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1. Etsi Deus non daretur

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Die neue Lage veranlasst uns also dazu, das Phänomen an sich selbst zu betrachten, d.h. nicht als etwas un-mittelbar Religiöses, sondern als ein Problem der Menschheit, das als solches jeden Einzelnen betrifft, unabhängig von seiner Bildung oder seiner politischen, philosophischen bzw. religiösen Einstellung. Diese Unterschiede bestehen zwar, sind auch wichtig und müssen erörtert werden; doch bilden sie Unterschiede in den Antworten, nicht in der Fragestellung, die, obgleich nach den verschiedenen Horizonten unvermeidlich kontextualisiert, eine gemeinsame und allgemeine Herausforderung voraussetzt. Eine sorgfältige Ausarbeitung der Fragestellung wandelt sich somit zu einer unerlässlichen Bedingung, um dann kritisch unter den Antworten zu wählen, d.h. um die eigene zu „begründen“, nämlich die, welche man als die überzeugendste und angemessenste betrachtet.

Im Grunde handelt es sich hier um eine für die säkulare Kultur offenkundige und elementare Forderung, wo die richtige Herangehensweise an die großen Fragen der Menschheit darin besteht, dies in einer suchenden Gemeinschaft zu tun, in einer zumindest im Grundsatz verallgemeinerbaren Sprache sowie in einem für den freien Austausch von guten Gründen und Einwänden offenen Dialog. Das zu begreifen hat einiges gekostet, vor allem bei den Fragen, wo das Religiöse eine übermächtige Stellung innehatte. Doch hat sich die Einsicht nicht allein in den Naturwissenschaften durchgesetzt, nach Kontroversen wie denen um Galileo und Darwin, sondern auch im noch unmittelbarer mit unserer Thematik verbundenen Bereich, d.h. dem der Ethik und der Politik, die zu Recht ihre Eigenständigkeit gegenüber einer allzu aufdringlichen religiösen Bevormundung einfordern.

Es waren sogar kritische Gläubige, welche nach Hugo de Groots Formulierung die Notwendigkeit einer solchen Behandlungsweise verkündet haben: Ethik und Politik würden gelten, „selbst wenn wir einräumten – was man nicht einräumen kann, ohne die größte aller Sünden zu begehen –, daß es keinen Gott gibt bzw. daß der sich nicht um die Angelegenheiten der Menschen kümmert“1. Wir haben den mittleren Einschub unterstrichen, um damit anzudeuten, dass dieses neue Bewusstsein darum wusste, wie sich darin ein berechtigter und unabdingbarer Fortschritt ankündigte, der sowohl dem Weltlichen wie der Religion, der Philosophie wie der Theologie zugutekam – oder kommen konnte –, da sich durch die Zuweisung des angemessenen Ortes an jede Interessenausrichtung ungebührliche Übertretungen vermeiden, die jeweiligen Rechte bewahren und sich eine Konzentration auf die eigentliche und besondere Aufgabe bestärken ließen.

Wenn eine solche Forderung bei der methodischen Reflexion über die Problematik des Übels trotz allem zu stark verdeckt bleibt – abgesehen von der typischen „Unsichtbarkeit“ alles Elementaren –, dann liegt dies, wie öfter schon angedeutet, an der großen historischen Schwerfälligkeit eines Problems, das nicht allein mit intellektuellen Vor- Urteilen belastet, sondern auch von der für eine heftige religiöse Kontroverse eigenen Leidenschaftlichkeit gezeichnet auf uns kommt. Zum Glück aber ist die Verdeckung allgemein und folgt nicht den Mustern religiöser oder nicht-religiöser Einteilung. Dies hat wenigstens den Vorteil, dass vor Verwirrung gewarnt und dazu angehalten wird, dass der Diskurs parteiliche Neigungen aufgibt und begreift, dass es sich hier um eine gemeinsame Problematik handelt. Alles Schlechte betrifft uns vor allem als Menschen und erfordert genau darum, zu unser aller Vorteil, Dialog und Zusammenwirken auf der Suche nach der Antwort oder den Antworten, die es gestatten sollen, das Übel in der geeignetsten bzw. am wenigsten verfehlten Weise anzugehen. Es handelt sich also darum, sich auf die innere Entwicklungslinie der Frage und auf das echte Gewicht der Argumente zu konzentrieren. Wie bereits im ersten Kapitel angesprochen, wird von vornherein, da die Problematik alle angeht und einbezieht, ein „hermeneutischer Zirkel“ bei den persönlichen oder gruppenspezifischen Überzeugungen unumgänglich. Wichtig ist es daher zu vermeiden, dass sich die tatsächliche Lage zum logischen Prinzip wandelt und der Zirkel zu einem circulus vitiosus gerät, der aus der zuvor gewählten Antwort über das Ergebnis entscheidet.

Mit anderen Worten: Bei diesem grundlegenden Abschnitt der Auseinandersetzung ist ein streng methodischer Atheismus angesagt, der Gottes Existenz weder bejaht noch leugnet, sondern der, um des Gedankengangs willen, einfach nicht – weder dafür noch dagegen – auf diese eingeht. Der Grund dafür liegt darin, dass der Abschnitt noch nicht der Ort ist, wo Gott „in den Diskurs eintreten“ kann. Denn dieser Eintritt wird erst später kommen können; aber er kommt, wenn, und nur wenn, der Verlauf der Reflexion zu zeigen vermag, dass die Gott einbeziehende Antwort sich als kritisch bedeutsam oder sogar als die angemessenste erweist, um das Problem des Übels so anzugehen, wie es sich heute von den Ergebnissen her darstellt, zu denen die Ponerologie gelangt.

Noch konkreter gesagt: Bei einer Analyse der Gegenwart des Übels in der Welt dürfen für eine verallgemeinerbare Reflexion als vorhergehende und gemeinsame Gegebenheit weder Bejahung noch Verneinung der Existenz Gottes angenommen werden; ebenso wenig darf, bei Annahme seiner Existenz, ohne vorherige Untersuchung das Wie seines möglichen Einflusses auf Ursprung und Fortdauer des Übels bestimmt werden. Und diese methodische Zurückhaltung gilt für alle Glaubenshaltungen. Für die gottgläubige, die den Gottesglauben als Argument noch nicht in den gemeinsamen Diskurs dieses Stadiums einführen kann2; und für die atheistische, die ebenfalls nicht von ihrer Leugnung her argumentieren darf3.

Mit einem Blick auf die Geschichte bleibt die Berücksichtigung des „Faktors Gott“, um ihn zu rechtfertigen oder zu kritisieren, von höchster Bedeutung. Doch gehört dies schon zu einem späteren Stadium: als Element in einer der Antworten – nämlich der religiösen –, die dann wohl einen kritischen Dialog mit allen anderen anknüpfen kann und soll, indem sie ihre guten Gründe benennt und auf die Gegenargumente eingeht.

Das Neubedenken allen Übels

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