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Vorwort: Warum dieses Buch?

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Die Idee zu diesem Buch entstand bei mir im Dezember 2001 in Kuba.

Ich fuhr mit einem Autobus aus der Stadt Bayamo in Richtung Küste. Der Bus war, wie fast alle Transportmittel in Kuba, sehr klapprig und kaputt. Ich hatte rechtzeitig eine Fahrkarte gekauft und daher einen Sitzplatz ergattert. Selbst wenn ich keine Karte gehabt hätte, so wäre ich vermutlich dem Sitzplatz nicht entkommen: Die Kubaner sind nämlich gegenüber Fremden sehr rücksichtsvoll, weil sie gelernt haben, daß der Tourismus die Haupt-Devisenquelle von Kuba ist. Das ist aber wahrscheinlich nicht der einzige Grund. In der Tradition Kubas ist der Fremde, sofern er nicht direkt als militärischer Gegner, Unterdrücker oder Kolonialherr auftritt, immer eine Bereicherung und ein willkommener Gast, der einem Kunde von der äußeren Welt bringt. Die Einheimischen behandeln einen Touristen deshalb zuvorkommender, als es meiner Ansicht nach notwendig wäre. Oft hatte ich Diskussionen mit Kubanern, wenn ich ein Verkehrsmittel bestieg und jemand für mich aufstand und mir Platz machen wollte. Nein, bleiben sie doch sitzen, sagte ich. Das ist Ihr Land! Ich bin hier nur Gast. Aber eben deshalb sollen Sie sich hier wohlfühlen! entgegnete der/die Kubaner/in. Aber ich kann doch auch stehen! sagte ich. Ich bin noch nicht so alt und klapprig, daß mir das Schwierigkeiten bereiten würde. Ich auch nicht, meinte der/die Einheimische. Und so tauschten wir Höflichkeiten aus, lachten, und kamen miteinander ins Gespräch.

Der Bus in Bayamo fuhr – natürlich – nicht zur fahrplanmäßigen Zeit los. Immer mehr Leute zwängten sich hinein. Ich saß relativ weit hinten. Und in dem überfüllten Bus standen vor mir zwei Männer, die große weiße Säcke der Art bei sich hatten, in denen sonst landwirtschaftliche Produkte wie Kaffeebohnen, Getreide, Kartoffeln oder ähnliches transportiert werden. Die Säcke waren ungefähr 1 m 30 cm hoch und enthielten eckige Gegenstände. Als der Bus endlich losgerattert war und Bayamo verlassen hatte, fragte ich den einen der beiden: Sag einmal, was ist denn in diesen Säcken drin? Bücher, erklärte er mir. Ich bestelle diese Bücher bei einem Buchhändler in Bayamo, und wenn eine genügend große Menge von ihnen da ist, so benachrichtigt mich das Buchgeschäft und dann fahr ich nach Bayamo und hol sie mir ab.

Der Bus brach ungefähr 25 Kilometer nach Bayamo zusammen. Der Fahrer und ein Mechaniker versuchten ihn zu reparieren. Die meisten Passagiere stiegen aus, um eine Zigarette zu rauchen oder sich die Füße zu vertreten. Die zwei Burschen setzten sich auf freigewordene Sitze. Der eine erzählte mir, daß er Lehrer in einem Dorf war. Und er strebte eine Zukunft als Schriftsteller an. Er war der Ansicht, daß man zuerst viel in sich aufnehmen und lernen müßte, um dann richtige, wertvolle Literatur zu produzieren. Das Wichtigste, so erklärte er mir, sei, das spirituelle Herz, „el corazón espiritual“, zu bereichern. Man müsse von allen und allem lernen. Die erste Quelle der Inspiration seien die Menschen selbst. Jeder Mensch ist reich an Wissen und Erfahrung, sagte er mir. Jeder ist eine Welt für sich. Man kann bei uns von den Menschen im Dorf so viel lernen! Was sie alles zum Erzählen haben! Über die Batista-Zeit und auch über die jüngere Vergangenheit unter Castro. Aber die hohe Politik sei nur ein geringer Teil ihrer Erlebniswelt. Die Welt der Liebe, die wirtschaftliche Situation, die Volkskultur seien eine reiche Quelle der Inspiration. Er sei so froh und dankbar, Lehrer in einer an Traditionen so reichen Gegend zu sein. Das Dorf bietet viel mehr als die Stadt, sagte er mir. Es ist origineller, ursprünglicher. Die Menschen hier waren immer mehr viel mehr auf ihren eigenen Erfindungsgeist verwiesen, um existieren zu können. Sie bekamen wenig Hilfe von außen, vor allem vor der Revolution.

Die nächste Quelle des Wissens seien die Bücher. Es gebe so viele interessante Bücher, geschrieben von Menschen, die der Welt etwas von ihrem Wissen vermitteln wollten. Auch diese Quelle der Erkenntnis müsse man nützen, so gut wie möglich. Deshalb bestelle er immer Bücher aus Havanna, und holte sie in sein Haus im Dorf. Wenn er alle ausgelesen hätte, so käme schon die nächste Lieferung.

Kuba druckt sehr viele Bücher. Es ist das dritte Land in Lateinamerika, nach Mexiko und Argentinien, in der Bücherproduktion. Vielleicht hat es Argentinien inzwischen überholt. Und die Bücher sind relativ billig, weil die sozialistische Regierung meint: Bücher soll sich bei uns jeder leisten können! Sie sind auch eines der wenigen Nicht-Lebensmittel-Produkte, die für kubanische Pesos erhältlich sind. Aber dennoch stellte eine solche Menge Bücher eine bedeutende Ausgabe für den Dorflehrer dar. Er konnte sich sicherlich nicht viel anderes mehr leisten.

Die dritte Quelle des Wissen sei die Natur, fuhr er fort. Die Natur ist reich, und sie gibt dir ihre Schätze ohne jegliche Gegenleistung. Du mußt sie nur entdecken! Die Vögel singen für dich. Die Pflanzen wachsen für dich und verströmen ihren Duft. So viele von ihnen kannst du brauchen, als Nahrung, als Tee, als Droge, als Medizin, oder nur, um dich an ihnen zu erfreuen, wegen ihrer Schönheit oder ihres Duftes. Du mußt es nur lernen, sie richtig zu verwenden.

Er erzählte mir, daß er sich seit geraumer Zeit vorbereite, aber bald sei er so weit und würde sein erstes Buch schreiben.

Schließlich kam ein Lastwagen, der die gestrandeten Bus-Passagiere mitnahm. Ich half den beiden, die schweren Büchersäcke auf die Ladefläche des Lastwagens aufzuladen und so gelangten wir in die Ortschaft, wo er und sein Freund – der einfach nur ein Dorfbewohner war, der ihm half, die Bücher nach Hause zu transportieren – hingelangen wollten. Wir aßen noch einen Imbiß zusammen, dann verabschiedeten wir uns. Ich nahm den nächsten Bus entlang der Hauptstraße, und er und sein Freund trugen die schweren Büchersäcke ein paar Kilometer bis in ihr Dorf, in ziemlicher Hitze, so um die 30 Grad.


Die Begegnung mit dem kubanischen Lehrer vom Fuße der Sierra Maestra gab mir sehr zu denken. Er hatte recht bei allem, was er sagte. Es ist nicht genug, immer nur aufzunehmen. Gut, ich habe einige wissenschaftliche Bücher veröffentlicht, über Themen, die nur einen sehr beschränkten Personenkreis interessieren. Aber wie viele interessante oder unterhaltsame Menschen habe ich kennengelernt, was habe ich alles von ihnen gelernt! Wie viel habe ich gesehen und gehört, und das will ich alles für mich behalten, als meine Privatsache? Und das, obwohl gerade meine Generation sich sehr wenig Gehör in der Welt verschafft hat? Ich schämte mich ein wenig vor dem kubanischen Dorflehrer, der sich unter so schwierigen Bedingungen sein Ziel gesetzt hatte und es stur verfolgte. Vielleicht hat er schon sein erstes Buch geschrieben. Und ich?

So entstand zumindest der Stachel, einmal ein Buch zu schreiben über die Lehren aus Gesellschaft, Kultur und Natur – das Thema ergab sich fast von selbst, als feststand, daß ich aus meinem Haus ausziehen mußte.

Das Haus, von dem dieses Buch handelt, ist im 3. Wiener Gemeindebezirk gestanden. Ich habe 21 Jahre in diesem Haus gewohnt und nichts von dem, was ich darüber berichte, ist erfunden. Ich habe lediglich die Namen geändert, da vermutlich nicht alle Beteiligten sämtliche sie betreffenden Geschichten einer breiteren Öffentlichkeit preisgeben wollen und sogar manche von ihnen einiges, das ich zur reinen Erbauung oder auch Aufklärung des Lesers in dieses Buch aufgenommen habe, als Rufschädigung empfinden könnten.

Die Anonymität, die ich daher den handelnden Personen großzügig verleihe, entspringt meinem Taktgefühl mindestens ebensosehr als der Angst vor rechtlichen Folgen!

Letzteres hat mich dazu bewogen, auch denjenigen, die schon verstorben sind, ebenfalls eine andere Identität zu verleihen.


Ein Haus in Wien

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