Читать книгу Logbuch - Auf zu neuen Ufern - Askson Vargard - Страница 4

Dritter Eintrag

Оглавление

Was es braucht, sind Verbündete mit einer gemeinsamen DNA, die als Hefe zu einer homogenen Masse aufgeht, bis man lauthals wie in Santiago schreien kann: „Wir sind mehr!“ Nichtsdestotrotz gilt es, auf der Hut zu sein, da der bevorstehende Krieg, wenn das überhaupt dem korrekten Terminus entspricht, undurchsichtig verworren scheint, dschungelhaft, in dem es kein Anfang und kein Ende gibt, nur ein grünes Meer aus Pflanzen, die von Pflanzen überwuchert sind, auf welchen weitere Pflanzen wachsen. Das kostbare Leben, einmal ausgehaucht, beginnt nimmer mehr zu atmen. Natürlich ist das immer so und kann nicht anders sein, aber erst in der Not, wenn es quasi aktiv bedroht ist, ist es wahr. Wir stapfen wütend auf, bis die aufgewirbelte Staubwolke uns als Versteck und als Morsezeichen dient und greifen jede Hand, denn sie kann eine helfende sein.

An unserem Ziel in Nürnberg erwarteten wir die Vervollständigung unserer Front zur alten Normalität, mitsamt zwei zusätzlicher gesunder Hände. Mein vollstes Vertrauen gilt ihnen und was Eric, denn so heißt er, zwischen ihnen als Materie ballt. Er ist ein kluger Kopf und hat das Herz am richtigen Fleck, anatomisch also günstige Voraussetzungen. Seine Arme umschlingen uns herzlich und drücken uns fest an seine Brust zur Begrüßung. Sein Gebaren drückt Wärme und Zuversicht, kurz Hoffnung, aus. Es ruft jene Gefühlsaufwallung hervor, welche radikal gegen das manifestierte Misstrauen unseres vorherigen Exilantenlebens angeht. "Gemeinsam stark" ist trotzdem eine Floskel, derer sich die bedienen, die glauben mit dem Rücken zur Wand zu stehen und keine andere Wahl zu haben. Mein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Thema bleibt aber im Moment unserer Wiedervereinigung unberührt, da sie zu fantastisch wirkt, um ein Placebo zu sein.

Der Hase des Todes, den er als Sohn einer Tätowiererin als erstes Tattoo kürzlich gestochen bekam, soll unser Wappentier werden! Unsere Heraldik mag spöttisch als eindimensional verlacht werden, aber sie ist ausdrucksstark. Wir haben kein Schild vor unserer Brust, keine Fahne über unseren Häuptern, nur diesen Unterarm, die an den Roman von Richard Adams mahnt. Das schwarze Kaninchen verleiht Gewissheit, dass wir sterben müssen. Es schwebt gleichmäßig durch Nebelbänke mit seinen Löffeln, die spitz zulaufend Teufelshörnern gleichen. In sein schattenmaskiertes Gesicht sieht jeder, dieses augenlose, dessen Schlitze fenstergleich einen letzten Blick in den Äther öffnen, bevor es sich abwendet und die Nachtschwärze seines Fells uns in ewige Finsternis hüllt.

Wir benötigen einen Fluchtplan, denn offen gestanden, dachten wir nicht weiter, als bis zu Eric zu gelangen, denn ein weit verzweigter statischer Plan ist mehr Hindernis in einer volatilen Zeit. Erics Verpflichtungen zwingen ihn jedoch zu äußerster Vorsicht, deswegen dürfen wir keinen Verdacht außerhalb unserer kleinen Gruppe erwecken und machen ab, uns als gewöhnliche Besucher auszugeben, die wir viele Male zuvor bereits waren, um Eric für ein Wochenende einen Besuch abzustatten. Worauf wir zu achten haben sind die Vorzeichen der Vorsehung. Sie sind unsere Wegweiser, welche Straße wir nehmen müssen. Paulo Coelho begann beispielsweise nie mit dem Schreiben eines Buches, bevor er eine weiße Feder in seinem Alltag erspähte, die er als unumkehrliches Zeichen zum Neubeginn deutete.

Als erste soziale Verpflichtung fahren wir ins ländliche Umland, um seiner Ex-Freundin bei Kaffee und Erdbeerkuchen Gesellschaft zu leisten. Abgesehen von gesättigten Mägen, nehmen wir seinen Sohn mit, keine Entführung versteht sich, sondern ein absprachegemäßer Wechsel der Erziehungsberechtigten, der unseren Aufenthalt glaubhaft untermauert. Elf Jahre Beziehung, etliche gemeinsame Wohnungen und den erwähnten Sohn später verlor Eric die Hoffnung auf ein zufrieden stellendes Zusammenleben, weshalb er die Konstellation aufsprengte. Diese Konsequenz des Denkens und des Handelns braucht es meiner Einsicht nach! Deswegen bezweifle ich keineswegs, dass er die verbleibenden Banden auch lösen wird, denn er ist ein Sprengmeister wie wir - Aufbauen des Einreißens wegen, weil Häuser zwar hoch, aber nicht ins Unendliche reichen. Der Turm zu Babel wäre heutzutage mickrig im Vergleich zu den Wolkenkratzern in Dubai, aber sie haben ein Ende und von diesem weht das Wort Stillstand. Mein Onkel sagte einst, er verstünde den Hang zur Entwicklung nicht, insbesondere, wenn Sachverhalte optimiert werden müssen, die anscheinend keiner Verbesserung bedürfen. Ich habe beipflichtend genickt, ohne vollkommen mit ihm übereinzustimmen. Sie erkennen den Widerspruch? Und fragen sich nun, wie es angehen kann, dass ich abreiße, um von vorne zu beginnen, aber mich vehement gegen diese neue Normalität sträube? Darauf entgegne ich, dass ich keine Ausnahme bilde und ein widersprüchliches Wesen in mir trage. Genügt es Ihnen etwa nicht, wenn ich versichere, dass sich diese Post-Corona Zeit falsch anfühlt? Soll ich etwa auf falsche Gefühle nicht richtig reagieren? Soll nicht jeder so ehrlich sein, wie Eric und vom Essenstisch aufstehen dürfen, wenn es ihm nicht schmeckt? Und uns schmeckt es gerade eben überhaupt nicht. Auf den Erdbeerkuchen trifft das hingegen nicht zu. Erics Sohn bringt sein Stück vor den Wespen, die ihren Appetit an dem blutroten Gelee gütlich tun, in Sicherheit und bereitet seine Sachen vor, das heißt, er sortiert seine Spielzeuge, die er mit zu seinem Vater nehmen möchte, darunter ein Malset bestehend aus verschiedenen Schablonen für Mandalas. Dabei gesteht er mit schelmischen Lächeln, dass er die gelungensten Exemplare als Ausmalvorlage dutzendfach kopieren will, um sie beim nächsten Trödelmarkt für je einen Cent zu verkaufen. Ich bin beruhigt, dass Erics Sohn, wenn er ein Kapitalist werden sollte, ein schlechter seiner Art werden würde und dadurch alleine dem Renditesystem abschwören muss. Als er so vor uns herläuft und uns die Regeln seines ausgedachten Spiels erklärt (bei dem die Füße keine Anomalien des Fußbodens betreten dürfen (sonst schießen Laserstrahlen daraus hervor und ziehen Lebenspunkte ab)), schauen Eric und ich auf die Großbuchstaben, die vom linken bis zum rechten Schulterblatt aufgespannt den Name Ronaldo ergeben und Eric fragt scherzhaft, ob er weiß, wer das sei? Da schüttelt der Kleine desinteressiert den Kopf und springt weiter fidel von Betonplatte zu Betonplatte. "Aber warum hast du das Trikot dann an? Möchtest du nicht Ronaldo sein?" Diesmal Schulterzucken. "Weißt du, Cristiano Ronaldo ist der berühmteste Fußballspieler, es gibt keinen, schon gar nicht aus Argentinien, der nur annähernd auf seiner Stufe steht." Keine Reaktion. Eric packt den Umtriebigen wohlmutig bei den Schultern und dreht ihn zu sich, er atmet durch und tippt auf die Kinderbrust auf der eine rotgrüne Fahne mit wirren Wappen ausgeblichen ruht. "Er ist Nationalspieler von ... was ist das? Äh, Portugal natürlich, Portugal!"

Kaum ist es ausgesprochen wie ein Zauber, der beschwört nicht rückgängig gemacht werden kann, da treffen sich unser aller Blicke (ausgenommen das uneingeweihte Kind) und verschmelzen zu einem, ein Zucken der Mundwinkel husche uns über die Lippen, denn schlagartig haben wir unseren Fluchtort gefunden. Portugal! Dieses winzige Land am Rande Europas, welches fast droht von dort abzufallen, ist bisher am glimpflichsten aus der aktuellen Lage hervorgegangen. Dort wollen wir uns sammeln und den Widerstand zur alten Normalität einleiten – Portugal!

In den folgenden Stunden powern wir den Sohnemann aus, indem wir ihn erst mit zuckerhaltigen Speisen an den Rand seiner körperlichen Leistungsbereitschaft treiben und ihm dann im Biergarten Möglichkeiten zum Austoben geben. Ein Eis folgt dem Eis, während wir in der Stückbetrachtung mit Bier der Marke Simon Bräu und dem Z-Bau-Hausbräu versuchen Schritt zu halten. Leider vergessen wir darüber glatt das Hauptessen, also nicht unseres, denn wir hatten Humussandwiches, aber das Abendbrot für Erics Sohn, weshalb dieser beim Zubettgehen quengelig reagiert, aber er bekommt als Ausgleich eine handvoll Studentenfutter, eine Banane und einen gehaltreichen Baby-Keks, der für gewöhnlich kistenweise über Krisengebieten abgeworfen wird, um den Körper mit den notwendigsten Nährstoffen zu versorgen. Danach, als der Sättigungseffekt einsetzt, sackt er halbtot zusammen, man könnte meinen, dass er vor uns Besuch vom schwarzen Kaninchen des Todes bekommen hat.

Ich stopfe mir fürsorglich einen Pfeifenkopf. Dabei sortieren wir drei unsere Erinnerungen, wie es überhaupt zu all dem Schlamassel gekommen ist, zu der Ausnahmesituation im Allgemeinen und zu dem rasenden Irrsinn im Umgang damit im Speziellen.

Bei mir war es so: Ich kam typischerweise mal wieder meiner langweiligen Sachbearbeitertätigkeit nach, die mich übrigens zur Führung von Smalltalk völlig unbrauchbar gemacht hat. Sobald ein Mitarbeiter den Versuch unternimmt, ein Gespräch zu beginnen, reißt sich trotz dessen niemand von seiner Wand aus Bildschirmen fort, um offen und mit Augenkontakt an der Interaktion teilzunehmen. Eine Aussage wird erwidert, wenn es angenehm ist, zum Beispiel, um charmant Zeit bis zum Feierabend totzuschlagen, ansonsten bleibt das Großraumbüro angereichert mit den melodiösen Anschlägen des Tastaturgeklappers. Selbst, wenn es eine Antwort oder ein Zutun an Erfahrungen gibt, um das Gespräch zu beleben, bleibt die Situation merkwürdig, indes annähernd zwanzig Ohrenpaare lauschen, hat dieser unwillkürliche Monolog den Charakter einer Beichte. Nach monatelanger Übung wurde ich auch zu solch einem sozialinkompetenten Subjekt und legte mir ein Schweigegelübde auf. Eines Tages fiel das Wort Corona in den Raum, es erfolgte naturgemäß keine Reaktion. Die Nennung von Corona verursachte noch keine Emotionen, gewissermaßen war es im gleichen Maße unbekannt, wie Cristiano Ronaldo für manche. Ich vergaß es und erst in der darauffolgenden Pause, in der ich als Nichtraucher neben meinem kettenrauchenden Freund und seinen Kollegen stand, fällt erneut dieses Wort - Corona. Mir erscheint der Kontext skurril, weil ich mir keinen Reim darauf machen konnte, besonders als mir einfiel, dass Corona eine mexikanische Biermarke ist und da ich keine Tagesnachrichten las oder schaute, blieb meine Ansicht darin unerschüttert, bis wir zu zweit waren und ich mich meiner Unkenntnis weniger schämen brauchte. Der Kumpel reichte mir traditionell eine seiner blauen Pall Mall-Zigaretten (denn auch wenn ich Nichtraucher bin, bekomme ich ein, zwei, drei oder mehr Spenden in dieser halben Stunde, weswegen ich als Ausgleich zu dem monetären Aufwand gelegentlich eine Schachtel kaufe, nicht für mich, sondern für ihn, denn immerhin bin ich Nichtraucher). Er erklärte mir Corona, beziehungsweise Covid-19, sei ein Virus, eventuell vom Opossum oder von der Fledermaus übertragen oder entstanden durch Übertragung auf einem chinesischen Markt oder der Virus sei Teil eines ausgeuferten Wissenschaftsprojekts, welches selbständig aus dem Labor ausbrach oder eine gelungene Melange all dieser Varianten – Einigkeit herrschte dennoch und zwar darüber, dass China der schuldige Part war - es ist gut, Sicherheit zu haben. Zurück an meinem Arbeitsplatz, entfachte plötzlich eine hitzige Diskussion, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, über die verschiedenen Prognosen, die ein jeder gab. Ein älterer Leiharbeiter, der mit der Herstellung von Bio-Hundefutter nebenberuflich Geld verdient, kam der bedrohlichen Wirklichkeit am nächsten. Die Fallzahlen in China stiegen, die ersten Fälle im Ausland waren absehbar, darunter natürlich auch Europa, allen voran Italien. Als in Ischgl zum Ausklang der Saison dann niemand auf Après-Ski verzichten konnte, explodierte die von den Medien betitelte (ja ich begann zu lesen) Corona-Krise und schien unkontrollierbar. Die Regierungen reagierten panisch, das Unwissen über Ansteckung und fehlende Wirkstoffe sorgten dafür, dass die Sicherheit das Totschlagargument schlechthin wurde, wobei doch „Jeder, der die Freiheit aufgibt“ nach Benjamin Franklin „um Sicherheit zu gewinnen, wird beides am Ende verlieren.“ Aus Sicherheitsgründen wurden Schulen geschlossen, Wochenmärkte fanden nicht mehr statt, Betriebe stellten die Arbeit ein, Worte wie systemrelevant und Social Distancing waren geläufige Vokabeln geworden. Museen, Galerien, Restaurants wurden behördlich geschlossen, sowie Ausgangssperren verhängt – dieser Apokalypsevorhof ist sieben Monaten her.

Was wir vorhaben, nämlich nach Portugal fliehen, scheint die gewagteste Reise seit der Suche nach den Gewürzinseln zu sein, die vor einem Jahr an Belanglosigkeit gegrenzt hätte, als Kontinente übergreifende Reisen normal waren. Wir verständigen uns, dass Eric baldmöglichst nachkommt, sobald er wieder seiner Sprengtätigkeit nachgekommen ist, wir sind hingegen freier, können den Vorsprung eventuell nutzen und nehmen am nächsten Morgen den frühesten Flug. Der Airport ist wie ausgefegt, das Flugzeug zu drei Vierteln gefüllt, wir heben ab, es ist unbegreiflich. Ein wichtiger Teil unseres Vorhabens ist erfüllt, raus aus Deutschland, oh wie sehne ich mich nach den kalten Küssen des Atlantiks! Und da trittst du hinter dem blendenden Wolkenwerk hervor, bald sind wir dir näher, als es die Vorstellungskraft eines Menschen unseres Landes erlaubt, dass man dir kommen kann.

Logbuch - Auf zu neuen Ufern

Подняться наверх