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4.2 Zwischen der Möglichkeit der Verfehlung und wirklicher Schuld

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Die sprachlichen Fallstricke treten hier besonders stark hervor. Die schwierige Unterscheidung (von der noch die Rede sein soll) zwischen „unvermeidlich“ und „notwendig“, sowie gerade an dieser Stelle vor allem zwischen „Grund“ und „Möglichkeitsbedingung“, kann nämlich zu Verwirrung führen. Das war schon beim physischen Übel der Fall, wo mein Standpunkt sogar als „manichäisch“ bezeichnet wurde60. Und besonders nachhaltig geschieht dies beim moralischen Übel. In einer langen Kritik werden dazu Worte von mir zitiert, die einerseits mein Denken präzise ausdrücken wollen: „Die Endlichkeit ist nicht das Übel. Sie ist lediglich dessen Möglichkeitsbedingung: d.h., Bedingung, die dessen Erscheinen an einem Punkt oder in einem Augenblick unvermeidlich macht, die aber nicht gleich dessen konkrete Verwirklichung bedeutet“61. Doch andererseits wird mir darin die Meinung zugeschrieben, ich würde mit diesen Überlegungen die Endlichkeit der Freiheit in die unmittelbare Ursache des moralischen Übels verwandeln: „Es bleibt zu erkennen, wie das Übel sich zwei Faktoren verdankt: der Endlichkeit und dem Missbrauch der Freiheit. Torres aber berücksichtigt letzteres nicht.“62

Die Hervorhebungen des ersten Zitats standen bereits in meinem Text. Dies deutet darauf hin, dass es nicht stimmen kann, ich würde die „zwei Faktoren“ nicht berücksichtigen, auf die das zweite Zitat anspielt. Eigentlich jedoch bewegt sich mein Gedankengang im Bereich des Grundlegenden, der nicht unmittelbar mit dem Tatbestand des Missbrauchs in Verbindung steht, sondern allein mit der Bedingung, die ihn möglich macht. Es geht ihm gerade um die Erklärung dafür, dass die endliche Freiheit eine Ursache des Übels sein kann: d.h., nicht indem sie schlecht gemacht wird, sondern unvermeidbar werden lässt, dass sie auch eine Ursache für das Erscheinen des Schlechten sein kann, sobald sie falsche Entscheidungen trifft. Etwas, das a contrario gut verständlich wird. Denn eine unendliche Freiheit (falls es sie gibt; man bedenke, dass wir bei der „Ponerologie“ sind) wäre allem Schlechten nicht ausgesetzt: Sie wäre weder „brüchig“ noch „fehlbar“63.

Doch die Hervorhebungen deuten auch schon an, dass mir die Schwierigkeit bewusst ist. Dennoch sei bemerkt, dass diese Schwierigkeit durch meine Sicht weder eingeführt noch beiseitegelassen wird, sondern jeglicher Affirmation der Freiheit gemeinsam ist; zumal sie zur Struktur selbst ihrer Verwirklichung gehört, d.h. zum ganz dunklen Übergang von der Möglichkeit zur Tat. Dieser ist so dunkel, dass er eigentlich nicht begrifflich geklärt werden kann. Seit Schelling ist nun eine Diskussion darum besonders lebhaft geworden, die schon in den Urmythen vom (Sünden-)„Fall“ angedeutet, durch die feinsinnigen Spekulationen der Gnostik und des Neuplatonismus hindurchgegangen ist und bis in unsere Tage reicht. Besondere Schärfe erhält sie bei einem Autor wie Paul Tillich, der sich ganz eingehend mit diesem Problem befasst hat und der auf dessen intellektuelle Undurchdringlichkeit verweist, die seinem Grundprinzip entstammt: „Trotz ihrer tragischen Universalität kann die Existenz nicht aus der Essenz abgeleitet werden“64.

Daher stehen wir vor der Tatsache des Übels eigentlich wortlos da. Selbst ein Denker mit sonst so klarem und maßvollem Ausdruck wie Bernard Welte belässt uns in der gleichen Ratlosigkeit. Denn die Schuld ist „grundsätzlich vermeidbar“; wenn nicht, wäre sie nicht meine; doch in der Tat erscheint sie bei allen, und das immer65. Jedoch ist die ganze Erklärung, die er bietet, folgende:

„Schuld muß zwar nicht dasein in dem Sinne, daß sie eine äußere Notwendigkeit für uns wäre. Aber sie ist immer da, und wir wissen ganz wohl, daß sie in dieser ständigen Präsenz ganz anders in unserem Leben steht als ein bloß gelegentlicher Unfall, dessen Möglichkeit demnächst ganz hinwegzuorganisieren wäre.“66

Eindeutig wird hier auf einen ebenso unleugbaren wie undurchdringlichen Tatbestand verwiesen, den Reinhold Niebuhr ganz nüchtern und energisch so formulierte: „Wo immer es Geschichte gibt, ist auch Freiheit; und wo Freiheit ist, gibt es Sünde“67.

Der Grund dafür ist, dass ein solcher Schritt eine originäre und ganz eigene Dialektik bildet, die deshalb nicht a priori „ableitbar“ wird: „Einen Akt der Freiheit begreifen wollen, ist absolut widersprechend “, sagte Fichte68. Deswegen wird sie auch nie vollkommen rational erfassbar; denn allein in ihrer Erfahrung selbst ist sie zugänglich und muss aus dieser heraus beurteilt werden, ohne dass man sie auf niedrigere Kategorien der Naturordnung zurückführt, welche sie aufheben würden, indem sie diese in ihrer Besonderheit negieren69.

Zunächst erscheint dies als schwierig und merkwürdig. Doch recht besehen ist es bei jedem Primärphänomen, bei jeder phänomenologisch ursprünglichen Intuition das Natürliche und Erwartbare. Das ergibt sich bereits bei der bloßen Wahrnehmung einer Farbe: Wir sagen „grün“, weil wir es wahrnehmen und nur weil wir es wahrnehmen; denn wenn wir es erklären könnten, wäre es schon nicht mehr ursprünglich, sondern auf andere Elemente zurückführbar, die es erklären würden. Dann jedoch wäre es nicht mehr das „Grün“, sondern irgendeine äußere Annäherung wie die, welche eine sehbehinderte Person aus den wissenschaftlichen Erklärungen zu dessen Entstehung bzw. bestimmten Analogien zu anderen Sinnen erreichen kann.

Daraus ergibt sich diese doppelte und unbehagliche Erfahrung bei wirklicher Schuld: Hell, als Erkennen der aus unserer Freiheit geschehenen Tat; deshalb fühlen wir uns verantwortlich dafür, und allgemein gilt, was wir die „Stimme des Gewissens“ nennen. Dunkel, als Übergang von der Möglichkeit zur Verwirklichung; und dies so sehr, dass es als unverständlicher Widerspruch erscheinen mag: „Ich sehe das Bessere und stimme ihm zu; befolge aber das Schlechtere“70, sagte der Heide Ovid; „ich tue nicht das Gute, was ich will, sondern wirke das Schlechte, was ich nicht will“, rief der Christ Paulus von Tarsus verängstigt aus71. Man lebt in der unleugbaren Helligkeit der Tat, und man thematisiert sich im Dunkel des kognitiven Verstehens, wenn man von der vollzogenen Tat her „nach rückwärts“ schaut. Mit seiner gewohnten Empfindsamkeit für diese Art der Zusammenhänge hat Max Scheler dieses Erschrecken der Freiheit vor dem Erscheinen der Schuld zutreffend erfasst: „Ach, was bin ich für ein Mensch?“, bzw. noch besser: „Was muß ich doch für ein Mensch sein, daß ich solches tun konnte?“72.

Kant unterstrich die Schwierigkeit, sogar mit übermäßiger Betonung der Dichotomie von Natur und Freiheit, als er in der dritten der kosmologischen Antinomien der reinen Vernunft von der Kausalität handelte73. Später, als er von der Theodizee spricht – und vielleicht darum, aus einer Vermengung der Argumente –, verneint er, dass die Unvermeidbarkeit des moralisch Schlechten sich „auf den Schranken der Natur des Menschen, als endlicher Wesen“, gründen könne; denn „dadurch würde jenes Böse selbst gerechtfertigt werden; und man müßte, da es nicht als die Schuld der Menschen ihnen zugerechnet werden kann, aufhören, es ein moralisches Böse zu nennen“.74 Dennoch versucht er selbst – obgleich, nach meiner Ansicht, ohne eine völlige Kohärenz zu erreichen –, jene Unvermeidbarkeit wieder einzuführen, wenn er, ohne derartige Überlegungen anzustellen, vom „radikalen Bösen“ spricht, das zugleich frei und unvermeidbar sei und als eine Urerfahrung über uns kommt, obwohl es uns theoretisch nicht durchschaubar werden kann, zumal sein rationaler Ursprung „Vernunftursprung […] uns unerforschlich bleibt“75.

Vladimir Jankélévitch konnte hier ansetzen. Besonders nachhaltig und eingehend sind seine Überlegungen zum Übergang zwischen der Möglichkeit des Schlechten und seiner Verwirklichung, zwischen konstitutiver Schwäche und echter Schuld. Er betrachtet dies als einen der am schwersten zu begreifenden und für die Vernunft nie ganz durchschaubaren Schritte:

„[…] wegen der menschlichen Schuld wird das ontische Ungenügen statt einer Ruhestellung Auf- und Abwärtsbewegungen wie der Börsenhandel aufweisen […]. Es ist wohl ein Tatbestand: Der Mensch ist Opfer des Absurden, aber auch Urheber des Skandals … Und es steht ihm frei, den Skandal zu verursachen, gerade weil das Absurde ein Tatbestand ist, wodurch er im Einvernehmen mit seinem Schicksal ein Opfer wird.“76

Paul Ricœur, zweifelsohne einer der Autoren, die dem Problem eine größere und eingehendere Aufmerksamkeit gewidmet haben, obgleich er nicht mehr dazu kam, sein erstes Vorhaben77 fortzuführen, unterstrich ebenfalls diese Schwierigkeit. Diese liegt im Übergang von der „Eidetik“, d.h. von der „Wesensbeschreibung“ (wie sie in Le volontaire et l’involontaire geschieht), zur „Empirie des Willens“, welche den „undurchsichtigen und absurden Charakter der Verfehlung“ aufzugreifen hat78. Deswegen muss er seine Erörterung in eine „Hermeneutik“ verlängern, die ein gewisses philosophisches Verständnis zu erreichen sucht, indem sie sich auf die Tatsache der Verfehlung gründet. Damit verbindet sich eine Analyse ihres Ausdrucks in den Grundworten des Eingeständnisses (aveu), die in den Symbolen und Mythen der Menschheit überliefert sind.

Jean Greisch fasst in seiner umfänglichen und feinsinnigen Monographie zu Ricœurs Werk diese Frage recht gut zusammen, wenn er einen Abschnitt darin überschreibt: „Eine Restschwierigkeit: der rätselhafte Übergang von der Fehlbarkeit zum Fehler“79. Es ist hier nicht der Ort, um in eine ausführliche Würdigung des ricœurschen Entwurfs einzutreten80; uns interessiert jedoch das Grundergebnis: Ohne die Dunkelheit des Übergangs zu leugnen, bestätigt er aber vielsagend den Zusammenhang zwischen Endlichkeit und Unvermeidbarkeit des moralisch Schlechten.

Blickt man in die Geschichte zurück, dann lohnt es sich, daran zu erinnern, wie der heilige Thomas dies einmal in eine Aussage gefasst hat, die, ohne sich bei der Analyse der theoretischen Schwierigkeiten aufzuhalten, mit gesundem und solidem Realismus zu folgendem Urteil gelangt: „[…] (denn) die Natur der Dinge hat es so an sich, dass alles, was fehlgehen kann, irgendwann auch fehlgeht“81. Und A. G. Sertillanges, der dies kommentiert, stellt dazu fest: „Da alle Phänomene der Zeit und ihrem unumkehrbaren Ablauf unterworfen sind, besteht immer eine Verbindung, die ein wirkliches Vermögen mit seiner Verwirklichung zusammenbringt“82. Abstrakter noch hat Leibniz dasselbe Ergebnis in bewundernswerter Knappheit zum Ausdruck gebracht: „Somit ist das Fundament des Übels notwendig, doch seine Entstehung kontingent; d.h., es ist notwendig, dass alle Übel möglich sind; doch ist es kontingent, dass sie jeweils auftreten“83.

Das Neubedenken allen Übels

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