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Das verANSTALTete Chaos.

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Der prähistorische Mensch formte sich unter ständiger Beobachtung seiner Konkurrenten; die Paranoia des Beobachtetwerdens wurde in seiner psychogenetischen Konstitution verinnerlicht. Nachdem er seine Konkurrenz erledigte und sich den fremden Blicken auf eine oder andere Weise entzogen hat, fühlt er sich weiterhin beobachtet: Von Dämonen, Fabelwesen, in seinen Träumen, Tagsüber und nachts von den Himmelskörpern... Der historische Mensch, der zum Beobachter der Natur geworden war, schrieb seine Geschichte im Anschluß an seine Vorzeit, indem er seine gesellschaftlichen Institutionen in der paranoischen Tradition des Beobachteten interpretierte. Die Überwachungskameras der Neuzeit symbolisieren das Bewußtsein, das die phantastischen Welten der Steinzeitmenschen in die heutige Realität überträgt.

Eine primäre soziokulturelle Synthese fand in mythologischen protowissenschaftlichen Darstellungen statt, bei denen die Geisterhaftigkeit der Natur als die Gegebenheit wahrgenommen wurde; die auf diese Weise anthropologisierte Natur schloß das menschliche Wesen und seine Projektionen mit ein. Die Trennung vollzog sich in Widerspiegelung und Wechselwirkung der Teile, im Prozess der Interferenz und Differenzierung. Das primitive Bedürfnis nach Personifizierung des Anonymen bewirkte die Überlagerung der Naturphänomene durch die Epiphänomene der Kultur; die Natur wurde von der Kultur und Zivilisation durchdrungen, penetriert, amalgamiert. Die willkürlichen Korrekturen an Tatsachen erfolgten im Zuge der Generalisierung, Personifizierung und Falsifizierung (Verfälschung) der Umwelt (Götterwelten ... Landbesitzer ... Staaten ... Nutzflächen ... Bodenschätze ... Fachbereiche...). Die Methoden dieser aufdringlichen Korrektur entwickelten sich parallel zu Sprache: Je mehr man die Erdoberfläche und die Felsen zerkratzte, um die Lebenszeichen zu hinterlassen, Reviere zu markieren und die Erfahrungen zu fixieren, desto mehr ersetzten Werkzeuge und Schriften die Duftmarken und Krallen. Die schriftliche Sprache und die literarische Kultur (Verehrung der Zeichen bzw. deren Zusammenstellung in den Reihenfolgen, die nicht unbedingt einen Sinn ergeben), entstand durch die Benennung der Fakten, die in der Aufeinanderfolge ihres Auftretens aufgezählt und aufgeschrieben wurden. Viel später wurde die Verbindung zwischen dem Aufzählen und Erzählen gelockert, die Trennung vollzog sich an den Universitäten und in den marktwirtschaftlichen Verhältnissen, die demagogischen Auslegungen zerstörten zunehmend die Zurechnungsfähigkeit der Hörer und den sprachlichen Zusammenhang. Im Hitler-Reich wurde eine sprachliche Perversion (Kulturrevolution) vollzogen, im Laufe derer die Sprache verfälscht und die Bedeutung der Worte relativierte. Die von der verfälschten Sprache getriebene Gesellschaft mußte permanent mit technischen Mitteln aufgezogen werden; die Erziehung weichte der NS-Indoktrination und Rassenzucht. Der nachfolgende Krieg war nur die regelmäßige Folgeerscheinung der Sinnzerstörung infolge eines inadäquaten und unpassenden Wortgebrauchs. Mit den Worten kann man viel Unheil anrichten, z.B. die Menschen in den Tod schicken und zu Selbstmord zu bewegen, indem man ihnen suggestiv glaubwürdig macht, sie müssen gegen Feinde kämpfen, um ihr jeweiliges Vater- oder Mutterland zu verteidigen bzw. ihre Familien zu schützen. Zwischen Soldaten der US bzw. UN-Armee und den Selbstmordattentätern im Partisanenkrieg besteht kein Unterschied: Sobald sie zu Waffen greifen, verwandeln sie sich in die Waffen, die bereit sind, nicht nur ihr eigenes Leben sondern auch das Leben von den anderen, beteiligten und unbeteiligten Personen auszulöschen. Um das Bild der allgemeinen Verwirrung zu verdeutlichen, kann man darauf hinweisen, daß die Bundeswehr ihre Rekrutierungsstellen in den Gebäuden des Arbeitsamtes unterbringt, so z.B. in Essen, wo die Zentren der gesellschaftlichen Verwirrung, falls noch nicht zusammengelegt wurden, dann mindestens örtlich sehr nah beieinander liegen: Das Arbeitsamt am Berliner Platz, der Konsumtempel am Limbecker Platz, die Ausbildungsstätte der pseudowissenschaftlichen Bürokratie entlang der Universitätsstrasse, und der Strich zwischen Arbeitsamt und Universität. Dieses Durcheinander soll in Kürze noch die Kunstausstellung ergänzen. In dieser eigensinnigen Konstellation äußert sich die Phildisharmonie der Eurobürokratie, die diese Stadt im Jahr 2010 zur Hauptstadt der Europopkultur erheben will.

Jedes Wort steht im Kontext persönlicher und geschichtlicher Erfahrungen, weckt Assoziationen, ruft Erinnerungen aus. Die Sprache ist untrennbar verbunden mit weiteren, für die Lebenserhaltung unentbehrlichen körperlichen Funktionen: Atmen, Nahrungsaufnahme, Sinneswahrnehmung. Man kann mit Recht von Trophologie oder Sexologie der Sprache reden. Nicht zufällig werden Störungen der Sprachlichkeit und der Sprachwahrnehmung, welche dem Stottern, Tinnitus, Autismus nicht unähnlich sind, durch psychosoziale Konflikte und traumatische Erlebnisse ausgelöst. Das soziale Umfeld bestimmt Sprachentwicklung und Sprachmodus auf entscheidende Weise: Die "Sozialautomaten" tun und sagen das, was von ihnen erwartet wird, im Gegensatz zu Menschen, die in einer permissiven, sprachfördernden Umgebung aufgewachsen sind. Die Exaktheit der Sprache gründet sich in allgemeinem Koordinationsvermögen der Lebewesen, das in Jahrmillionen geübt wurde. Diese Übung formte das Nervensystem, dessen Zentren und Nervenbahnen im Prozess der Vermittlung der Information und der Neupositionierung der Körper, der Verhältnis-Herstellung, immer mehr ausdehnten und perfektionierten. Während Tiere, insbesondere Insekten, sich morphogenetisch und ganzkörperlich zu lebenden Werkzeugen differenzieren, besitzen die Menschen Universalwerkzeuge, ihre Hände, mittels derer jede Bewegung und jede Handhabung realisiert werden können. Die Steuerung dieser Werkzeuge übernehmen die Bereiche des Körpers, die selbst zwar weitgehend unbeweglich bleiben, die aber höchst manipulativ wirken: sein Nervensystem. Das Nervensystem funktioniert als ein Schaltzentrum im Kreislauf der Elemente und interpersönlicher Kommunikation, und erfüllt die Aufgabe, menschliche Existenz im Kontext anderer Lebensformen und Lebensumstände zu erhalten.

Die Sprache entwickelt sich im Kontext sozialer Koordination als Steigerung der manipulativen und artikulativen Fähigkeiten des Individuums. Reden und Klavierspielen haben in dieser Hinsicht viel gemeinsam. Sowohl Musik komponieren und musikalische Improvisationen hervorzubringen (Klänge erzeugen) als auch schreiben und (vor)lesen sind grundsätzlich gleiche Handlungen und neurophysiologische Vorgänge. Die manipulative, ergreifende und begreifende, d.h. sinngebende Funktion des Nervensystems besteht darin, die Inhalte wahrnehmbarer Umgebung zu selektieren und zu extrahieren, d.h. daraus neurochemisch-kodierte Repräsentationskarten zu bilden, die im Prozess sozialer Interaktion artikuliert werden, in sprachliche Äquivalente übergehen. Die angeborenen equilibrierenden, ausgleichenden und koordinierenden Regelkreise des Körpers werden durch Konditionierung modifiziert. Bei Menschen, im Gegensatz zu anderen Tieren, entwickeln sich zwischen sensorischer Rezeption und motorischer Interpretation noch weitere Interpretationsflächen und Modifikationsebenen, die in sozialem Kontext geprüft werden. Eine der reflexartigen Verhaltensweisen, die Sprachlichkeit, assoziiert Mitglieder einer Population auf einzigartige Weise, ermöglicht interpersönliche und generationsübergreifende Kommunikation und Gedächtniserweiterung.

Die soziale Desintegration kann als Verlust der Koordinationsfähigkeit, als Ungleichgewicht des sozialen Körpers verstanden werden, in dem das egoistische Verhalten dominant wird. In den Zeiten sozialer Desintegration (Diskrepanz) wird persönliche Zielsetzung (Ich-Fixierung) hervorgehoben und die von anderen verachtet; Menschen beginnen, miteinander zu konkurrieren, einender zu belügen, um sich zu bevorteilen und andere zu benachteilen. Wenn die Lügen die Wahrheitsäußerungen überwiegen, wird der soziale Kontext verfälscht, der gesellschaftliche Zusammenhalt zerstört. Nationalismus, marktwirtschaftliche Konkurenz, Indoktrination, die mit den künstlichen Lichtquellen, unechten Farben und falschen Tönen ausgereizten Empfindungsorgane, vernachlässigte sprachliche Korrektur, gestörte Interaktion haben gleiche Auswirkung auf die Sprache und auf das Verhalten. Die aktuelle Verfälschung der Sprache ist die Folge sowohl sozialer Desintegration als auch der Zerstörung natürlicher Umgebung, die bedrohlichen Ausmaßen annahmen, und müssen rückgängig gemacht werden, andernfalls brechen Bürgerkrieg und weitere Katastrophen aus, falls das nicht gelingt. Die Epidemie der Sprachverfälschung und die Verbrechen der Sprachfälscher müssen institutionell bekämpft werden. Zudem muß die Sprache aus ihren archaischen Formen, aus dem Gemurmel der Erdmännchen, erhoben werden, um eine weitere Entwicklungsstufe zu erreichen, jenseits von Sonnenauf- und Untergänge, politischer Reaktion, Urknall- und Ursuppe-Theorien.

Das bedeutet nicht die radikale Umformung der Sprache; sie muß sich lediglich von Mißbrauch und Degradierung genesen, in neuen Formen wieder entstehen. Das humoristische Wortspiel ist eine der paradoxen Formen der Sprachverwendung, deren Funktion darin besteht, die Sprache fühlbar zu machen, emotional erleben zu können, aus der Zwanghaftigkeit der konventionellen begrifflichen Zusammenhang auszusteigen, die falsche Logik des scheinbar Notwendigen zu zerstören. Ein Witz ist wie ein Blitz, begleitet von dem Donner des Lachens, er steigt auf die Oberfläche des Bewußtseins aus den Tiefen der untergründigen Erfahrungen, und wirkt wie ein göttliches Schauspiel, bei dem sich die Natur mit den elektrischen Entladungen entspannt. Andere, gleichfalls paradoxe Sprachformen: Lied, Poesie, Schimpf, betonen und bejahen die Lebenslust, dienen emotionaler Äußerung und Entladung. Die Sprache muß das artikulieren lernen, was bis jetzt unausgesprochen geblieben ist: Naturgeräusche, Klang der Stille, Gang der Geschichte. Die von den Wissenschaftlern aufgezeichneten Elektroenzephalogramme und MRT-Bilder sagen nichts über die im Hirn ablaufende Gedanken, Tag- und Nach(t)träume: Sie schaffen lediglich Kunstwerke, die in der Öffentlichkeit als Beweise wissenschaftlicher Kunstfertigkeit ausgestellt werden, um die Fertilität und Kopulationsbereitschaft ihrer Erzeugern zu demonstrieren (zu gleichem Zweck werden Marsmissionen veranstaltet und Berggipfel bestiegen). Die gedanklichen Inhalte, die jeder frei vor sich gibt, werden seltsamerweise in solchen Wissenschaften ignoriert, weil die Komplexität der Sprache, die epigenetische Melodie genetischer Komposition, für den naiven Hörsinn heutiger Wissenschaftler nicht nachvollziehbar bleibt. In technischem Zeitalter liegt die Beweislast bei den Maschinen, die immer komplizierter und leistungsfähiger werden, um die Beweise zu produzieren und bereitzustellen. Einerseits, haben sich die Wissenschaftler aus der Verantwortung gezogen, weil sie ihren eigenen Augen nicht trauen, und, andererseits, wird den Aussagen von Augenzeugen keinen Glauben geschenkt. Dieser Verlust der Unmittelbarkeit, des Vermögens, auszusprechen und aufzuschreiben, was mit eigenen Augen gesehen wird, ist symptomatisch für die Krise des Selbstvertrauens und des Glaubens im Allgemeinen infolge allumfassender Verwissenschaftlichung und Technisierung.

Der Tommyknockers–Komplex

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