen Bankkredite nicht mehr bedient werden konnten und finanzielle Fehlkalkulationen zum Ruin führten. Ohne festes Einkommen musste die Familie in ärmlichen Verhältnissen überleben und mehrmals zwischen San Francisco und Oakland umziehen. So wurden sie in der Welt der Arbeiter und Einwanderer verankert, und Johnny verbrachte seine ersten Schuljahre an der Cole Grammar School in einem der ärmsten Viertel Oaklands. Alle Schwierigkeiten der notleidenden Bevölkerung, der arbeitslosen Amerikanern und mittellosen Immigranten erlebte Jack London also unmittelbar in seiner Kindheit. Kennzeichnend für seinen starken Willen und seine Tatkraft war, dass er diese für das Prekariat typische Situation als eine Herausforderung begriff und den von der Mutter vermittelten Hunger nach Bildung entwickelte.

Schon vor Schulbeginn lernte er von seiner Mutter und seiner Lieblingsschwester Eliza mit 4 Jahren Lesen und Schreiben und fand damit die Passion seines Lebens. Kühn verkündete er, dass er die amerikanische Highschool in der Hälfte der vorgesehenen Zeit absolvieren werde. Die Stadtbibliothek in Oakland wurde für ihn angesichts der familiären Krisen zu einem Zufluchtsort, an dem er seinen unbändigen Lesehunger mithilfe der von ihm als „Göttin meiner Kindheit“ bezeichneten Bibliothekarin und Schriftstellerin Ina Coolbrith stillte. Sie weckte sein Interesse für Abenteuer- und Reiseliteratur. Shakespeares Dramen und Herman Melvilles autobiografische Schilderung seiner schon in den 1830er-Jahren durchgeführten Reise in die Südsee, Taipi (1927) [Typee (1846)], wurden Lieblingslektüren, die Jack früh tragische Konflikte näher brachten und Sehnsucht nach fernen Welten weckten. In den sehr populären Jugendromanen von Horatio Alger, in denen der Aufstieg jugendlicher Helden in New York aus Armut zu Reichtum geschildert wird, erkannte Jack ein Vorbild für sein eigenes Leben und das in der Unabhängigkeitserklärung verbriefte Streben nach Glück und sozialem Aufstieg, das Millionen von Einwanderern aus Europa und Asien als Verlockung des amerikanischen Traums vermittelt wurde. Mit New York und San Francisco entstanden internationale Metropolen mit einer multiethnischen Bevölkerung und einer unter den harten Bedingungen des kapitalistischen Systems leidenden Arbeiterklasse, die Jack London später als „Lohnsklaven“ bezeichnen sollte.

Jack London

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