Читать книгу Sieben Tage - Andreas Marti - Страница 9

Оглавление

Montag

Es war Punkt Zwölf Uhr Mitternacht. Frank lag am Boden und versuchte verzweifelt einen klaren Kopf zu kriegen. Einen klaren Gedanken zu fassen… Sich zusammen zu reißen… …und aufzustehen. Er nahm alle Kraft zusammen und erhob sich.

Er fühlte sich irgendwie benommen. Verunsichert über das gerade Geschehene begab sich Frank in Richtung Auto. Er näherte sich mit leicht verschwommener Sicht der Zapfsäule, andauernd gegen das mangelnde Gleichgewicht ankämpfend. Als er das Rauchen verboten Schild sah schnaubte er und steckte sich eine von den vorhin gekauften Zigaretten an. Die Suche nach einem Feuerzeug blieb erfolglos.

»Bitte sehr«, hauchte ihm eine weibliche Stimme in den Nacken. Eine etwa dreißigjährige rothaarige Frau streckte ihm ein zerknittertes Briefchen hin. Ihre Augen trafen sich für eine lange Zeit. Frank nahm dankend das Streichholzbriefchen an sich und rang sich zu einem etwas aufgesetzt wirkenden Lächeln durch. Er zündete unbeholfen die Zigarette an. Die Frau war bereits auf der anderen Seite der Zapfsäule bei ihrem eigenen Wagen angelangt, als er ihr das Briefchen zurückgeben wollte.

»Behalten sie sie«, antwortete sie ihm, »bis dann Steve.«

»Steve??« wunderte sich Frank, »mein Name ist nicht Steve.« Doch sie war längst davon gebraust. Der Name Steve durchbohrte eisig seinen Körper. Steve… er kannte keinen Steve. Doch der Name ließ ihn erschaudern. Irgendetwas Unheilvolles war mit dem Namen Steve verbunden. Und er würde bald erfahren was…

Frank saß in seinem Kabriolett und atmete tief durch, bevor er sich an die Weiterfahrt machte. Er startete den Motor, legte einen Gang ein und gab Gas.

Waren es die Benzindämpfe? Überarbeitung… Übermüdung…? Doch seine Überlegung wurde von scheinbar wichtigeren Gedanken verdrängt. Er konnte sich nicht helfen. Aber dass ihn die Frau von vorhin Steve genannt hatte beschäftigte ihn mehr, als die Tatsache dass er ohne wirklichen Grund zusammengebrochen war. Steve…

Frank entschied sich schließlich, einfach umzukehren. Die Vorstellung an sein warmes, weiches Bett mit seiner Frau Sarah daneben übertrumpfte selbst die Gedanken an Steve.

Schließlich bog Frank in seine Straße ein. Als er die Einfahrt herauf fuhr betätigte er die Fernbedienung zu dem Garagentor. Doch nichts geschah. Er versuchte es ein weiteres Mal. Verdammt. Wieso muss man bei diesem scheiß Ding einmal die Woche diese gottverdammten Batterien wechseln…? Seine Laune schien von Sekunde zu Sekunde schlechter zu werden.

Frank legte den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Er riss das Lenkrad herum und brachte schließlich den Wagen mit einem unsanften Bremsmanöver zum stehen. Erst jetzt als das Dröhnen in seinem Schädel wieder lauter wurde, bemerkte er, dass es die ganze Zeit nie ganz weg gewesen war. Er schwang sich aus dem Kabriolett, ohne sich die Mühe zu machen die Tür zu öffnen oder das Verdeck zu schließen.

Er öffnete das wie immer quietschende Gartentor. Wann hatte er es das letzte Mal benutzt? Normalerweise kam er nie zu Fuß nach Hause. Deshalb machte Frank immer von der Tür Gebrauch, die von der Tiefgarage direkt ins Treppenhaus führte. Er bewegte sich, immer noch etwas benommen, auf seine Haustür zu. Frank kramte nach seinem Schlüssel und ließ ihn in dem Moment wo er ihn zu fassen kriegte zu Boden fallen. Er hob ihn auf und presste ihn, die Hand zu einer Faust geballt, in seine Handflächen. Frank stand vor der Haustüre und wollte sie gerade aufschließen, als eine weitere Welle dieses Dröhnens Besitz von seinem Schädel – Besitz von seinem Verstand – ergriff. Er versuchte das Dröhnen abzuschütteln und steckte seinen Schlüssel in das Schlüsselloch. Doch als er Ihn bis zur Hälfte in das Loch gesteckt hatte, ging es nicht mehr weiter. Der Schlüssel passte nicht. Der verfluchte Schlüssel will nicht passen. Habe ich mich im Haus geirrt? Nein, ich erkenne doch meine eigene Haustür…!! Ich kenne diesen alten zerbrochenen Blumentopf mit der verdorrten Pflanze, die Sarah letzten Sommer mit nach Hause gebracht hatte. Er kannte diese alte, verrottete Fußmatte mit dem kaum noch lesbaren Willkommensschriftzug. Die Matte, auf der bereits dutzende von Bekannten, Verwandten und Hausierern gestanden hatten um ihren Schmutz abzuladen. Gott… Was ist hier los?

Er ging um den Wohnblock herum, zur Treppe die runter in die Waschküche führte. War die Batterie doch nicht leer…? Trotz dieses Gedankens wurde er mit jeder Stufe die er nahm zuversichtlicher, dass bei dieser Tür sein Schlüssel passen würde. Das Schloss der Vordertür ist bloß verklemmt. Ich darf nicht vergessen morgen den Schlüsseldienst anzurufen. Verdammt! Sein Schlüssel wollte auch an der Hintertür nicht passen. Jetzt ganz ruhig bleiben. Träume ich? Wahrscheinlich einer dieser Träume, irgendwo zwischen Trancezustand und wach sein. Frank hielt inne, schaltete ab. Er wusste nicht wie lange er so da stand. Doch eine plötzliche Idee riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Seiner Idee folgend hastete er die Treppe hinauf, ging um das Gebäude zur Vordertür.

Frank suchte die Chromstahlabdeckung nach der Klingel mit dem Namen Marshall, seinem Namen, ab. Er würde klingeln. Sarah würde ihm mit dem Summer die Tür öffnen und alles würde sich aufklären. Sarah hätte wie immer eine völlig plausible Erklärung bereit. VERFLUCHT. Frank war nicht im Stande die gewünschte Klingel zu finden. Die Welt um ihn fing an sich zu drehen. Der letzte Versuch einen klaren Kopf zu behalten ging schief. Das ganze kann nicht war sein. Es muss sich um einen Traum handeln…

»Sarah!« rief Frank. Er bewegte sich ein paar Schritte von der Fassade weg, um seine Wohnung besser überblicken zu können. Frank beobachtete die Fenster. Doch nichts geschah. Er nahm noch mal alle Kraft zusammen und schrie zum wiederholten Mal: »Sarah!«

Nicht dass Frank wirklich eine Reaktion erwartete. Doch er musste es noch einmal versuchen.

»Sarah!!«

Das Dröhnen in seinem Kopf wurde lauter. Und lauter… lauter…

Er torkelte geistesabwesend zu seinem Wagen. Nachdem Frank sich wieder in seinen Saab geschwungen hatte, saß er hinter dem Steuer auf den Ledersitzen des Kabrioletts. Er begann zu zittern. Seine Atmung wurde unregelmäßig. Irgendetwas war geschehen. Er suchte nach dem Schlüsselloch. Nach zwei, drei Versuchen glitt der Schlüssel in den Schlitz. Der Wagen startete und der Motor heulte auf. Frank raste hinaus in die Nacht…

Wind… Abgasgeruch… Erinnerungen… Gute Erinnerungen… Verwirrung…. Traum…? Motordröhnen… Dröhnen… Aber hauptsächlich… Verwirrung…

Frank bog nach rechts ab. Er war am Ziel. Quer auf dem Bürgersteig brachte er den Wagen zum stehen.

Er ging an Bäumen vorbei. Überquerte eine feuchte Wiese und einen schmalen Gehweg. Er hielt immer auf sein Ziel zu. Bis er schließlich bei der Parkbank ankam. Ein fassungsloser Frank ließ sich schwer darauf nieder und schloss seine Augen. Es muss eine plausible Erklärung geben. Es gibt immer eine logische Erklärung… Immer… Grenzenlose Erschöpfung überkam ihn. Es wurde immer schwieriger sich wach zu halten. Morgen. Morgen würde alles besser sein. Vielleicht war morgen alles vorbei. Vielleicht wachte er morgen zufrieden und erleichtert neben Sarah auf. Und alles war wirklich nur ein Traum gewesen… Oder zumindest würde er wieder einen besseren Überblick über die ganze Situation gewinnen. Er würde eine Lösung suchen… Und schließlich eine Lösung finden……

Etwa um 7:30 morgens öffnete Frank langsam seine Augen. Die ersten Sonnenstrahlen blendeten ihn. Er blinzelte verschlafen in das grelle Licht. Sein Rücken schmerzte von der Nacht auf der Parkbank. Frank richtete sich langsam auf und gähnte herzhaft. Er fühlte sich wohl. Ein leichtes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Die Erinnerungen an gestern Abend waren langsam wieder zurückgekehrt. Jedoch waren sie in etwa so klar, als würde er sich am Tag nach einer alkoholdurchtränkten Party versuchen an die letzte Nacht zu erinnern. Sogar die Kopfschmerzen und das leichte Dröhnen stimmten mit dem Vergleich überein.

Jedoch war sich Frank sicher dass alles nicht so schlimm war. Er schaute auf seine Uhr. In dreißig Minuten musste Frank bei der Arbeit sein. Er konnte schlecht am ersten Tag der Woche zu spät zur Arbeit erscheinen. Nach Feierabend würde er einfach nach Hause fahren, und alles wäre wie immer. Sarah würde ihn nach ihrem freien Tag herzlich empfangen und ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund geben. Und alles wäre in Ordnung. Mit abwesendem Blick beobachtete er eine Zeitlang eine Gruppe von Kindern, die auf dem Weg zur Schule waren.

Langsam wurde Frank klar, dass er sich beeilen musste. Es blieben ihm nur noch fünfundzwanzig Minuten bis zum Arbeitsbeginn. Allein der Weg von hier zu seinem Büro dauerte zwanzig Minuten.

Als er sich schließlich zügig auf den Weg machte erinnerte sich Frank an sein unglücklich geparktes Auto. Es war wahrscheinlich schon längst abgeschleppt worden. Er müsste den Bus nehmen. Dann der Strafzettel von der Polizei und die Rechnung des Abschleppdienstes… Er schlug sich diese Gedanken aus dem Kopf und hoffte einfach dass der Wagen noch dastand. Wie durch ein Wunder befand sich der Saab tatsächlich noch an derselben Stelle wo er ihn abgestellt hatte. Zufrieden öffnete er die Tür und setzte sich hinein. Sogar das Autoradio war noch da. Trotz geöffnetem Verdeck und obwohl er sich in L.A. befand. Heute ist mein Glückstag!

Als sich Frank auf der Hauptstraße im allmorgendlichen Stau befand bemerkte er, dass er schlecht in dieser Aufmachung im Büro erscheinen konnte. Jeans und ein leicht verschmutztes blaues Shirt. Unter normalen Umständen wäre er trotz dem Zeitmangel nach Hause gefahren und hätte sich umgezogen. Doch Frank hatte Angst davor nach Hause zu fahren und zu entdecken dass alles noch genau so war wie letzte Nacht. Sein Schlüssel würde nicht passen, der Garagentoröffner würde nicht funktionieren. Und weder sein Namensschild an der Klingel, noch Sarah wären auffindbar. Tief im Inneren wusste er dass er sich vorhin etwas vorgemacht hatte. Er wusste dass der Gedanke dass wieder alles so wie früher ist, eine bloße Illusion war. Früher… Wie lang ist früher her?

Frank versuchte möglichst schnell zu dem Kleiderladen seines Vertrauens zu gelangen, wo er immer seine Anzüge kaufte. Das war der Vorteil wenn man über einen so vielstelligen Kontostand verfügte. Er konnte es sich leisten, einfach einen neuen Anzug zu kaufen. Nach etwa zehn Minuten und diversen Abkürzungen war er schließlich am Ziel angelangt. Jetzt musste sich Frank beeilen.

Seit fünf Jahren kaufte Frank immer denselben Anzug. Weshalb die Suche nach einem passenden Modell nicht allzu lange dauern sollte.

Er stand nun an der Kasse. Frank hatte erwartet, dass ihn die hübsche Kassiererin wie immer anlächelte und fragte wie es ihm ginge. Doch sie schien ihn gar nicht zu erkennen. Deshalb machte er den ersten Schritt und begrüßte sie freundlich.

»Hi Sharon. Wie geht’s ihnen heute?« fragte er sie. Wie immer mit dem Versuch seiner Stimme einen charmanten Ton zu verleihen. Doch Sharon warf ihm nur einen genervten Blick zu. Erkennt sie mich nicht?

»Sharon? Ich bin’s, Frank.« Sharon rollte mit den Augen und würdigte ihn keines Blickes.

»Ich kenne sie nicht, und sie kennen mich nicht. Also lassen wir doch diesen Blödsinn. Wollen sie nun bezahlen? Ansonsten muss ich sie bitten zu gehen«, fauchte sie Frank an. Sein Kiefer klappte nach unten, und er starrte sie sprachlos an. Ohne ein weiteres Wort zückte er eine seiner zahllosen Kreditkarten und streckte sie ihr hin. Sie nahm sie sichtlich erleichtert entgegen und ließ sie durch den Schlitz des Kartenlesers gleiten. Das Gerät ließ ein abweisendes Geräusch verlauten. Sharon legte ihre Stirn in Runzeln. Der erste Versuch war scheinbar fehlgeschlagen. Auch der Zweite führte zum selben Resultat. Wieder erklang dieses Geräusch. Das Dröhnen in Franks Schädel wurde wieder lauter.

»Es tut mir Leid, Sir. Aber mit ihrer Kreditkarte scheint etwas nicht in Ordnung zu sein. Ich setze mich mit der Kreditkartengesellschaft in Verbindung. Haben sie bitte etwas Geduld…«

Doch Frank hatte ihr kaum zugehört. Unsicher ging er ein paar Schritte rückwärts in Richtung Eingangstüre. Er starrte Sharon weiterhin wortlos an. Das erste Mal, seit er heute Morgen erwacht war, überkam ihn so etwas wie Furcht. Es fühlte sich wie eine Art Prüfungsangst an. Seine Magengegend verkrampfte sich. Die anderen Kunden im Laden wurden jetzt auch aufmerksam auf Frank. Der Laden zog hauptsächlich Kunden eines etwas gehobeneren Standes an. Manche schüttelten verständnislos mit dem Kopf. Andere fingen an miteinander zu flüstern, ohne den Blick von der Szene die sich ihnen darbot abzuwenden. Frank vernahm ein schwaches »Sir, alles in Ordnung mit ihnen…« von der Kassiererin. Die Welt um Frank herum fing sich an zu drehen. Das Dröhnen schmerzte in seinem Schädel. Es fühlte sich an, als wäre irgendetwas in seinem Kopf gefangen, wofür unmöglich ausreichend Platz vorhanden war. Als hätte er die Erinnerungen und Gedanken von zwei Menschen gleichzeitig in seinem Kopf. Sein Schädel schien zu bersten. Sir? Sir…

Frank beschleunigte seine Schritte, immer noch rückwärts gehend. Auf seinem rechten Arm verweilte der 200 Dollar Anzug. Die Stimmen und alle anderen Geräusche um ihn herum wurden immer undeutlicher und schienen sich zu entfernen. Sir… … bezahlen… Sie müssen den Anzug bezahlen…. Hier lassen… Siiiiiir…

Doch Frank war nicht im Stande auf die Rufe der Kassiererin zu reagieren. Sicherheitsdienst… Ein uniformierter, in die Jahre gekommener Sicherheitsbeamte wandte sich von dem angeregten Gespräch das er mit einer Stammkundin führte ab und ging auf Frank zu. Er musste gehen. Frank musste gehen. Das war das einzige was Frank wusste. Und er ging. Er rannte. Er rannte zu seinem Wagen. Ihm blieb nichts anderes übrig als sich in sein Auto zu schwingen und Vollgas zu geben. Der Saab machte einen Schlenker und geriet fast auf die Gegenfahrbahn. Franks Atmung fing wieder an verrückt zu spielen.

»Komm runter, Frank! Komm runter!« schrie er sich selbst an. Die Sonne blendete ihn mitten ins Gesicht und er holte das Brillenetui mit seiner Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. Als Frank die Klappe wieder schließen wollte entdeckte er ein zweites, älteres Brillenetui. Er hielt kurze Zeit inne und vollführte einen weiteren Schlenker. Fast hätte er nicht gemerkt dass die Ampel auf Rot stand. Frank vollführte nahezu eine Vollbremsung. Die Autos hinter ihm taten es ihm gleich. Ein alles andere als freundliches Hupkonzert begann. Frank holte das zweite Brillenetui aus dem Handschuhfach und zog einen Joint heraus. Der Konsum von Marihuana war das einzige was aus seiner Jugendzeit und seinem damaligen »ich« übrig geblieben war. Als er noch wild gewesen war, rauchte er drei bis vier von den Dingern - pro Tag. Heute war es einer, alle drei bis vier Monate. Er hatte sich angewöhnt, dass wenn ihm alles zu viel wurde, er hinauf zum Griffith Park fuhr, wo er ganz L.A. überblicken konnte. Wobei er einen lustige Zigarette aus dem Handschuhfach holte und dort genüsslich rauchte. Er genoss die Stille, den Ausblick und konnte sich wieder auf das Gute und Schöne auf diesem Planeten besinnen. Deshalb schien heute eine gute Gelegenheit zu sein sich einen anzustecken. Er klemmte ihn sich zwischen die Lippen und zündete ihn an.

Das Hupkonzert wurde immer lauter, und ein paar Autos drückten sich bereits an Franks Saab vorbei. Erst jetzt bemerkte er dass die Ampel längst auf Grün stand und gab Gas. Er steckte einer seiner CDs in den Autoradio und wählte die Nummer Drei. Break On Trough von den Doors erklang. Während er fuhr fing die Musik und der Hasch an zu wirken. Sein Verstand entspannte sich. Das Dröhnen wurde auf ein erträgliches Level herunter geschraubt. Alles wurde ein wenig schöner und langsamer. Frank begriff langsam die Tragweite der Geschehen von letzter Nacht. Es schien nicht bloß seine Wohnung zu sein.

Was auch immer geschehen war. Es schien noch mehr Teile von seinem Leben zu betreffen. Diesmal kam keine Panik in ihm auf. Er blieb ruhig und unterließ auch die Schlenker mit seinem Wagen. Das Marihuana und die Musik erfüllten ihren Zweck. Er nahm einen weiteren Zug und zog den Rauch so tief er konnte in seine Lungen. Nach ein paar Sekunden ließ er ihn genüsslich und langsam wieder aus seinem Mund entweichen. Frank würde heute trotzdem zur Arbeit fahren. Der nächste Song, The End, begann. Die Musik schwebte aus seinen Lautsprechern, direkt in seinen Kopf. Wenn sich seine Vermutung bestätigte, würde ihn bei der Arbeit niemand erkennen. Keiner würde behaupten können, dass er jemals von jemandem Namens Frank Marshall gehört hatte. Auf seltsame Weise beruhigte ihn dieser Gedanke. Vielleicht war es der Joint, der bereits dem Ende zuging. Aber einen Teil der momentanen Geschehnisse durchschaut zu haben war einfach beruhigend. Er fühlte sich wieder einigermaßen Herr der Lage. Er nahm die Schnellstraße die zu seinem Büro führte und fühlte sich gut.

Frank überquerte zu Fuß die Straße in dem belebten Viertel. Die Menschen um ihn herum eilten zu irgendeinem Termin oder hingen am Telefon und diskutierten erregt mit irgendeinem Geschäftspartner. Alles in allem ein hektisches Treiben. Doch Frank schien alle Zeit der Welt zu haben. Er schlenderte durch die große Eingangshalle und betrachtete den ganzen Eingangsbereich so genau wie noch nie. Er sah den auf Hochglanz polierten Marmorboden und die Säulen der hohen Halle. An der mit Holz verkleideten Wand ihm gegenüber hingen Fotos von früheren Geschäftsführern. In der Mitte der schmalzig grinsenden Glatzköpfe hing ein Portrait des Gründers der Versicherungsgesellschaft. Darüber der große Firmenschriftzug Weierman & Trent Assuration – Since 1950.

Frank ging auf den verchromten Willkommensschalter zu. An der Front war das Firmenzeichen, das einen schlecht gemalten Adlerkopf darstellte, zu sehen.

»Guten Tag. Wie kann ich ihnen behilflich sein?« leierte die Empfangsdame mit einem aufgesetzten Lächeln den auswendig gelernten Satz runter. Frank überlegte kurz wie er es am besten anstellen sollte sich nach seiner Selbst zu erkundigen.

Entschuldigung gute Dame. Ich glaube mein ganzes bisheriges Leben war nur ein Traum gewesen oder wurde einfach so aus der Geschichte der Welt getilgt. Könnten sie bitte in ihrer Kartei nachschauen ob ich existiere?

»Ja, ähm, Entschuldigung. Ein früherer Freund von mir… Wissen sie wir sind zusammen in Harvard gewesen… Ähm, wie gesagt. Ein alter Freund von mir hat mal hier gearbeitet. Und ich bin der Organisator des Klassentreffens das bald stattfindet. Könnten sie für mich bitte überprüfen ob er noch hier arbeitet?« Ja Frank. Du bist der Beste. Eine unglaubwürdigere, konstruiertere Geschichte hättest du dir wohl nicht ausdenken können…

Doch die Empfangsdame schien ihm die Geschichte abzukaufen oder kümmerte es nicht weiter und wollte wissen: »Können sie mir den Namen ihres Freundes nennen?« Frank war einen Moment sprachlos, überrascht wie gut seine Geschichte funktionierte.

»Ähm, ja. Frank… Frank Marshall«, antwortete er schließlich.

»Einen Moment bitte. Ich werde es gleich überprüfen«, entgegnete ihm die Empfangsdame.

Sie tippte eine Zeitlang auf ihrer Tastatur herum. Wobei sie nie das irgendwie aufgesetzte Lächeln verlor. Sie schüttelte langsam den Kopf und meinte: »Es tut mir Leid, Sir. Aber in meiner Kartei existiert ein solcher Name nicht. Es war nie ein Frank Marshall bei uns tätig. Sie müssen sich irren.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, entgegnete Frank gelassen. Er setzte ein Grinsen auf, machte kehrt und verließ seine ehemalige Firma.

Frank, das ist wie bei diesem miesen Sandra Bullock Streifen. Die Regierung hat irgend aus einem Grund deine Identität gelöscht… Doch das lässt du nicht mit dir machen. Du nicht…! Verdammt! Bleib bei Verstand! Du befindest dich nicht in einem Film… Das ist die Realität. Und in der Realität werden keine Menschen von der Regierung gelöscht…Verdammt was ist hier los…

Frank hatte seinen Wagen zwei Blocks weiter abstellen müssen. Er hatte keinen Parkplatz in der Nähe seiner ehemaligen Firma gefunden. Frank hatte gar nicht erst versucht, ob er mit seiner Mitarbeiterkarte in die firmeneigene Tiefgarage gelangen konnte. Auf dem Weg zu seinem Wagen stellte er fest, dass er seit fast zwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Das Sandwich das er sich letzte Nacht gekauft hatte, lag immer noch in seinem Wagen. Jetzt wo er sich erinnern konnte, wie lange seine letzte Mahlzeit her war, verspürte er großen Hunger. Solchen Hunger, dass sein Magen schmerzte. Etwa zwanzig Meter die Straße hinunter befand sich Jacks Diner, wo er an fast jedem Arbeitstag zu Mittag aß. Sie würde ihn auch hier nicht wieder erkennen. Doch das Essen wird noch dasselbe sein. Also beschleunigte Frank seine Schritte. Er kam an all den vertrauten Bauten vorbei. Diese, welche ihn vor nicht all zu ferner Zeit Tag für Tag begleitet hatten. Das chinesische Restaurant, gleich nach dem italienischen Spezialitäten Laden. Dann diese Bar, in welcher er so manchen seiner Feierabende mit seinen Kollegen von der Arbeit verbrachte. Diese seltsame Bar mit diesen unwirklichen Menschen in ihren Anzügen. Hier waren sie zu finden, hier erwischte man sie bei ihrem täglichen Versuch ihrem Leben etwas Ablenkung vom ansonsten nur mit Arbeit erfüllten Dasein zu gewähren. Was etwas sinnlos erschien, bei der Tatsache dass sie diese Zeit mit Leuten verbrachten, mit denen sie den ganzen Tag zusammen arbeiteten.

Schließlich erreichte er Jacks Diner. Einen Moment lang blieb Frank vor den Türen stehen. Es würde ihn ein gewisses Maß an Überwindung kosten, das Restaurant zu betreten. Doch der Hunger war stärker als seine Skrupel.

Das Restaurant war im Stil der 50er Jahre gestaltet. Der Boden war schwarzweiß kariert, an den Wänden hingen Porträts und Gitarren von Musikern aus den 50ern. Eine ganze Wand war nur Elvis gewidmet. Nur die Fotos aus der Zeit, kurz vor Elvis’ Tod fehlten. Die Zeit wo Elvis so heruntergekommen war, dass er auf der Bühne seine Texte komplett vergaß, weil er zu betrunken war oder unter irgendwelchen Medikamenten stand.

Alles war wie immer. An der Theke saßen die gleichen traurigen Gestalten wie immer. Wahrscheinlich saßen sie den ganzen Tag an der Bar und besoffen sich. Frank nahm in der gewohnten Ecke, an seinem gewohnten Tisch platz. Als die gewohnte Bedienung auf ihn zu kam, machte sich Frank schwache Hoffnungen, dass sie ihn erkannte. Doch die Bedienung säuselte fröhlich: »Was kann ich ihnen bringen, Sir?« Sie hatte ihn noch nie Sir genannt.

»Ähm, ich hätte gern einen Kaffee und dazu Toast mit Speck und Ei«, antwortete ihr Frank.

»Also unser berühmtes 5-Dollar Frühstück«, bestätigte die Bedienung und fuhr schließlich fort, »kann ich ihnen noch was bringen?«

»Nein danke. Das ist alles.«

»Okay. Ich bin gleich zurück.« Die Bedienung machte kehrt als Frank ihr plötzlich hinterher rief: »Ähm, könnten sie mir noch die heutige Zeitung bringen?«

»Aber sicher doch.«

Vielleicht finde ich in der Zeitung irgendeine Erklärung für das was hier vorgeht. Ich muss in der Zeitung nach einem Hinweis suchen.

Ein Mann in einem klischeehaften schwarzen Anzug, einem schwarzen Hut und einem Stock nickte Frank zu. Es handelte sich weniger um ein grüßendes Nicken, als um ein Bestätigendes. Als hätte dieser seltsame Blues Brother seine Gedanken gelesen. Als wollte er ihm sagen Ja Frank. Durchsuch die Zeitung nach einem Hinweis. Du bist auf der richtigen Spur. Frank nickte nicht zurück und konzentrierte sich jetzt auf die Bedienung, die ihm gerade sein Essen brachte.

»Bitte sehr. Ihr 5-Dollar Frühstück.« Wo ist die Zeitung? Wo ist die gottverdammte Zeitung? Hat sie sie vergessen? Wo ist diese Go…

»Ihre Zeitung bringe ich Ihnen gleich. Leider sind im Moment alle vergriffen. Sobald ein frei wird bri…«

»Was soll das heißen, alle Zeitungen sind vergriffen? Ich… Ich brauche diese Zeitung«, unterbrach Frank die Bedienung. Wieso will ich so dringend eine Zeitung. Was ist mit mir los? Es reicht doch auch wenn ich in fünf Minuten erfahre, dass nichts über mich in der Zeitung steht…

»Sie können meine haben, Sir«, lächelte ihn eine ältere Dame an. »Es steht sowieso nur Schlechtes in der Zeitung. Das Leben ist traurig genug. Da habe ich solche Nachrichten nicht nötig.«

Frank bedankte sich etwas verlegen und griff nach der Zeitung. Die Bedienung war längst geflüchtet, als Frank mit dem Essen begann. Jetzt, wo die Zeitung vor ihm auf dem Tisch lag, traute er sich nicht hineinzuschauen. Dasselbe Gefühl, das ihn auf die Idee brachte, die Zeitung nach einem Hinweis zu durchsuchen, hielt ihn jetzt davon ab. Er hatte Angst davor etwas zu entdecken, das er nicht entdecken wollte. Also aß er zuerst auf.

Als Frank mit dem Essen fertig war, blickte er zu dem Tisch wo vorhin der Blues Brother gesessen hatte. Der Tisch war leer. Anscheinend war er gegangen. Nach einem tiefen Seufzer nahm Frank alle Kraft zusammen und öffnete die Zeitung. Die alte Dame hatte recht. Nur Tod und Verderben. Er fand Berichte über diverse Kriege. Ein Flugzeug war in der Nähe von Main abgestürzt. Überall gab es so und so viele Verletzte und so und so viele Tote… Auf der nächsten Seite befände sich der Sportteil der Zeitung. Er wollte gerade umblättern, als er ein Foto neben einem kleinen Bericht entdeckte. Die Überschrift lautete Vermisst. Unter der Überschrift befand sich Franks Foto. Darunter war der Name S. Bloomdale abgedruckt. Franks Herz raste, das Dröhnen in seinem Schädel wurde lauter. Er versuchte sich noch einmal zu vergewissern, dass das wirklich sein Foto war. Das er auf dem Foto abgebildet war. Doch er war es. Es war sein Gesicht. Mit zitternden Händen las Frank den dazugehörigen Text.

Mountains End Der in Mountains End ansässige S.Bloomdale (36) wird seit Sonntagabend vermisst. Mister Bloomdale war von einem Spaziergang nicht mehr zurückgekehrt. An dem besagten Abend hat seine Frau H. Bloomdale bei der Polizei eine Vermisstenmeldung aufgeben. Ihr Mann wird bereits seit über 24 Stunden vermisst. Die Ortsansässige Polizei hat mit der Suche begonnen. Leider fehlt bis jetzt jede Spur. Seine Frau meinte Gegenüber der Zei…

Dieses unerträgliche Dröhnen in seinem Schädel war vollständig zurückgekehrt. Mit einer derart unerträglichen Intensität das Frank schlecht wurde. Er kämpfte damit, nicht über dem Tisch zusammenzubrechen. Die ganze Welt um ihn begann sich zu drehen. Es zog und drückte in seinem Schädel. Sein Gehirn schien derart anzuschwellen, als würde im nächsten Moment sein Schädel bersten und es heraus quellen. Sein Atem war schwer. Die übrigen Restaurantgäste begannen auf Frank aufmerksam zu werden und fingen an zu tuscheln. Entsetzte und erschrockene Blicke streiften ihn. Frank klammerte sich an der Tischplatte fest, als ihn seine Kräfte verließen und er drohte von seinem Stuhl zu rutschen. Unter dem Mantel des Dröhnens verschwamm seine Sicht bis zur Unkenntlichkeit. Die Geräusche um ihn gingen in ein mechanisches Geräusch über, weit entfernt von der Realität. Und genau so fühlte er sich, weit ab von jeglicher, gewohnter Realität.

Frank wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte. Doch es konnte nicht sehr lange gewesen sein. Ansonsten wären wahrscheinlich längst irgendwelche Sanitäter und Polizeibeamte um ihn versammelt. Für Frank hatte dieser Moment eine Ewigkeit gedauert.

Das Schlimmste war vorbei. Es hatten sich keine Sanitäter eingefunden als er wieder zu sich kam. Die halbe Belegschaft des Restaurants und diverse Gäste hatten sich jedoch um ihn versammelt.

»Sir? Sir… Ich habe den Krankenwagen gerufen. Ge… Geht es ihnen gut?« stotterte die völlig verängstigte Bedienung und beugte sich über ihn. Im Hintergrund stritten sich lauthals eine andere Bedienung und der Restaurantmanager. Der Manager befürchtete dass etwas am Essen nicht in Ordnung war. Die Angst vor einer Klage von Franks Seite ließ ihn hysterisch umher schreien. Frank registrierte nichts von all dem. Er raffte sich auf und kämpfte sich hinter dem Tisch hervor. Die Bedienung die über ihn gebückt war um ihm irgendwelche hysterischen Sachen wie Bewegen sie sich besser nicht. Bleiben sie so… in seine Ohren zu schreien, stolperte nach hinten als sich Frank erhob. Er versuchte sich durch die Menge der Leute zu wühlen.

»Bitte bleiben sie sitzen. Sir. Ich glaube sie sollten sich erst von den Sanitätern untersuchen lassen. Der Krankenwagen wird gleich hier sein…«

Frank hatte seit er wieder zu sich gekommen noch nichts gesagt. Und er beließ es auch dabei. Wortlos torkelte er benommen aus Jacks Diner. Und danach folgte ein klaffendes, schwarzes Loch. Erst Stunden später, sollte er wieder zu sich kommen…

Stille… Es herrschte Stille… Kein Dröhnen… Kein Stimmengewirr… kein einziges, weltliches Geräusch… Frank begann mit dieser unsäglich entspannenden Stille zu experimentieren. Er versuchte in sich hinein zu horchen. Er versuchte seine Organe zu hören – zu hören wie sein Herz Blut pumpte. Wie der Darm begann die Spiegeleier und den Speck zu verdauen… War sein Körper überhaupt vorhanden? Einbildung…? Befindet sich mein Geist überhaupt noch in meinem Körper? Wo bin ich…? … … Bin ich… tot? Er fühlte sich frei… schwerelos… Vielleicht höre ich das Pumpen meiner Lungen… Frank vernahm Atemgeräusche. Seine Atemgeräusche. Sein Körper war also noch da. Er war nicht tot. Wie in einem Traum, nachdem man feststellt das man träumt, wachte Frank sofort auf. Er konnte den entfernten Klang von Hupen und anderem Straßenlärm wahrnehmen. Der vertraute Geruch einer Großstadt erfüllte langsam seine Nase. Sein Rücken schmerzte. Seine Hände fühlten einen harten Untergrund. Er schien sich auf rauem Beton zu befinden. Erst jetzt schaltete er auch seine letzten Sinne wieder ein. Vorsichtig öffnete Frank seine Augen. Sie schmerzten. Doch das Wichtigste war, dass die Schmerzen aus seinem Schädel verschwunden waren. Das Dröhnen hatte sich endlich zurückgezogen. Das Monster hatte sich wieder in seiner Höhle verkrochen.

In seinem Mund machte sich ein metallischer Geschmack breit. Er fasste unter seine Nase und fühlte eingetrocknetes Blut. Nasenbluten… Sein Orientierungssinn kehrte langsam zurück. Er begriff wieder wo Oben und Unten war. Das Körpergefühl war ebenso wieder vollends zurückgekehrt.

Frank saß in irgendeiner Nebenstraße auf dem Bürgersteig, an eine Wand gelehnt. Irgendwo in L.A…. Es war Nacht. Wahrscheinlich späte Nacht… Steh auf… Seine Hände tasteten nach irgendeiner Kante wo er sich festhalten konnte um sich zu erheben. Er umklammerte eine Fensterbank und benötigte alle verfügbare Kraft um sich aufzurichten. Eine Weile lehnte er sich gegen die Fassade und genoss den Halt, der ihm die Wand bot. Bis er schließlich alle Kraft und allen Mut zusammen nahm und damit begann einen Schritt vor den Anderen zu setzen. Mit jedem Schritt schien das Laufen einfacher zu fallen. Als hätte er Tage lang so dagesessen und wäre bloß etwas eingerostet. Schritt für Schritt bewegte er sich vorwärts, vielleicht etwas zittrig auf den Beinen. Doch erfüllte es ihn mit einer Art Stolz so schnell wieder laufen gelernt zu haben. Doch wohin gehe ich…? Wo bin ich? Wie lange war ich weg? Und was ist passiert?? Ich ging aus dem Restaurant und bin dann hier aufgewacht…

Zähflüssig rannen…

Sieben Tage

Подняться наверх