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Der Ausritt Die seltsame Geschichte der Sybille

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Der Fahrer des roten Golf Cabrio fuhr in gemäßigtem Tempo. Der Tag war jung und sommerheiß, so heiß wie er nur im Spätsommer sein konnte. Die Luft glich mit seiner morgendlichen feuchten Hitze zäh und klebrig wie schlabbriger Pudding. Sie barg schon jetzt Gewitterstimmung in sich, eine seltsame Konstellation bei strahlend blauem Himmel.. Unsichtbare Grillen rieben schnell ihre kräftigen Sprungbeine an ihrem citinharten Hinterleib. Diese unsichtbaren Gesellen schienen, eigens für das Cabrio fahrende Pärchen, ein vielstimmiges und recht emsiges Konzert einstudiert zu haben, das nun Premiere zu haben schien. Die weiten Felder, an denen sie entlangfuhren, die die Straße oftmals erst in letzter Sekunde sichtbar werden ließen, wogten ihr dunkelreifes, schweres hochträchtiges Korn; es roch nach Erntezeit. Sybille, eine schönes 19jähriges Mädchen mit ebenmäßigen Gesichtszügen, eigenwilligen vollen, sinnlichen Lippen und einer wallenden braun gelockten Haarpracht, lehnte sich entspannt in den Sitzen des Wagens zurück und blinzelte vergnügt mit ihren großen braunen Kinderaugen, unbeschwert ihrem neuen Freund Siegfried, dem Fahrer des Cabrios, zu. Seine Adlernase verlieh ihm gemeinsam mit seiner hohen und leicht nach hinten strebenden Stirn das heldenhafte Profil eines römischen Feldherrn und nahm Sybille gefangen. In seiner Ausstrahlung steckte etwas Rätselhaftes. Die junge Frau konnte dieses Rätsel einfach nicht lösen, so sehr sie auch darüber nachsann. Aber alles andere an ihm passte in ihr Bild. Ein Bild, das sie sich heimlich geschaffen hatte. Er entsprach dem Bild eines Männertypus, zu dem sie sich hingezogen fühlte, und das sie nun wie ein Madonnenbild verehrte. Selbst seine charmante Art zu reden oder sich einfach zu geben, sprach mit eifriger Zunge für ihre Bildschöpfung und gipfelte in einer charismatischen Ausstrahlung seiner selbst. Mit seinen unergründlichen, tiefen, grünen Augen, seinem Mund, der bei konzentriertem Nachdenken zuweilen hart wie ein Strich erschien, schlug Siegfried das Mädchen in seinem Bann, nahm es gefangen und ihr damit jegliche Möglichkeit, irgend etwas Böses zu ahnen.

War es nun von seinem Lachen, seinen schneeweißen Zähnen oder gar von den beiden tiefen Wangengrübchen verzaubert? Oder vielleicht in diesen Mann verliebt? Sybille fühlte sich mit ihrer „Alles-Auf-Eine-Karte-Strategie“ als junge, dynamische Frau mit allen Rechten auf ihrer Seite. Diese Strategie war unter den Mädchen angesagt, und stand voll im Trend der Zeit. Die Verfechterinnen dieser Taktik wussten, wann es an der Zeit ist zuzuschlagen, um sich den Anteil am Leben, der ihnen schließlich zustand, einfach zu nehmen. So auch Sybille! Ihre Vorsicht-Sicherung, die ihr Wesen normalerweise vor lauernden Gefahren warnt, schien es nicht mehr zu geben. Kann schon sein, dass diese ihr bereits seit Jahren einfach durchgebrannt war. Um Ersatz brauchte man sich da nicht zu bemühen, der ist ja mehr als flüssig und obendrein noch lästig!

So geschah es auch an diesem Sommertag.

Sybille besaß eine ganze Sammlung beruhigender innerer Stimmen. Sie dachte nur kurz:“ Egal, da wird schon nichts passieren mit so netter Begleitung an einem so herrlichen Sommertag.“ Sie schwieg und genoss den Augenblick ihrer Gefühle und Beobachtungen. Sybille wollte mit ihrer Devise: „Offen für Neues“ alle Türen geöffnet halten und keine Zuschlagen, bevor sie nicht die letzte Fun-Gelegenheit für sich abgeschöpft hatte...

So rollten das junge Pärchen durch die Landschaft und der heiße Wind zerteilte alle Gedanken, die warnten und am Ende nur noch störend waren.

Obwohl Sybilles Körpersprache ihrem Gegenüber mehr von sich verriet als tausend Worte, hatte sie beschlossen ihm noch nichts von ihrem „Bauch voller Ameisen“ zu verraten und schlug schließlich einen Ton an, der eher beiläufig klang: „Wie lange kennen wir uns denn eigentlich“? Siegfried ging auf das Spiel ein. Er beendete elegant die leicht angeschnittene Kurve und schaute angestrengt zur Uhr. „Oh, schon sehr lange“, erklärte er in gespieltem Ernst, „wir kennen uns jetzt genau 23 Stunden und warte“, er schaute noch mal auf seine Uhr, „41 Minuten“. „Es ist so ein tolles Gefühl,“ begann sie ungeniert zu schwärmen,“ es scheint so unwirklich gestern mit dir in der Disco und ist doch wahr“. „Und erst die letzte Nacht“, erwiderte er, „schien auch so unwirklich“, „und doch wahr“, hauchte die junge Frau und schaute verführerisch zu dem jungen Mann, der mit seinen 22 Jahren schon bedeutend reifer wirkte. „Mir ist, als ob ich Dich schon seit Ewigkeiten und nicht erst seit knapp 24 Stunden kenne“. „Meinst Du“, entgegnete er und sah sie tiefgründig an. Sie begegnete diesem Blick. Plötzlich schien neben ihr ein anderer Mann zu sitzen, der in keine ihrer bekannten Erscheinungen passte. Es war nicht Siegfried sondern ein greiser Mann, der in einer Kleidung steckte, die ihr total eigentümlich und fremd anmutete. Sein langnasiges, verhärmtes Gesicht war umrahmt von einem struppigen Bart, der in vielen kleinen Löckchen gekräuselt und genauso weißgrau wie sein Haar war und oberhalb des Gürtels endete. Aus dem langen Haar schauten zwei sorgsam geflochtene Zöpfe hervor, die sich gemeinsam mit der restlichen Haarfülle unter einem nach vorn spitz zulaufenden Filzhut von olivgrüner Farbe verbargen. Das gleichfarbige Gewand verführte seine Betrachterin, trotz seines einfachen Schnittes, zu der Annahme, dass sein Besitzer von nobler Herkunft sein muss. Dieses Gewand hatte der Greis einfach und ungeniert über den Körper geworfen, an Brust und Armen leicht gerafft, und endete in weitausladenden Ärmeln, aus denen zwei kräftige Unterarme schauten. Sybille wurde von dieser Erscheinung seltsamerweise kaum berührt. Kein schlagartigen Gefühle der Angst oder gar der Hysterie, die vielleicht bei solch eine prekäre Situation unabdingbar wäre, nein, das Mädchen war erfüllt mit Ruhe und Gelassenheit. Sie besaß obendrein noch die Fähigkeit, diese Situation zu beurteilen. Sie dachte übermütig: „Hops, machen wir jetzt auf David Copperfield?“.

Doch war diese Reaktion normal?

Und: von der Körperlichkeit des Greises ging ein sonderbarer Duft aus, der Sybille fast den Atem nahm. Und der Duft glich dem einer Lotusblühte nur noch um ein vielfaches Intensiver. Er war einzigartig, er war verführerisch. Sie konnte gar nicht anders als sich im Sitz zurückzulehnen und die Augen zu schließen „Ja, ich bin deine Edelfrau“ flüsterte sie als ob sie eine Frage beantwortete. Ihr Busen begann sich schneller zu heben und zu senken. Kleine spitze Schreie entflohen ihrem Mund. Sie warf den Kopf hin und her und begann noch heftiger zu atmen. Sie sog diesen Duft ein, dessen Quelle sie nicht kannte, und von dem sie trinken wollte - trinken bis zur totalen Erschöpfung. Willenlos gab sie sich den Geschehnissen hin.

Konnte sie dem noch entfliehen? Ja, wollte sie denn überhaupt?

Sie spürte wie die Säfte aus jeder Faser ihres Körpers zu fließen begannen, wie sie wild durch ihren gespannten Leib rasten, um sich im übererhitzten Zentrum ihres Ichs zu sammeln, dorthin, wo sie, wie in einem Geysir bereit standen, um heiß und explosionsartig auszubrechen.

Ihr Leib zuckte, wie unter tausend Qualen!

Das Herz pulsierte heftig in ihrem Schoß aus dem sich wohlige Strömungen (gleich glühendem Magma aus dem Inneren eines Vulkans) in ihre steigende Flut der Leidenschaft ergossen! Mit weit übergestrecktem Kopf, glich sie einer Ertrinkenden, die, wie dieser Flut entstiegen, nun dem Leben wiedergegeben war. Sie atmete ganz schnell, sie schrie kehlig laut, temperamentvoll und immer heißblütiger! Immer ungestümer und heftiger. Sie flüsterte, klammerte sich mit der linken Hand fest an Siggis Arm, warf den Kopf vor-zurück und wand sich unter wilden, erregten Schreien. Die Schenkel waren ihr auseinandergeglitten. Wild hob und senkte sich ihre Brüste, die drohten, das leichte Sommerkleid zu zerreißen. Dann durchfuhr ihr Körper ein stummer Schrei, dessen Echo sich vieltausendfach in ihrem Leib brach! Sie hielt die Luft an. Und mit einem mächtigen Zittern entspannten sich Seele und Leib, wie in vielen, kleinen Explosionen! Sybille hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie wusste nichts mehr, hatte die Augen geschlossen und genoss einfach das Abklingen dieses wilden Szenarios. Sie hatte keine Gedanken mehr und trieb wie eine leblose Puppe in die beginnende Ebbe dieser Erregung! Sie wollte auch gar nicht wissen. Der Greis hatte sie nicht einmal berührt! Egal, es war hundert Mal schöner gewesen als in der vergangenen Nacht! Wie konnte das nur geschehen? Doch Sybille war nicht mehr in der Lage darüber nachzudenken. Sie wollte auch nicht! Es war wunderschön. Nur das zählte.

Ermattet lehnte Sie sich zurück. Doch nicht lange und sie erschrak plötzlich wie eine, die aus einem Traum gerissen wird oder wie eine, die blind war und nun sah: „Was ist nun mit diesem alten Mann, der plötzlich den Wagen fährt? Wo ist Siggi?“ Ihr saß die pure Angst im Nacken! Oder war es Scham? Oder war alles nur ein irrsinniger Traum? Sybille wagte nicht ihre Augen zu öffnen. Sie spürte, wie der Wagen fuhr. Nur die Geräusche des Motors und die Rollgräusche der Pneus auf der Straße waren zu hören. Sie überwand ihre Furcht und schaute vorsichtig zu ihm rüber. War sie nun erleichtert oder enttäuscht? Diese Frage konnte sie sich selbst nicht beantworten: am Steuer saß Siggi und verschwunden war der Alte mit seinem süßen Duft. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt.

Mit hochrotem Kopf sinnierte sie: „ Hier so ein Zirkus aufzuführen, hier neben meinem neuen Freund. Ich glaube ich muss mich jetzt bei ihm entschuldigen“ Sie nahm allen ihren Mut zusammen und begann: „Du Siggi, entsch...“ Doch die Stimme erstarb ihr im Satz, denn er zeigte keine Regung, die irgendeine Anteilnahme an den Geschehnissen in sich barg. Nichts, kein Wimpernschlag, kein Wort, keine Körperbewegung oder -Haltung ging von ihm aus. Hatte sie alles nur geträumt? Ein wilder orgastischer Traum? Sie schloss irritiert die Augen und hörte nur von ihm: „Manchmal lernt man sich in 24 Stunden besser kennen, als in einem ganzen Leben“! Bingo - voll daneben! So schien es ihr, sie verstand diese Worte nicht und quittierte, diese für sie vollkommen deplatzierten Laute mit einem gequälten Lächeln.

„Was meint er wohl damit“, dachte sie, „hat er etwa nicht bemerkt, hat er nicht gesehen, wenigstens gespürt oder gehört, wie ich mich aufgeführt habe? Es ist schon klar, dass er mein Gefühl in diesem Augenblick nicht teilen konnte. Wie auch?“ Sie zuckte verständnislos mit den Schultern! „Aber er muss doch bemerkt haben, wie ich fast vergangen bin vor Wohlgefühl?“ Sie nagte an ihrer Unterlippe und sann über das Geschehene nach. „War Siggi dafür verantwortlich? Wie hätte das denn funktionieren sollen - bei voller Fahrt? Was ist nun mit dem Greis? Habe ich das alles nur geträumt oder bin ich jetzt schon verrückt!“ Sie verwarf aber sofort wieder ihre Gedanken und setzte sich betont lässig die Sonnenbrille vor die Augen, schwieg und der Wagen rollte weiter. „Wollen wir den nächsten Feldweg abbiegen, um uns ein schattiges Fleckchen auf einer Wiese zu suchen?“, fragte sie und war im selben Augenblick verwundert über ihre Frage, eine Frage, die sie eigentlich gar nicht stellen wollte. „Eine gute Idee“, erwiderte er „ich glaube da vorn biegt schon einer ab. Es ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen ist das nicht herrlich, los das machen wir!“.

Gesagt getan. Der Wagen bog von der, vor Hitze fast schmelzenden, Asphaltdecke ab und lenkte auf einen sehr holprigen und staubigen Feldweg ein. „Dort hinten ist eine saftige Wiese und gleich dahinter beginnt ein schattiges Wäldchen“, erklärte Siegfried, der diese Gegend zu kennen schien, und er schnalzte so seltsam mit der Zunge. Sybille durchfuhr dieses Schnalzen total eigentümlich und sie spürte, wie irgendetwas Unsichtbares von hinten über ihren Hals zu kriechen begann. Im ersten Augenblick dachte sie: „was ist denn jetzt schon wieder los?“ Doch sie achtete nicht weiter darauf, sondern erklärte nur: “Du hast Recht, das wird ein gutes Fleckchen für uns sein“, und erschauerte im selben Augenblick über ein neues völlig unbekanntes Gefühl in ihrer Brust. Sie begann nun ernsthaft über diese seltsamen und ihr fremd anmutenden Angewohnheiten dieses Menschen, der sich Siegfried oder wie auch immer nannte, nachzudenken. Sein seltsames Verhalten, das eben Geschehene oder seine Art, wie er plötzlich sprach oder sich gab, wurde ihr immer geheimnisvoller. Und dennoch: „Ein cooler Typ“, dachte sie und verdrängte das eben Erlebte, „mit so tollen Liebestricks, wie einer, der zaubern kann! Und nach einer Weile (völlig unvermittelt) ganz leise: „Ja, ich will Deine Stute sein!“Was sollte das denn schon wieder sein? Sie kicherte wie verwirrt vor sich hin und schaute hoch zu den Wolken, die sich bereits zu handfesten Gewitterwolken dunkelblau aufgetürmt hatten. Ihre Skrupel waren wie ausgelöscht.

Nach einer kurzen Zeit schaute sie erneut zu ihm und es trafen sich ihre Blicke. Nun erschrak sie vollends. Was waren das da für Augen, die sie da anblickten. Geheimnisvoll, unerklärlich, wie zwei tiefe Abgründe. Sybille musste wegschauen, weg von diesen Augen, die nicht mehr grün sondern eher schwarz schienen. Sie spürte, dass von diesen Augen etwas Unheimliches aber auch etwas Wunderbares ausging. Sybille riss sich eine Sekunde davon los! Doch ihr Blick wanderte wieder hinüber zu ihm, sie konnte von diesem Mann nicht mehr lassen! Wie eine Unbeteiligte, die im Kino nur als Zuschauer die Handlung verfolgt, spürte sie den Beginn einer unbekannten Wandlung in sich. Sybille saß plötzlich wie neben sich selbst. Sie bemerkte zwar wie der Wagen seine Fahrt verlangsamte und schließlich in einer mächtigen Staubwolke anhielt. Sie registrierte zwar noch alles, was um sie herum geschah, befand sich jedoch urplötzlich nicht mehr in der Lage irgendein Ton, geschweige denn ein Wort sagen zu können.

„Sybille wir sind da“, rief Siegfried euphorisch, der ihren veränderten Zustand überhaupt nicht zu bemerken schien, und sprang aus dem Wagen, um ihr die Tür zu öffnen. Sybille stieg, wie eine hölzerne Marionette aus und stand völlig unbeteiligt vor ihrem Freund. Sie war von einer Sekunde auf die nächste wie in einen tiefen Strudel der Gefühle und Geschehnisse gestürzt. Ein Strudel, der sich ihrer bemächtigt hatte, und der sich nun um sie herum gegenläufig zu bewegen begann. Immer schneller und schneller. Schneller als ein Karussell auf einem Volksfest und rasanter, als eine Loopingbahn in einem Freizeitpark. „Wie ist mir nur“, dachte sie bestürzt, “was ist mir nur so fremd an dieser Situation. Siegfried, Greis, das Cabrio, die ganze Gegend und ich, alles ist so traumatisch verzerrt, ist so anders. „Hilfe“, rief sie in ihrer großen Not, „kann mir den niemand helfen?“ Sie wusste aus Ihrer Konfirmanden-Zeit, dass es einen Gott geben soll aber auch seinen Gegenspieler den Teufel! “ Nein lieber Gott, Du kannst mir so etwas nicht antun. Bitte, bitte stehe mir bei und hilf mir! Nimm den Teufel weg von mir! Ich glaube, ich habe mich mit dem eingelassen! Ist dieses Wesen da der Teufel? Aber ich wusste das doch nicht, bitte bitte hilf mir“! schrie ihre innere Stimme, die nichts Gutes ahnte, laut und eindringlich.

Sie schluchzte laut und voller Verzweiflung: “ wenn Siegfried nur noch einmal mit der Zunge so komisch schnalzt, dann geschieht irgend etwas mit mir, was ich nicht mehr kontrollieren kann“. Und weiter wie ein trotziges und bockiges kleines Kind: „Ich weiß es genau, denn ich fühle das. Ich fühle mich so seltsam, wie noch nie in meinem ganzen Leben und ich kann überhaupt nichts gegen diesen Zustand unternehmen. Irgendwie ist alles so seltsam beklommen, aber dennoch ungemein schön, so schön wie eben oder so schön wie in der letzten Nacht...!“ Auf einmal interessierte Sybille die Wiese, auf der sie standen, am vordringlichsten. Das saftige Gras, die bunten Blumen, der frische Duft von Gras und Erde: nur das schien wichtig; alles andere hatte sie einfach vergessen. Siggi, Greis, Gott, Teufel, Liebe, Cabrio, Sommer, Hitze, Grillen - ja ihre eigene Existenz war in ihr wie erloschen. Einzig und allein die Wiese und das widernatürliche Verlangen von diesem Gras zu essen, ja zu essen, sich einfach auf allen Vieren niederzulassen, um genüsslich Gras zu kauen, standen im Mittelpunkt ihres Denkens. Nur einmal noch, wie von ferne, hörte sie ihre eigenen Worte:

Was geschieht nur mit mir“,

Siegfried, der Sybille die ganze Zeit über beobachtet hatte, fragte mit einer unheimlich aber dennoch gleichgültigen Stimme: “Wollen wir einen kleinen Ausritt machen?“ Plötzlich begannen sich, so als hätte sie nur auf dieses Wort von ihm gewartet, Sybilles Nasenflügel heftig zu dehnen und zu schließen. Sie sog die Luft ein, wie eine Erstickende, die ihr nahes Ende spürt... Sie fühlte sich plötzlich wie beengt in ihrer Haut, in ihren Kleidern. Wie im Traum fuhr sie sich unter die Kleidung und fuchtelte wild umher. Sie schien die Kontrolle über ihre Hände gänzlich verloren zu haben. Dennoch, Sybille wollte antworten, weil sie nichts von diesen Geschehnissen begriff:

Womit wollen wir denn reiten, wir haben doch überhaupt keine Pferde?“.Aber aus ihrem Mund kam nichts weiter als ein klägliches Wiehern und Schnauben“. Sie schüttelte heftig mit dem Kopf. Sollte heißen:“Was machst Du mit mir! Nein, ich will das nicht“, jedoch ein heftiger Speichelfluss trat aus ihrem Mund und Ihre braunen Locken flogen wie wild um ihren Kopf. Sie wollte davonlaufen! Doch Ihre Füße schlugen und scharrten immerfort auf dem Gras. Sie wollte schreien! Doch sie wieherte. Sie wollte kämpfen! Doch ihre Bewegungen erstarben langsam. So lange, wie Ihre Augen auf Siggi gerichtet waren, dann erstarrten sie. Sklavisch auf ihn gerichtet!

Dieser schnalzte erneut so seltsam mit der Zunge und wiederholte im selben monotonen Tonfall wie zuvor: „Wollen wir einen Ausritt machen“, und schaute Sybille unverwandt an. Und Sybille erwachte plötzlich aus ihrer Starre: Alles ging sehr schnell: So begannen sich ihre Hände, die eben noch wild an ihrem schulterfreiem Sommerkleid unschlüssig herum genestelt hatten, selbstständig zu werden. Sie fetzten jede Faser Stoff von ihrem Körper. Sybille ächzte und stöhnte, schrie und stampfte. Sie kämpfte gegen die Macht, die sie zwang nicht mehr aufrecht auf ihren Beinen stehen zu dürfen: Doch dieser Kampf währte nicht lange! Sybille sank geschlagen, bebend und stöhnend mit unschuldigem bittendem Blick ihrer großen braunen Kinderaugen splitterfasernackt auf ihre Hände und Füße. Dabei musste sie ihren Kopf immer aufwärts gerichtet halten, aufwärts im Blickkontakt zu ihm. Von diesen Augen ging alles aus! Sie befahlen nunmehr Sybilles Körper. Unsichtbar und unvermeidbar. Ihr Leib zitterte erneut doch diesmal anders: er dehnte und streckte sich. Sybille hob den Hintern, wie für die Liebe einem unsichtbaren Galan entgegen, jedoch ihr Po platzte aus allen Nähten, er wurde prall und voll und bald geziert von einem langen Pferdeschweif. Sybilles Hände, Arme, Oberschenkel und Füße veränderten sich zu schlanken Vorder- und Hinterläufen und formten sich hinab zu vollendeten Fesseln und Hufen. Das Gesicht, die nunmehr traurig und hilflosen Augen, die Augenbrauen, die Nase, die Wangenknochen, Ohren, Haare kurz der ganze Kopf verlor die natürliche Schönheit des Mädchens, verlor alles Menschliche und wich unausweichlich einem Pferdekopf. Ihre (plötzlich wie im Milchfieber) angeschwollenen Brüste barsten und schoben sich zu einem mächtigen Brustkorb auseinander. Der zarte Flaum ihrer Haut, die Kopf-, Achsel- und Schamhaare schlossen und vereinigten sich auf ihrem Leib zu dem dichten Fell eines Pferdes. Doch das alles währte nur wenige Sekunden und es gab dieses Mädchen nicht mehr, das Mädchen, das sich gegen diesen Pferdeleib so gewehrt hatte. Alles hatte nichts geholfen; Sybille stand da stolz und makellos als wunderhübsche rehbraune Stute, mit Flanken, die schweißnass weißschaumig dampften, und die sich im Schein der heißen Augustsonne wiederspiegelten. Sie schnaubte wild durch die Nüstern, schlug mit wehender Mähne heftig mit den Kopf auf und ab, kratzte mit den Hufen tiefer Löcher in die Grasnarbe und stieg wild wiehernd steil in die Höhe. Siegfried beobachtete sie sichtlich zufrieden lächelnd und ließ sie einen Augenblick gewähren. Schließlich zog er sie sanft herab, nahm sie nah zu sich heran tätschelte ihr den Hals und flüsterte ihr ins Ohr: „Ruhig meine Sybille jetzt bist Du meine schöne Stute und ich kann Dir etwas zeigen, was Du noch nie zuvor gespürt oder erlebt hast. Wollen wir einen kleinen Ausritt machen?“ Das hatte Sybille bereits zweimal an diesem Tag gehört. Nun klang es jedoch, so ruhig und vertrauenserweckend vorgetragen, irgendwie befreiend; denn: sie besaß nur noch den Drang zu laufen, laufen und laufen - einfach wegzulaufen. Die Stute Sybille wirkte immer noch stark beunruhigt, warf den Kopf, schlug mit dem Schweif und schlug heftig mit der Hinterhand. Siegfried schwang sich auf ihren sattellosen Rücken, trieb seine Fersen sanft aber bestimmt in ihre Flanken und stob mit ihr über die saftige Wiese dem schattigen Wäldchen entgegen.

Sie warf sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. Kopf, Armen und Beinen alles arbeitete in hektischer Betriebsamkeit und ihr Busen hob und senkte sich schwer, wie bei einem Kampf auf Leben und Tod. Das Laken ihres Bettes lag zerknittert am Fußende. Die Stirn von der jungen schönen Frau erschien mal zerfurcht, wie ein aufgewühltes Meer, mal glatt, wie ein See und trug zahllose Schweißperlen. „Siggi, was machst Du mit mir?" Erschrocken öffnete Sybille die Augen weit. Fassungslos regten sich stumm ihre Lippen. Sie lag allein in Ihrem Bett. Sybille war nackt. Sie schloß die Augen wieder, öffnete sie. Was ist geschehen“, dachte sie aufgewühlt. Können Träume so realistisch sein?“ Ihre Augen schlossen sich erneut und ihre Hände fuhren an den Konturen Ihres Körpers herab. Sie fühlte ihre Wangenknochen, strich über das volle braungelockte Haar, glitt herab vorbei an ihrem Mund, Nase, Ohren, Kinn, Hals, Schlüsselbein, Brüste, Bauch Hüfte, Oberschenkel...alles da. „Ich bin ein Mensch“, dachte sie verblüfft und gleichzeitig beruhigt, „aber was war das nur für ein seltsamer Traum gleichermaßen dramatisch, wie schön?“ Plötzlich ergriff sie eine riesengroße Furcht. Eine Furcht, die ihr jäh drohte das Herz abzudrücken: „Wenn ich jetzt reden will und ich kann es nicht. Wenn ich nun stattdessen wiehere wie ein Pferd?“ Nicht auszudenken, in ihrem Innerem lachte sie hysterisch.“Los trau Dich“, rief ihre innere Stimme laut gegen Hysterie und Furcht ankämpfend.

Im selben Augenblick glitten ihre Hände streichelnd unter die Zudecke...Sie hatte da etwas entdeckt. Wie ein Indiz in einem Kriminalfall? Liebevoll ließ Sie dieses Indiz sanft erschauern. Nun dachte sie angestrengt nach, zog ihre Knie ganz dicht zum Körper und die Stirn Graus. „Wie kann denn so etwas nur sein?“ So saß sie von Selbstzweifel und Ungewissheit geplagt eine lange Zeit und plötzlich schoss es ihr durch den Kopf: „Wenn es kein Traum war: wo ist Siggi. Wenn es ein Traum war: mit wem habe ich geschlafen?“. In dieser Sekunde kam die volle Erinnerung, die wie ein Lichtstrahl auf ihr Denken fiel. Sie hatte alles begriffen, was mit Ihr geschehen war. Alle Pein und alle Qualen waren vergessen. Was wogen die schon gegen dieses Abenteuer! War ich eine Stute?“ Sie lachte und begriff es nicht.„Siggi, bist Du auf mir davongeritten?“ Sie lachte erneut, doch es gab keine Antwort! „Ein Wahnsinn! Das gibt es doch gar nicht!“, zweifelte sie. „Waren wir an der Lichtung am Waldrand?“, sinnierte sie. „Hast Du mich dort weiden lassen?“ Sie grübelte. „Und der Hengst neben mir! Warst Du das etwa?“ „Ach das kann doch alles gar nicht wahr sein. Sag, dass das nicht wahr gewesen ist! Unglaublich! Ich habe doch verstanden, was der Hengst mir ins Ohr geschnaubt hatte?“. Aber ich weiß es nicht mehr, ich weiß es nicht mehr!, aber ich weiß noch und habe gespürt, wie dieser Hengst auf mich aufsprang und in mich eindrang! Immer und immer wieder.“

Sie schlug sich mit den Fäusten gegen die Stirn! So, als wolle sie mit Gewalt ihre Gedanken ordnen Dann lösten sich ihre Hände, um unter der Zudecke miteinander zu verschmelzen. „Was weiß ich überhaupt noch?“ Sybille resignierte. Jedoch ihre Gesichtszüge, ihr Körper und ihr Inneres begann sich langsam und zu entspannen. Wieder schüttelte Lachen ihren Körper. Irgendwie befreiend. Doch es schien so, als wolle es ihn zerreißen. Ohne dass sie es spürte begannen ihre Gedanken und Erinnerungen an diese unglaublichen Geschichten langsam, wie die fliehende Nacht vor dem erwachenden Morgen, zu verlöschen. Mit weit aufgerissenen Augen lag sie da. Sie dachte vollkommen ruhig über die Geschehnisse oder Nichtgeschehnisse nach. Doch alles entglitt ihr. Nichts wollte sich fortan klar und deutlich zu einem fassbaren Gedanken oder gar Satz fügen lassen. Ihre braunen Augen blickten unstet von einem Winkel des Zimmers zum nächsten, Augen und Mund verklärten sich. Sie dehnte ihren makellosen Körper, als ob sie ihn zerreißen und aus seiner Balance bringen wollte. Sie drehte sich blitzschnell und stützte sich auf Hände und Knie. So verharrte sie eine sehr lange Zeit. Bis sie eine maßlose und seltsame Sehnsucht befiel. „Gras schmeckt bestimmt gar nicht so übel!“. Sie hörte Ihre eigenen Worte, lauschte Ihnen nach und wunderte sich darüber. “Warum können Menschen eigentlich nicht wiehern, wie die Pferde“, enttäuschte sich Sybille und schnaubte gedankenverloren leicht durch die Nase, "Siggi..., Du verrückter, Du Edelmann, Du Hengst - wo bis Du, ich will Deine Edelfrau sein?“ Der Wind blähte von hinten leicht die Gardine im Zimmer.

Sie war so in ihren Gedanken gefangen, dass sie nicht die drei langen Rosshaare sah, die im Spiel des Windes leicht und geräuschlos am Kopfende ihres Bettes hin und her schwebten...

Mysterien des Alltags

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