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Anna hat einen unglaublichen Plan

Anna starrte auf die unzähligen Rechnungen und gelben Briefe, die sich in den letzten Wochen zu einem bedrohlichen Turm gestapelt hatten. Sie wusste, dass es längst überfällig war, die Briefe zu öffnen, aber bisher war es ihr gelungen, mit immer neuen Ausreden um den „Turm des Unheils“ herumzuschleichen. Jetzt war der Haufen kurz davor, umzukippen. „Heute Abend ist es soweit“, beschloss Anna grimmig und überlegte, wie sie diese Aufgabe bewältigen sollte, ohne ihre Verzweiflung hinterher in Alkohol ertränken zu müssen. Als sie die Mädchen ins Bett gebracht hatte, kam ihr die Idee, mit dem Trinken schon vorher anzufangen. Vielleicht ließ sich die Panik, die langsam auf sie zurollte, auf halbem Wege zur Umkehr bewegen. Sie holte ihre letzte Flasche Gravensteiner von Rochelt aus dem Schrank und setzte sich zum Ziel, jede erste Mahnung mit einem viertel Eier-Becher zu quittieren, jede zweite Mahnung mit einem halben und jede Vollstreckungsandrohung mit einem ordentlich bis zum Rand gefüllten.

Nach zwei Stunden war die Flasche fast leer und Anna dachte darüber nach, ob sie „Hotel Hell“ von Eric Burdon oder „Killing in the name“ von Rage against the Machine auflegen sollte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aus der finanziellen Misere herauskommen sollte. Es gab nichts mehr, wo sie noch ein paar Cent einsparen konnte. Internet und Telefon brauchte sie zum Arbeiten, das Fitnessstudio ließ sie nicht aus dem Vertrag und die Klavierstunden ihrer Tochter waren so wichtig wie das tägliche Brot. Lisa, ihre große Tochter, würde demnächst Winterstiefel brauchen, die BAföG-Rate und die Rechtsschutz-Versicherung waren fällig und seit heute Abend stand der Kündigung ihrer Wohnung kein Hoffnungsschimmer mehr im Wege. Anna spürte eine ungerechte Wut auf die Vermieterin in sich aufsteigen. Der blöden alten Schachtel gehörten mindestens dreißig Häuser in München. Die konnte doch ruhig mal ein paar Wochen auf die Miete warten – oder etwa nicht? Vermutlich war die Frau deshalb so reich geworden, weil sie kein Pardon kannte und Großzügigkeit für eine Form von Liederlichkeit hielt.

„Verdammt noch mal, so ein verdammter Mist“, schluchzte sie, „jetzt ist es tatsächlich so weit, dass ich den Wagen verkaufen muss!“ Aber wie sollte sie dann zu Terminen fahren, die Kinder zur Tagesmutter bringen oder im Sommer mal schnell an den Tegernsee gelangen, wenn ihr die Stadt zu eng wurde oder sie den Kinder beweisen musste, dass es keine lila farbigen Kühe gab und die Augen weiter sehen können als bis zur nächsten Häuserwand.

Sie wankte mutlos ins Badezimmer und blickte in den Spiegel. Wenn sie nicht gerade wie jetzt einen glasigen Blick und vom Heulen geschwollene Augen hatte, war sie mit ihren 34 Jahren und den großen, dunkelblauen Augen eine echte Schönheit. Ihre unzähmbar Locken trug sie fast immer zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden, aber sobald sie ausging, und wann war das in den letzten Jahren überhaupt vorgekommen, durften ihre Locken wild um den Kopf tanzen und brav ihre leicht abstehenden Ohren verdecken. Anna erinnerte sich, dass ihre Mutter immer bedauert hatte, sie nicht Sunhild genannt zu haben, Suni, die Kämpferin des Lichts, das hätte viel besser zu ihr gepasst als der strenge Name „Anna“. Als Kind hatte sie mit ihrem strahlenden Lachen die Welt heller gemacht, egal wo sie gerade war oder wie wolkenverhangen der Alltag sich präsentierte. „Wenn die Anna kommt, dann geht die Sonne auf“, hatten die Nachbarn immer gerufen, wenn sie das Mädchen an ihren Gartenzäunen vorbei hüpfen sahen. Anna lächelte bei dieser Erinnerung und überlegte, dass es kein Geld und auch keine Abwesenheit von Geld wert war, die Lust am Leben zu verlieren. „Herrgott noch mal, es wird schon irgendwie weitergehen“, sprach sie ihrem Spiegelbild Mut zu, „es muss einen Ausweg geben, wer braucht schon Geld für eine Gesichtsmaske, für eine neue Bluse, für frischen Koriander, für eine neue CD von „Element of Crime“, für Lippenstift, für einen Kinoabend ..“ Sie merkte, dass sie nichts von dem glaubte, was sie da dachte, und dass sie nicht bereit war, ein Leben zu führen, in dem sie den Staubsaugerbeutel mehrmals benutzte und sich bei Aldi um die Sonderangebote prügelte. Im Grunde war das Einzige, was sie sich noch gönnte, ihre mit Lust und Beharrlichkeit verteidigte Nikotinsucht, auch wenn sie die Zino Davidoffs und selbst die Peter Stuyvesant längst gegen selbst gedrehte American Spirit eingetauscht hatte.

Sie warf den Bleistift auf den Tisch und blickte finster nach draußen, als könnte sie dort eine Lösung für ihr Dilemma finden. Früher hatte sie doch auch immer alles hingekriegt, alleine und oft in letzter Minute. Aber diesmal war die Lage wirklich aussichtslos. Sie ließ den Blick über die Stadt schweifen, über die Dächer ihres geliebten Münchens. Unten an der Bushaltestelle hielt gerade der Bus und ein paar Nachtschwärmer stolperten heraus. An der Seite des Busses prangte ein riesiges Werbeplakat mit einer sich lasziv rekelnden Schönheit darauf. Zwischen den weit gespreizten Schenkeln hielt sie ein Magazin mit dem Titel „MmM“. Anna hatte von dem neuen Magazin mit der anzüglichen Alliteration als Titel gehört. Wie auch nicht! Die gesamte Politikerspitze des Freistaates hatte sich vor der Wahl ordentlich ins Zeug gelegt, um Stimmung gegen das frauenfeindliche Männermagazin zu machen. Diese verlogenen Säcke, dachte sie, diese widerlichen, stiernackigen Bauerntrampel in Lederhosen. Tun schön moralisch in der Öffentlichkeit und lassen sich nachts von einer Hure den Arsch aus hauen. Sie kicherte und war sich durchaus im Klaren darüber, dass ihre zynische Weltbetrachtung dem Konsum dieses ungeheuer guten Apfelschnaps geschuldet war, der so intensiv duftete, dass man glaubte, eine ganze Apfelplantage zu Hause zu haben.

Ein paar Minuten starrte sie noch vor sich hin, dann lächelte sie still in sich hinein. Ein unglaublich dreister Gedanke kam ihr gerade. Sie konnte kaum glauben, was ihr da einfiel. Eine unfassbare Idee! Und es konnte klappen, wenn sie es nur richtig anstellte. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie seit vier Stunden im Bett liegen sollte. Doch heute war es ihr egal, dass sie die Nacht zum Tag machen würde. Sie hatte eine Mission: Die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Mit der Zigarette im Mundwinkel stand sie auf, peitschte mit dem rechten Arm die Rechnungen von sich weg und hievte mit der Linken den Laptop vom Stuhl auf den Tisch. Mit einem Klick sprang der Deckel auf und schon konnte es los gehen. „Alles oder nichts“, dachte sie. Sie hatte nichts zu verlieren. Nur ihre Unschuld.

Seit Tagen wartete sie ungeduldig auf den Geburtstagsscheck von ihrer Großtante Berta. Vom Frühstückstisch aus konnte sie sehen, wenn der Postbote um die Ecke bog. Ein hübscher Kerl mit einem steifen Bein, das er lässig hinter sich her zog wie einen alten Koffer. Er war genau ihr Typ, groß, muskulös, schwarzäugig und außerdem hatte er die schönsten Grübchen unter den Augen, die sie je gesehen hatte. Am allerbesten aber gefiel ihr seine Lässigkeit, die Art, wie er die Briefe aus der Tasche holte, sie unter den Arm klemmte und schwungvoll in die Kästen warf. Weil es ihr Leid tat, dass er mit seinem kaputten Bein ihre unzähligen Einschreiben in den dritten Stock tragen musste, hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, ihm entgegenzulaufen. Sein Lächeln mit den weißen Zähnen im Dreitagesbart war ihr Dank genug. Doch als er auch heute wieder nur ein Lächeln und mehrere Rechnungen vorweisen konnte, hatte sie kein gutes Wort für ihn übrig. „Im Altertum wurden Überbringer schlechter Nachrichten umgebracht, wussten Sie das?“ Klar wusste er das. „Aber wissen Sie, wieso die Leute heute keinen mehr umbringen wegen einer schlechten Nachricht?“, wollte er wissen. „Keine Ahnung.“ Er setzte ein altkluges Lächeln auf, „vielleicht wegen des Freundes von Pablo Neruda oder wegen des Liedes aus der Winterreise mit dem Posthorn. Oder einfach, weil die Hoffnung auf den nächsten Tag eben doch größer ist als die Bereitschaft, für einen Postbotenmord in den Knast zu wandern.“ Sie lächelte ihm hinterher, als er mit seinem lahmen Bein davon schlurfte. Wie er sich damit so aufrecht und elegant bewegen konnte, war ihr ein Rätsel. Das Lied aus der Winterreise kannte sie, das war schön. Manchmal ließ das Leben für einen Moment seinen Zauber durchschimmern. Von der Straße her ein Posthorn klingt. Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz? Die Post bringt keinen Brief für dich. Was drängst du denn so wunderlich, mein Herz?

Als sie oben in der Wohnung die Briefe öffnete, war der Zauber verflogen. Sie fragte sich, warum sie die Post überhaupt noch öffnete, es stand sowieso immer das Gleiche drin. Die erste Mahnung, die letzte Mahnung, die freundliche Aufforderung: „Bestimmt ist es Ihnen entgangen ..“ Ihre Tochter Lisa kam um die Ecke geflitzt und schmiegte sich an ihr Bein. „Lass mich mein Schatz, Mama muss noch arbeiten, willst du nicht ein bisschen fernsehen? „Au ja, au ja“, Lisa lachte laut und sprang ins Wohnzimmer. Das Lied von Bob der Baumeister schallte durch die Wohnung. Bob der Meister! Können wir das schaffen? Bauarbeiter! Yo, wir schaffen das!

Es klingelte und Lolo stand vor der Tür. Lolo, die eigentlich Brigitte hieß und sich irgendwann in Lolo umbenannt hatte. Der Name passte zu ihr, sie war eine schreckliche Person, lasziv, manchmal ein bisschen primitiv und hochgradig nymphoman. Sie ging prinzipiell nie ohne dickes Make-up vor die Tür und auf ihren Pfennigabsätzen kam sie so divenhaft daher gestöckelt, dass sich jeder Mann nach ihr umdrehte. Und Lolo liebte die Männer – so sehr, dass sie sich jede Woche einen neuen gönnte. Ihre Bildung ließ zu wünschen übrig, was sicherlich nicht an mangelnder Intelligenz lag, sondern daran, dass sie sich ausschließlich mit Mode- und Fitnessmagazinen beschäftigte. Aber Anna liebte sie. Für sie war sie die beste Freundin und überhaupt der tollste und ehrlichste Mensch, den sie kannte. Sie war außerdem die Einzige, die ihr bei der Trennung von Moritz beigestanden hatte. Kurzum: Anna ließ nichts auf Lolo kommen.

Im Grunde hatte Lolo nur zwei Probleme: ihre latente Geldnot und ihr zu flach geratener Hintern. Sie trug deshalb nie eine Tasche bei sich, sondern stopfte sich die Hintertaschen ihrer hautengen Hosen mit allerlei Zeugs voll. Für Lolo eine äußerliche Beschreibung abzugeben, war beinahe unmöglich, da sie ihre Haarfrisuren und -farben wechselte wie ihre Männerbekanntschaften. Heute erschien sie mit einem karmesinroten Pagenkopf und einer hochgeschlossenen, weißen Bluse über einer schwarzen Stretchjeans. Sie verpasste Anna einen übermütigen Schmatz auf die Wange und bevor sie ihr Hinterteil elegant auf dem Stuhl platzierte, musste sie wie immer erst einmal ihre Habseligkeiten aus den Hosentaschen kramen und auf den Tisch legen. Handy, Zigaretten, Feuerzeug, Geldbeutel, Lippenstift, Autoschlüssel und so einiges mehr. „Hey, Süße“, zwitscherte sie und Anna wischte sich das nach Erdbeeraroma duftende Lipgloss von der Wange, „ich hab unten deinen Briefträger getroffen, Mannomann, von dem würde ich mir auch gerne mal die Post bringen lassen. Kannst du den nicht mal bei mir vorbeischicken?“ Sie grinste breit und entblößte ihre herrlichen Zähne. „Ach Lolo“, Anna winkte ab, „was willst du denn mit einem Briefträger, du suchst doch im Grunde nur einen Prinzen, der dir ein angenehmes Leben bereitet und obendrein noch witzig, großzügig und einfallsreich im Bett ist. Was willst du denn ständig mit deinen DJs, Taxifahrern, Postboten und, was war noch mal der von letzter Woche, Kfz-Mechaniker – oder?“ Lolo lachte: „Ja, richtig, der Autoschlosser, ein prima Kerl! Mensch lass mich doch, es muss doch zwischen den Hauptgängen auch hin und wieder ein leckeres Sorbet geben. So was Zitroniges, Leichtes, das Appetit auf mehr macht. Verstehst du?“ Anna stöhnte. „Ja, aber dein ganzes Leben besteht aus Sorbet, soviel, dass einem vom Zuschauen schon schlecht wird. „He, he, he, jetzt reicht‘s aber!“ Lolo hob drohend ihre rot lackierten Zeigefinger. „Du musst deine schlechte Laune nicht an mir auslassen. Außerdem habe ich eine Überraschung für dich, schau mal! Mit zwei Fingern griff sie in ihre Hosentasche und zog einen 200-Euro-Schein heraus, den sie triumphierend in die Höhe hielt und im Gegenlicht auf seine Echtheit hin überprüfte. Anna lächelte. „Wow, ich habe schon lange nicht mehr soviel Geld gesehen, was hast du denn damit vor?“ Lolo lächelte verschwörerisch. „Pass auf, du setzt dich jetzt an deinen Schreibtisch und arbeitest und ich geh mit den Mädels einkaufen. Der Babysitterin kannst du für heute absagen, weil ich nämlich zur Feier des Tages mit den Mädchen kochen werde: Kalbsrouladen, Kartoffelpüree, Salat und zum Nachtisch Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Hmmm, mir läuft schon jetzt das Wasser im Mund zusammen. Und gute Zigaretten kauf ich uns auch und wenn du willst einen schönen Prosecco.“ Sie lachte. „Jippie, das Leben ist schön. Und dich möchte ich bis zum Mittagessen nicht in der Küche sehen, du arbeitest jetzt in aller Ruhe und zeigst der Welt, dass sie auf eine so tolle Journalistin wie dich nicht verzichten kann!“ Anna schaute ihre Freundin dankbar an und ließ sich ohne Gegenwehr ins Arbeitszimmer schieben. Manchmal war das Leben einfach schön.

Während Lolo in der Küche hantierte, quälte sich Anna mit einem Text für ein Automagazin. Momentan nahm sie dankend jeden Auftrag an, den sie kriegen konnte, und so verfasste sie nun einen Artikel über den neuesten fahrdynamischen Achsenprüfstand eines bekannten Autobauers. Obwohl technisches Verständnis nicht gerade ihre Stärke war, legte sie einen ordentlichen Text hin. Kurz vor dem Mittagessen konnte sie den Artikel sowie die Rechnung an ihren Auftraggeber abschicken. Die nächste Deadline für einen weiteren Text war erst in zwei Tagen und so konnte sie sich getrost den Rest des Tages frei nehmen.

Bratenduft durchströmte die Wohnung und in Annas Magen bereitete sich eine wärmende Behaglichkeit aus. Sie lehnte sich zurück und betrachtete das Foto ihrer Großmutter, das auf dem Schreibtisch stand. „Ach Oma, das würde dir auch schmecken – Rouladen mit Kartoffelpüree. Du fehlst mir so. Wenn ich Lolo nicht hätte, würde ich das hier alles gar nicht aushalten.“ Als sie in die Küche kam, saßen die Mädchen am Tisch und malten, während Lolo in der einen Hand ein Sektglas hielt und mit der anderen die Sauce abschmeckte. „Bist du fertig, Süße, hast du was zustande gebracht?“ Anna nickte und ihre Augen lächelten. Auch die Mädchen hoben die Köpfe und kicherten. Lolo fing als Erste zu lachen an und nach und nach stimmten alle mit ein. Sie lachten immer lauter und lauter und unten an der Straße blieben die Menschen stehen, um nach oben zu dem geöffneten Fenster zu blicken.

Am Abend kam Annas Stiefmutter Irina hereingeschneit und lüpfte gleich die Topfdeckel, um zu überprüfen, ob Anna eine gute Mutter war und die Kinder mit gesunden Speisen versorgte. „Oh, Rouladen“, rief sie entzückt, „meine Lieblingsspeise, da sind ja noch ein paar übrig, ob ich wohl mal probieren dürfte?“ Anna lächelte. Lolo hatte ihr einen doppelten Gefallen getan, denn meistens hatte Irina guten Grund zur Klage. Anna hatte weder die Zeit noch das Geld, den Kindern jeden Tag etwas Gesundes zu kochen und so gab es oft mehrere Miracoli-Tage in der Woche, Pommes Frites und zum Ende des Monats hin sogar Ravioli aus der Dose. Irina, die Annas Vater sprichwörtlich ins Grab gebracht hatte – aber darüber wurde offiziell nicht gesprochen und dies ist auch eine lange Geschichte –, hatte heute also gar nichts zu meckern und freute sich über die seltene Gelegenheit, von Anna fürstlich verköstigt zu werden. Was Anna an Irina besonders liebte, war ihre Spontanität und Lebensfreude. Das war nicht immer so gewesen. Wer Irina sah, würde niemals glauben, dass diese selbstbewusste und lebensfrohe Frau einmal ein Heimchen am Herd gewesen war, wie es im Buche steht. Als Anna ihre Stiefmutter kennenlernte, ging sie ihr mit ihrer Aufopferungspenetranz gewaltig auf die Nerven. All ihre Lieben umsorgte und pflegte sie mit einer solchen Hingabe, dass man in ihrer Nähe kaum Luft zum Atmen bekam. Anna hatte schon immer gewusst, dass Irina nichts anderes war als ein machtbewusstes Weib, das auf subtile Art und Weise alles ihr Mögliche tat, um andere von sich abhängig zu machen, sie zu dirigieren und sich in alles einzumischen. Und das Ganze unter dem Deckmantel der Fürsorge und mütterlichen Aufopferung. Annas Vater hatte sie binnen fünf Jahren so weit, dass er sich kaum noch die Schnürsenkel allein zubinden geschweige denn sich selbst ein Steak braten konnte. Irgendwann war dann Anna der Kragen geplatzt und sie hatte Irina den Spiegel vorgehalten. Diese Enttarnung und eine schreckliche Szene lösten dann einen Mechanismus aus, den kaum einer für möglich gehalten hätte. Binnen vier Wochen mutierte Irina zu einer komplett anderen Person. Zuerst fuhr sie zur Kur, was an sich schon erstaunlich war. Denn sie alleine ohne ihren Karl oder, noch schlimmer, ihr Karl ohne sie, das war einfach undenkbar! Aber ihr neu entdeckter und offensichtlich in ihren tiefsten Tiefen verborgener, grenzenloser Egoismus gewann die Oberhand und nachdem sie sich bei Dr. Levi am Starnberger See einer Fettabsaugung unterzogen hatte, schnappte sie sich einen weitaus jüngeren Mann, besuchte Französisch-Kurse, lernte Segeln und verschwand schließlich für ein paar Monate an die Côte d‘Azur. Ihren Karl zwang sie zum Verkauf des Hauses und zur Herausgabe der einen Hälfte, die sie in eine schicke Segeljacht steckte, auf der sie heute lebte und mit wechselnden Skippern die Welt umsegelte. Alle paar Wochen tauchte sie wie aus dem Nichts auf und verschwand genauso spontan, wie sie gekommen war. Sie war zu einer fröhlichen, unabhängigen, kompromisslosen und lustbetonten Frau geworden. Nur manchmal – in seltenen Augenblicken und nur bei Anna und den Kindern – kam ihr alter Kontrollwahn durch und dann lüpfte sie halt die Kochtöpfe. Sollte sie ruhig, Anna hatte nichts dagegen. Vor allem heute nicht.

„Ich muss dir etwas Unglaubliches zeigen“, rief Irina und holte ein Magazin aus ihrer riesigen Handtasche, während sie mit der anderen Hand ein großes Rouladenstück zwischen ihren unnatürlich vollen Lippen verschwinden ließ. „Da gibt es ein neues Männermagazin, MmM, eine echte Sauerei ist das! Warte, ich lese dir etwas vor. Hör mal!“ Sie blätterte in der Zeitschrift und tippte wütend auf eine Seite. „Da schreibt doch ein Typ so eine unverschämt frauenfeindliche Kolumne. Die ist so pornografisch und beleidigend, dass man am liebsten gleich das Verlagsgebäude in die Luft sprengen möchte.“ Anna riskierte einen Blick und hätte sich beinahe an ihrem Tee verschluckt. Das konnte doch nicht wahr sein, wie war das nur möglich? Sie hatte den Text doch erst vor ein paar Tagen abgeschickt und nun das! Während Irina sich weiter in Beschimpfungen erging, ihr rot gefärbtes Haupt schüttelte und den Text stellenweise laut vorlas, aber immer mit einem „Dingsbums“ an der entsprechenden Stelle, denn sie war ja eine feine Dame, schweiften Annas Gedanken ab. Die eine Hälfte ihres Herzens jubilierte, denn nun stand ein Geldsegen ins Haus, mit dem sie sich erst mal von den größten Schulden befreien konnte. Und genau deshalb hatte sie ja gleich so dick aufgetragen. Andererseits schien ihr verdorbener Text dermaßen die Gefühle von Frauen zu verletzen, dass sie jetzt ein schlechtes Gewissen bekam. Sie hörte sich selbst wie beiläufig fragen: „Und welcher Arsch hat das verbrochen?“ Irina suchte den Namen über dem Text und Annas Herz fing wie wild zu pochen an. „Brandolf Annaberg heißt dieses abscheuliche Subjekt“, stieß sie hervor, „und so was nach den Errungenschaften von Alice Schwarzer und Konsorten. Wir Frauen dürfen uns diese Herabwürdigung auf keinen Fall bieten lassen. Zum Glück sitze ich morgen wieder im Flugzeug nach Frankreich, sonst würde ich glatt noch eine Demonstration gegen diesen Menschen anzetteln.“ „So schlimm?“, wollte Anna wissen. „Nein, noch schlimmer“, rief Irina, „wenn du wüsstest, was unsere Generation und allen voran deine Mutter alles mitgemacht hat, bis die Frauen den Mut hatten, für sich selbst einzutreten, könntest du mich verstehen.“ Anna drehte sich beschämt zur Seite und sah aus dem Fenster. „Tut mir leid, Mama“, dachte sie, „was hättest du denn am meiner Stelle gemacht?“

Harakiri für Anfänger

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