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Der Seelendieb

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Als Daphne Murano an diesem Morgen im Jahr 2281 erwachte, durchströmte sie, wie in den letzten sechs Monaten auch, eine Welle des Glücks. Sie und Marc hatten gestern geheiratet, zwar galt der Vertrag nur für fünf Jahre, doch sie war sich sicher, sie würden ihn noch viele Male verlängern. Der Radiowecker war angegangen, und verschlafen hörte sie in den Nachrichten, dass aufgrund der zurückgegangenen Weltbevölkerung Paare wieder zwei Kinder statt nur ein Kind haben durften. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie liebte Kinder und träumte davon, dass sie Marc irgendwann einen Sohn schenken würde. Daphne öffnete die Augen, und ein Blick zur Seite verriet ihr, dass Marc noch fest schlief. Jeder Tag war für sie wie ein Geschenk, denn eigentlich war sie einundachtzig Jahre alt. Eigentlich - aber ihr Körper war achtundzwanzig und hieß Pia Richter. Nur ungern erinnerte sie sich an die Nacht des Seelentausches zurück. Sie selbst hatte lieber in dem Altenheim, in dem Pias Schwester war, sterben wollen. Doch die Geistwesen hatten ihr den Tod verweigert. Pia Richters Seele hatte nicht begriffen, was sie in diesem Dasein zu lernen hatte. Pia war kalt und egoistisch, nie hatte sie aus Menschlichkeit oder Nächstenliebe gehandelt. Später, als sie Marc die Wahrheit gebeichtet hatte, gab er ihr die Polizeiakte von Pia Richter zu lesen. Man hatte ihr zwar nie etwas nachweisen können, doch sie hatte einige Einträge. Welch Ironie des Schicksals, dachte Daphne, der Geist einer bösen Kreatur lebte im Körper eines wunderschönen Menschen. Auch hatten die Geistwesen Daphne versichert, dass Pia Richter nicht mehr lange zu leben hatte, ihr Tod würde so oder so kommen. Durch den Tausch änderte sie das Schicksal und entging nur knapp dem Tod, der für Pia Richter vorgesehen war. Es war wichtig, dass Daphnes Seele in diesem jungen Körper lebte, hatte sie doch noch einige wichtige Aufgaben zu erfüllen. Die Geistwesen brauchten Daphne und ihr Wissen, das sie als Heilerin und Schamanin in Tibet erworben hatte. Gedankenverloren wanderten ihre Hände zu dem kleinen Dolch, den sie an einer silbernen Kette immer um den Hals trug. Er war nicht groß und hätte keinem eine ernsthafte Verletzung zufügen können. Über den silbernen Schaft und die Klinge, die aussah wie dunkles, geschmolzenes grünes Glas, zogen sich winzige Schriftzeichen. Nein, dieser Dolch war dafür gemacht, die silberne Schnur eines Astralkörpers zu durchtrennen. Ihre Hand schloss sich fest um ihn, leise redete sie mit ihm. »Mein armer kleiner Freund«, sagte sie, »ich wollte dich nie benutzen. Doch zweimal im Leben haben mich die Umstände dazu gezwungen.«

Ihre Gedanken glitten weiter ab, zurück nach Tibet. Sechs Jahre hatte sie dort im Kloster Sakja gelebt und gelernt, erst als Heilerin und später hatte sie die Seelen Sterbender begleitet.

Sie dachte an Jamisang, ein verlorenes Kind, als sie ihn dort kennenlernte. Ein schlaksiger junger Mann, als sie ihm seine Seele und sein Leben nahm. Daphne schloss für einen Moment die Augen; die Erinnerung an jenen schicksalhaften Tag war in ihre Seele eingebrannt, als sei alles erst gestern gewesen. Ihr Lama und Leiter des Klosters, Tse Wang, lag im Sterben. Jamisang hatte im Haus der Dämonen, unter dem Holzfußboden, eine geheime Schriftrolle und den Dolch entdeckt. Die Schriftrolle, so hatten sie alle vermutet, stammte aus dem Bardo thödol, dem tibetischen Buch der Toten, und wurde seit Jahrhunderten verstecktgehalten. Zu gefährlich waren die Macht des Schriftstückes und die des Dolches. Zwei Sachen mussten für den Seelentausch beachtet werden. Das Ritual konnte nur von einer Person reinen Herzens vollzogen werden, danach musste der Dolch so lang bei diesem Menschen bleiben, bis dieser starb. Noch heute war sie sich nicht ganz sicher, wie Jamisang sie zu dieser Tat hatte treiben können, denn sie hatte sich bis zu dem Moment, in dem sie die Seelenwanderung vollzog, heftig dagegen gewehrt. Ihr kleiner Freund Jamisang hatte seinen Körper ihrem sterbenden Lama mit Freuden geschenkt. Er selbst hatte durch dieses Opfer den Tod gewählt. Über ihr Gesicht legte sich ein dunkler Schatten. Durch den Seelentausch, den sie an den beiden Freunden vollzogen hatte, war etwas mit ihr geschehen. Für einen kurzen Moment hatte sie das Göttliche der ganzen Welt sehen können. Sie hatte das ewige Licht erblickt. Ab jenem Tag hatten sich ihre Augen verändert, sie schienen zu strahlen. In ihrem Inneren stieg ein weiteres Bild empor, und sie sah Jimpa, ihre große Liebe. Auch ihn hatte das Schicksal ihr genommen. Wieder sah sie ihn durch die Kugel eines chinesischen Agenten zu Boden gehen. In ihren Armen sterbend, hörte sie seine letzten Worte. »Ich werde dich immer lieben und ich werde dich im meiner nächsten Reinkarnation finden. Du brauchst mich nicht zu suchen, ich finde dich.« Ihr Blick wanderte zurück zu dem noch schlafenden Marc, er hatte keine Erinnerung an sein letztes Leben. Er wusste nicht, dass er die Reinkarnation Jimpas war. Daphne konnte nur hoffen, dass er es auch nie erfahren würde. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn die Flut der Erinnerungen über ihn hereinbrechen würde. Aber Jimpas Seele hatte Wort gehalten, er hatte sie gefunden. Einem plötzlichen zärtlichen Impuls folgend, lehnte sie sich über ihn, um ihn zu küssen. Ihr langes blondes Haar fiel dabei auf seine Brust und kitzelte ihn. Verschlafen zog er sie in seine Arme und hielt sie fest umschlungen, dabei murmelte er auf tibetisch, »Ich liebe dich.« Daphne lächelte, dies waren die kurzen Augenblicke, die sie mit Jimpas alter Seele ganz für sich allein hatte. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, befreite sie sich aus seiner Umarmung. Als sie sich erhob, war Marc wach. »Wo willst du so früh denn schon hin?«, fragte er noch etwas verschlafen. Sie lächelte ihn an und meinte, »Bleib du ruhig noch etwas liegen, ich möchte mich noch eine Weile an mein Inselbiotop-Projekt setzen. Jetzt, da ich das Land gekauft habe, kann ich es kaum erwarten, das Biotop mit einer Glaskuppel überdachen zu lassen. In Gedanken bepflanze ich es schon.« Marc schüttelte ungläubig den Kopf. »Du denkst schon über die Bepflanzung nach?«, fragte er ungläubig. »Du solltest erst einmal ein Haus hineinbauen lassen«, stellte er dann ernst fest. Daphne lachte hell auf. »Ja, ich bin ungeduldig, in meinem Kopf ist schon alles fertig!« Marc hatte sich auf seinen Ellenbogen gestützt und sah sie prüfend an, jeden Tag war er aufs Neue bestürzt, wie wunderschön sie doch war. Seine Augen glitten zärtlich über ihren Körper, er sah ihre blonden Haare, die ihr wirr, in leichten Wellen, um die Schultern fielen, ihre kleinen festen Brüste, ihre schmale Taille und die langen, wohlgeformten Beine. Doch am schönsten fand er ihre vergissmeinnichtblauen Augen, so intensiv blau, dass der Eindruck entstand, sie leuchteten von innen heraus. Er war sich sicher, er hätte sie auch so sehr geliebt, wenn sie nicht so verdammt hübsch gewesen wäre. Es war ihr Wesen, ihre Art, die sie so unwiderstehlich für ihn machte. Bei ihr hatte er das Gefühl, als sei er nach langer Suche endlich zu Hause angekommen. Er streckte die Hände nach ihr aus und meinte zärtlich, »Komm, meine Liebste, leiste mir noch einige Minuten Gesellschaft.« Sie kannte diesen Blick, langsam ging sie kopfschüttelnd rückwärts und versuchte tadelnd zu klingen. »Wirst du denn nie müde, mich zu lieben?«

»Ich werde nie aufhören, dich zu lieben«, sagte er lockend, »und ich werde nie aufhören, deinen Körper zu begehren.« Bevor sie sich umdrehen und fliehen konnte, war er schon aus dem Bett gestürzt und hatte sie in seine Arme gerissen. Sie versuchte, böse zu klingen, »Lass mich los, verdammt«, doch weiter kam sie nicht, jeden weiteren Einwand erstickte er mit einem Kuss. Es war jedesmal dasselbe, wenn er ihr so nah war. Sie hatte das Gefühl, als stünde ihr Körper in Flammen. Willig überließ sie sich seinen zärtlichen Händen. Mit einem leichten Seufzer schlang sie ihre Arme um ihn und gab sich ihm hin. Jedes Denken hörte auf. Wenn er sie liebkoste, gab es nichts anderes mehr auf der Welt. Ihre Körper verschmolzen, sie hatte das Gefühl, als würde sie sich in tausend kleine Atome auflösen. Bis sie keuchend, verschwitzt und nach Atem ringend nebeneinander lagen. Noch etwas außer Atem, meinte er, »Jetzt, meine Hübsche, kannst du etwas an deinen Plänen arbeiten.« In gespielter Wut stürzte sie sich auf ihn. Locker fing er ihre Schläge ab, presste sie fest an sich und flüsterte ihr ins Ohr, »Du solltest wirklich gehen, oder möchtest du eine zweite Runde?« Sie fluchte und biss ihm ins Ohr. Vor Schreck ließ er seinen Griff locker, und sie nutzte die Gelegenheit, um aus dem Bett zu schlüpfen. Lachend sprang sie ins Bad und meinte, »Wir sehen uns gleich.«

Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr das, für sie immer noch fremde, Gesicht. Sie betrachtete sich genauer. Ja, sie war wirklich hübsch. Vor einem halben Jahr, als sie in diesen Körper geschlüpft war, hatte sie sich das lange Haar auf Schulterlänge gekürzt. Doch Marc hatte sie gebeten, es wieder wachsen zu lassen. Mittlerweile reichte es ihr wieder über den halben Rücken. Sie beugte sich nah an den Spiegel und besah sich ihre veilchenblauen Augen. Diese Augen waren fähig, tief in die Seele eines anderen Menschen zu blicken, und wenn sie es wollte, gelang es ihr sogar, eine Tür im Kopf des anderen zu öffnen. Sie nannte es „die Tür zum inneren Frieden“, denn sie konnte dem anderen zeigen, wo in dieser Welt seine Bestimmung lag. Wenn sie diese Fähigkeit einsetzte, sah sie für einen kurzen Augenblick das ganze Leben des anderen. Doch sie nutzte diese Gabe wirklich nur in der höchsten Not. Nach all den Jahren vermisste sie ihr Leben in Tibet immer noch. Daphne atmete tief durch; sie verdrängte jeden weiteren Gedanken, der aufkommen wollte.

Kurze Zeit später saß sie vor dem Bildschirm und arbeitete. Eine Weile danach kam auch Marc ins Zimmer. »Ich werde uns in der Garküche ein paar Straßen weiter, ein Frühstück besorgen«, sagte er. »Soll ich dir Algenrührei mitbringen?«

»Nein«, meinte sie, »heute nicht.« Dann sah sie ihn mit strahlenden Augen an. »Wenn alles gutgeht, werden wir in unserem Inselbiotop ein paar Hühner haben. Hast du schon einmal Eier gegessen?«, fragte sie ihn.

»Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich glaube, das erste und letzte Ei habe ich gegessen, da war ich acht. Also, das müsste im Jahre Zweitausendzweihundertsechsundfünfzig gewesen sein«, meinte er und lächelte verschmitzt.

»Bleib doch mal ernst«, ermahnte sie ihn, »ich habe im Netz jemanden gefunden, der Hühner züchtet und verkauft. Im Moment noch zu unverschämten Preisen. Aber ich denke, der Preis wird noch fallen und dann sind die Hühner mein!«, rief sie mit Siegesstimme. Marc zog sich einen Stuhl neben sie. »Darf ich deine Pläne mal anschauen?«, fragte er. Freudig drückte sie eine Taste und ein dreidimensionales Haus erschien mitten im Raum. Es war phantastisch, Marc hatte das Gefühl, mit ihr von Raum zu Raum gehen zu können. Sie hatte es schon eingerichtet, das Mobiliar war einfach und, wie der Boden, aus einem dunklen Holzimitat. Im Meditationsraum hatte sie an die große freie Wand einen vom Boden bis zur Decke reichenden großen, goldenen Buddha gemalt. Daphne begann zu erklären: »Ich habe mir eine Schutzkuppel aus neuartigem Material herausgesucht, es ist viel leichter als Glas und widerstandsfähiger. Dadurch habe ich die Möglichkeit, die Kuppel in die Höhe zu bauen, denn ich möchte im Garten einige Bäume pflanzen. Unsere Regierung gibt jedem, der ein großes Grundstück überdachen lässt, einige kleine Setzlinge.« Etwas unsicher fragte sie ihn, »Kannst du dir vorstellen, dass wir dort leben und wohnen?« Marc nickte begeistert. Schnell sprach sie weiter. »Im Boden habe ich einen Zehntausendliter-Tank. Wenn es regnet, läuft das saure Wasser von der Kuppel dort hinein. Es wird gefiltert und aufbereitet, und natürlich habe ich auch an die Beregnungsanlage gedacht«, sagte sie voller Stolz. »Das Haus wird nur zwei Stockwerke haben, dafür aber etwas in die Länge gezogen sein«, fuhr sie weiter fort. Mit wachsender Begeisterung sprach sie weiter. »Hier sind die Zimmer für die Schüler.« Es waren einfach eingerichtete Zellen. Außer einem Bett und einem kleinen Bücherregal, enthielt es nichts. Auf dem Bett lag sauber zusammengefaltet eine Kutte, daneben stand eine Holzschüssel mit einem Löffel, und einem Rasiermesser zum Rasieren des Kopfes. Marc wusste, dass die Klosterschüler nicht mehr brauchten, sie entsagten freiwillig allen irdischen Besitztümern. Die Zellen sahen genauso aus, wie man sie in jedem Kloster in Tibet finden konnte. »Hier sind die Zimmer für die Gäste. Mir geht es nicht unbedingt darum, den Menschen den Buddhismus nahezubringen«, erklärte sie. »Ich möchte, dass die Menschen wieder lernen, sich selbst zu finden, sie sollen sehen, welche Kraft in ihnen steckt.

Sie sollen begreifen, dass sie eins sind mit der Natur, dann werden sie auch ihr Denken gegenüber der Natur ändern«, fügte sie hinzu.

»Und wo werden unsere Zimmer sein?«, fragte er leise.

»Hier, in der zweiten Etage«, sie zeigte ihm drei helle Räume, alle nicht sehr groß und noch nicht eingerichtet. »Nanu«, sagte Marc, »die sind ja noch nicht fertig.« Daphne sah ihn an und meinte, »Ich dachte, du würdest sie gerne mit mir zusammen einrichten.« Er legte den Arm um sie und drückte sie an sich. »Das, mein Herz, werde ich sehr gerne mit dir machen.« Sie konnten aus dem 3D-Haus auf eine große Terrasse gehen und den Blick in den virtuell fertigen Garten genießen. »Es ist leider so, dass wir in unserer Welt Tiere und Pflanzen nur noch in Inselbiotopen ein Zuhause geben können«, sagte sie traurig. »Aber, wie gesagt, ich bin im Netz immer noch auf der Suche nach Pflanzen und Tieren. Es sieht so aus, als gäbe es da eine Menge Menschen, die sich um die Artenerhaltung kümmern. Ich möchte auch dazu gehören«, sagte sie mit Nachdruck. »Was sich in den Inselbiotopen gut vermehrt, wird zum Verkauf angeboten, seien es Pflanzen oder Tiere«, erklärte sie ihm weiter. Marc sah sie fragend an, »Sag mal, ist das alles nicht wahnsinnig teuer, haben wir denn so viel Geld?«

»Ja, das liebe Geld«, seufzte sie. »Seitdem ich in Pias Körper bin, habe ich alles, was sie besessen hat, verkauft. Es hat leider nur dazu gereicht, das Grundstück zu kaufen, aber ich bin dabei, noch Geld aufzutreiben. Ich habe verschiedene Promis angeschrieben, einige haben sogar geantwortet und sind sehr interessiert«, sagte sie, nicht gerade überzeugend. Marc sah sie von der Seite eher misstrauisch an. »Du nutzt aber nicht deine, wie soll ich sagen«, er machte eine kleine Pause und schien zu überlegen, »du nutzt aber nicht deine ausgefallenen gedanklichen Möglichkeiten?«, beendete er dann den Satz. Sie lächelte verschmitzt, wurde dann aber wieder ernst, als sie antwortete, »Ich nutze meine Gabe nicht zu meiner Bereicherung. Ich bin mir ganz sicher, es wird sich eine Geldquelle auftun«, sagte sie fast trotzig. »Den Wunsch habe ich abgeschickt, das Universum wird ihn auffangen und umwandeln.« Marc zog sie in seine Arme und küsste ihre Stirn. »Da bin ich mir auch ganz sicher, mein Herz«, sagte er. Dann sprang er auf. »Ich habe ja fast unser Frühstück vergessen, bin gleich wieder da!«, rief er und war schon verschwunden, noch bevor sie etwas sagen konnte.

Daphne beendete ihre Arbeit, sie deckte den Tisch, räumte hier und da noch etwas auf, dann ging sie in ihr Büro zurück, denn fast hätte sie vergessen, ihr Haustier zu füttern. Haustiere zu halten, war verboten. Aber dieses war ihr, als sie noch die alte Daphne war, und sie noch in ihrer alten schäbigen Wohnung gewohnt hatte, zugelaufen. Genaugenommen war es auch kein Haustier im eigentlichen Sinne. Als sie die Schachtel öffnete, hob der kleine Ratterich schwach den Kopf. Sie sah sofort, dass er im Sterben lag. Die ganzen letzten Tage schon war er nicht mehr aus der Schachtel gekommen, um durch die Wohnung zu streifen. Sacht legte sie ihm die Hand auf den kleinen Körper, sie summte ein altes tibetisches Sterbelied. Das Tier entspannte sich unter der Berührung ihrer Hand, und dann sah sie, wie sich aus dem kleinen Körper ein winzig heller Punkt löste. Sie lächelte schwach. Leise sagte sie, »Ich weiß, dass ihr Tiere eine Seele habt, deshalb verstehe ich die Menschen nicht, die euch so quälen.« Seit Massentierhaltung verboten war, galt Rattenfleisch als Delikatesse. Sie wusste, dass man Ratten fing und auf grausamste Art tötete. Kurz schwebte das Licht nah an sie heran, streifte ihre Hand und glitt dann in Richtung Decke, um dort zu verschwinden. Fast vier Jahre hatte die Ratte sie begleitet. Unter Tränen flüsterte sie, »Leb wohl mein kleiner Freund, ich wünsche dir eine gute Reise und hoffe, du findest in deiner nächsten Reinkarnation mehr Erleuchtung.« Irgendwann in der Nacht würde sie sich in den Garten schleichen und seinen kleinen Körper an Mutter Erde übergeben.

Sie war gerade auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, als ihr plötzlich leicht schwindelig und übel wurde. Schnell setzte sie sich auf das Sofa und schloss für einen Moment die Augen. Es war ihr, als würde sie durch Raum und Zeit gerissen. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte nicht mehr aufstehen oder die Augen öffnen können. Ihr war sofort klar, dass sie gerufen wurde, dieser Zustand war ihr wohlbekannt. Doch noch nie hatten die Geistwesen, ohne dass sie in tiefer Meditation war, mit ihr Kontakt aufgenommen. Das war ihr fremd, ängstigte sie. Endlich legten sich die Übelkeit und der Schwindel. Ihr Geist schwebte im vollkommenen Nichts, eine tiefe Ruhe überkam sie. Daphne ließ sich tiefer hineingleiten in diesen wohlvertrauten Zustand, ihre Seele löste sich von ihrem irdischen Körper. Alles, was sie noch wahrnahm, war ein helles, goldenes Licht und unendliche Liebe. Dann hörte sie die Stimme ihres Freundes und Lehrers Tse Wang, oder wie er in seinem zweiten Leben nach dem Seelentausch hieß, Tschönpel. »Meine liebe Tochter, verzeih, dass ich mich auf so ungewöhnliche Weise bei dir melde. Mir bleibt leider nicht viel Zeit, ich habe mein irdisches Dasein vor einigen Wochen beendet, doch du, mein Kind, schwebst in höchster Gefahr. Die Chinesen haben unser Kloster geplündert, sie waren wieder einmal auf der Suche nach der geheimen Seite aus dem Bardo thödol. So etwas habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Mein sicheres Gefühl sagt mir, dass dies die Tat eines einzelnen war, der nichts Gutes im Sinn hat und etwas ganz Bestimmtes vorhat. Sie haben im Haus der Dämonen gewütet, als seien sie selbst welche, doch gefunden haben sie dort nichts. Ich vermute stark, dass wir unter den Schülern einen Verräter haben, denn sie wussten erstaunlich gut über die vergangenen Jahrzehnte Bescheid. Auch wussten sie, wo die Klosteraufzeichnungen zu finden sind. Leider haben sie auch all unsere Bücher aus der Bücherhalle mitgenommen. Ich bin mir ganz sicher, sie suchen als nächstes nach dem Dolch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie die alten Aufzeichnungen des Klosters gelesen haben, um zu wissen, nach wem sie zu suchen haben. Bringe den Dolch zurück nach Tibet, du wirst wissen, was mit ihm zu tun ist.« Noch immer konnte Daphne nichts erkennen. Wie gern hätte sie ihm noch einmal in seine warmherzigen Augen gesehen. Doch was er dann sagte, ließ ihr Herz für einige Sekunden aussetzen. »Du weißt sicher, dass ich vor meinem Tode bestimme, wo und wann ich wiedergeboren werde.« Nach einer kleinen Pause sagte er, »Ich habe beschlossen, in der Seele deines Kindes wiedergeboren zu werden.«

»Meines Kindes?«, fragte sie tonlos in die Dunkelheit. »Aber ich bin doch gar nicht schwanger«, flüsterte sie. Sanft klang seine Stimme, als er wieder sprach. »Doch, du bist schwanger, du weißt es nur noch nicht. Du musst zurück nach Tibet kommen«, sagte er mit Nachdruck, »ich habe dort für dich wichtige Aufzeichnungen gemacht. Ich habe sie so versteckt, dass nur du sie finden wirst. Komm nach Hause, Tochter, wir brauchen deine Hilfe.« Sie hatte das Gefühl, als würde ihr eine Hand liebevoll über die Wange streichen. Dann fühlte sie einen heftigen Ruck. Sie hörte Marcs sorgenvolle Stimme ihren Namen rufen. Zaghaft öffnete sie ihre Augen, Marc kniete vor ihr, sein Gesicht spiegelte Angst und Verzweiflung. »Großer Gott, Daphne«, rief er, »was ist denn mit dir geschehen?« Sie kam gar nicht dazu, irgendetwas zu sagen, in seiner Aufregung redete er immer weiter. »Ich komme zur Tür herein und finde dich ohnmächtig auf dem Boden. Kann ich etwas für dich tun? Soll ich dich in ein Krankenhaus fahren?« Sie richtete sich halb auf, ihr war immer noch ziemlich elend. »Nein, es geht mir schon besser«, würgte sie hervor, offenbar war sie vom Sofa auf den Boden gerutscht. Er half ihr auf die Beine und setzte sie wieder auf das Sofa zurück. »Ich hole dir erst einmal ein Glas Wasser«, stellte er fest. Als er weg war, legte sie verstohlen ihre Hand auf ihren Bauch. Sollte sie ihm sagen, dass sie ein Kind erwartete? Aber wenn sie das tat, würde er sie mit Sicherheit nicht nach Tibet fliegen lassen. Er würde sie gar nichts mehr machen lassen. Sie entschied, ihm erst einmal nichts von der Schwangerschaft zu erzählen. Marc brachte ihr das Glas Wasser und setzte sich neben sie. Erleichtert trank sie ein paar Schlucke und lehnte sich dann an ihn. Er legte wortlos von hinten seine Arme um sie und wartete, dass sie ihm erzählte, was vorgefallen war. Sie holte tief Luft und sagte dann, »Mein geliebter Lehrer und Freund Tse Wang ist gestorben, doch bevor er diese Welt ganz verlässt, bittet er mich, den Dolch nach Tibet zurückzubringen.« Sie spürte, wie Marc nickte und fuhr fort, »Das Problem ist nur, dass die Chinesen nach dem Dolch suchen werden und wir in Gefahr sein könnten.« Ungläubig fragte er, »Das alles hast du eben mal so während deiner Ohnmacht erfahren?« Sie nickte nur. Für einen kurzen Moment schwieg er. »Ich denke, du bist wirklich in Gefahr«, stellte er fest. »Ich werde gleich bei der Fluggesellschaft anrufen und uns für einen Flug nach Tibet registrieren lassen. Ich hoffe, wir müssen nicht so lange warten, bis sie eine Maschine vollhaben. Hast du eine Ahnung, wie schnell die Chinesen herausbekommen werden, wer und wo du bist?«, fragte Marc. Daphne zuckte mit den Schultern, dann lächelte sie und meinte, »Denk daran, sie suchen Daphne Murano und die liegt mit einem Schlaganfall im Altenheim im Bett. Selbst wenn die Chinesen sie finden, kann sie ihnen nichts sagen.« Für einen kurzen Augenblick hatte sie ein schlechtes Gewissen. In ihrem alten Köper war die Seele von Pia Richter gefangen und litt. »Es dürfte so gut wie unmöglich sein, eine Verbindung zu mir herzustellen«, sagte sie traurig. Marc hatte schon das Head-set auf dem Kopf und ließ sich verbinden. Mitten im Raum erschien die Holographie des Flughafenschalters. Eine junge Frau in dunkelblauem Kostüm erschien und sagte freundlich, »Willkommen bei Jump in the Sky. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich hätte gerne zwei Flüge nach Tibet gebucht«, sagte Marc. Die junge Frau tippte etwas in ihren PC, dann drehte sie ihn so, dass beide den Bildschirm sehen konnten. »Ich brauche Ihre Namen«, sagte sie wieder freundlich.

»Marc Rusher und Pia Rusher«, antwortete Marc.

»Bitte scannen Sie Ihre Bankdaten ein«, forderte die junge Frau ihn auf. Marc scannte seinen Oberarm und wie gewohnt gab der implantierte Chip die Daten frei.

»Zahlen Sie für beide?«, fragte die Frau am Schalter weiter.

»Ja«, erwiderte Marc.

»Ich schätze, dass die Maschine in drei Wochen nach Tibet fliegen wird, ganz genau kann ich das natürlich nie sagen. Sie bekommen zwei Tage vor Abflug von uns Bescheid.« Dann lächelte sie professionell. »Vielen Dank, dass Sie bei Jump in the Sky gebucht haben.«

Als nächstes rief er seine Dienststelle an, wieder erschien ein Bild mitten im Raum. Betty, Marcs Vorgesetzte, saß am Schreibtisch. »Oh, hallo Marc«, sagte sie erfreut, dann drehte sie den Kopf. »Hallo Pia, wie schön, dich zu sehen«, sagte Betty mit etwas kühler Stimme. »Diese dunkelblauen Kontaktlinsen stehen dir gut.« Daphne verkniff sich eine Antwort; zum Glück sprach Marc gleich wieder. »Betty, ich brauche in etwa drei Wochen Urlaub.«

Betty runzelte die Stirn. »Für wie lange denn?«, fragte sie. Marc zögerte einen kurzen Augenblick und meinte dann, »Vierzehn Tage werden reichen, denke ich.«

»Ich schau mal nach. Wenn du morgen zum Dienst kommst, reden wir darüber«, sagte Betty. Auch Daphne musterte Betty heimlich. Sie trug ihre braunen Locken kurzgeschnitten, was ihr hübsches Gesicht gut zur Geltung brachte. Betty war groß, um einiges größer als sie und schmal, ja fast dünn. Auch wusste sie, dass Marc und Betty einmal ein Paar gewesen waren, und dass er sie wegen ihr verlassen hatte. Na ja, verlassen war nicht das richtige Wort; Betty hatte ihn freigegeben. Während Daphne ihren Gedanken nachhing, hatte Marc alles mit Betty geklärt und war dabei, das Gespräch zu beenden. Betty blickte noch einmal zu Pia, nickte ihr kurz zu und das Bild erlosch. »Sie mag mich immer noch nicht«, stellte Daphne fest.

»Du meinst, sie mag Pia nicht«, berichtigte Marc sie. »Betty weiß nur, was in den Polizeiakten über Pia steht, mach ihr keinen Vorwurf«, sagte er tröstend. Daphne schwieg, ihre Gedanken wanderten wieder nach Tibet. Vor etwas mehr als sechzig Jahren lebte und liebte sie dort. Ihre Mitschülerin und kleine Schwester Tashi hatte ihr in Briefen mitgeteilt, dass auch das Kloster mittlerweile überdacht war. Dann hatte Tashi weniger und weniger geschrieben, bis ihre Briefe schließlich ganz ausblieben. Aber Daphne konnte fühlen, dass sie noch am Leben war. Daphne fragte sich, wo Tse Wang das Geld für die Überdachung des Klosters herhatte. Sie kannte Tse Wang gut genug, um zu ahnen, dass er wohl die Geldspenden an das Kloster, an den Chinesen vorbeigeleitet hatte, anstatt sie ihnen zu geben. Denn zu ihrer Zeit ging es dem Kloster richtig gut, jeden Tag kamen Pilger und Gläubige, um Buddha zu huldigen, Kranke, um Heilung zu finden und Touristen, um das Kloster zu besichtigen. Die Vorratskammern waren prall gefüllt, und auch Geld war reichlich vorhanden. Für einen kurzen Moment lebte das Bild in ihrem Geiste auf, sie dachte an die Bücherhalle, an all die Bücherregale, gefüllt bis unter die Decke mit altem Wissen, mit Philosophie, Astrologie, Medizin, Lyrik, Prosa und noch vielem mehr. Manche Bücher waren Hunderte von Jahren alt. Ihr Blick wurde traurig, wie sollten die Schüler jetzt lernen? Vor ihrem geistigen Auge sah sie all die Regale leer. Wieder wanderte ihre Hand zu ihrem Bauch und legte sich schützend darüber. »Was sagst du dazu?«, hörte sie Marc fragen, er hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. »Was hast du gesagt?«, fragte sie. »Ich möchte nicht, dass du irgendjemandem die Tür öffnest, wenn ich nicht da bin«, sagte er. Sie nickte und widersprach nicht, denn sie spürte, dass er recht hatte. Er ging zu ihr, zog sie vom Sofa hoch und schloss sie in die Arme. Er hielt sie so fest, dass es ihr fast wehtat. »Ich würde es nicht überleben, wenn dir etwas zustoßen würde«, murmelte er in ihr Haar. »Du bist mein Leben, ohne dich will und kann ich nicht mehr sein. Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, wie sehr ich dich liebe.« Seine Stimme klang seltsam belegt, als er weitersprach. »Ich weiß auch nicht, was manchmal mit mir los ist. Irgendwo tief in mir lauert eine Angst, dass ich dich verlieren könnte.« Wie ernst er es meinte, sah sie, als sie den Kopf etwas hob, um ihm in die Augen zu blicken. Er hatte die Zähne so fest zusammengepresst, dass seine Kiefermuskeln stark hervortraten. Zärtlich strich sie ihm durch seine dunklen Haare und sah ihm tief in die Augen, er konnte bei ihr das gleiche Gefühl für ihn erkennen. Das erste Mal in seinem Leben musste er darum kämpfen, nicht vor Glück und gleichzeitig vor Sorgen zu weinen.

Die nächsten Tage verbrachte Daphne zu Hause, sie arbeitete wie besessen an ihrem Projekt.

Doch immer wieder glitten ihre Gedanken ab, wanderten zurück in der Zeit, nach Tibet. Wie sollte sie verhindern, dass Marc herausfand, dass er die Reinkarnation Jimpas war? Wäre es nicht besser, dass sie ihn darauf vorbereitete? Eines war klar, es würde sich nicht verhindern lassen, dass er es herausfand. Sobald er das Kloster Sakja betrat, würde sich sein altes Wissen erheben. Die Frage war nur, wieviel würde er noch wissen, und wie würde er reagieren? Sie entschloss sich dazu, ihm die Wahrheit zu sagen, aber sie wollte auf einen günstigen Zeitpunkt warten.

An manchen Abenden gingen sie engumschlungen noch etwas spazieren, hier und da blieben sie stehen, um sich die Hologramm-Auslagen der Geschäfte anzusehen. Sie bemerkten beide nicht, dass sie dabei schon von dunklen, geschlitzten Augen beobachtet wurden. Der Verfolger hielt sich immer im Schatten, doch er sog alles, was er sah, in sich auf. Die außergewöhnliche Schönheit Daphnes berührte ihn tief, doch gleichzeitig hasste er sie. Nie würde eine Frau wie sie auch nur einen Blick an ihn verschwenden. Dieser Marc war ein ernstzunehmender Gegner, sein Körper war gut durchtrainiert, und auch er war ein überdurchschnittlich gutaussehender Mann. Sein Hass auf die beiden steigerte sich ins Unermessliche. Dann lächelte er hinterhältig, in seinem Kopf entstand ein böser Plan.

Wenn Marc abends nach Hause kam, brachte er immer etwas zu essen mit und erzählte, wie sein Tag so gewesen war. Betty hatte, nach einigem hin und her, seinen Urlaub genehmigt, auf keinen Fall hätte er Daphne allein nach Tibet fliegen lassen. Am Ende der Woche kam Marc schon gegen Mittag nach Hause, und als er die Tür öffnete, hob sie erstaunt den Kopf und fragte: »Was machst du denn schon hier«? Aber als sie ihn ansah, merkte sie gleich, dass etwas nicht stimmte, er wirkte nervös und angespannt. »Das Altenheim hat mich heute angerufen«, meinte er. »Daphne, also dein Körper, hatte heute Besuch von drei Chinesen und einem tibetischen Mönch. Einer hat die Schwestern ausgefragt, nachdem sie festgestellt haben, dass die alte Dame im Koma liegt. Der Kerl hat nicht lockergelassen, so dass sie ihm schließlich gesagt hatte, er solle doch mit seinen Fragen Daphnes Enkelsohn aufsuchen. Er hat sich meinen Namen geben lassen und meine Rufnummer. Kannst du dich an Schwester Anni erinnern?«, fragte er. Daphne konnte nur nicken, ihr Mund fühlte sich plötzlich sehr trocken an. »Ihr hat die ganze Geschichte keine Ruhe gelassen«, erzählte Marc weiter, »sie hat mich angerufen. Sie sagt, der eine sei ein ziemlich schmieriger Kerl, der alles ganz genau wissen wollte. Leider konnte sie meinen Namen nicht aus der Geschichte herauslassen.« Daphne war blass geworden. Marc hatte in der Zeit seine Uniform gegen bequeme Freizeitkleidung getauscht. Achtlos legte er seinen Pistolengurt, in der seine Waffe steckte, auf einen kleinen Schrank. Er würde ihn später wegschließen. Beruhigend streichelte er Daphnes Gesicht. »Hör zu, meine Liebste«, sagte er, »ich denke es ist besser, du gibst mir deinen Dolch. Ich werde ihn fortbringen, nur zur Sicherheit. An dem Tag, an dem wir nach Tibet abreisen, werde ich ihn wieder holen, versprochen.« Er lächelte tröstend. »Ich werde dir nicht sagen, wo ich ihn verstecken werde, und ich bitte dich, es auch nicht mit deinen wunderschönen blauen Augen in meinem Kopf zu lesen.« Wieder konnte sie nur nicken, ihr gefiel der Gedanke, sich von ihrem Dolch zu trennen, ganz und gar nicht. Doch so sehr sie auch überlegte, ihr fiel keine andere Lösung ein. Ohne die Kette zu öffnen, zog sie den kleinen Dolch einfach mit der Kette über den Kopf, und schweren Herzens übergab sie ihn an Marc. Der eilte davon und kam mit einem alten Holzkästchen zurück, in den er, fast liebevoll, den Dolch legte. Daphne hob erstaunt die Brauen. »Ist das Kästchen aus echtem Holz?«, fragte sie. Marc lächelte. »Ja, das ist es«, erwiderte er. »Ich habe es von meinen Eltern, und die haben es von ihren, es wird schon eine Weile von Generation zu Generation weitergegeben.« Dann klappte er den Deckel zu, klemmte sich die Holzschachtel unter den Arm und war schon auf dem Weg zur Tür, als er noch einmal stehenblieb. Eindringlich sagte er zu Daphne: »Du öffnest auf keinen Fall die Tür, während ich nicht da bin, egal, wer auch davorstehen sollte. Packe in der Zeit ein paar Sachen für uns beide zusammen, wir werden für eine kurze Weile untertauchen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen und verschwand. Erst als er auf der Straße stand, überlegte er, wo er die Schachtel hinbringen könnte. Ein Schließfach? Nein, er hatte Angst, dass es aufgebrochen werden könnte. Betty fiel ihm ein, dort wäre der Dolch in Sicherheit. Als er noch einmal zu seiner Arbeit zurückkam, schaute Betty ihn skeptisch und überrascht an. »Na, kommst du doch heute wieder arbeiten?«, fragte sie Marc. »Nein, Betty, ich möchte dir nur etwas geben und dich bitten, ein paar Tage darauf aufzupassen.« Er stellte ihr die Holzschachtel auf den Tisch. Betty hob überrascht die Augenbrauen. »Da ist aber nichts Illegales drin?«, fragte sie. Marc lächelte. »Keine Angst, es hat alles seine Ordnung. Würdest du die Schachtel mit nach Hause nehmen?«, bat er sie noch. »Wir sehen uns dann morgen.« Er hatte keine Ruhe, seine Gedanken waren bei Daphne.

Als Marc gegangen war, verspürte Daphne doch plötzlich Angst. Ein Gefühl sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte. Trotzdem nahm sie sich die Zeit, den Körper der kleinen Ratte an Mutter Erde zu übergeben. Danach packte sie für sich und Marc ein paar Kleider zusammen, als es an der Haustür klingelte. Sie stand wie gelähmt und starrte die Tür an. Dann wurde angeklopft und sie erkannte die Stimme ihrer Nachbarin, Frau Schruder, einer netten, älteren Dame. »Frau Rusher, sind Sie zu Hause?«, rief sie. »Bitte, ich brauche Ihre Hilfe. Ich brauche einen Arzt, ich fühl mich gar nicht gut.« Daphne konnte Angst und Verzweiflung in der Stimme hören. Sie ging zur Tür und legte ihre Hand auf ein kleines Metallquadrat, das sofort durchsichtig wurde. Vor der Tür stand tatsächlich ihre Nachbarin, sie schien ein wenig zu schwanken und war leichenblass, die Augen vor Angst geweitet. Daphne dachte nicht lange nach und öffnete die Tür, da brauchte jemand ihre Hilfe. Sie sah gerade noch, wie die alte Dame zur Seite gestoßen wurde und, wie aus dem Nichts, zwei riesige Chinesen vor ihr standen, die aussahen wie Sumo-Ringer. Noch bevor Daphne einem von ihnen in die Augen blicken konnte, traf sie ein Schlag an der Schläfe. Sie sah rote Kreise, die in ihrem Inneren zu explodieren schienen, dann sackte sie bewusstlos zusammen. Die Hünen traten einen Schritt zur Seite und machten Platz für einen kleinen Chinesen. Der Mann war sehr schmal, sein Gesicht gelblicher als normal, seine Haut sah aus wie altes Pergamentpapier. Er lächelte zufrieden und zeigte dabei eine Reihe schlechtgepflegter Zähne. »Sehr gut, Hu Lien«, flüsterte er mit einer Fistelstimme. Hu Lien war schon dabei, Daphne einen Sack über den Kopf zu stülpen. »Bring sie ins Auto und fahr sie schon mal rüber«, sagte er. »Aber achte darauf, dass dich keiner sieht. Jun Kao und ich werden warten bis ihr Mann nach Hause kommt. Vergiss nicht«, mahnte er, »auf keinen Fall darf sie dir in die Augen sehen.« Der Riese nickte ergeben, warf sich Daphne, als würde sie nichts wiegen, über die Schulter und trabte davon. Zhang Lieh ging zurück in den Flur und half der alten Dame auf die Beine, über die Schulter sagte er zu Jun Kao, »Warte hier, ich komme gleich wieder.« Zu Frau Schruder gewandt, flötete er mit seiner Fistelstimme, »Sie entschuldigen bitte die Unannehmlichkeiten. Sicher werden Sie Verständnis dafür haben,« sprach er freundlich weiter, »dass ich nicht riskieren kann, dass Sie unseren Freund Marc oder die Ordnungshüter benachrichtigen.« Er schob sie in ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Dann griff er in seine Jacke und zog zwei schwarze, weiche Lederhandschuhe hervor. Langsam und bedächtig schlüpften seine Hände hinein. Mit angsterstarrtem Gesicht sah die alte Frau ihn an. »Bitte,« flehte sie, »ich werde niemandem etwas sagen.« Mehrmals schloss er seine Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Er lächelte, als er sagte, »Aber ja doch, ich weiß, Sie werden nichts sagen.« Dabei ging er langsam auf sie zu. Schade, dachte er, dass ich so wenig Zeit habe. Er hätte ihre Angst und ihr Flehen um ihr erbärmliches Leben gerne noch ein wenig ausgekostet. Seine Hände legten sich um ihren Hals und drückten unerbittlich zu. Keiner hätte gedacht, dass in seinem kleinen mageren Körper so viel Kraft steckte. Er machte sich nicht die Mühe, ihren leblosen Körper in ein anderes Zimmer zu bringen. Er gönnte sich das Vergnügen und ging langsam durch die Wohnung. Seinen Augen entging nichts, schließlich kam er zu der Überzeugung, der alten Frau einen Gefallen getan zu haben. Alles hier atmete Einsamkeit, so würde er nicht enden. Befreit zog er tief die Luft in seine Lungen und lächelte, er kannte nun einen Weg, der ihm ewige Jugend und Gesundheit versprach. Ungerührt verließ er danach die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Nebenan war Jun Kao schon damit beschäftigt, die Wohnung von Marc und Daphne nach dem Dolch zu durchsuchen. Zhang Lieh setzte sich auf das Sofa, schloss die Augen und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Er versuchte, sich vorzustellen, wie Marc und diese Pia hier gelebt und sich geliebt hatten. Dann stand er auf und ging langsam durch jeden Raum. Im Schlafzimmer fiel sein Blick auf das verwühlte Bett. Mit einem angeekelten Lächeln stand er einen kurzen Augenblick davor. Die körperliche Nähe zum anderen Geschlecht war ihm seit längerem versagt. Er hasste jeden, der sich diesem Vergnügen hingeben konnte. Er schnaubte verächtlich, ging zurück in das Wohnzimmer und meinte zu Jun Kao, »Du kannst aufhören zu suchen, der Dolch ist nicht hier. Nun, dann werden wir mal auf den Herren des Hauses warten«, sagte er abfällig. »Wir werden ihm einen Empfang bereiten, den er so schnell nicht vergessen wird.« Jun Kao hatte noch nicht ein Wort gesagt, seine Intelligenz reichte nur dazu, Befehle zu empfangen und auszuführen. Genau das schätzte Zhang Lieh an ihm so. Beim Durchsuchen des kleinen Büros fiel Jun Kao Marcs Dienstwaffe in die Hände. Sofort brachte er sie stolz ins Wohnzimmer zu Zhang Lieh, und der war außer sich vor Freude. »Sieh an, sieh an«, sagte er triumphierend, »das neueste Modell, er wird begeistert sein, von seiner eigenen Waffe niedergestreckt zu werden.« Er drehte das kleine Rädchen, das seitlich an der Pistole war, auf die höchste Dosis Betäubungsmittel. Das würde mit Sicherheit reichen, ihn außer Gefecht zu setzen. Nachdem Zhang Lieh Marc getroffen haben würde, hätte dieser noch zwei Sekunden und würde dann, durch ein Nervengift gelähmt, ohnmächtig zusammenbrechen. Der Gedanke daran zauberte Zhang Lieh ein bösartiges Lächeln auf die Lippen.

Marc war noch schnell an einer Garküche vorbeigefahren, um für Daphne und sich ein verspätetes Mittagessen zu besorgen. Mit allerlei kleinen Tütchen bepackt, kam er endlich zu Hause an. Er legte seinen Finger an den Scanner der Tür, und mit einem leisen „Plopp“ öffnete sie sich. Sofort als er den Raum betrat, merkte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch bevor er reagieren konnte, sah er einen kleinen Chinesen, der eine Waffe auf ihn richtete und abdrückte. Das letzte, was er hörte, war eine hämische Stimme, die sagte, »Willkommen zu Hause, Marc.« Dann sackte er schon bewusstlos zusammen. Jun Kao warf Marc über die Schulter, trug ihn hinaus und ließ ihn recht unsanft in den Kofferraum ihres Mietwagens fallen.

Daphne erwachte mit heftigen Kopfschmerzen, der Raum, in dem sie lag, war in Halbdunkel getaucht. Wie lange sie schon dort lag, wusste sie nicht. Staub flirrte in der Luft, und durch die trüben Fenster sah sie etwas Sonnenlicht. Man hatte alte Kleidung aufeinandergeworfen und sie daraufgelegt. Ihre Hände waren schmerzhaft auf den Rücken gefesselt. Mühsam kam sie auf die Knie und ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen. Es sah aus wie ein ehemaliger Umkleideraum. Überall waren schmale Schränke, die Türen standen weit offen, der Boden war fingerdick mit Staub und Dreck übersät, und es roch einfach widerlich nach Moder und altem Schweiß. Die Tür öffnete sich, und der riesige Chinese betrat den Raum. Mit wenigen Schritten trat er hinter sie, und unsanft wurde sie auf die Beine gestellt. »Wo bin ich?« fragte sie. Er antwortete nicht und schob sie vor sich her. Schließlich stand sie in einer großen Halle, jetzt konnte sie sehen, dass sie sich in einer alten, verlassenen Fabrikhalle befand. Von der Decke hingen schwere Eisenketten, und überall standen alte große Maschinen. Auch hier fand etwas Sonnenlicht seinen Weg durch das kaputte Dach.

Angestrengt starrte sie in das Halbdunkel. In der Mitte der Halle hatte man einen Tisch mit zwei Stühlen gestellt, mit etwas Mühe konnte sie dort eine Gestalt sitzen sehen. Ungeduldig rief der Mann, »Bring sie endlich her, trödle nicht so, Hu Lien.« Wieder wurde sie vorwärts gestoßen, bis sie endlich am Tisch stand. Noch bevor sie dem fremden Chinesen in die Augen blicken konnte, wurden ihre Augen von hinten mit einer Binde verdeckt, und sie wurde unsanft auf einen Stuhl gedrückt. Anscheinend war der Chinese aufgestanden und hinter sie getreten, schon die Stimme an ihrem Ohr jagte ihr Ekelschauer über den Rücken. »Sehen Sie, meine Liebe,« sagte er mit öliger Fistelstimme, »mein Name ist Zhang Lieh, ich bin chinesischer Geheimagent, einer der besten, wie ich behaupten darf.« Zhang Lieh machte eine bedeutsame Pause, dann sprach er weiter. »Seit einigen Jahrzehnten suchen wir glücklos nach der verborgenen Seite des Bardo thödol und dem sagenhaften kleinen Dolch.« Er hatte sich einige Schritte von ihr entfernt, und sie hörte ihn mit Papier rascheln, dann sprach er weiter. »Dank des Lamas Tschönpel, oder soll ich besser sagen, Tse Wang, habe ich wichtige Aufzeichnungen über das Kloster Sakja in die Hände bekommen. Ich habe sie gründlich studiert und bin auf einige interessante Eintragungen gestoßen. Ich denke, ich helfe Ihrer Erinnerung auf die Sprünge, wenn ich Ihnen etwas daraus vorlese.« Zhang Liehs Stimme war jetzt gefährlich leise, als er zu lesen begann. »So schreibt dieser Tse Wang, dass eine nichttibetische Frau im Kloster aufgenommen wurde, leider verrät er keinen Namen. Ein halbes Jahr später schreibt er, dass sie große Fortschritte mache und dass sie den Weg der Heilerin einschlagen wird. Er schreibt weiter, dass sie „die Gabe“ besitze, was immer das auch heißen mag. Wieder ein Jahr später schreibt Tse Wang, dass diese Frau tibetisch spreche, als sei sie dort geboren und aufgewachsen. Später wird sie zur Rigdsin, was soviel heißt, wie „Erfasserin des Wissens“ und sie wird Lama. Wenn ich mich nicht täusche, ist das ein Lehrer. Sie begleitet die Sterbenden auf ihrem Weg, was wirklich sehr außergewöhnlich ist, da sie nicht aus Tibet stammt. Dann verschwindet dieser Tse Wang von einem Tag auf den anderen und an seine Stelle tritt dieser Tschönpel. Wissen Sie,« sagte Zhang Lieh mit vor Hohn tropfender Stimme, »die Handschrift ist aber dieselbe geblieben. Soll ich Ihnen seinen ersten Eintrag vorlesen?« ,fragte er, und ohne auf ihre Antwort zu warten, las er. »Jamisang hat unsere Rigdsin gezwungen, eine Seelenübertragung an meinem und seinem Körper durchzuführen. Seit diesem Tage haben sich die Augen der Rigdsin und die meinen verändert, wir haben in das Reich Buddhas geblickt. Unsere Rigdsin wird den Dolch nun bis an ihr Lebensende bei sich tragen müssen.« Zhang Lieh war wieder hinter Daphne getreten, seine Hand legte sich schwer auf ihre Schulter, seine Finger liebkosten die zarte Haut ihres Halses. Dabei suchten sie nach einer Kette. Sie wand sich, um der Berührung zu entgehen. Wieder war seine Stimme dicht an ihrem Ohr als er sagte: »Soll ich Ihnen die letzte Eintragung über diese geheimnisvolle Rigdsin vorlesen?« Daphne konnte nicht antworten, dann hörte sie, wie er weiter las. »Die Chinesen haben unseren Jimpa getötet. Wir konnten nicht riskieren, dass die Rigdsin in die Hände der Chinesen fällt und haben sie in ihre Heimat zurückgebracht.« Jetzt drückten die Finger auf ihrer Schulter schmerzhaft zu, krallten sich in ihre zarte Haut, Daphne entwich ein Schmerzenslaut. Seine Stimme wurde scharf und schneidend. »Nun, innerhalb von vierundzwanzig Stunden wusste ich, dass ich Daphne Murano suchen muss. Wie gesagt, ich bin einer der besten Agenten, doch diese Murano hat den Dolch nicht mehr, und ich konnte mich selbst davon überzeugen, dass ihre Augen verloschen sind.« Zhang Lieh kicherte, klatschte in die Hände und rief: »Na, so etwas. Dann habe ich mir von den Schwestern alles über ihren Enkel erzählen lassen. Nach längerem Bohren erfuhr ich auch von Ihnen, meine Liebe, und vor allem ist aufgefallen, wie sich Ihre Augen verändert haben.« Seine Hände griffen in ihr Haar und rissen ihr schmerzhaft den Kopf zurück. »Sie müssen wirklich denken, ich bin beschränkt«, zischte er wieder dicht an ihrem Ohr. »Wie hätten Sie es denn gerne, wie ich Sie nennen soll, Pia oder lieber doch Daphne?« So schnell wie seine Hände in ihr Haar gegriffen hatten, verschwanden sie auch wieder. Daphne saß da wie vom Donner gerührt, es war ihr nicht möglich, etwas zu sagen. Wieder war seine Stimme dicht an ihrem Ohr, als er fast freundlich weitersprach. »Ich werde Ihnen jetzt die Augenbinde abnehmen lassen. Sollten Sie mich oder einen meiner Männer direkt ansehen, werde ich Ihnen die Augen ausstechen lassen, ist das klar?«, fragte er. Sie konnte nur nicken. Sie spürte, er würde seine Drohung wahrmachen, wenn sie nicht gehorchte. »Ich weiß, dass Sie besondere Fähigkeiten haben«, flüsterte Zhang Lieh fast zärtlich. Die Augenbinde wurde ihr abgenommen. Daphne hielt ihre Augen gesenkt, er setzte sich ihr nun gegenüber und schlug seine Beine entspannt übereinander. »Ich habe auch noch eine ganz besondere Überraschung für Sie«, vernahm sie seine Fistelstimme. »Wenn Sie sich jetzt bitte einmal umdrehen würden.« Sie tat, wie ihr geheißen wurde. Ein entsetzter Schrei löste sich von ihren Lippen. Nicht weit von ihr hing Marc, an Händen und Füßen gefesselt, an einer Eisenkette, die von der Decke hing, so, dass seine Füße kaum noch den Boden berührten. Sein Kopf hing schlaff nach vorn, was nur bedeuten konnte, dass er bewusstlos war. »Einen hübschen Mann haben Sie da«, sagte Zhang Lieh und nickte in die Richtung von Jun Kao. Dieser ging zu Marc, zog den Kopf an den Haaren zurück und begann, ihn mehrfach mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. Daphne hörte, wie Marc leise stöhnte. »Aufwachen, Rusher«, hörte sie Zhang Lieh amüsiert rufen. Noch benommen hob Marc den Kopf, er öffnete und schloss mehrmals die Augen, um klar sehen zu können. Als er Daphne erkannte, war es ihm, als würde eine kalte Hand nach seinem Herzen greifen. Marc begann zu schreien und zu toben, er sah in Zhang Liehs Richtung. »Sie Schwein, wenn Sie ihr auch nur ein Haar krümmen, werde ich Sie töten!«, drohte Marc ihm. Zhang Lieh hob noch nicht einmal seinen Kopf in Marcs Richtung. »Haben Sie mich verstanden!«, schrie Marc außer sich.

Zhang Lieh lächelte gelassen. »Sie sind nicht in der Position, mir etwas antun zu wollen, Rusher«, sagte er fast freundlich. Wieder nickte Zhang Lieh zu Jun Kao und dieser schlug, ohne eine Miene zu verziehen, seine Faust in Marcs Magen. Für einige Sekunden bekam Marc keine Luft mehr, der Schmerz raste durch seinen Körper und Übelkeit durchflutete ihn. »Nur damit wir zwei uns richtig verstehen,« sagte Zhang Lieh, »Sie werden so oder so sterben. Ich finde, bis es soweit ist, sollten Sie ruhig und gefasst bleiben, zumal Sie Ihre eigene Frau umbringen wird«, setzte er noch gehässig hinterher. Tränen liefen Daphne über das Gesicht, jetzt schrie sie, »Niemals werde ich Marc etwas antun, hören Sie, lieber werde ich selbst sterben!« Zhang Lieh ignorierte Daphnes Worte. »Zurück zu dir, mein Täubchen«, meinte er, so, als würden sie sich auf einer Party unterhalten. »Ich habe da noch etwas für dich.« Zhang Liehs Stimme wurde jetzt wieder schneidend, als er weitersprach. »Kurz bevor der Lama gestorben ist, hat er im engsten Kreis bekanntgegeben, wo er wiedergeboren werden wird. Er sprach davon, dass seine neue Mutter eine blonde Frau sein würde und dass sie mit der tibetischen Tradition so verbunden sei, als habe sie ihr Leben dort verbracht.« Daphnes Körper fühlte sich plötzlich eiskalt an und sie begann, am ganzen Körper zu zittern, aber sie wagte es nicht, Zhang Lieh direkt anzusehen. Stattdessen hörte sie ihn sagen: »Darf ich Ihnen Dr. Peterson vorstellen?« Ein kleiner, fetter Mann wurde von Hu Lien zu ihnen gebracht, sie konnte den Doktor nur aus den Augenwinkeln beobachten. Sein Gesicht war aufgedunsen, er schwitzte stark und sie konnte selbst aus der Entfernung noch seine Alkoholfahne und den alten Schweiß riechen. Daphne hatte vor Angst kaum ihre Stimme unter Kontrolle, als sie sprach, »Wenn Sie mich anfassen, werden Sie sterben«, sagte sie, so ruhig sie konnte. Zhang Lieh lachte laut, so, als habe er einen guten Witz gehört. Marc beobachtete alles mit zusammengebissenen Zähnen, seine Augen waren nur noch Schlitze. Unvermittelt fragte Zhang Lieh: »Sind Sie schwanger, meine Liebe?« Daphne blickte wieder kurz zu Marc, jetzt waren seine Augen weit aufgerissen, und sein Gesicht aschfahl. Ihre Augen trafen sich kurz, Daphne atmete tief ein und antwortete: »Soweit ich weiß, bin ich nicht schwanger.« Zhang Lieh lächelte hinterhältig und meinte zu Daphne: »Ich denke, dass Sie dann nichts dagegen haben, wenn unser lieber Doktor Sie kurz untersucht. Sollte er doch eine Schwangerschaft feststellen, wird er diese natürlich gleich beseitigen«, setzte er ruhig hinzu. »Ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass sie die Trägerin des neuen Lamas von Tibet werden. Selbst wenn ich mich täuschen sollte und Sie nicht die Auserwählte sind.«

Wieder begann Marc zu toben, er schrie wie von Sinnen. »Sie fassen sie nicht an, ich schwöre, ich reiße Ihnen die Eingeweide heraus, wenn sie auch nur einen Finger an meine Frau legen, Sie kleine, miese, hässliche Kreatur!« Zhang Lieh hob die Augenbrauen, blickte zu Jun Kao und nickte. Dieser schlug so lange auf Marc ein, bis er die Besinnung verlor. Daphne konnte hören, wie eine von Marcs Rippen brach. »Sachte«, tadelte Zhang Lieh sanft, »mach mir diesen schönen Körper nicht kaputt.« Zhang Lieh sprach, wieder an Daphne gewandt: »Ich werde Sie mit unserem Doktor alleinlassen, er wird mir später Bericht erstatten. Ich werde mich in der Zwischenzeit in meinem Hotel etwas ausruhen. Mir ist das alles hier etwas zu düster und zu schmutzig«, dabei machte er eine ausholende Geste durch den Raum. Als Daphne aus den Augenwinkeln zu ihm hinsah, erkannte sie, dass er krank aussah. Seine Haut schien gelber und seine Augen waren tief eingefallen. Kein Zweifel, dieser Mann war sehr krank, der Tod war ihm dicht auf den Fersen. Hu Lien zog Daphne vom Stuhl hoch und schleppte sie mit sich in den kleinen Raum, in dem sie aufgewacht war, dabei immer darauf achtend, dass sie ihn nicht ansehen konnte. In der Zwischenzeit hatte man einen Tisch dort hineingebracht. Daphne begann, sich aus Leibeskräften zu wehren. Draußen hörte sie Marc, er war aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, sein Schrei klang wie der eines verletzten Tieres, das noch einmal zum Angriff übergeht. Sie hörte, wie er voller Verzweiflung ihren Namen rief. Bis jetzt hatte sie gedacht, das Kind würde von den Geistern beschützt, doch eine schreckliche Vorahnung machte sich in ihr breit. Man würde ihr das Kind, das sie im Leibe trug, nehmen. Dr. Peterson betrat den Raum, in ihrer Todesangst bohrte Daphne ihre Augen in die seinen. Dr. Peterson hielt in der Bewegung inne und dachte, welch schöne, ausgefallene blaue Augen sie hat, nie hab ich etwas Schöneres gesehen. In diesem kurzen Moment, konnte Daphne in seine Seele blicken, er war kein schlechter Mensch. Daphne sah ihn, als er noch ein junger Arzt war, sie sah, dass er wegen eines Kunstfehlers seine Approbation verloren hatte. Er begann, sich auf die Verletzungen kleiner Ganoven zu spezialisieren, ein Messerstich hier, ein Knochenbruch da, und das Austauschen von Chips, die meistens von irgendwelchen Leichen stammten. Alles, was nicht in einer Klinik behandelt werden durfte, kam zu ihm. Seinen Frust begann er, im Alkohol zu ertränken. »Ich flehe Sie an«, sprach Daphne leise und eindringlich, »im Grunde Ihres Herzens möchten Sie das nicht machen, lassen Sie mir mein Kind.«

Er stand immer noch bewegungslos, gefangen in ihren schönen Augen. Doch noch bevor sich ihr Geist in seinem Kopf weiter ausbreiten konnte, zog Hu Lien ihr die Augenbinde über. Ehe sie es sich versah, spürte sie, wie sie eine Spritze bekam. Sie kämpfte dagegen an, doch dann kam das Nichts.

Leise vor sich hin summend, betrat Zhang Lieh das Zimmer der Absteige, in die er sich eingemietet hatte. Hier war er einer von vielen, hier gab es keine Überwachungskameras wie in den großen Hotels. Keiner würde sich später an ihn erinnern. Er ließ sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine von sich. Seine Hände zitterten leicht, als er in seinen Taschen nach der Morphiumspritze tastete. Die Schmerzen in seinem Körper waren fast unerträglich. Sobald sich die Droge in seinem Organismus verteilt hatte, entspannte er sich. Er war wie ein wildes Tier, sie würden alle noch sehen, was in ihm steckte, überlegte er. So wie diese Nutte, die er umgebracht hatte, als er zwanzig Jahre alt war. Das Miststück hatte ihn ausgelacht, hatte sich über seinen kleinen, dürren Körper lustig gemacht. Bis er ihr in seiner Wut den Mund zugehalten hatte und ihr mit einem schnellem Schnitt die Kehle durchgeschnitten hatte. Der Geruch von billigem Parfüm und frischem Blut war unbeschreiblich berauschend für ihn gewesen.

Mit Zweiundzwanzig trat er in den Geheimdienst ein, keiner hinterfragte, wenn er beim Verhören tötete. Das gab ihm die Möglichkeit, sein Morden zu verfeinern und seine besonderen Vorlieben beim Töten zu finden. Seinen Vorgesetzten reichte es als Begründung, wenn er Staatsfeindlichkeit angab. Er malte sich aus, wie er Daphne am liebsten töten würde. Zärtlich würde er ihr die Hände um den Hals legen und zudrücken. Nicht zu schnell, damit sie sich noch wehren konnte. Wenn sie ohnmächtig würde und an der Schwelle des Todes stand, würde er seinen Griff ein wenig lockern. Sie würde nach Luft ringen, ihn mit weitaufgerissenen Augen ansehen, dann würde er sie küssen und ihr den Rest geben. Dabei schloss er für sich selbst aus, dass ihre Augen im Angesicht des Todes noch eine Wirkung auf ihn haben könnten. Diese Vorstellung ließ seine Haut prickeln, aber leider durfte er sie nicht töten. Dieses Vergnügen hatte er einem anderen versprochen. Außerdem hatte er ein wenig Angst, ob sie ihn nicht doch mit ihren Augen verhexen konnte.

Sein Telefon klingelte und in der Luft vor ihm erschien ein blaues Quadrat, das er mit den Fingern berührte. Ein Fenster öffnete sich und er sah Doktor Peterson. »Nun, mein Lieber, was haben Sie mir zu berichten?«, fragte Zhang Lieh. Peterson sagte: »Es war wie Sie vermutet hatten; sie war schwanger.« Zhang Lieh lächelte. »Gute Arbeit«, lobte er, »ich werde Sie weiterempfehlen.« Peterson druckste ein wenig herum.

»Was ist denn noch?«, fragte Zhang Lieh ungehalten.

»Ich finde, das ist noch einen kleinen Zuschuss wert«, meinte Peterson. Eine Ader an Zhang Liehs Schläfe begann zu pochen, nur mit Mühe blieb er ruhig. »Aber natürlich«, sagte Zhang Lieh liebenswürdig. »Ich sag Ihnen was, ich komme morgen vorbei und bringe, was Ihnen zusteht.« Ohne auf eine Antwort zu warten, legte Zhang Lieh auf, es wurde Zeit, diesem Peterson das Maul zu stopfen. Noch einmal dachte er kurz an Daphne, er hoffte, dass er dem vorlauten Miststück mit der Abtreibung das Herz gebrochen hatte.

Daphne erwachte in der Dunkelheit, man hatte sie wieder auf den Haufen alter Wäsche gelegt. Sie konnte nichts sehen, denn sie trug noch immer die Augenbinde. Aber sie konnte den gleichen Geruch wie am Vortag wahrnehmen. Daphne war es schrecklich übel, und wenn sie sich bewegte, raste ein Schmerz wie Feuer durch ihren Körper, der seinen Ursprung in ihrem Unterleib hatte. Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle, und sie begann zu weinen wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Etwas später sank sie erschöpft in einen schlafähnlichen Zustand. Es war ihr, als hörte sie Stimmen, Hände schienen sie zu streicheln, ihr Gesicht, ihren Bauch. Sie nahmen ihr die furchtbaren Schmerzen. Allmählich konnte sie die Stimmen besser verstehen, denn sie hörte, wie ihr Name gerufen wurde. »Daphne, Tochter der Erde«, vernahm sie, »wir können in den Lauf der Dinge nicht eingreifen. Gib jetzt nicht auf, Daphne, vertraue auf die Zukunft, wir versprechen dir, es wird sich alles wenden, auch wenn du jetzt ohne Hoffnung bist.« Am liebsten hätte sie vor Wut zurückgeschrien, »Lasst mich doch bitte, bitte sterben, wer soll mir denn jetzt noch helfen!«, doch sie war zu schwach. Die Geister aber hatten sie verstanden, weiter schienen Hände sie zu streicheln, berührten jene Energiepunkte im Körper, die Hilfe und Linderung brachten. Von Minute zu Minute spürte sie, wie ihr Körper gesundete, es fühlte sich an, als würde ein goldenes Licht in sie hineinfließen, bis es sie ganz erfüllte. In ihrem Inneren wurde sie ganz ruhig, hatte der Wille Buddhas und der der Geister sie nicht immer gut geleitet? Ergeben schloss sie die Augen und ließ sich ganz auf die Geister ein.

Für einen Moment glaubte sie, wieder im Kloster Sakja zu sein, sie und ihr Lehrer Tse Wang diskutierten über Begierde. Sie saßen sich in der Halle der Meditation gegenüber, angenehmes Halbdunkel umfing sie. Sie sah die langen Reihen der goldenen Gebetsmühlen, die dunkelroten Sitzkissen, die auf dem Boden lagen, Schalen, gefüllt mit Jakbutter, in denen kleine Flämmchen des Ewigen Lichtes loderten. Selbst der Duft unzähliger Räucherstäbchen, die im Raum verteilt waren, stieg ihr in die Nase. Noch nie in ihrem Leben hatte sie diesen Raum als so wunderschön empfunden. Hier war ein Ort der Kraft und der inneren Ausgeglichenheit. Daphne hörte sich fragen: »Warum ist es so wichtig, nichts zu begehren, und wenn ich es tue, straft Buddha mich dann?« Tse Wang lächelte milde, als er antwortete. »Warum soll er dich strafen? Bevor er erleuchtet wurde, war er ein Mensch wie du und ich. Er hat gelacht und geliebt, doch je weiter sich sein Geist entwickelte, umso mehr hat er festgestellt, dass ihn die Probleme des Alltags an seinem Weg zur Erleuchtung hindern. Er hat sich entschieden, der Liebe, der Freundschaft und allem Besitz zu entsagen. Ich will dir seine Lebensgeschichte erzählen, auch damit du verstehst, dass kein Mensch seinem Schicksal entgehen kann.«

»Mit irdischem Namen hieß er Siddhartha Gautama, schon vor seiner Geburt wurde geweissagt, dass er einst ein großer König oder ein großer Lehrer sein würde. Sein Vater war zu dieser Zeit ein König in Indien und so versuchte er alles, um den Jungen zu einem König zu erziehen. Er ließ ihn nie religiös unterrichten und verheiratete ihn, als er 16 Jahre alt war. Doch der Junge war außergewöhnlich klug und zeigte herausragende Begabungen. Nie hatte er den Palast verlassen, und er hätte glücklich sein können. Doch sein Herz war traurig, und er hätte nicht sagen können, warum. Mit 29 Jahren, nach der Geburt seines ersten und einzigen Kindes, verließ er den Palast. Wochenlang lief er durch die Straßen, seine Seele war tief berührt von der Not der Armen. Er bettelte um etwas Essen und schlief auf dem harten Boden. Erstmals in seinem Leben sah er das Elend und die Leiden der Menschen. Er verstand, dass Schmerz, Krankheit, Altern und der Tod untrennbar mit dem Leben verbunden waren. Siddhartha lernte in dieser Zeit sehr viel, er lebte jahrelang in Askese und lernte die yogische Praxis. Er wurde Schüler zweier angesehener brahmischer Eremiten. Doch immer noch war sein Herz traurig, und so begann er selbst, seinen Weg zur Befreiung zu suchen. Er wählte den Weg der Meditation und das besitzlose Leben eines Bettelmönches, aber er gab die Askese auf. Im Alter von 35 Jahren erhielt er in einer Vollmondnacht, an eine Pappelfeige gelehnt und in tiefe Meditation versunken, die Erleuchtung. Er wurde zu Buddha, von nun an war er ein Erwachter. Ab jenem Tage lehrte er den „Mittleren Pfad“. Als er seine Reise begann, hatte er im Überfluss und Reichtum gelebt, doch sein Herz war nicht erfüllt. Später fastete er wochenlang, wurde schwach und magerte ab bis an die Schwelle des Todes, doch sein Herz blieb traurig. Beide Leben waren Extreme, so suchte und fand er den „Mittleren Pfad“, der besagt, dass die Erkenntnis sich weder in exzessiver Weltabgewandtheit noch in der mit der von materiellen Dingen verhafteten Welt zu finden ist. Einfach ausgedrückt sagt das: nicht zu viel und nicht zu wenig von Allem. Jedem, ob König oder Bettler, ob Mann oder Frau, brachte er seine Lehren dar, Siddhartha akzeptierte keine Kastenordnung; im Herzen ist jeder Mensch gleich. Jeder, der bereit war, ihn zu verstehen, wurde unterrichtet. Dazu lehrte er den „Achtfachen Pfad“ von Tugend, Weisheit und Meditation, der zum Erwachen der Seele führen würde. Er starb im Alter von 80 Jahren mit der Gewissheit, dass nichts, was wir uns geistig erworben haben, verloren sein wird.«

Daphne fragte erstaunt: »Ist er dann nicht furchtbar einsam gewesen?«

»Nein«, antwortete Tse Wang, »er hat für sich festgestellt, dass wir Menschen alles verlieren können, nur uns selbst nicht. Dann waren da ja auch noch all seine Schüler und Menschen, die seinen Rat suchten. Er wollte aufhören, sich ständig um andere zu sorgen, er wollte keinen Besitz, den er bezahlen oder schützen muss. Aber das war allein seine Entscheidung. Buddha verbietet uns nicht, diese irdischen Erfahrungen zu machen«, fuhr Tse Wang fort. »Er sagt nur, es sei besser, wenn der Mensch all diesen Dingen entsage, wir könnten uns viel schneller den geistigen Wahrheiten des Universums nähern.« Tse Wangs Stimme wurde traurig, als er weitersprach. »Wir alle sind noch nicht frei von Gefühlen für andere, auch ich nicht, meine Tochter.« Tse Wang war aufgestanden, seine Hand legte sich auf ihren Kopf, dann sagte er, »Du darfst lieben und du darfst begehren, du darfst ein Haus kaufen und es dein eigen nennen. Wenn du diese Erfahrungen machen musst, dann mache sie. Wenn du es in diesem Leben nicht schaffst, den Weg der Erleuchtung zu gehen, hast du ja immer noch deine nächste Inkarnation, um es wieder zu versuchen. Denn in jedem deiner Leben lernst du, dass es nicht der materielle Besitz ist, den du mitnehmen kannst, sondern das, was du für dich selbst begriffen und gelernt hast. Vergiss nicht, Buddha hat Geduld mit seinen irdischen Kindern.« Das Bild verblasste, Daphne wurde sich wieder bewusst, wo sie sich befand, doch sie hätte schwören können, noch die Hand Tse Wangs auf ihrem Kopf zu spüren.

Der Morgen kam, und Hu Lien betrat den Raum, um sie zu holen. Er war am Abend bei dem Eingriff dabeigewesen, Zhang Lieh hatte es so angeordnet. Hu Lien hatte immer gedacht, dass ihn nichts erschüttern könne, aber was er am Abend zuvor mit ansehen musste, hatte ihn tief bewegt. Peterson hatte ihm erklärt, dass in diesem frühen Stadium der Schwangerschaft nur ein Klumpen Zellen abgesaugt werden musste. Hu Lien war fassungslos, als er das viele Blut sah. Tief in seinem Inneren regte sich eine Ablehnung gegen diesen Vorgang. Kurz dachte er an seine Nichten und Neffen, die er über alles liebte. Er war mehr als nur verunsichert, und jetzt tat er etwas, was Zhang Lieh ihm auf das Strengste untersagt hatte: er zog Daphne die Augenbinde ab. Der Doktor hat recht, dachte er, so wunderschön und doch so seltsam leuchtend sind diese Augen. Zuerst hatte Daphne Angst und senkte ihren Blick sofort wieder, doch dann merkte sie, dass Hu Lien tatsächlich wollte, dass sie ihm in die Augen sah. Ihr Blick war klar und freundlich. Sein ganzes Leben rollte sich vor Hu Lien ab, und dann hatte er so etwas wie eine Erleuchtung. Sicher, er arbeitete für den chinesischen Geheimdienst, doch eigentlich befolgte er nur Zhang Liehs Befehle. Er machte die Drecksarbeit, für die Zhang Lieh zu schwach oder zu faul war. Dieser Mann war geisteskrank, ohne Rücksicht bog er sich die Gesetze, wie er sie brauchte. Das Schlimmste aber war, Zhang Lieh mordete mit Lust. Es war Hu Lien so, als würde in seinem Kopf eine Tür geöffnet, die ihm eine neue Welt mit neuen Möglichkeiten zeigte. Unbewusst sprach er sie in tibetischer Sprache an. »Ist alles, was ich sehe, wahr?«, fragte er Daphne. »Oder ist es das, was du mich sehen lassen willst?«

»Es ist die Wahrheit«, flüsterte Daphne. Dann fragte sie überrascht: »Wieso sprichst du tibetisch?« Hu Lien lächelte verlegen und meinte: »Wenn man im chinesischen Geheimdienst arbeitet, ist es Pflicht, diese Sprache zu lernen.« Hu Lien straffte die Schultern und verbeugte sich vor Daphne. »Verzeih mir, Herrin«, sagte er, »ab jetzt werde ich dich beschützen, soweit es mir möglich ist.« Hu Lien zog ihr die Binde wieder über die Augen und sagte: »Komm, Zhang Lieh wartet schon auf uns.« Er führte sie wieder in die Halle.

Erneut wurde sie auf einen Stuhl gedrückt, und als man ihr die Augenbinde abnahm, sah sie vor sich auf dem Tisch ein leeres Blatt Papier und einen Stift. Dann hörte sie Zhang Liehs Stimme hinter sich. »Guten Morgen, meine Liebe, Sie sehen nach der kleinen Behandlung doch recht gut aus. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Sie nach der Sache von gestern abend mehr gelitten hätten«, vernahm sie seine Fistelstimme. »Wie mir Doktor Peterson berichtet hat, waren Sie allem Anschein nach doch schwanger. Zu Ihrer Entschuldigung, Sie waren in einem so frühen Stadium, dass Sie es selbst wahrscheinlich noch nicht wussten. Wie machen Sie das nur, dass Sie so gut aussehen?«, fragte er sie beiläufig. Daphne presste die Lippen fest aufeinander und drängte ihre Tränen und ihre Wut zurück. Sie zog es vor, ihm keine Antwort zu geben. »Ich werde Sie jetzt bitten, die Beschwörungsformel von der Pergamentrolle zum Seelentausch aufzuschreiben«, hörte sie ihn sagen. »Nicht, dass ich sie unbedingt benötigen würde, unser Mönch weiß sie angeblich auswendig. Aber ich möchte ganz sicher sein, dass alles seine Richtigkeit hat. In dieser Zeit können Sie auch noch überlegen, wo dieser verdammte Dolch abgeblieben ist.« Zhang Lieh war dicht hinter sie getreten und legte ihr wieder einmal die Hände auf die Schultern, seine dürren Finger bohrten sich in ihr Fleisch. Ihre weiche Haut ließ ihm viel Platz für Phantasien. Er hatte Mühe weiterzusprechen. »Auch da hätte ich gerne das Original in den Händen gehalten, aber auch hier habe ich einen Ersatz, wenn es sich nicht findet.« Mit Hohn in der Stimme sprach er weiter. »Ich bin mir sicher, Sie werden kooperieren.« Jun Kao betrat die Halle; aus den Augenwinkeln konnte Daphne Marc sehen. Die Hände und Füße wieder in Ketten gelegt, folgte er Jun Kao mit kleinen Schritten. Marcs Körper war zerschunden, sein Gesicht geschwollen, wieder wurde er an der schweren Eisenkette nach oben gezogen, so, dass seine Fußspitzen gerade noch den Boden berührten. Marc hob den Kopf und ihre Augen trafen sich, Daphne erkannte, dass sein Kampfeswille ungebrochen war. »Schreiben Sie«, herrschte Zhang Lieh Daphne an. »In der Zwischenzeit werde ich auch Ihren Mann fragen, ob er weiß, wo dieser Scheißdolch steckt.« Zhang Lieh schlüpfte in seine schwarzen Handschuhe. Liebevoll betrachtete er seine Hände, fast sanft traf der erste Schlag Marcs Körper. Marc stöhnte vor Schmerzen. »Hören Sie auf«, keuchte er, »ich sage Ihnen, wo der Dolch ist.« Zhang Lieh lächelte erwartungsvoll. »Ich habe ihn vor ein paar Tagen mit dem Versand nach Tibet geschickt«, flüsterte Marc. Zhang Lieh schien einen Augenblick richtig böse zu sein, eine Ader an seiner Schläfe trat hervor, und Marc konnte sie pochen sehen. Schnell hatte Zhang Lieh sich wieder unter Kontrolle, dann nickte er und meinte: »Wenn das so ist, wird er in Kürze in chinesischer Hand sein. Leider hätte ich ihn gerne vorher in meinen Händen gehalten, doch wie gesagt, es geht auch anders«, sprach Zhang Lieh mehr zu sich selbst. Daphne hatte angefangen zu schreiben, doch sie würde es ihm nicht so einfach machen. Manche Sätze vertauschte sie und ließ da und dort eine wichtige Beschwörung weg, denn insgeheim glaubte sie nicht, dass es einen Mönch gab, der das Originalschriftstück kannte. Ihr Gefühl sagte Daphne, dass Zhang Lieh diese Sachen für sich brauchte. Daphne schauderte es, was hatte Zhang Lieh genau vor? Schließlich schob Daphne das Papier über den Tisch und sagte: »Ich bin fertig.« Zhang Lieh hob es an sein Gesicht. »Sie verzeihen, dass ich solch einen Druck mache«, sagte er, »aber mir läuft die Zeit davon. Ob wir nun diesen Dolch haben oder nicht, Sie, meine Liebe, werden heute noch eine Seelenübertragung machen«, zischte er. Wie aus dem Nichts hielt er plötzlich einen Dolch in den Händen und legte ihn vor Daphne auf den Tisch. Er war um einiges größer als ihrer, doch er hatte auch eine grüne Klinge, die an geschmolzenes Glas erinnerte. Der Griff war einfaches Silber, und es fehlten die Schriftzeichen, die sich bei ihrem Dolch über den Schaft und die Klinge zogen. Daphne schloss die Augen und fühlte in den Dolch hinein; eisige Kälte schlug ihr entgegen. Sie sah, dass man schon einige Male versucht hatte, mit ihm eine Seelenübertragung zu machen. Das war ein todbringendes Instrument, gefertigt von einem, der sich gewaltig selbst überschätzte. »Aber der ist gänzlich ungeeignet«, sagte Daphne entsetzt. »Wir versuchen es trotzdem«, herrschte Zhang Lieh sie an, »und wenn es schiefgeht, versuchen wir es noch einmal. Ich werde so lange nach einem anderen Körper suchen, bis alles seine Richtigkeit hat.« Daphne starrte den Dolch an. »Wer soll denn mit wem den Körper tauschen?«, fragte sie verunsichert, denn sie hatte Angst vor der Antwort. Wieder klang Zhang Liehs Stimme fast sanft als er antwortete. »Ihr geliebter Marc wird mit mir den Körper tauschen.« Daphne war nicht fähig, etwas zu sagen, sie fühlte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich, sie konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. Aber das Schlimmste war, dass Marc zu lachen anfing, er musste kurz davor sein, seinen Verstand zu verlieren. Zhang Liehs Wut schäumte über und er schlug Marc mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann nahm er den Dolch vom Tisch und hielt ihn Marc an den Hals, über seine Schulter sprach er zu Daphne. »Ich könnte seinem jämmerlichen Leben schon jetzt ein Ende setzen. Wenn Sie sich weigern mir zu helfen, schneide ich ihm auf der Stelle den Hals durch.« Daphne stöhnte vor Angst auf. Ihre Gedanken rasten, wie sollte sie sich entscheiden? Mit einem Mal wurde sie sehr ruhig, sie wusste, was zu tun war. »Töten sie ihn«, sagte sie gefasst, »ich weiß, er wäre lieber tot, als mit Ihnen den Körper zu tauschen.« Sie sah nicht, wie Zhang Lieh Marc schnell und unauffällig eine Spritze gab; wenig später verlor Marc das Bewusstsein. Mit einem bösen Lächeln wendete er sich wieder Daphne zu.

Betty erwachte mitten in der Nacht, die Uhr zeigte drei Uhr fünfzehn, irgendein Geräusch hatte sie geweckt. Sie griff nach ihrer Waffe, die sie immer unter dem Kissen hatte und ließ sich leise und geschmeidig aus dem Bett gleiten. Angestrengt horchte sie, da war es wieder, es klang, als würde etwas leise an Holz kratzen. Ihr Herz pochte heftig, konnte es sein, dass sich ein Einbrecher in ihre Wohnung verirrt hatte? Ohne das Licht anzumachen, schlich sie von Raum zu Raum. Die Haustür war unbeschädigt und alle Fenster waren geschlossen. Schließlich beendete sie ihren Rundgang, ohne etwas Verdächtiges entdeckt zu haben. Kaum lag sie aber im Bett und wollte gerade wieder einschlafen, hörte sie es wieder. Es kratzte nicht mehr nur, sondern klopfte jetzt auch ganz zart und leise. Mit einem Fluch sprang Betty erneut aus dem Bett, um wieder einen Rundgang durch die Wohnung zu machen. Sie konnte die Quelle des Kratzens und Klopfens einfach nicht finden. Als sie sich zurück ins Bett legte, horchte sie noch einige Zeit angestrengt in das Dunkel, doch es blieb alles still. Um sechs Uhr klingelte der Wecker, Betty stand auf, bestellte in der Garküche ein paar Straßen weiter ein Frühstück und ließ es sich nach Hause liefern. Dann ging sie ins Bad und machte sich frisch, der Bote mit dem Frühstück erschien genau, als sie im Bad fertig war. Mit dem Becher in der Hand setzte sie sich und las die elektronischen Nachrichten, und da war es wieder: etwas kratzte an Holz. Kurz überlegte sie, ob sich hinter der Wandvertäfelung ihrer Wohnung Ratten eingenistet haben könnten, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Es klopfte und schabte, lauter als letzte Nacht, Betty sprang vom Stuhl. »Na warte«, knurrte sie, »was immer du auch bist, ich werde dich bekommen.« Langsam, fast katzengleich, schlich sie wieder durch alle ihre Wohnräume, und in ihrem Büro wurde sie dann endlich fündig. Etwas bewegte sich in der Holzschachtel, die ihr Marc zur Aufbewahrung gegeben hatte. Ungläubig starrte Betty die Schachtel an, ihr Verstand raste. Was zum Teufel war da drinnen? So, wie es sich anhörte, hatte er irgendein Tier dort eingesperrt. Sie schüttelte den Kopf, Marc war nicht jemand, der solche derben Späße trieb, und woher sollte er ein Tier haben? Außer Kakerlaken und Ratten war alles, was es sonst noch gab, nur noch in Inselbiotopen zu bestaunen. Betty ging mit ihrem Ohr dichter an die Holzschachtel, um besser hören zu können. Kein Zweifel, dort war etwas eingesperrt und wollte hinaus. Die arme Kreatur hatte bestimmt Hunger und Durst, dachte sie. Einige Minuten stand sie unsicher vor der Schachtel und kämpfte mit sich, dann gewann ihre Neugier. Vorsichtig drückte sie den Hebel, und die Verriegelung sprang auf, dann hob sie den Deckel ein ganz klein wenig an und versuchte hineinzuspähen. Betty sah nichts, also hob sie den Deckel langsam etwas höher, als plötzlich etwas silbriggrünes aus der Schachtel schoss und an ihr vorbeiflog. Mit einem Schreckensschrei ließ sie den Deckel fallen und sprang ein Stück zurück. Was bitte, war das gewesen?, fragte sie sich. Ein Tier war das auf jeden Fall nicht. Sie schlich in ihr Schlafzimmer und holte ihre Waffe, damit fühlte sie sich schon sicherer. In gebückter Haltung, zum Gegenangriff bereit, machte sie sich auf die Suche nach dem Gegenstand. Sie staunte nicht schlecht, als sie an ihrer Wohnungstür, in Augenhöhe, einen kleinen, silbernen Dolch mit grüner Klinge schweben sah. »Hier will mich jemand auf den Arm nehmen«, sagte sie laut und schaute sich um, doch sie war allein. Vorsichtig näherte sie sich dem Dolch, an seinem hinteren Ende hing eine lange, silberne Kette. Betty traute sich nicht, den Dolch anzufassen, und so starrte sie ihn eine kleine Weile nur an. Sanft bewegte sich der Dolch an der Tür herauf und herunter. Betty trat einen Schritt zurück, doch der Dolch bewegte sich weiter. Das ist ja irre, dachte Betty, das wird mir kein Mensch glauben. Jetzt scharrte er an der Tür, wie ein kleines Tier, das gern hinaus wollte. Bettys Herz schlug noch immer heftig, sie überlegte, ob es sich hierbei doch um einen Trick handeln könnte, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Marc wird mir da einiges zu erklären haben, dachte sie grimmig. Sie nahm allen Mut zusammen und streckte die Hand nach dem Dolch aus. Mit kleinen Bewegungen wich er ihren Fingern aus. Betty schüttelte ungläubig den Kopf. »Komm her«, sagte sie sanft zu ihm, »ich tue dir schon nichts«. Wieder klopfte der Dolch sanft gegen die Tür. »Hör mal, mein kleiner seltsamer Freund«, sprach sie weiter, »Marc hat nichts von Gassi gehen mit dir gesagt, also, husch, husch, ab zurück in die Schachtel.« Als sie Marcs Namen erwähnte, schlug er heftiger gegen die Tür. Betty stutzte. »Willst du zu Marc?«, fragte sie versuchsweise. Wieder schlug der Dolch heftig gegen die Tür. Betty überlegte angestrengt, sie stand hier und sprach mit einem Gegenstand, der eigentlich kein Eigenleben haben durfte. Die Frage war, verlor sie den Verstand, oder war das real, was sie sah? Der Dolch schwebte weiter erwartungsvoll an der Tür. Betty versuchte es noch einmal, sie sagte einfach nur, »Marc«, und wieder klopfte er heftiger gegen die Tür. Betty lächelte verschmitzt und fragte, »Wie ist es denn mit dem Namen Pia?« Nichts, der Dolch schwebte reglos, Betty dachte einen Moment nach, dann sagte sie, »Und wie ist es mit dem Namen Daphne?« Wie wild begann er an der Tür hoch- und herunterzuflitzen, zwischendurch klopfte oder kratzte er an der Tür. Dabei blitzte seine grüne Klinge im Licht gefährlich auf. Betty war so erschrocken, dass sie einen Schritt zurücktrat, irgendetwas war hier oberfaul, der kleine Dolch wollte unbedingt zu Marc. Sie setzte sich ihr Head-set auf und versuchte, Marc zu erreichen. Keine Verbindung. Seltsam, dachte sie, er hat doch heute Dienst. Betty lief durch die Wohnung und suchte einige Sachen zusammen. Zuletzt zog sie ihre Jacke an. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und packte entschlossen die silberne Kette, an der der Dolch hing. Wieder sprach sie zu dem Dolch. »Du möchtest zu Mark? Gut, ich auch, ich kann nur für dich hoffen, dass du weißt, wo er ist.« Dann öffnete sie die Wohnungstür, der Dolch hatte ganz schön Kraft, doch sie hielt die Kette fest in der Hand. Er stoppte notgedrungen an der Eingangstür, schwebte aber ungeduldig einige Zentimeter hoch und runter. Kaum war sie mit ihm draußen, versuchte er, ihr wieder davonzuflitzen. Mit einiger Mühe konnte sie ihn mit zu ihrem Auto ziehen. Verstohlen sah sie sich um. Hoffentlich sieht mich keiner, dachte Betty. Im Auto zeigte er ihr die Richtung, indem er entweder an der Frontscheibe hing oder von der rechten Seitenscheibe zur linken flitzte. Von Minute zu Minute schien er es eiliger zu haben. Die Gegend, zu der er Betty lotste, gefiel ihr gar nicht, der alte Hafen, leere, baufällige Fabriken und Lagerhallen. An einer Seitenstraße schlug der Dolch so heftig gegen die Seitenscheibe, dass sie dachte, diese würde zerbrechen. Betty parkte ihren Wagen, packte wieder die Silberkette und stieg aus. Der Dolch zog sie direkt zu einer leerstehenden Fabrikhalle, sie hatte die Kette mittlerweile um ihr Handgelenk geschlungen; dann plötzlich, fiel er in Richtung Boden und baumelte leblos an der Kette. »Was ist denn jetzt los?«, flüsterte Betty, aber wie sie erwartet hatte, bekam sie keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, am Ziel ihrer Reise angekommen zu sein, irgendetwas ermahnte sie, leise und vorsichtig zu sein. An der Außenseite der Fabrikhalle sah sie eine Stahltreppe. Sicher war es besser, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen, als unvorbereitet in die Halle zu stürmen. Etwas außer Atem kam sie oben an und drückte ihr Gesicht gegen die verschmutzte Scheibe. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, ließ ihr das, was sie sah, das Blut in den Adern gefrieren. Marc hing gefesselt, die Arme nach oben gezogen, an einer Eisenkette, die von der Decke hing. Sein Kopf war nach vorn gefallen, so dass sein Kinn seine Brust berührte. Das konnte nur bedeuten, dass er bewusstlos war. Ja, sie liebte ihn noch, denn ihr Herz krampfte sich bei seinem Anblick schmerzhaft zusammen, zum tausendsten Mal wünschte sie sich an Pias Stelle. Sie ließ ihren Blick weiter durch die Halle schweifen. Sie sah zwei hünenhafte Chinesen, einer bei Marc, und einer stand hinter Pia. Bei Pia am Tisch stand ein kleiner Chinese, der schob Pia gerade ein Stück Papier zu, anscheinend wollte er, dass sie etwas aufschrieb. Vorsichtig holte sie ihr kleines Head-set aus der Tasche, stellte es nur auf Tonübertragung und rief die Zentrale an. Sofort meldete sich eine freundliche Stimme. »Notruf des Ordnungsamtes, mit wem darf ich Sie verbinden?« »Abteilung eins-neun-zwei«, flüsterte Betty, »aber bitte schnell.« Kaum hatte sie es gesagt, machte es auch schon klick, und sie erkannte die Stimme ihres Kollegen Brian. »Hör zu«, begann Betty flüsternd ohne Umschweife. »Betty hier, ich habe eine Entführung des Kollegen Rusher und schwere Körperverletzung. Ich bitte um Verstärkung, ich bin am alten Hafen, an einer leerstehenden Eisenfabrik, kommt ohne Sirene.« Brian wiederholte das Gehörte und versprach, sofort die Kollegen loszuschicken. Ein kurzer Blick zur Uhr, und Betty wusste, zehn Minuten würde sie warten müssen. Dabei sah sie, dass der kleine Dolch, den sie an der Kette um ihr Handgelenk geschlungen hatte, unbemerkt verschwunden war. Leise fluchte sie vor sich hin.

Als sie wieder hinunter in die Halle sah, stand der Chinese vor Marc und hielt ihm einen Dolch an den Hals, es sah aus, als wollte er ihm die Kehle durchschneiden.

Zhang Lieh schien sich zu beruhigen, denn er trat von Marc zurück und stellte sich wieder hinter Daphne. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie ihn lieber sterben lassen«, sagte er böse und senkte seine Stimme wieder zu einem Flüstern, »deshalb habe ich, wieder einmal, eine Überraschung für Sie.« Er richtete sich auf und rief, »Komm herein, Erleuchteter Lama!« Daphne sah einen sehr alten Mönch durch die Halle schlurfen, sie verstand nicht, was das nun wieder bedeuten sollte. Seine orangefarbene Kutte leuchtete im trüben Licht. Als der alte Mönch vor ihr stand, sagte Zhang Lieh: »Sie können ihn ruhig ansehen, meine liebe Daphne.« Der Mönch war ohne Zweifel sehr alt, doch in seinem Gesicht wollten die Augen nicht so recht zum Alter passen, sie schienen von innen heraus zu leuchten. Daphne schnappte nach Luft, dieser Mensch hatte schon einmal eine Seelenübertragung gemacht, sie wusste, dass sich die Augen danach unwiderruflich veränderten. Auch konnte ihr Geist nicht in seinen Kopf eindringen. Der alte Mönch lachte gackernd und sagte: »Wahrlich Daphne, du hast dich aber sehr verändert.« Sie spürte leichte Panik in sich aufsteigen, dieser Mensch kannte sie. »Ja«, sagte er gedehnt, »ich kenne dich und du kennst mich.« Daphnes Gedanken rasten, Zhang Lieh kam ihr zur Hilfe, weil er voller Ungeduld rief. »Schluss jetzt, Ngödup, lass uns beginnen, bringen wir es nun zu Ende.« »Ngödup?«, fragte Daphne schwach. »Was hast du vor?«

»Ich habe lange darauf gewartet, dich wiederzusehen«, antwortete Ngödup verächtlich. »Nur hätte ich nie gedacht, dass du einen Seelentausch machst. Ich habe dich schon immer gehasst, auch als du noch im Kloster gelebt hast. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dich damals schon hochkant aus dem Kloster geworfen«, sprach er weiter. »Aber nein, du warst ja der Liebling aller. Jetzt, meine Liebe, zeige ich dir, dass ich schon immer besser war als du. Schau, was ich gelernt habe, du wirst staunen!«, rief er. Er besah sich das Blatt, auf dem Daphne die Beschwörung aufgeschrieben hatte und ließ es achtlos fallen. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln sagte Ngödup: »Alles falsch, ich mache es aus meiner Erinnerung.« Er sah Daphnes fragenden Blick. »Als du endlich verschwunden warst«, erklärte er ihr, »habe ich ein wenig herumgestöbert, du hast im Kloster eine große Lücke hinterlassen. Alle schienen ratlos zu sein, so habe ich dein Aufgabengebiet übernommen. Endlich konnte ich zeigen, was ich kann. Doch noch all die Jahre, nachdem du weg warst, haben die Menschen immer nur von dir und deinen Fähigkeiten gesprochen. Ich habe bei Tschönpel die Seite mit der Beschwörung gefunden, und glaube mir, ich habe mir Wort für Wort eingeprägt. Leider war er so klug, bald darauf die Seite verschwinden zu lassen. Nur diesen verfluchten Dolch konnte ich nicht finden. Aber ich hatte in alten Aufzeichnungen die Beschreibung des Dolches gefunden. Nun, ich habe mir dann selbst einen gebastelt und nach einigen Fehlversuchen hat es dann auch endlich funktioniert.« Er lächelte abfällig. »Die ersten paar Male hab ich es an sterbenden, alten Menschen ausprobiert, ist nicht immer so gelaufen wie ich es mir gewünscht habe.« Daphne war entsetzt und fragte ihn: »Was meinst du, mit einigen Fehlversuchen?«, obwohl sie die Antwort schon ahnte. Er zuckte nur die Schultern, als er antwortete, »Leider kann ich nicht, wie du, die Seelen sehen und so hab ich mich halt ein paar Mal verschnitten.« Daphne schüttelte traurig den Kopf und sprach eindringlich, »Was tust du nur, Ngödup? Du verstößt gegen alle Regeln des Buddhismus; das Leben und die Seele sind heilig.« Ngödup sah sie wütend an. »Ich habe nicht erwartet, dass du mich verstehst. Ich bin ein neuer Buddha, mit eigenen Gesetzen. Und das Kloster haben mir die Chinesen zur freien Verfügung gestellt.« Daphne ahnte Schreckliches und verstand plötzlich, er, Ngödup, war der Spion im Kloster. Daphne war sich sicher, dass die chinesische Regierung von alldem nichts wusste. Zhang Lieh handelte im Alleingang und nur für seine Zwecke. Zhang Lieh hatte es sich auf einem Stuhl direkt neben Marc bequem gemacht, und Ngödup wandte sich nun ihm zu. Daphne verstand noch mehr: Ngödup würde die Seelen von Marc und Zhang Lieh tauschen. Sie begann wie wild auf ihrem Stuhl zu toben. Daphne schrie aus Leibeskräften, wenn Marc doch nur endlich zu sich kommen würde. Doch er war immer noch ohne Bewusstsein. Noch einmal drehte sich Ngödup zu ihr herum, aber nur, um ihr mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. Dabei zischte er: »Schluss jetzt, Weib, ich hoffe, du genießt das dir dargebotene Theater. Marc kann nicht aufwachen, er hat eine Betäubung bekommen.« »Nein!«, schrie sie weiter. »Das könnt ihr nicht machen, hört sofort auf!« Dann schrie sie Marcs Namen, doch der rührte sich nicht. Zhang Lieh trank eine kleine Flasche leer und wurde augenblicklich ohnmächtig. Daphne konnte sehen, wie der Astralkörper Zhang Liehs, verbunden durch eine dünne, silberne Schnur mit seinem Körper, aus Zhang Lieh heraustrat. Wie sie erwartet hatte, war sein Astralleib klein und unterentwickelt, was bei Menschen, die sich nicht mit ihrer geistigen Entwicklung beschäftigten, normal war. Ngödup griff nach der Schnur, und Beschwörungen murmelnd, durchschnitt er diese und hielt sie fest. Ngödups Hand, die den Dolch hielt, tauchte in Marcs Körper und zog mit Gewalt seinen Astralkörper heraus. In Daphnes Augen brannten Tränen, ihr Herz pochte so heftig, dass sie dachte, es müsse ihr aus der Brust springen. Sie war nicht mehr fähig, zu schreien, sie konnte nur zusehen, wie das Unglück seinen Lauf nahm. Ja, sie hasste Zhang Lieh aus tiefstem Herzen, erst hatte er ihr das Kind genommen und jetzt nahm er ihr auch noch den Liebsten. Mittlerweile hatte Ngödup auch die silberne Schnur, die den Astralleib mit dem Körper von Marc verband, durchtrennt. Daphne fiel auf, dass er den Astralleib nur in Verbindung mit dem Dolch ertasten konnte, würde er ihn weglegen, fassten seine Hände ins Leere. Sie beobachtete, wie Ngödup Zhang Liehs Astralleib mit einer Hand zu Marcs Körper führte, in der anderen hielt er Marcs Astralkörper, dann führte er Marcs Körper und Zhang Liehs Astralkörper zusammen. Ein gleißendes Licht, Funken sprühten wie bei einem Feuerwerk, Sekunden später verschwand Zhang Liehs Astralleib in Marc. Nun wiederholte er alles mit Marcs Astralleib und Zhang Liehs Körper. Ngödup nickte zu Jun Kao, dieser löste die Fesseln von Marc, warf ihn sich über die Schulter und verschwand mit ihm. Ngödup verbeugte sich vor Daphne und sagte: »Ich bin mir sicher, wir werden uns noch einmal begegnen, aber nicht mehr in diesem Leben.« Woher er so plötzlich die Waffe hatte, war Daphne schleierhaft, aber sie wusste, wenn er zweimal mit dem stark lähmenden Gift auf sie schoss, würde sie in zwei Sekunden tot sein. Die ganze Zeit hatte Hu Lien bewegungslos hinter Daphne gestanden, er hatte nicht einen Finger gerührt, um Marc zu helfen, aber jetzt zögerte er nicht. Hu Lien warf sich mit einer Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die man von ihm nie erwartet hätte, vor Daphne. Keinen Moment zu früh, denn beide Schüsse trafen ihn. Ngödup fluchte, hatte aber auch keine Zeit mehr, abermals auf Daphne zu schießen, denn jetzt brach die Hölle los. Das Sonderkommando der Ordnungshüter stürmte die Fabrik, höchste Zeit für Ngödup zu verschwinden. Hu Lien schien noch zu leben, denn Daphne konnte nicht sehen, dass seine Seele seinen Körper verließ. Doch Daphnes größte Sorge galt Marc, der im Körper von Zhang Lieh immer noch ohne Bewusstsein am Boden lag. Sie stürzte zu ihm, streichelte sein Gesicht und rief ihn beim Namen. Dann sah sie Betty und einige fremde Männer auf sie zustürmen, sie spürte, dass sie von einer Betäubungskugel getroffen wurde. Irgendein übereifriger Beamter hatte wohl geschossen. Daphne nahm noch kurz das brennende Nervengift wahr, dann stürzte sie in die Dunkelheit; wohltuend, erlösend, keine Gedanken, keine Schmerzen.

Als sie wieder die Augen öffnete, erkannte sie, dass sie im Krankenhaus lag, sie versuchte, sich aufzurichten. Sofort erschien Betty an ihrem Bett. »Gott sei Dank«, sagte Betty wirklich erleichtert, »du bist endlich aufgewacht.«

»Wie lange bin ich denn schon hier?«, fragte Daphne undeutlich.«

»Du hast zwei Tage im Koma gelegen«, antwortete Betty, »du warst sehr schwach und der Fangschuss war wohl etwas zu viel für dich gewesen.« Die Tür öffnete sich und ein junger Arzt stürmte ins Zimmer, er bat Betty, draußen zu warten. Daphne konnte sehen, dass es Betty nicht so recht war, den Raum zu verlassen, aber sie fügte sich. Nach einigen Untersuchungen fragte der Arzt: »Wie fühlen Sie sich?« »Ganz gut«, antwortete Daphne und wollte sich abermals aufrichten, doch der Arzt drückte sie sanft in die Kissen zurück. »Sie werden wohl noch einige Tage liegen müssen«, sagte er, »es ist sowieso ein Wunder, dass der Fötus diese ganzen Strapazen unbeschadet überstanden hat.« Daphne starrte ihn verständnislos an, unfähig, das Gesagte zu realisieren. »Welcher Fötus?«, fragte sie dann endlich und es fühlte sich an, als sei ihr Körper taub und gefühllos. Der Arzt tätschelte ihr beruhigend die Hand und meinte: »Sie waren in einem absoluten Schockzustand, als Sie hier eingeliefert wurden. Nach eingehenden Untersuchungen stellten wir fest, dass bei Ihnen eine Abtreibung vorgenommen worden ist. Aber«, er machte eine kleine Pause, »der Arzt war wohl ein richtiger Stümper, denn er hat übersehen, dass Sie mit Zwillingen schwanger waren.« Daphne kämpfte mit den Tränen, für einen kurzen Moment durchlebte sie alle Facetten der Gefühle. Dann hörte sie wieder die Stimme des Arztes. »Für zwei oder drei Tage werden wir Sie noch hier bei uns behalten, aber Sie müssen sich auf jeden Fall noch schonen. Sie sollten nach Möglichkeit noch nicht aufstehen und jede Art von Stress vermeiden.« Er hatte sich schon zum Gehen umgewandt, als Daphne noch fragte, »In welcher Schwangerschaftswoche bin ich denn?«

»Sie sind erst in der dritten Woche schwanger«, antwortete der Arzt. »Da kann noch sehr viel schiefgehen, deshalb sollten Sie sich auch schonen«, sagte er und verließ auch schon wieder den Raum. Daphne legte die Hände auf den Bauch und schloss die Augen. Eine Welle des Glückes durchströmte sie; also hatten die Geistwesen doch rechtbehalten. Im Stillen sprach sie mit ihrem Kind. »Ab jetzt werde ich dich mit meinem Leben beschützen, mein Kleiner, hab keine Angst.« Kaum hatte der Arzt das Zimmer verlassen, stürmte auch schon Betty wieder herein. Daphne musste sich zwingen, ihre Gedanken wieder auf das Außen zu richten. »Fühlst du dich gut genug, um mir einige Antworten zu geben?«, fragte Betty ohne Umschweife. Daphne seufzte und sagte: »Bevor ich das tue, könntest du mir erst ein paar Fragen beantworten?« Betty zuckte mit den Achseln. »Was willst du denn wissen?«, fragte sie zurück. »Was ist mit den zwei Chinesen?«, fragte Daphne und versuchte, die Sorge in ihrer Stimme zu unterdrücken. Betty lächelte und meinte: »Der Riese hat die zwei Betäubungsschüsse überlebt, ansonsten ist er sehr schweigsam. Ich denke, er versteht uns einfach nicht, ich versuche gerade einen Dolmetscher zu finden. Der andere liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte meinen, er mache es nicht mehr lange, Leberzirrhose im Endstadium.« Daphne war blass geworden, ihre blauen Augen hatte sie weit aufgerissen. Betty war das nicht entgangen und sie sagte: »Nun reg dich doch nicht so auf, Schätzchen. Ich glaube, er bekommt nur das, was er auch verdient. Ich hoffe, er hält noch so lange durch, dass wir ihn wenigstens zu der ganzen Sache vernehmen können.« Die Art, wie sie das sagte, zeigte Daphne, dass Betty sie immer noch nicht mochte. »Hör mir jetzt gut zu«, sagte Daphne eindringlich zu Betty, »es ist wichtig, dass wir Marc ganz schnell finden, sonst wird er sterben.« Betty starrte sie einen Moment ungläubig an. »Weißt du denn, wo Marc ist?«, fragte sie besorgt. »Und warum sollte er sterben? Denkst du, dass die ihn umbringen wollen?« Daphne schüttelte verzweifelt den Kopf. Betty drang weiter in sie. »Weißt du wenigstens, warum man ihn entführt hat?« Daphne rang mit sich, sollte sie Betty alles erzählen? Betty sprach weiter, »Das einzige, was wir sicher wissen ist, dass der andere Riese mit Marc über der Schulter in den Keller der alten Fabrik gelaufen ist. Dorthin ist auch der alte Mönch verschwunden. Wie wir später herausfanden, hat der Keller eine direkte Wasseranbindung zum Fluss. Klug, wie die Jungs waren, hatten sie dort ein Schnellboot stehen, und bis wir reagieren konnten, waren sie schon über alle Berge. Ich verstehe auch nicht, warum sie diesen Zhang Lieh hiergelassen haben«, überlegte Betty laut weiter. Dann schwieg Betty einen Moment und fixierte Daphne. Als sie weitersprach, war ihre Stimme fast ein Flüstern. »Und ich verstehe auch nicht, wieso ein kleiner Dolch plötzlich ein Eigenleben entwickelt. Ich zweifle fast an meinem Verstand. Ich verstehe überhaupt so vieles nicht«, sagte Betty traurig. Instinktiv fasste sich Daphne an den Hals, dort hing, als sei er nie fort gewesen, der Dolch. Sie fragte Betty: »Marc hat ihn dir gebracht?« Etwas trotzig antwortete Betty: »Ja, ich hatte ihn, und er hat mich auch zu euch geführt. Wie hätte ich euch sonst finden sollen?«

»Hast du ihn mir wieder um den Hals gehängt?«, fragte Daphne. Betty schüttelte den Kopf und meinte dann, »Ich hatte mir die Kette um mein Handgelenk geschlungen. Für einen Augenblick war ich abgelenkt, und dann war er, als ich nach ihm sah, einfach verschwunden.«

Der Seelendieb

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