Читать книгу Harakiri für Anfänger - Ariane Martin - Страница 6

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Der Plan funktioniert

Der nächste Morgen begann mit einer glücklichen Botschaft per E-Mail. „Lieber Herr Annaberg“, stand da, „wir haben Ihre Kolumne gedruckt und wollten Ihnen heute Ihr Honorar überweisen. Sie haben aber vergessen, Ihre Bankverbindung anzugeben, bitte teilen Sie uns diese doch umgehend mit. Der von Ihnen geforderte Betrag übersteigt zwar alles, war wir unseren Autoren bisher gezahlt haben, aber angesichts Ihrer wirklich fantastischen Arbeit hat der Chef die Summe abgesegnet. Wir brauchen Sie sicherlich nicht darauf hinzuweisen, dass Sie über das Honorar absolutes Stillschweigen bewahren müssen, da wir mit jedem Autor individuelle Vereinbarungen treffen. Wenn Ihr nächster Text genauso gut ankommt wie der letzte, machen wir vielleicht eine Serie daraus. Wir freuen uns auf eine weitere gute Zusammenarbeit (Deadline: Freitag 14.00 Uhr!). Viele Grüße – Melanie Weber, Assistentin der Geschäftsführung. Anna tanzte durchs Zimmer. Ihr fiel ein, dass sie schnell ein Konto einrichten musste. Irgendein Fantasiename musste her, bisher hatte sie als freie Autorin immer ihren eigenen Namen angegeben, jetzt brauchte sie ein Pseudonym. Sie überlegte fieberhaft: „Was macht meine Arbeit aus? Einfallsreichtum, Schnelligkeit, Präzision, die perfekte Symbiose von Logik und Fantasie. Au ja, irgendwas mit Fantasie, Fanta …, das hört sich frisch an, Fantalogik? Bescheuert! Auf englisch: Fantalogic?“ Ja, warum nicht. Sie sprach es langsam aus und mit einem kleinen amerikanischen Akzent. Fantalogic, das war‘s! Jetzt schnell zur Bank und dann die Rechnung schreiben. In Kürze würde sie hoffentlich all ihre Schulden begleichen können und vielleicht blieb sogar noch etwas übrig für eine schöne Aktion mit den Kindern. Ganz in der Nähe hatte ein neuer Freizeitpark eröffnet und sie wollte mit den Mädchen längst einmal hin. Die saftigen Eintrittspreise hatten sie bislang daran gehindert und nun war dieses Vorhaben in greifbare Nähe gerückt. Sie ballte die Faust: „Strike, strike, strike – und ich schaff es doch!“

Als sie später das Haus verließ und gerade in den Bus einsteigen wollte, traute sie ihren Augen kaum. Das Werbeplakat von MmM, das noch immer auf der Flanke des Busses prangte, war völlig verschmiert und auf den blanken Brüsten der Schönheit stand jetzt in roten Lettern: „Annaberg du Sau, wir schneiden dir die Eier ab!“ „Oje“, dachte sie, „scheint ja tatsächlich große Wellen zu schlagen meine Kolumne, Hilfe!“ Sie blickte sich in alle Richtungen um, aus Angst, von irgend jemandem als Brandolf Annaberg erkannt zu werden. Gleichzeitig fiel ihr ein, dass dies ja gar nicht möglich war. Einen Moment lang war ihr sehr unbehaglich zumute, doch dann kehrte die Freude über das viele Geld zurück und sie lächelte, als der Bus losfuhr und der Busfahrer ihr im Rückspiegel ein freundliches Grinsen schenkte. Sie war eine schöne Frau und obendrein gesund und erfolgreich, was wollte sie mehr!

Anna stand mit Lisa und Carlotta unten an der Straße. Moritz, ihr Ex-Mann und Vater ihrer Kinder, wollte die beiden für ein langes Wochenende in Kitzbühel abholen. Missbilligend stellte Anna fest, dass auf dem Beifahrersitz der schwarzen E-Klasse eine hübsche Blondine wartete. „Fährt die auch mit?“, fragte sie kalt und nickte Richtung Straße. „Ach, du meinst Sabine. Ja klar, die Kinder kennen sie schon. Du musst keine Bedenken haben, die mögen sich total gern!“ Anna schluckte und holte tief Luft. „Bevor du mir die Frau nicht vorgestellt hast, steigen die Kinder nicht ins Auto. Sag ihr, sie soll ihren Hintern hierher bewegen und zwar dalli.“ „Hey Sweety, so kenne ich dich ja gar nicht.“ Moritz hob erstaunt die Augenbrauen, bemerkte aber Annas Entschlossenheit und winkte Richtung Wagen. „Komm doch mal schnell rüber“, rief er in seiner beherrschenden Art über die Straße. Sabine kam mit einem betont lässigen Hüftschwung angestöckelt und streckte Anna fröhlich die Hand entgegen. „Schön, dass ich Sie einmal kennen lerne“, flötete sie mit viel zu hoher Stimme und Anna konnte nicht anders, als sie sofort unsympathisch zu finden. „Ganz meinerseits“, sagte sie höflich, „kommt ihr noch rauf auf einen Kaffee?“ „Ein andermal gerne“, winkte Moritz ab, „aber wir wollen noch vor der Rushhour aus der Stadt sein. Kommt Kinder, wir müssen uns beeilen.“ Anna nickte und verabschiedete sich von ihren Mädchen, die es plötzlich ganz eilig hatten, sich von ihr loszureißen. Mit einem Kloß im Hals sah sie zu, wie die vier ins Auto stiegen und einem Urlaub entgegen brausten, in dem sie keinen Platz mehr hatte. Einen Moment lang kämpfte sie gegen die Tränen an, doch dann gewann ihre Vernunft die Oberhand und sie erinnerte sich, dass es jetzt Zeit wurde, eine neue Kolumne zu verfassen. Und diesmal wollte sie noch einen drauf setzen, sie war in der richtigen Stimmung! Es musste etwas derart Provozierendes sein, dass selbst Frauen das Blatt aus lauter Sensationsgier kauften. Je größer die Auflage war, desto schneller konnte sie das ohnehin schon horrende Honorar noch weiter in die Höhe treiben. Im Eisfach lag eine Flasche Finlandia. Sie goss sich einen Eierbecher voll ein und stürzte das eiskalte Zeug in einem Zug hinunter. Sie dachte an die Blondine, die heute Abend mit ihren Mädchen in irgend einem Nobelrestaurant in Kitzbühel an einem Tisch sitzen würde. Moritz würde während des gesamten Essens wie ein Tiger vor dem Eingang hin- und herlaufen und lautstark telefonieren und Sabine würde alleine da sitzen mit den zwei streitenden Gören und sicherlich darüber nachdenken, ob sie sich einen Kurztrip zu viert jemals wieder antun würde. Anna lächelte diabolisch. Wie wäre es mit einer aus der Luft gegriffenen, hanebüchenen Theorie zum Thema „Wie sich die orale Fähigkeit der Frau an der Amplitude ihres Hüftschwungs ableiten lässt?“ Au ja, dazu fällt ihr bestimmt etwas ein. Sie rieb sich die Hände, bevor sie in die Tasten griff. „Auf ein Neues, mögen die Spiele beginnen. In ihrer Story kam eine blonde und etwas unterbelichtete Frau vor.

Irina war inzwischen wieder nach St. Tropez zurück gekehrt, wo sie seit ein paar Jahren jeden Spätsommer verbrachte. Sie liebte es, wenn sich der kleine Ort auf den Winterschlaf vorbereitete und die Touristenströme langsam abrissen. Normalerweise stand man mindestens eine Stunde im Stau, bevor man in die Stadt kam, aber im Herbst kehrte die Normalität nach St. Tropez zurück und nur ein paar Sentimentale und solche, die das Ende eines Sommers nicht in seelische Probleme stürzten, blieben in dem Örtchen kleben und tranken am Hafen den letzten Pastis der Saison. Sie saß gerade im Café des Arts und überlegte, ob der Mann mit Dreitagebart und Piratentuch tatsächlich Bruce Willis war oder einer seiner vielen Klone, die den Ort und im Besonderen die Damenwelt den ganzen Sommer lang schon in hysterische Verwirrung versetzt hatten. Irina blickte in die andere Richtung. Es war ihr egal, ob nun Bruce Willis oder der Jachtputzer Arno Bollinger neben ihr saß. Die angeregten Gespräche und das Lachen der anderen Gäste hatten sie sentimental werden lassen und sie musste sich eingestehen, dass sie manchmal doch gerne wieder eine Familie um sich hätte. Eine Regelmäßigkeit, klare Strukturen, Pflichten und Aufgaben. Sie hatte Lust, Anna anzurufen, die sich so tapfer mit ihren Kindern durchs Leben kämpfte und die gute Eigenschaft besaß, sich über nichts und niemanden zu beklagen. Dabei fiel ihr ein, dass sie diesmal einen ganz seltsamen Eindruck auf sie gemacht hatte. Sie wirkte irgendwie verstört, auf eine subtile Art und Weise völlig fremd. Komisch, dass ihr das erst jetzt auffiel. Sie nahm das Handy und wählte Annas Nummer. Leider nur der Anrufbeantworter. Sie tat nun etwas, was sie sonst stets kategorisch ablehnte, sie sprach auf ein Band, mit unsicherer Stimme: „Liebe Anna, du weißt schon, dass du mit jedem Problem zu mir kommen kannst – oder? Und solltest du in Geldnöten stecken, sag mir bitte Bescheid. Ich helfe dir jederzeit gerne.“ Irina legte das Handy wieder auf den Tisch und spürte, dass etwas Beunruhigendes im Gange war. Der Typ mit dem Piratentuch lächelte herüber, aber Irina schaute zur Seite. Etwas neues Altes war im Anmarsch, die Familie, vielleicht war das doch eher ihr Platz in der Welt? Verdammt, sie hatte sich doch von all dem frei gestrampelt, sie wollte alles andere, als Oma von kleinen schreienden Monstern sein, die ihr die Haare verwuschelten und ihre rotzigen Nasen als klebrige Großmutterorden an ihre kostbaren Seidenblusen hefteten. Naja, aber schön war es doch. Nun hatte sie die Melodie von Hildegard Knef im Ohr, so sang sie leise: „Aber schön war es doch.“ Monsieur, encore un Pastis s’il vous plaît!

Als Lolo ein paar Tage später wieder bei Anna auftauchte, hielt sie die druckfrische Ausgabe von MmM in der Hand. „Du wirst es nicht glauben, meine Liebe!“, rief sie und leerte den gesamten Inhalt ihrer Hosentaschen auf den Tisch. „Da gibt es einen Typen, der so krasse Sachen über Frauen schreibt, dass die Leute wild skandierend vor dem Verlagshaus auf- und abmarschieren. Ich bin gerade zufällig dort vorbeigekommen und beinahe hätte mich so eine Power-Emanze umgerannt. Du weißt schon, eine von der gefährlichen Sorte, die so sexy Frauen wie mich überhaupt nicht ausstehen kann. Trotzdem hat sie mir die Unterschriftenliste hingestreckt und mich aufgefordert, mein Autogramm abzugeben. Sie meinte, die Anführerin der Gruppe hätte heute morgen mit dem Chefredakteur gesprochen, aber angeblich haben die keinen Namen von dem Typen, weil die nur per E-Mail mit ihm verkehren. Kannst du dir so etwas vorstellen? Das ist doch quatsch, dass die den Mann nicht kennen – oder? So einen Aufstand wegen einer Kolumne! Als hätte die Welt keine anderen Probleme!“ Vor lauter Entrüstung war Lolo gar nicht aufgefallen, dass Anna kreidebleich und wie angewurzelt im Türrahmen lehnte. „Da hast du recht“, stammelte Anna, „als hätte die Welt keine anderen Probleme.“

„Glaub mir, die sind so aufgebracht, dass ich denen zutraue, den Typen zu lynchen, sobald die den in die Finger kriegen. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken, ehrlich nicht. Die ziehen ihn nackt aus und hängen ihn an seinem Pimmel am Marienbrunnen auf. So wie damals, als ...“ „Ja ja, ist ja schon gut“, unterbrach Anna sie ungehalten, „was interessiert mich das überhaupt?“ Sie hatte plötzlich eine Idee. „Du, sag mal, hat nicht eine Freundin von dir ein Sommerhaus auf Langeoog, könnten wir da nicht für ein paar Wochen hin? Ich muss dringend mal raus hier.“ Lolo blickte von ihrer Lektüre hoch. „Tja Schätzchen, da gibt es nur ein kleines Problemchen. Wir haben nämlich gerade Herbst und mit den zwei Kleinen wird das nicht gerade ein Spaziergang. Ich meine, alleine mit einem schnuckeligen Typen auf der Felldecke vor dem Kamin“ – sie verdrehte entzückt die Augen – „das kann ich mir schon eher vorstellen. Aber mit zwei Kids, die einem der Sturm aus der Hand reißt. Nein danke, darauf kann ich echt verzichten! Und dann denk’ an die Kurtaxe und den Weg durch ganz Deutschland. Wer soll das bezahlen?“

Anna nickte traurig und setzte sich an den Tisch. Das war schließlich auch keine Lösung, sich einfach vom Acker zu machen. In dem harmlosesten Tonfall, den sie zustande brachte, fragte sie Lolo, was sie denn eigentlich von der Kolumne hielt. „Hab ich ehrlich gesagt noch nicht gelesen, aber warte mal, ich suche sie gerade.“ Lolo beleckte sich die Finger, bevor sie die Seiten umblätterte, was Anna ziemlich eklig fand. Eine Menge Leute hat diese Unsitte, aber bei ihrer Freundin war ihr das noch nie aufgefallen. Anna betrachtete unbeteiligt ihre Fingernägel, während Lolo ihr den Text vorlas. Plötzlich krümmte sich ihre Freundin vor Lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. Anna blickte unsicher drein und verstand gar nicht, was es denn da zu lachen gab. „Der Typ hat sie ja nicht alle“, rief Lolo, „der hat ja so was von einen an der Waffel, hoho haha.“ Sie konnte gar nicht mehr weiterlesen vor Lachen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Anna nahm das Heft und las den Text quer. „Aber das ist doch wirklich eine wüste Sache“, gab Anna zu bedenken. „Schätzchen, merkst du denn nicht, dass der Mann alle verarscht. Das ist ja wohl so dermaßen aus der Luft gegriffen, der glaubt doch selber nicht, was er da schreibt. Und die ganzen Emanzen nehmen das ernst, ich lach mich tot, hohoho haha!“ Jetzt lachte auch Anna, irgendwie erleichterte sie die Reaktion ihrer besten Freundin. So schlimm würde es schon nicht werden. Oder?

Anna biss sich auf die Lippen. Sie hatte den ganzen Morgen überlegt, ob sie wenigstens Lolo ihr kleines Geheimnis anvertrauen sollte, aber irgendetwas hinderte sie daran. Nicht, dass sie ihrer Freundin nicht vertraute, ganz im Gegenteil. Aber Lolo machte gerne die große Welle und würde sie nur noch mehr in Aufregung versetzen. Und das konnte sie momentan überhaupt nicht gebrauchen. „Sag mal, Süße, kannst du mir einen Gefallen tun und die Kinder von der Tagesmutter abholen? Ich müsste noch ein bisschen arbeiten und wir könnten später zusammen zu unserem Italiener gehen.“ Lolo lächelte schwärmerisch und rückte sogleich ihren Push-up zurecht. Oh ja, Luigi, du Süßer, wir kommen! Sie trällerte in der Melodie von „Oh wie so trügerisch …“, den so genannten Luigi-Song: „Oho, mein Luigi, tralalalalala, bring mir ein Cornetto tralalala...“ Singend packte sie ihre Sachen in die Hosentaschen und rauschte davon.

Als Anna ihr E-Mail-Fach öffnete, sprang ihr eine neue Mail von MmM ins Auge. Sie spürte, dass ihr Herz zu rasen begann und holte sich erst mal ein Glas kalte Milch aus dem Kühlschrank, bevor sie die Mail öffnete. „Lieber Herr Annaberg“, stand da, „Ihre Kolumne ist eingeschlagen wie eine Bombe und die Verkaufszahlen unseres Heftes sind dank Ihrer fantastischen Arbeit ziemlich in die Höhe geschnellt. Nun möchten wir Ihnen anbieten, Ihre Kolumne als wöchentliche Serie zu veröffentlichen. Und ganz im Stile wie gehabt. Wir gehen einmal davon aus, dass Ihnen an einem Vertrag sehr gelegen ist und würden Sie gerne persönlich kennen lernen. Bitte senden Sie mir doch Ihre Telefonnummer, dann rufe ich Sie an und wir können einen zeitnahen Termin vereinbaren. Herzliche Grüße – Melanie Weber.“ Anna starrte auf den Text Einen zeitnahen Termin vereinbaren, das ging nicht. Das kam überhaupt nicht in Frage! Sie schnappte sich einen Bleistift und kaute wie wild darauf herum. Was mach ich nur, was mach ich nur, am besten erst einmal eine Weile hinhalten. In Zeitlupe schrieb sie Frau Weber eine knappe Mitteilung: „Liebe Frau Weber, ich befinde mich derzeit auf Formentera. Sobald ich zurück bin, melde ich mich. Im Anhang wie gehabt die Rechnung für den letzten Text. Herzliche Grüße! B. Annaberg.“ Sie blickte auf die Uhr und stellte erfreut fest, dass sie noch ein wenig Zeit für einen neuen Text hatte. Fieberhaft suchte sie nach einem neuen Thema. Je öfter sie sich hinsetzte, um über sexistische Themen nachzudenken, desto leichter fiel es ihr. Sie dachte an Lolo und im Nu fiel ihr ein Thema ein: „Fingerlecken beim Zeitunglesen – wie erkenne ich eine echte Sexgöttin!“ Als Lolo mit den Kindern in die Wohnung stürmte, klappte Anna den Laptop zu und spazierte fröhlich in die Küche, um die ganze Bande zum Pizza-Essen einzuladen. „Wie?“ Lolo hob erstaunt die Augenbrauen, „können wir uns das leisten?“ Anna nickte „Ich habe gerade das Geld für meinen letzten Text gekriegt. Jetzt lassen wir es mal so richtig krachen!“ Die Kinder jubilierten und als sie die Treppe hinunter gingen, sangen alle im Chor. „Oho, mein Luigi...“

Als Anna am nächsten Tag ihrem schönen Postboten entgegeneilte, war sie so ausgelassen, dass sie ihn am liebsten in die Arme genommen hätte. Das erste Mal war sie kurz davor, ihn nach seinem Namen zu fragen, doch irgend etwas hielt sie davon ab. In ihrer Fantasie hieß er Pompejus und wahrscheinlich hatte sie einfach Angst davor, er könnte einen gewöhnlichen Namen haben. Er war gerade dabei, ihrem Nachbarn einen kleinen Karton von Amazon und die letzte Ausgabe von MmM in den Briefkasten zu stopfen. „Geht nicht“, seufzte er und wollte gerade die Treppe nehmen, als Anna ihm die Post aus der Hand nahm. „Mach ich schon, er wohnt ja gleich nebenan!“ „Danke sehr, das ist echt nett. In letzter Zeit will jeder dieses neue Magazin hier haben. Möchte mal wissen, warum die Leute plötzlich so heiß sind auf den Mist!“ Anna sah ihn erstaunt an, „Lesen Sie denn gar keine Magazine?“, wollte sie wissen. „Doch doch“, gab er zu und blickte ein wenig arrogant drein, „aber nur so was wie Cicero und Brandeins oder mal ein Reisemagazin. Für alles andere ist mir meine Zeit zu schade.“ „Aha, Sie sind also ein Intellektueller“, scherzte sie und wunderte sich darüber, dass sie sich so lasziv gegen die Wand lehnte. „Naja, das wohl nicht gerade, aber für gewisse Sachen sollte man sich zu schade sein, finden Sie nicht?“ Sie nickte, „da haben Sie vollkommen Recht, aber wie meine Großmutter zu sagen pflegte: „Moral muss man sich leisten können“. Er runzelte die Stirn, „also mit Verlaub, das ist doch nun wirklich kompletter Unsinn. Eine dumme Plattitüde, mit der sich die Leute ihre Fehler schön reden möchten. Eine typische Ausrede für Idioten, die nichts dazulernen wollen.“ „He, jetzt mal langsam“, rief Anna empört, „was wissen Sie denn schon..?“ Aua, schon als sie den Satz begann, tat ihr das Leid, was sie gerade sagen wollte. Sie schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. „Sie meinen, was weiß ein Briefträger schon vom Leben, was?“ „Nein, so habe ich das nicht gemeint.“ „Aha, na dann einen schönen Tag noch.“ Im Nu war er mitsamt dem lahmen Bein aus der Tür und ließ sie mit einem blöden Gefühl zurück. „Na egal“, dachte sie, „schön ist er trotzdem. Und mit seinem Briefträger sollte man schließlich eh nichts anfangen. Am Ende hat man ihn noch jeden Morgen!“ Sie kicherte und sprang die Treppen hinauf.

Oben angekommen, wollte sie gerade bei ihrem Nachbarn klingeln, als ihr bewusst wurde, dass ausgerechnet Mr. Superspießer dieses Männermagazin abonniert hatte. Dem hätte sie das nun ganz und gar nicht zugetraut – wie man sich in den Leuten doch täuschen konnte! Plötzlich kam es ihr völlig unnatürlich vor, dass sie neben jemandem wohnte, von dem sie nicht das Geringste wusste. Nachbarn waren schließlich eine tolle Sache. Man konnte sich gegenseitig helfen und im Optimalfall eine ganz besondere Beziehung aufbauen. Anna lehnte sich an das Treppengeländer und überlegte, warum sich zwischen ihr und diesem Mann so rein gar nichts entwickelt hatte in all der Zeit. Ihr wurde klar, dass es sie insgeheim ärgerte, weil er nicht das geringste Interesse an ihr zeigte und sogar die Kinder komplett ignorierte. Anna war es nicht gewohnt, dass ein Mann durch sie hindurch sah und sie musste sich eingestehen, dass Mr. Superspießer so ziemlich der erste Mann war, der dies fertig brachte und das mit einer ungeheuren Ausdauer. Er war zu einer wandelnden Kränkung ihres Egos geworden und deshalb zu einer Person, der man besser so selten wie möglich begegnete, es sei denn, man brauchte dringend Kaffee oder Klopapier. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie genau so nie sein wollte und scheinbar zu einer Nachbarin geworden war, die nur dann auf der Matte stand, wenn sie etwas brauchte und sich nicht einmal revanchierte. Eine Kurzgeschichte fiel ihr ein, die sie einmal in einem turkmenischen Märchenbuch gelesen hatte. Es ging darin um eine Frau, die vom Schicksal mit soviel Schönheit und Charisma beschenkt worden war, dass ihr jedermann das Glück zu Füßen legte und nichts dafür verlangte als ein Lächeln von ihr. Als ihr mit fortgeschrittenem Alter die Strahlkraft ihres Lächelns abhanden gekommen war, wurden ihre Tage einsam und ereignislos. Bald wurde ihr bewusst, dass ihre Schönheit sie irre geleitet hatte und es ihr nicht gelungen ist, als Mensch zu wachsen und zu gedeihen. Der Mangel an rechtem Maß hatte es ihr versagt, die Menschen und Geschehnisse um sie herum zu begreifen. Freude, Dankbarkeit und Verzicht waren fremde Worte für sie geblieben und die plötzliche Erkenntnis, dass sie das Leben niemals in seiner Vielfalt gespürt hatte, war so schmerzhaft für sie, dass ihr Herz einen Riss bekam und nach drei Tagen aufhörte zu schlagen. So sehr war sie aber in diesen letzten drei Tagen und Nächten mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie weder schlief noch aß noch Besuch empfing. Nur nach dem Steinmetz rief sie in ihrer letzten Stunde, denn dieser sollte eine Botschaft in ihren Grabstein meißeln. Keinen Namen, keine Daten sollten darauf stehen, nur jene Worte, über die sich die Besucher des Friedhofs noch heute wundern:

„Drei Tage und drei Nächte währte mein Leben – mein Dank dafür kennt das Ende nicht!“

Anna lächelte und freute sich, dass ihr diese Geschichte im Gedächtnis geblieben war. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie zusammen zuckte, als die Tür aufgerissen wurde und der Nachbar ihr beinahe in die Arme lief. Ihre Anwesenheit registrierte er ohne großes Erstaunen und wie immer blickte er verschlossen an ihr vorbei und zwang seinen Mund, sich wie ein Automat zu öffnen und zu schließen. „Was dürfte es denn diesmal sein?“, formulierte genervt sein Sprech-Automat und der dazu gehörige Mann blickte betont gehetzt auf die Uhr. „Einen Beutel Kaffee, Klopapier, eine Tasse Zucker oder Mehl?“ Plötzlich schien ihm bewusst zu werden, dass er derart viele Worte benutzt hatte, dass er Gefahr lief, mitten in ein Gespräch hinein zu laufen. Dabei lautete seine Devise: So wenig sprechen wie möglich, so viel wie nötig und am besten überhaupt nicht. Und auf gar keinen Fall eine Frage stellen, denn schließlich könnte dies eine Antwort zur Folge haben. Unsicher zupfte er an seinem Holzfäller-Hemd, das in seiner beigen Cord-Hose steckte.

Anna musterte ihn völlig perplex. Sonst war der Mann doch immer so höflich und hilfsbereit und heute entpuppte er sich als absolutes Ekelpaket. Der stille Nachbar, ein Hüne von einem Mann mit schwarzem Strubbelkopf und sanften, bernsteinfarbenen Augen, hatte heute seine Augenbrauen so streng zusammengezogen, dass er ihr vorkam wie der Bruder von Frida Kahlo. „Jetzt kommen Sie mal runter“, sagte sie lässig, „ich werde Sie ganz bestimmt nicht mehr belästigen. Um genauer zu sein: nie wieder!“ Mit einem Schwung aus der Hüfte ließ sie das Magazin wie eine Frisbeescheibe durch die offene Tür in den Flur segeln. Das Heft traf eine Gitarre, die an der Wand lehnte und einen angenehmen Moll-Akkord erklingen ließ. Sie grinste ihm süffisant in sein erstauntes Gesicht und stolzierte wiegenden Schrittes in ihre Wohnung. Drinnen angelangt, war von ihrer Lässigkeit nichts mehr übrig. Wie konnte dieser Typ sie nur so demütigen? Wegen einer Tasse Kaffee oder einer Rolle Klopapier! So ein Vollidiot! Sie überlegte, ob sie wütend oder richtig stinkig sein sollte, aber dann dachte sie daran, dass der Scheißkerl auf dem Klo ganz sicher ihre Kolumne las. Der würde sich noch wundern, sie würde eine kleine Passage an ihn persönlich adressieren, das hatte sie schon öfters gemacht, wenn sie in ihrem Heimatkaff die Kolumne für die Abendzeitung verfasste und kleine Pfeile an Menschen losschickte, die ihr irgendwie in die Quere gekommen waren. Aber als Brandolf Annaberg ging das ja gar nicht! Womöglich flog sie dann noch auf, wegen so einer kleinen, unnützen Rache. Ihr wurde klar, dass sie solche Gedanken beiseite schieben musste und was es bedeutete, ein Pseudonym zu besitzen. Einerseits genoss sie den Schutz eines nicht zuordenbaren Namens, andererseits war sie plötzlich eine Frau ohne Eigenschaften und jemand, der sich im Ernstfall eben doch nicht verteidigen konnte. Sie schüttelte den Kopf, das Leben war verrückt, ihr kam das alles völlig absurd vor. Völlig irre!

Wie immer, wenn sie wütend war, kochte sie sich erst einmal eine Tasse Kaffee. Seitdem sie wieder Geld hatte, konnte sie sich ihren geliebten Wacker-Kaffee aus Frankfurt schicken lassen. Der war zwar nicht der billigste, aber mit Abstand der beste der Welt. Und wie der duftete, einfach herrlich! Die Kinder waren schon bei der Tagesmutter und sie konnte sich in aller Ruhe eine neue, diesmal noch viel skandalösere Geschichte für MmM ausdenken.

In ihrem Mail-Fach fand sie erneut eine Nachricht von Melanie Weber: „Hallo Herr Annaberg! Schön für Sie, dass Sie auf Formentera sind, eine tolle kleine Insel, ich beneide Sie! Dann wissen Sie wahrscheinlich gar nicht, was Sie mit ihrer Kolumne in Deutschland ausgelöst haben. Die Frauen sind rasend vor Wut und demonstrieren vor unserem Gebäude. Sie verlangen nach der Adresse des „Übeltäters“, (eine der wenigen Bezeichnungen für Sie, die ich noch in den Mund kann, ohne meinen Mund hinterher mit Seife waschen zu müssen!). Die wütende Meute hat unserem Verlagsleiter die Reifen zerstochen. Naja, es trifft keinen Armen, es ist ein Maserati und der Chef fährt jetzt mit einem Fahrrad in den Verlag, was ihm sicherlich nicht schadet. Aber trotzdem. Ich meine, für unsere Verkaufszahlen ist das ja ganz wunderbar, aber nun rufen ständig Leute vom Fernsehen an, die dringend Kontakt mit Ihnen aufnehmen möchten. Und wir wollen es uns nicht mit sämtlichen Medien und Werbepartnern verscherzen, das verstehen Sie sicher. Wenn wir keine Anzeigenkunden mehr haben, nützt uns die schönste Auflage nichts. Also bitte Herr Annaberg, melden Sie sich so schnell wie möglich, damit wir uns endlich treffen können. Viele Grüße an die Leute von Pepes Fonda und bis bald! Ihre Melanie Weber.“

Anna lächelte. Sie kannte die Bar „Pepes Fonda“ und hatte sich dort schon die eine oder andere Nacht um die Ohren geschlagen. Es war eines jener Lokale, das auf der Hippie-Insel zur Legende geworden war. Soviel sie wusste, hatte Nina Hagen dort Hausverbot auf Lebenszeit und das wollte etwas heißen. Wie gerne würde sie in diesem Moment dort sitzen, auf dem kleinen Mäuerchen und mit einer Flasche Bier in der Hand bis zum Morgengrauen mit irgendwelchen Alt-68ern unsinnige Gespräche über eine bessere Welt führen. Über den Turbo-Kapitalismus beispielsweise oder über die Verschwendung der Steuergelder, die in der EU als Wassersubventionen in den dürren Äcker der spanischer Baumwollfeldern versickern.

Ach Formentera, wie schön wäre es, jetzt dort zu sein. Sie träumte sich hinein in eine Welt voller Sonne und Meeresduft und als sie zurückfand in ihre Realität, wurde ihr klar, dass sie ein echtes Problem hatte. Die Situation geriet langsam außer Kontrolle. Sie musste sich dringend jemandem anvertrauen. Das Telefon klingelte und ausgerechnet Moritz war in der Leitung: „Hallo Sweety“, rief er fröhlich, „wie schaut es aus, kann ich die Kinder in die Herbstferien mitnehmen? Sabine und ich möchten in Kroatien ein Haus mieten und ich würde die Kinder gerne dabei haben. Das ist doch kein Problem – oder?“ Anna schluckte. „Kein Problem? Spinnst du? Wer kümmert sich denn dann um die Kinder während deiner Endlos-Telefonate? Du hängst doch den ganzen Tag an deinem Blackberry und machst Geschäfte. Meinst du, deine Sandra oder Sabine oder wie heißt sie noch mal, will tagelang Babysitterin spielen?“ Anna merkte, dass sich ihre Stimme überschlug, sie holte erst mal tief Luft. „Aber Anna Sweety.“

„Hör auf mit deinem Scheiß-Sweety, ich denke darüber nach und rufe dich an!“

„Aber bitte bis morgen.“ Sie legte auf und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihre Babys mit einer wildfremden Tussi, wahrscheinlich in einem Haus mit Pool. Oh Gott – Pool! Sie nahm sofort das Telefon in die Hand und wählte seine Nummer. „Hallo, ich noch mal. Das geht auf keinen Fall. Die Kinder könnten im Pool ertrinken, weißt du überhaupt, wie viele Kinder jedes Jahr in Pools ertrinken, verdammt noch mal, wie kommst du überhaupt auf die idiotische Idee, mich so was zu fragen!“

„Hey Sweety, Anna, jetzt bleib mal locker, hältst du mich für komplett bescheuert?“

„Nein Moritz, das geht auf keinen Fall. Lisa reißt sich ständig die Schwimmärmel runter und Carlotta schwimmt gerade mal zwei Meter. Und das auch nur mit Abstoßen vom Beckenrand. Das kommt überhaupt nicht...“ Moritz schrie jetzt ins Telefon: „Darf ich jetzt bitte auch mal was sagen? Wir haben keinen Pool, verstehst du, es gibt dort keinen Pool. Und jetzt noch mal zum Mitschreiben: Wir haben k- e - i - n - e - n Pool!“

Schweigen. „Ah so“, kam es kleinlaut, „na ja dann, aber die Stechmücken und Carlottas Sonnenallergie, hast du daran gedacht?“ Jetzt hängte er ein. Sie hatte offenbar so eine Art hysterischen Anfall, das kannte er von früher. In diesem Zustand war es völlig sinnlos, auch nur einen einzigen vernünftigen Satz mit ihr zu sprechen. Er nahm sich vor, sie am Abend noch einmal in Ruhe anzurufen. Vielleicht hatte er zwischen dem letzten Meeting und dem Geschäftsessen noch ein paar Minuten Zeit, bei ihr vorbeizuschauen.

Anna war verzweifelt. Sie hatte sich vorgenommen, die Trennung für die Kinder, für Moritz und für sich selbst so erträglich wie möglich zu gestalten und im Großen und Ganzen bekam sie das ganz gut hin. In Anwesenheit der Mädchen redete sie stets nur positiv über Moritz und niemals wäre es ihr passiert, auch nur einen Halbsatz über ihre Ehehölle zu verlieren. Lolo bewunderte sie sehr für ihre disziplinierte Haltung und meinte, der Scheißkerl hätte das gar nicht verdient. Doch die Situation hatte sich verändert. Bisher war Moritz immer alleine mit den Kindern unterwegs gewesen und jetzt sollte plötzlich so eine blondierte Ersatzmama mit ihren Mädchen in den Urlaub fahren. Unzählige Bilder schossen ihr durch den Kopf: Sabine mit den Mädchen beim Frühstück, die Kinder, Moritz und Sabine beim Bummel durch eine romantische Altstadt, Sabine und die Mädchen im Bett beim Geschichtenvorlesen … Sie spürte, wie ihr Herz vor Eifersucht brannte. Sie war neidisch auf die schöne Zeit, die eine andere Frau mit ihren Mädchen verbringen durfte. Und sie war neidisch auf Moritz, weil er den Mädchen einen Urlaub bezahlen konnte und sie nicht. Und genau das war das Problem. Sie wusste schon jetzt, dass sie zusagen würde, schon deshalb, weil die Kinder es liebten, mit ihrem Vater wegzufahren und Moritz obendrein ein Recht darauf hatte, eine schöne Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. So zumindest hatten es die beiden bei der Trennung vereinbart. Anna suchte das Küchenregal nach ihrem gut gehüteten, sechzehn Jahre alte Lagavulin ab. Normalerweise ging sie nicht gerade verschwenderisch mit diesem edlen Tropfen um und schon gar nicht um die Mittagszeit, aber heute war so ein Tag, da konnte sie gut einen vertragen. Sie schnappte sich einen Eierbecher vom Regal und erfreute sich beim Eingießen an der goldenen Farbe des Getränks. In Minischlückchen ließ sie den stark nach Torf schmeckenden Whiskey auf der Zunge zergehen und langsam die Kehle hinunter rinnen. Wie gut dieser Schluck doch zu ihrem momentanen Gefühlsleben passte! Schnell verschloss sie die Flasche wieder und stellte sie ganz hinten ins Regal. Lolo war zwar ihre beste Freundin, aber die trank einen Jack Daniels genauso verzückt wie einen Lagavulin.

Sie begann ihre Kolumne: „Moral ist so ziemlich die letzte weibliche Tugend, die ein Mann bewundert, wenn er eine Frau zu erobern wünscht.“ Als Anna eine halbe Seite höchst sexistische Reden geschrieben hatte und sich ausgiebig der Farbe, Form und des Geruchs der Vagina gewidmet hatte, merkte sie plötzlich eine seltsame Unruhe, die sie zwang, auf dem Stuhl hin- und her zu rutschen. „Was für ein Mist“, dachte sie, „so ganz ohne Sex, das ist doch auf die Dauer auch nichts. Das böse Wort mit F, dass sie letzte Woche ihrer größeren Tochter unter Androhung von Fernsehverbot untersagt hatte, ging ihr jetzt in allen möglichen Variationen durch den Kopf. Sie erinnerte sich an ihre Schulkameradin Carolin, die es liebte, der ganzen Mädchenklasse ihre sexuellen Abenteuer bis ins kleinste Detail zu schildern.

Einmal erwischte die Deutschlehrerin Frau Fuß sie dabei, wie alle Schülerinnen in Trauben um Carolins Pult standen und ihr dabei zusahen, wie sie an dem Stil einer Haarbürste ihr Wissen in Sachen Oralverkehr unter Beweis stellte. Frau Fuß hatte eine Weile unbeobachtet in der Tür gestanden und sich sicher gewünscht, wenigstens einmal in ihrem Leben eine solche Aufmerksamkeit bei ihren Schülerinnen zu genießen. Zum Glück war Frau Fuß nicht nur die dickste Lehrerin, sondern auch die coolste der ganzen Schule. Man merkte ihr an, dass sie am liebsten laut losgelacht hätte, aber sie riss sich zusammen und meinte nur schmunzelnd in ihrem tiefbayerischen Dialekt „Merkt‘s eich oans: Wer net ko, der red davo!“ Die Mädchen wussten natürlich sofort, was Frau Fuß damit sagen wollte, doch damals waren sie überzeugt davon, dass Carolin mit ihren vierzehn Jahren schon ein sehr erfahrenes Mädchen in Liebesdingen war. Zumindest hatte sie schon der Hälfte der Klasse den Zungenkuss beigebracht. Anna dachte amüsiert an die Zeit in ihrer Oberpfälzer Klosterschule zurück und daran, dass Carolin mittlerweile zu einer allseits beliebten und couragierten Pfarrerin in einem Kaff in Oberbayern geworden ist. Warum aber dachte sie jetzt gerade an diese Binsenweisheit von Frau Fuß? Sollte sie nur deshalb so aufregende sexistische Storys schreiben können, weil sie wie eine Nonne lebte? Würden ihre Ideen versiegen, wenn sie selbst wieder einmal ausleben konnte, was sie wöchentlich zum Besten gab? Anna beschloss, sich in den nächsten Wochen komplett auf ihre Arbeit zu konzentrieren und die Männer Männer sein zu lassen. Und außerdem: Wer kam schon in Frage? Mr. Superspießer, der ein echter Vollidiot war, wie sich ja gerade erst herausgestellt hatte, aber bei Licht besehen ein durchaus attraktiver Mann war und mit Sicherheit den schönsten Hintern der Stadt hatte? Oder Pompejus mit den dunkelbraunen Augen und den schönsten Händen der Welt? Oder etwa Luigi, der kürzlich Anna lauthals und zu Lolos großer Enttäuschung zur aufregendsten Frau der Stadt gekürt hatte? Und wann bitteschön sollte sie überhaupt einen Mann kennenlernen, wo sie doch seit Monaten keine Bar mehr von innen gesehen hatte! Die Wahrscheinlichkeit, dass ein interessanter Mann plötzlich an ihrer Tür klopfte, war ungefähr so groß wie Lolos Chancen, einen Kerl zu finden, der etwas anderes im Sinn hatte als ihren phänomenalen Körper. Anna seufzte. Es blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als sich weiterhin warme Gedanken zu machen und sich den Verzicht auf ein Liebesleben so teuer wie möglich bezahlen zu lassen.

Am Abend kam Moritz überraschend zu Besuch. Einmal mehr fiel Anna auf, dass dieser Mann stets aussah, als wäre er gerade einem Managermagazin entsprungen. Wie immer trug er einen Hand genähten Anzug, elegante Schuhe der Marke Alden, eine geschmackvolle Krawatte und darüber ein Siegerlächeln unter dunkelblonden Strähnen, die ihm verwegen über die hellblauen Augen fielen. Ein bisschen erinnerte er sie an die intelligente Version von Prinz Charming aus dem Film „Shrek“. Sie bemerkte, dass an seiner rechten Hand eine neue Jaeger LeCoulte baumelte und die Manschettenknöpfe scheinbar passend zur Uhr entworfen wurden. Der Mann überließ nichts dem Zufall. Er drückte ihr einen herzlichen Kuss auf die Wange und schon stürmten die Mädchen heran und sprangen an ihrem Papa hoch, als hätten sie ihn jahrelang nicht gesehen. Wie so oft in letzter Zeit kamen bei Anna leichte Zweifel auf, ob es richtig gewesen war, diesem Mann den Laufpass zu geben. Nicht nur, dass die Mädchen ihren Vater oft vermissten, sie hätte an seiner Seite ein sorgenfreies Leben haben können. Aber dann rief sie sich ihre vielen einsamen Abende in Erinnerung, seine Extratouren mit immer neuen Assistentinnen, die ständigen Streitereien, die sie im Laufe der Jahre zu einer hysterischen Furie gemacht hatten. Sie stellte ihn sich in Unterhosen vor dem Fernseher vor oder laut schnarchend neben ihr im Bett. Er hatte es geschafft, das Schlechteste aus ihr heraus zu holen und das durfte sie nie vergessen. Niemals! Anna lächelte milde. Jetzt wusste sie wieder, dass die Trennung nichts war, was sie herbei geführt oder forciert hatte, sondern einfach nur eine Tatsache, die schon länger existiert hatte und irgendwann nur noch ausgesprochen werden musste. Sie hatte diesen Schritt getan und noch heute war sie stolz auf sich und freute sich über ihre Charakterstärke, ohne die sie die Scheidung niemals hätte durchziehen können. Moritz war ein viel zu starker Mensch, als dass er kampflos das Feld geräumt hätte. Obendrein war er ein kluger Mann, der genau wie sie davon überzeugt war, dass die Mädchen ein Recht auf eine intakte Familie hatten und dass eine Trennung, egal wie gut und diszipliniert sie über die Bühne ging, immer eine defizitäre Angelegenheit für die Kinder war. Anna erinnerte sich an den Abend, als ihre Lisa das erste Mal wissen wollte, warum der Papa nicht mehr nach Hause kam und warum plötzlich alles anders war als vorher. Obwohl sich Anna auf diese Frage vorbereitet hatte, war ihr vollkommen klar, dass es keine statthafte Antwort gab. Sie war nicht fähig, ihrer Tochter in die Augen zu blicken und hatte mit matter Stimme erklärt, dass es manchmal besser sei, sich zu trennen, wenn man sich nicht mehr richtig lieb hatte. Sie war gezwungen, ihrem Kind etwas zu erklären, das in keinster Weise zumutbar war. Mit Bitterkeit erinnerte sich Anna daran, wie sie ihrer Tochter an diesem Abend den Gutenachtkuss auf die Stirn gedrückt hatte. Wie immer hatte sie beim Verlassen des Zimmers gesagt: „Ich hab dich lieb!“

Moritz riss sie aus ihren trübseligen Gedanken. „Also Sweety, wie sieht‘s jetzt aus mit den Herbstferien. Dürfen die Mädels mit?“ Ganz klar, dass Lisa und Carlotta sofort wild durch die Küche hüpften und bei der Aussicht auf Ferien mit Papa völlig aus dem Häuschen waren. „Ja, natürlich dürft ihr mit“, versuchte Anna sie zu beruhigen und schon wieder spürte sie diesen schmerzenden Stich in der Brust. Moritz sah sie verständnisvoll an. „Ich weiß, wie schwer dir das fällt, und umso dankbarer bin ich, dass wir das so gut hinkriegen. Glaub mir, ich habe auch schon einen Horror davor, dass eines Tages ein anderer Kerl hier einzieht und mit meinen Mädchen am Frühstückstisch sitzt. Aber das wird sich wohl nicht aufhalten lassen.“ Er seufzte und ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Erst jetzt bemerkte sie, dass Moritz den gleichen Schmerz verspürt haben musste wie sie, denn plötzlich hatte er einen ganz verlorenen Gesichtsausdruck und sah richtig alt aus. „Ach, komm schon“, meinte sie ermunternd, „deine Ängste sind doch absolut unbegründet. Wie sollte ich schon einen Mann kennen lernen! Ich sitze den ganzen Tag vor dem Computer und der einzige Mann in meinem Leben ist der Postbote. Da müsste schon jemand kommen wie Adrian Monk und das ist ziemlich unwahrscheinlich, meinst du nicht?“ Endlich lächelte Moritz wieder sein Strahlemannlächeln. „Schaust du dir die Serie immer noch so gerne an?“ Sie nickte. „Ja, obwohl Monk jetzt eine neue Assistentin hat, aber an die gewöhne ich mich auch noch.“ „Ach was, der hat eine neue Assistentin? Nicht mehr die sympathische mit der Dauerwelle, die immer in den schrecklichen und viel zu engen Klamotten herum läuft?“ Anna kicherte. „Nein, aber wo wir mal wieder so gemütlich zusammensitzen, wie geht es denn dir eigentlich? Geschäftlich, privat und überhaupt!“ Er lächelte breit und zeigte ihr seine kürzlich vom berühmten Dr. Seehofer sanierten, perfekten Zahnreihen. „Alles in Ordnung, fast schon unheimlich ungetrübt möchte ich sagen. Die Geschäfte laufen wie am Schnürchen, Sabine ist endlich mal wieder so eine Frau nach meinem Geschmack und gesundheitlich, psychisch, philosophisch steht es ebenfalls zum Besten. Stell dir vor, ich habe eine Frau gefunden, die mindestens genauso karrieregeil und machtorientiert ist wie ich und deshalb nicht einen Halbsatz darüber verliert, wenn ich im Urlaub das Telefon nicht aus der Hand lege. Manchmal bin ich so zufrieden, dass ich fürchte, ich kriege irgendwann die Quittung für so viel Glück.“

Anna seufzte laut. Sie wusste, wenn dieser Satz fiel, dann war Moritz kurz davor, seine ängstliche Seite auszupacken und dafür hatte sie heute einfach keine Nerven. „Das ist jetzt der Job von Sabine“, dachte sie und fühlte sich richtig fies dabei. Sie fasste sich ein Herz, „ach Moritz, jetzt fang nicht wieder davon an. Ich meine, genieße doch einfach dein Glück ohne die Angst, es zu verlieren“.

„Aber das ist es ja gerade“, flüsterte er resigniert, „das hat etwas mit der Gesetzmäßigkeit des Lebens zu tun. Ich bin sicher, dass eine ausgleichende Gerechtigkeit existiert, die es aber nicht aus moralischen Gründen gibt, sondern weil die Verhältnismäßigkeit in einem gesunden System einfach stimmen muss. Verstehst du das nicht?“

„Mensch Moritz, jetzt denk doch mal nach“, rief Anna ungeduldig, „wenn deine Verteiler-Theorie stimmt, dann müssten ja wir angesichts der vielen chancenlosen, armen und unterdrückten Menschen auf der Welt in einem ständigen, unerträglichen Glückszustand schweben. Weil so viele Leute einfach gar keins haben und zwar ihr ganzes Leben lang nicht!“ Moritz sah sie zweifelnd an, aber sein analytischer Verstand kapierte natürlich sofort, was sie meinte. Sie dachte an eine gesunde Verhältnismäßigkeit, die das Glück aller mit einschloss. Warum gelang es ihm nie, bei solchen Themen so global zu denken wie im Business.

Als hätte Anna seine Gedanken erraten, meinte sie ermunternd, „siehst du, du hast einfach enorme Schwierigkeiten, weil du dich ständig nur um dich selbst drehst. Da sind wir wieder bei deinem Hauptproblem und kommen immer wieder zum selben Ergebnis, egal, um was es bei dir im Leben geht!“ Moritz hob abwehrend die Hände, „schon gut schon gut, das reicht, ich hab es kapiert. Lass mich schnell gehen, bevor wir dort weiter machen, wo wir vor zwei Jahren aufgehört haben!“ Anna lachte. „Ich bringe dich noch zur Tür“. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal nach ihr um. Er strich ihr eine blonde Locke aus der Stirn, „was für eine Verschwendung. Sobald du wieder ausgingst, würden dir die Kerle die Tür einrennen. Du bist schöner denn je, weißt du das? Gibt es wirklich keinen einzigen Mann,, der dich interessiert?“ Anna hob abwehrend die Hände, „nein, wirklich nicht. Ich habe keine Lust, vom Regen in die Traufe zu kommen. Für diesen ganzen Beziehungsmist habe ich weder die Zeit noch die Nerven. Ich vermisse momentan überhaupt nichts, ehrlich.“ Sein Blick konnte nicht verhehlen, dass er mit der Antwort zufrieden war. „Ja Sweety, nun muss ich auch los, ich muss in den Bayerischen Hof, einen öden Banker davon überzeugen, dass seine Bank den Kredit nur zurückbekommt, wenn er noch mal Geld rein schießt. Dafür will er aber was geboten kriegen und ich muss mich auf eine lange und teure Nacht einstellen. Wie sehe ich aus?“ Eitel reckte er sein Kinn und setzte sein berühmtes James-Dean-Lächeln auf. Plötzlich kam er ihr vor wie ein kleiner Junge und es war ihr schleierhaft, wie eine kluge Frau auch nur eine Sekunde auf diesen Mann hereinfallen konnte. „Du siehst wie immer unschlagbar aus“, streichelte sie lachend sein Einzelkind-Ego, „es wird heute ganz sicher ein hartes Stück Arbeit für dich werden, dir die zahllosen willigen Damen vom Leibe zu halten, die verloren sind, sobald ihre Blicke das unwiderstehliche Blau deiner Augen streifen“. Sie schob ihn kichernd zur Tür hinaus und für einen Moment hatte sie den Eindruck, dass er das erste Mal spürte, wie komplett unempfänglich sie für seinen Charme geworden war. Aber er hatte Glück. Er gehörte zu jenen Menschen, die eine solche Ahnung unter der Kategorie „völlig absurd“ im hintersten Eck seines Denkapparates abspeichern konnte, um dann nie wieder auch nur ein einziges Mal in diese Richtung zu denken. „Blöde Kuh!“, rief er laut, während er die Treppe hinab eilte wie jemand, dem die Welt zu Füßen liegt.

Harakiri für Anfänger

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