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Heiligenstadt - Montagvormittag

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Rothe schnaubte leise, als der Mann am Nebentisch wie von Fäden gezogen aufstand, nachdem ihm die beiden Prostituierten aufreizende Blicke zugeworfen hatten. Der Zuhälter wirkte angespannt, drängte sie weiterzugehen, scheuchte sie wie Schafe vor sich her. Immer wieder ging er sich mit fahrigen Händen durchs Haar, nestelte an seiner Jacke und sah sich um. Die Mädchen setzten eine unbeteiligte Miene auf, wenn er mit ihnen sprach, und lächelten, wenn sie meinten, einen potenziellen Freier im Blick zu haben. Seinen Nachbarn schien das alles nicht zu bekümmern. Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und folgte dem Dreiergespann. Die Kontaktaufnahme fand im Gehen statt, bis man sich über den Preis einig wurde. Mit einem kurzen Nicken gab der Zuhälter einer der jungen Frauen zu verstehen, in den Wagen des Freiers zu steigen. Der schwarze BMW hatte ein Erfurter Kennzeichen, und Rothe merkte sich reflexartig die Nummer. Was hatte dieser Lude mit seinen Mädchen im beschaulichen Heiligenstadt zu suchen? Und wo blieb Jessi?

Langsam riss ihm der Geduldsfaden, was sein Bemühen, den Morgen zu genießen, ins Gegenteil verkehrte. Seit Simone nicht mehr mit ihm sprach, war er ein unzufriedener und ungeduldiger Kerl. Einer dieser unsympathischen Typen, die er selbst nicht ausstehen konnte. Er wusste es, nur konnte er nichts daran ändern. Dazu müsste Simone ihm wieder gut sein.

Er hörte die Kirchenglocken elfmal schlagen. Und endlich sah er Jessi, wie sie sich in dem Rollstuhl über das Pflaster kämpfte. Ihre neuerdings dunkelroten Locken wippten in der Morgensonne, und das gepunktete Kleid umspielte ihre Knie. Trotz des Rollstuhls sah sie aus wie ein normales Mädchen, besser gesagt, wie ein normales verliebtes Mädchen, denn seitdem Jessica mit Matthias zusammen war, war sie ein fröhlicher Teenager. Matthias war es letztendlich auch gewesen, der den Ausschlag dafür gegeben hatte, dass sie wieder auf ihr Äußeres achtete. Frank Rothe sah seine Tochter selten in einem Kleid. Aber die regelmäßige Physiotherapie hatte ihren Beinen wieder Form gegeben, und nun zeigte sie sie gerne. Für ihn als Vater ging es bei diesem Anblick um mehr als die modische Erscheinung seiner Tochter; es war eine Bürde, die ihm genommen worden war, als er festgestellt hatte, dass Jessica wieder Interesse am Leben hatte.

Plötzlich stieß der BMW für ein Wendemanöver zurück, und Rothe riss es vom Stuhl. Es war nur Jessicas schneller Reaktion zu verdanken, dass der Wagen sie nicht streifte. Während Rothe mit langen Schritten auf sie zulief, kam sie ihm atemlos entgegen.

„Dieser verdammte Idiot!“, fluchte Rothe.

Der Fahrer fuhr davon, ohne auch nur ein winziges Zögern erkennen zu lassen; wahrscheinlich hatte er Jessica nicht bemerkt. Obwohl nichts passiert war, klappte Rothe sein Notizbuch auf und notierte sich Uhrzeit und Kennzeichen.

„Dich kriege ich noch, du Arsch!“, rutschte es ihm heraus.

Als Jessi ihn mit einem Kuss begrüßte, hatte er seinen Ärger bereits wieder beiseite geschoben und lächelte.

„Hast du das gesehen?“, fragte sie atemlos.

„Ja, habe ich. Und du wirst immer besser, bist ihm ja schnell ausgewichen. Vielleicht solltest du doch mal überlegen, ob du nicht wieder Sport machen willst.“

Jessi lachte. „Tue ich doch schon. Matthias bringt mir Handball bei. Spendierst du mir auf den Schrecken ein Eis?“

Kaum hatte Rothe wieder Platz genommen und Jessi ihr Eis in der Hand, tauschten sie sich über das Neueste in der Schule aus. Doch Rothe kannte seine Tochter. Da war noch mehr. Das Thema, um das es ihr ging, hatte sie noch nicht einmal angedeutet.

„Jessi, du machst mich zu einem grauhaarigen Mann, wenn du mich noch länger hinhältst. Was ist so dringend, dass du mich sofort sprechen musstest? Wäre das nicht auch am Telefon gegangen?“

„Papa, mach dir keine Gedanken, von grauen Haaren bei dir keine Spur. Und wenn schon, die Frauen fliegen auf grau meliert. Das hat Charme.“

„Ach ja“, sagte Rothe nur und wartete ab.

Jessi verdrehte die Augen. „Echt! Warum kannst du dich nicht einfach wie andere Väter um den Finger wickeln lassen? Immer willst du alles ganz genau wissen.“

„Jess! Bitte! In diesem Fall weiß ich noch nicht einmal ansatzweise, worauf du hinauswillst. Und da denke ich immer, ich bin ein guter Menschenkenner, aber du stellst sämtliche Theorien, wie Sechzehnjährige ticken, auf den Kopf.“

Sie gluckste, und sein Herz schmolz wie Jessis Eis. Kein Wunder, dass Matthias in sie verknallt war. Wer würde sich nicht in sie verlieben? Aber wo war Matthias eigentlich? Sie klebten doch neuerdings aneinander wie zwei Kaugummis.

„Und wo steckt dein Matthias?“

„Ich soll erst einmal die Lage sondieren. Er kommt, wenn ich ihm ein Zeichen gebe.“

„Das hört sich geheimnisvoll an.“

„Ist es nicht“, druckste sie auf einmal herum.

„Mach mich nicht nervös. Sag endlich, was los ist.“ Rothe wusste nicht genau, was ihn erwartete, und so bereitete er sich auf das Schlimmste vor, das er sich momentan vorstellen konnte: Sie wollte bei Matthias übernachten oder Matthias bei ihr, was qua väterlicher Verordnung nicht erlaubt war. Jessi war dafür zu jung. Das war seine Meinung, und dabei blieb er, mochte sie ihn deswegen auch noch so sehr für von vorgestern halten. Sie konnten sich gern treffen, ohne dass er Anstandswauwau spielte, von ihm aus auch küssen, aber mehr war nicht drin. (Er befürchtete, dass seine verstorbene Frau Manuela ihm da nicht zustimmen würde. Sie war immer schon entspannter gewesen als er. Aber konnte man es ihm verdenken, dass er seine Tochter beschützen wollte?) Er nahm sich vor, locker zu reagieren. Ganz gleichgültig, welches Ansinnen Jessi an ihn stellte.

„Können wir dein Auto haben?“, fragte sie.

Was?“, stieß Rothe aus. „Was wollt ihr mit meinem Auto?“

„Also wirklich, Papa, jetzt überreagierst du aber. Wir haben ja nicht vor, das Auto zu Schrott zu fahren. Wir wollen doch nur nach Erfurt.“

„Wann?“

„Morgen.“

„Hast du morgen keine Schule? Und wieso Erfurt?“

„Wir haben dienstags sowieso nur vier Stunden, und die fallen wegen der Matheolympiade flach, und ich will den Tag nutzen, um mir ein paar schicke Schuhe zu kaufen.“

„Jessi, willst du mich veräppeln? Das ist ja das reinste Klischee“, stöhnte Rothe auf. „Ein Mädchen, das nicht rechnen kann und auf Schuhe abfährt.“ Er starrte auf ihre Ballerinas. „In meinen Augen sehen die da völlig in Ordnung aus. Und wieso mit meinem Auto und …?“

„Papa, jetzt beruhig dich wieder! Wie kommst du darauf, dass ich nicht rechnen kann, nur weil ich Schuhe mag? Das ist eine Schlussfolgerung, die ein Mann zieht, um eine Frau zu diskriminieren.“

Rothe verstummte.

„Dürfen wir nun dein Auto haben oder nicht?“

Er runzelte die Stirn, und Jessica legte unerschrocken nach: „Matthias ist wirklich ein sehr guter Fahrer, und er wird dein Auto behandeln wie mich: zartfühlend und verständnisvoll, mit dem vollsten Respekt dem Vehikel und seinem Besitzer gegenüber. Mach dir deswegen keine Gedanken.“ Ihr ironisches Lächeln entging ihm nicht.

„Und warum fahrt ihr nicht mit seinem Auto?“, gab sich Rothe noch nicht geschlagen.

„Weil es für diese weite Strecke zu unbequem für mich ist. Du kennst doch seinen Wagen. Deiner ist viel schneller und komfortabler und …“

„Das ,schneller’ irritiert mich ein wenig, mein Schatz.“

„Du wirst doch nicht von uns erwarten, dass wir nach Erfurt schleichen. Natürlich wird Matthias die ,Schallmauer’ von hundert Stundenkilometern überschreiten.“

Rothe sah seine Tochter an, als ob sie ihm gerade erklärt hätte, dass sie den letzten noch verfügbaren Platz im Raumschiff zum Mars gekauft habe.

„Das ist doch kein Problem für dich, wo du doch der obercoolste Papa vom ganzen Eichsfeld bist, oder?“, säuselte sie.

Er war viel zu verblüfft, um darauf zu antworten. Doch dann erschien ihm ihre Idee wie ein Geschenk des Himmels. Erfurt! Großstadtluft. Die Kollegen wiedersehen. Er konnte sich einen Tag Urlaub nehmen. Bei den Überstunden, die er bereits angesammelt hatte, sollte das kein Problem sein. Als ob sich eine Fessel von seinem Herzen gelöst hätte, spürte er auf einmal so etwas wie Vorfreude.

Begeistert sagte er: „Ich komme mit.“

„Echt?“ Jessi klang nicht gerade, als wäre sie Feuer und Flamme. „Aber du machst uns keine Vorschriften, oder?“

„Welche zum Beispiel?“, antwortete Rothe mit einer Gegenfrage und grinste dabei.

„Na, du weißt schon.“

„Nö“, sagte er fröhlich.

Jessis Wangen liefen rot an. „Papa! Wenn du mir vorschreiben willst, wann und wie oft ich Matthias küsse …“ Sie verstummte, da sie merkte, dass sie laut geworden war, senkte ihre Stimme und funkelte ihn an. „Keine Vorschriften! Gar nicht! Nicht eine einzige! Oder wir fahren mit der Bahn.“

„Okay, okay, ich hab’s ja verstanden. Vielleicht aber doch noch eine winzig kleine Bitte vom obercoolen Papa: Ich fahre“, sagte Rothe, und Jessi kicherte wieder.

„Du bist lustig, du würdest wirklich alles tun, nur um dein Auto nicht zu verleihen.“

Loverboy

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