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Kapitel 2 Spaziergang durch die Salzstadt

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„Schön siehst du aus. Besonders deine Nase“, sagte Nadira.

„Findest du?“ Fred fasste sich mechanisch an die dicke rote Tomate, die mitten in seinem Gesicht saß. Alles wie immer. „Aber die sieht doch scheußlich aus!“

„Quatsch“, unterbrach ihn Nadira, „so was will ich gar nicht hören. Du bist schön, Fred. Genau so hab ich dich mir immer vorgestellt. Du bist mein kleiner Prinz aus dem Zirkus der Monster.“

Fred war sprachlos. Erst dachte er, das Mädchen mache sich über ihn lustig, aber in ihrem Auge lag keine Spur von Spott. Nadira war wirklich seltsam, aber es gefiel ihm, mit ihr durch die verlassene mittägliche Stadt zu laufen. Dieses blasse Mädchen lachte nicht über ihn. Nadira. Viel später erzählte ihm Harun al Raschid, dass ihr Name auf Arabisch „die Einzigartige“ bedeutete. Und das schien sie wirklich zu sein, denn noch nie zuvor hatte sich jemand aus dem Publikum so für ihn eingesetzt. Auf jeden Fall war sie das beste Geburtstagsgeschenk, das er jemals bekommen hatte.

Die Hitze vertrieb die Einwohner in schattige Gärten und kühle dunkle Ecken, und so konnten Fred und Nadira ungestört auf dem Bürgersteig der Hauptstraße entlangspazieren. Sie liefen durch die ganze Stadt, vom Rathaus bis zur Anhöhe mit dem alten düsteren Park, hinter der sich der Friedhof verbarg.

Das seltsame Pärchen ging unter einem großen schwarzen Sonnenschirm, den Nadira von der Schulter genommen und aufgespannt hatte, sobald sie aus dem Rathaus in die sengende Sonne getreten waren.

„Deshalb ist sie so blass“, dachte Fred.

Nadiras milchweiße Haut, deren Blässe durch die Augenklappe noch verstärkt wurde, konnte es in der Tat mit der weißen Schminke des Clowns aufnehmen. Und überhaupt harmonierten sie ganz wunderbar miteinander: Freds feuerrote Perücke ergänzte Nadiras blauschwarze Frisur, und ihre blauschwarzen Strümpfe und roten Chucks passten perfekt zu seinen lila Pluderhosen und riesigen roten Clownsschuhen, die er mit jedem Schritt mühsam vom Boden hob. Aus der Ferne sah es aus, als sei dieses wunderliche Pärchen der Fantasie eines verrückten Künstlers entsprungen.

Gemächlich schlenderten sie vorbei an alten, ausgebleichten Schildern, und Nadira zeigte ihm ihre Heimatstadt – wenn auch auf etwas ungewöhnliche Weise.


„Wie ich dieses Kaff hasse! Ich hab schon immer davon geträumt, von hier wegzulaufen“, erzählte sie ihm, „Früher war hier mal ein Salzstock. Im Mittelalter hat das ‚weiße Gold‘ die Stadt reich gemacht. Aber mit der Zeit hat man hier fast das ganze Salz abgebaut, sogar unter den Wohnhäusern. Der Boden sank immer weiter ab, und irgendwann stürzten die Häuser mitsamt ihren Bewohnern ein. Erst da hat man die Salzgewinnung eingestellt. So weit kann Habgier führen. Heute braucht das Salz niemand mehr, aber die Erde ist immer noch salzig – sogar unsere Pflastersteine! Wenn du mir nicht glaubst, kannst du gerne mal dran lecken, wenn du das nächste Mal hinfällst. Als hätte jemand über der ganzen Stadt Tränen vergossen. Und wenn wir Pech haben, kann die Stadt jederzeit noch weiter absacken und ganz zum Teufel gehen, weil der Boden darunter völlig ausgehöhlt ist. Darum stehen auch so viele Häuser leer – wer kann, zieht weg. Ich würde ja auch gerne, aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, und auch wegen meiner Oma. Sie ist Gemüsehändlerin, aber das Geschäft läuft immer schlechter. Wir können einfach nicht mit den Supermarktpreisen konkurrieren, und das Geld reicht kaum zum Leben.“

„Und wo sind deine Eltern?“, fragte Fred neugierig.

„Die hatten einen Autounfall.“

„Oh. Entschuldige bitte“, sagte der Clown bestürzt. „Obwohl, eigentlich stelle ich mir oft vor, wie meinen Eltern so was passieren würde.“

Nadira blieb stehen und funkelte ihn mit ihrem einen Auge entrüstet an.


„Bist du verrückt? So was darf man nicht sagen. Alle unsere Gedanken sind real, und Wünsche können sich erfüllen.“

„Ach, Nadira, du kennst eben meine Eltern nicht. Sie schikanieren mich schon mein ganzes Leben. Mein Papa ist ein richtiger Menschenfresser, dem darf man nie widersprechen, und am besten lacht man über alle seine Witze. Aber wehe, über ihn macht mal jemand einen Witz. Letzte Woche hat er die Assistentin des Zauberers zum Mittagessen verputzt, nur weil sie einen harmlosen Scherz über seinen Bart gemacht hat. Die offizielle Version lautet, dass sie einen Marktschreier kennengelernt hat und mit ihm auf seinem Motorrad durchgebrannt ist, aber Pinkie sagt, dass mein Vater sie verputzt hat. Und ich glaube, er hat recht. Und meine Mutter hat letztes Jahr unsere alte Tigerin runtergeputzt, bloß weil die sie schief angeguckt hat. Natürlich habe ich meine Eltern sehr gern, aber es wäre für alle besser, wenn es sie nicht gäbe.“


„Trotzdem darfst du so was nicht sagen! Ich war meinen Eltern gegenüber auch ziemlich kritisch, bis ich sie verloren habe. Erst da habe ich kapiert, wie großartig sie eigentlich waren. Mein Vater war Pastor hier rechts im alten Dom. Ich schau mir total gern all diese Furcht einflößenden Fabelwesen und Wasserspeier an. Gefällt er dir?“

Fred betrachtete den gotischen Dom, der im Laufe der Jahre dunkel geworden war und dessen Dach von Türmchen geziert wurde, die wie gehörnte Tannenbäume mit spitzen Zweigen aussahen. „Sieht irgendwie finster aus.“

„Richtig. Finster wie die Nacht, genau wie ich. Links von uns siehst du eine alte Apotheke. Von 1478, siehst du die Zahl? Da ist sie eröffnet worden. Und seitdem hat sich da drin quasi nichts verändert. Immer noch dieselbe Medizin in den hohen Porzellandosen, dieselben Klistiere und Aderlass-Schalen und dasselbe ausgestopfte Krokodil an der Decke, selbst der Apotheker sieht aus, als wäre er sechshundert Jahre alt. Ich kauf hier immer meine Augenklappen, aus echter Rochenhaut.“

„Was ist eigentlich mit deinem Auge?“, fragte Fred und stockte. Solche Fragen zu stellen war nämlich furchtbar unhöflich. Und erst recht einem Mädchen. Aber Nadira war nicht beleidigt, und falls doch, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Als ich klein war, wollte ich nie was essen. Einmal wollte mich meine Großmutter dazu bringen, Spiegeleier zu essen, oder, wie sie das immer nennt, Ochsenaugen ... ‚Komm, wenigstens ein Auge‘, hat sie gesagt. Und da hab ich mir mit der Gabel ins Auge gestochen, damit sie mich endlich in Ruhe lässt. Jetzt hab ich ein Glasauge. Willst du mal sehen?“

„Wenigstens ein Auge? Mit der Gabel? Wie schrecklich!“, schauderte es Fred in Gedanken, als er sich dieses Bild in allen Farben ausmalte. Aber er riss sich zusammen und sagte in möglichst gelassenem Tonfall: „Ein Glasauge? Cool. Ich mag Glas. Das kann man bestimmt als Weihnachtsbaumkugel verwenden. Lässt du es mich mal halten?“

Nadira nahm die Augenklappe ab. Darunter kam ein ganz gewöhnliches Auge zum Vorschein. Es war nur im Gegensatz zum anderen hellblau, aber genauso hübsch wie das schwarze.

„Ich hab bloß einen dummen Spaß gemacht. Das hab ich schon seit meiner Geburt. Man nennt es Heterochromie.“

„Aha, Heterochromie! Wie hübsch“, Fred war aufrichtig begeistert, „aber warum trägst du dann die Augenklappe?“

„Weil die unterbelichteten Dorftrottel hier glauben, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank. Sie halten mich für eine Hexe. Diese Spießer!


Sie sagen, man kann als Braunhaarige gar keine blauen Augen haben und ich hätte meine Eltern verhext. Sie haben Angst vor meinem ‚bösen Blick‘, dabei sind sie selber böse, weil sie mich zwingen, so eine Augenklappe zu tragen. Kannst du dir das vorstellen? So eine Ignoranz, und das im 21. Jahrhundert! Mein Vater war ein guter Mensch, er hat immer für sie gebetet und mir beigebracht, ihnen zu verzeihen. Und dann hat kurz vor Ostern irgend so ein besoffener Spießer sein Auto mit voller Wucht gerammt. Das werde ich ihnen nie verzeihen! Ich hasse diese Salzstadt. Hier ist nichts so, wie es sein sollte. Ich kann’s kaum erwarten, bis ich groß bin und von hier abhauen kann! Ach, wenn ich doch nur jetzt gleich mit dir wegfahren könnte, mein Prinz. Ich wäre überglücklich.“

Fred überlegte. Junge Frauen stellten sie im Zirkus nicht ein, weil Bim furchtbar eifersüchtig war. Andererseits war Nadira ja eher noch ein Mädchen und keine Frau. Vielleicht gab es also keinen Grund für seine Mutter, eifersüchtig zu werden?

„Erinnerst du dich noch, wie ich erwähnt habe, dass unser Zauberer im Moment keine Assistentin hat? Du bist sehr schön und könntest doch bei uns arbeiten. Okay, Shivananda hatte sechs Arme, aber ich glaube, du schaffst das auch. Willst du es mal versuchen?“

„Klar, gerne!“, freute sich Nadira und klatschte vor lauter Freude in die behandschuhten Hände.


Sie war schon eine ziemlich überschwängliche Person. Fred hatte noch niemanden getroffen, der seine Gefühlsregungen derart offen zeigte. Er selbst hatte sich angewöhnt, seine Gefühle tief drinnen zu verstecken und sie nur an die Oberfläche zu lassen, wenn er ganz allein war. Nadira war da das genaue Gegenteil. Vielleicht fühlte er sich deshalb so von ihr angezogen. „Super“, sagte er, „dann rede ich gleich nach der Vorstellung mit meinen Eltern. Lässt dich deine Großmutter denn gehen?“

Nadira nickte energisch. „Aber klar, die hat eh genug von mir. Außerdem kommen wir kaum über die Runden, und so kann ich ihr jeden Monat etwas von meiner Zirkusgage schicken. Das wird sie freuen.“

„Wenn das so ist, komm doch heute zur Vorstellung, und danach stell ich dich den anderen vor. Ich hoffe, dass meine Eltern und der Fakir dich mögen. Und dass dir unser Zirkus gefällt. Er ist nämlich etwas speziell.“

Nadira überhörte die letzten Worte des Clowns und nickte fröhlich. Dann setzen die beiden ihren gemächlichen Spaziergang fort.

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