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Kapitel 1 Der Geburtstag von Lilli Blum

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Mittags, als die Julisonne das rissige graue Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz schon regelrecht zum Glühen brachte, kam Fred, begleitet von Glockengeläut, zum Rathaus. Er trat durch die hohen Türen des Rathaussaals, deren blaugrüne, bleigeäderte Buntglasfenster matt glänzten. Im ganzen Saal ertönte die laute Musik des Stadtorchesters. Die erwachsenen Gäste hatten sich trotz der frühen Stunde in ihre beste Abendgarderobe geworfen und wirbelten ausgelassen über den Mosaikfußboden, während die Jugendlichen gelangweilt an den gedeckten Tischen saßen und die Nase ins Handy steckten. Wie immer, dachte Fred. Er kannte solche Vormittagsvorstellungen zur Genüge. Die Eltern orderten Clowns für ihre Sprösslinge, die für so was eigentlich schon viel zu alt waren, und die Jugendlichen ließen es stoisch über sich ergehen und verbrachten die gesamte Vorstellung im Internet. „Von wegen, jetzt hol ich euch da raus!“, beschloss Fred. Er winkte seinen bärtigen Eltern zu, die sich zusammen mit den anderen Erwachsenen zu den Klängen von Polka und Mazurka munter drehten, dann nahm er sein Einrad von der Schulter, stieg geschickt auf und fuhr geradewegs in die tanzende Menschenmenge hinein, wobei er auch noch mit einem Dutzend bunter Bälle jonglierte.

„Na endlich“, freute sich ein grauhaariger Herr im Frack, der aussah wie ein Pinguin und niemand anders als Bürgermeister Blum sein konnte. „Lilli, guck doch mal, was für ein großartiger Clown!“

Das Geburtstagskind, das vor einer riesigen Torte in Form des Lüneburger Rathauses saß, und die anderen Jugendlichen blickten unwillig von ihren Smartphones auf und starrten missmutig den Clown mit den traurigen Augen und dem blutroten, von einem Ohr bis zum anderen aufgemalten Lächeln an. Doch ihre Aufmerksamkeit hielt nicht lange. Nach genau einer Sekunde starrten sie wieder aufs Handy. Nur ein Mädchen, das an einer weit vom Geburtstagskind entfernten Tischecke saß, schaute nicht auf ihr Telefon. Stattdessen betrachtete sie mit ihrem rechten Auge, das schwarz war wie eine sternenlose Nacht, den Clown. Das andere Auge war von einer ebenso schwarzen Augenklappe verdeckt. Das Orchester versuchte, den Clown musikalisch zu unterstützen, und stimmte einen flotten Zirkusmarsch an. Die Erwachsenen beäugten neugierig das Zusammentreffen von Clown und Jugendlichen. Sie selbst hatten schon lange jeden Versuch aufgegeben, ihre Kinder aus den klebrigen Fäden der sozialen Spinnennetze herauszuzerren.

Fred sauste wie ein Wirbelwind auf seinem Einrad am Tisch der Jugendlichen vorbei – und jonglierte auf einmal nicht mehr mit Bällen, sondern mit Handys in verschiedenfarbigen Hüllen, die er den Jugendlichen abgenommen hatte.


Diese schauten noch einen Moment verständnislos auf die bunten Bälle in ihren Händen, dann sprangen sie alle zugleich auf und rannten brüllend hinter dem Dieb her. Aber nichts da. Der Clown mit dem feuerroten Haarschopf entwischte ihnen, kurvte geschickt um Tische und Stühle, wich gekonnt den nach ihm geworfenen Bällen aus und jonglierte dabei die ganze Zeit mit den Handys, die elektrisch kaltblau leuchteten. Die Eltern verfolgten gebannt und mit offenem Mund das Schauspiel, selbst Bim und Bom, die von Freds kleiner Spontaneinlage alles andere als begeistert waren.


„Allez hopp!“, ließ Bom seine Bassstimme ertönen, wohl in der Hoffnung, dass sein Sohn zur Vernunft käme und – zur Freude aller Anwesenden – endlich vom Einrad purzeln würde.

Aber Fred beschrieb mit seinem Rad weiter ausgeklügelte geometrische Figuren, während ihm die Jugendlichen kreischend hinterherliefen. Das Orchester passte sich an und schmetterte nun eine Melodie aus einer dämlichen alten Schwarzweiß-Fernsehshow, wo die Leute auch immer zu aufdringlich fröhlicher Musik hintereinanderherjagten und dabei die Beine in die Luft warfen. Während Fred mit der einen Hand die Handys durch die Luft wirbelte, griff er mit der anderen in die Brusttasche seines lila Fracks und holte eine flache schwarze Scheibe hervor. Damit schlug er sich aufs Knie und hielt plötzlich einen Zylinder in der Hand, den er sich sogleich auf den Kopf stülpte.

„Bravo!“, feuerte ihn das Mädchen mit der Augenklappe an, das sitzen geblieben war.

„Allez hopp, allez hopp, jetzt fall doch endlich hin!“, brüllte Bom im Versuch, die verfahrene Situation noch zu retten.

Und diesmal wurde er endlich erhört. Fred bremste scharf ab, als sei er mit einem unsichtbaren Hindernis zusammengestoßen, und flog in hohem Bogen vom Einrad. Dabei schaffte er es nicht nur, sämtliche Handys im Zylinder, der ihm vom Kopf gerutscht war, zu fangen, sondern auch, mit dem Hintern genau darauf zu landen. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, der Zylinder verwandelte sich wieder zu einer schwarzen Scheibe, und die Jugendlichen, die Fred endlich eingeholt hatten, wurden in eine bunte Konfettiwolke gehüllt. Das Orchester verstummte vor Schreck.

„Gib uns sofort unsere Handys zurück, du fieser Clown!“, kreischte das Geburtstagskind ganz außer Atem.

Betrübt, beinahe entschuldigend zuckte der Clown mit den Schultern und blies ihnen aus seiner Handfläche das restliche Konfetti ins Gesicht.

„AAAHHHH!!!“, brüllten nicht nur die unglücklichen Jugendlichen, die einen dichten Ring um ihren gefallenen Gegner gebildet hatten, voller Entsetzen, sondern auch ihre empörten Eltern, die sich das Spektakel aus der Ferne angesehen hatten. Ein materieller Verlust – das ging nun doch zu weit.

Fred begriff, dass er wahrscheinlich gleich Prügel kriegen würde. Und das hatte er nicht so gern. „Handys? Was für Handys? Meint ihr etwa die, die ihr in der Hand haltet?“, fragte er betrübt.

Und tatsächlich, in ihren zornig geballten, über den Kopf erhobenen Fäusten entdeckten die Jugendlichen ihre Handys. Ein Stoßseufzer ging durch den Saal. Die Eltern applaudierten Fred zufrieden. Die Jugendlichen beruhigten sich augenblicklich wieder und fotografierten den Clown zum Zeichen ihrer Versöhnung sogar mit den aus der Gefangenschaft geretteten Handys.

„Na, dann geh ich mal“, sagte Fred, stolperte aber prompt über seine eigenen Füße und fiel mitten auf die Nase. „Autsch!“


Die Jugendlichen lachten zufrieden im Chor.

Ihr Peiniger sah jetzt jämmerlich und komisch aus, genau wie sie sich einen richtigen Clown vorstellten. Fred stand ächzend auf, machte ein paar Schritte in die andere Richtung, stolperte und fiel erneut auf den Steinfußboden. Aus seinen dick mit weißer Farbe umrandeten Augen schossen Tränen. Die Jugendlichen lachten weiter und machten Fotos – endlich fing die richtige Show an. Dem Mädchen mit der Augenklappe entfuhr ein lauter, enttäuschter Seufzer, der zur Decke emporstieg und als Echo im hallenden Rathausgewölbe verhallte. Sie stand auf und ging langsam auf die lauthals lachenden Jugendlichen zu. Sie trug ein schwarzes Samtkleid, unter dem verschiedenfarbige Strümpfe – einer schwarz, einer blau – hervorguckten, das Ganze abgerundet mit roten Chucks.

„Unser Purzel ist ein echter Profi“, flüsterte Freds bärtige Mama dem Bürgermeister ins Ohr, „haben Sie gesehen, wie geschickt er die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich gezogen hat? Jetzt platzt ihnen bald der Bauch vor Lachen über seine komischen Kunststücke.“

So wäre es wahrscheinlich auch gekommen, aber zum Glück rettete das Mädchen in Schwarz die anwesenden Bäuche. Sie schob die Jugendlichen beiseite, die sich um Fred gedrängt hatten, und arbeitete sich bis zu ihm vor. Er war schon wieder auf den kalten Boden gefallen, und sie hielt ihm eine Hand im schwarzen Spitzenhandschuh hin.


„Nadira“, stellte sie sich vor.

„Federico“, murmelte der Clown überrascht und ergriff ihre Hand. „Aber alle außer meinen Eltern nennen mich Fred.“

„Ich helf dir beim Aufstehen. Komm, wir gehen ein bisschen raus. Du brauchst frische Luft.“

„He, was soll das? Lass ihn in Ruhe! Das ist unser Clown!“, ging das aufgebrachte Geburtstagskind dazwischen und machte einen Schritt auf Fred zu.

Aber Nadira beachtete sie und die anderen enttäuscht brummelnden Jugendlichen gar nicht und zog den völlig verdutzten Fred aus dem engen Kreis, den sie um ihn gebildet hatten.

Fred verstand die Welt nicht mehr – noch nie war es einem Zuschauer in den Sinn gekommen, ihm zu Hilfe zu eilen, wenn er in der Manege hingefallen war. Ihm war klar, dass ihm dieses seltsame Mädchen die Show ruinierte, aber er trottete ihr trotzdem wie ein dressierter Esel hinterher zum Ausgang.

„Wer hat die überhaupt eingeladen?“

„Das ist die Enkelin von der Gemüsefrau, die macht immer alles kaputt.“

„Die spinnt doch!“

„Einäugige Hexe!“, raunten die verärgerten Stimmen der Jugendlichen.

Die Erwachsenen sahen nur erstaunt zu, wie das Mädchen im schwarzen Kleid den Clown am Arm aus dem Saal führte. Und erst, als die hohe Buntglastür hinter ihnen zuschlug und kurz ein Bündel grelles Sonnenlicht in den Saal ließ, wandte sich Bim verständnislos an den Bürgermeister: „Was war denn das, Herr Blum?“

„Das war Nadira. Die ist ein bisschen plemplem. Die Tochter unseres verstorbenen Pastors. Ich habe sie aus Mitleid und Respekt gegenüber ihrem seligen Vater eingeladen, und das kommt nun dabei heraus. Aber ich danke Ihnen trotzdem. Ihr Federico war einfach fantastisch.“

Eine Minute später hatten alle im Saal Fred und Nadira längst vergessen. Das Orchester spielte wieder eine mitreißende Polka. Die Erwachsenen tanzten, und die Jugendlichen kehrten mit ihren Handys an den Tisch zurück, wo sie die Likes zählten, die sie auf Instagram für das Foto mit dem stürzenden Clown bekommen hatten.


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