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Kapitel 2

In Villingen-Schwenningen hatte sich der trübe Tag kaum wahrnehmbar aufgehellt. Clemens bemerkte es nicht, er war zu aufgeregt. Der erste Tag am Set.

Susanne Gerhardt und Elisabeth Merck, zwei unbekannte Kolleginnen etwa in seinem Alter, also auch noch keine dreißig, fingen ebenfalls an diesem Freitag an und warteten, wie er, genauso unruhig im Flur an der Tür zum Set. So hatte es ihnen Gabi, die Assistentin des Regisseurs, vor einigen Tagen am Telefon erklärt. »Warten Sie dort, Egi wird Sie da abholen. Kann vielleicht etwas dauern«, waren ihre Worte gewesen.

Egi Bernhardt, der Regisseur, trat zehn Minuten nach eins durch die Tür vom Set, begrüßte sie und bat sie gleich in seinen ›Privatbereich‹, einen kärglichen Raum, ein Kabuff, etwas abseits.

»Tut mir leid, dass es hier so unaufgeräumt ist, aber es findet sich einfach niemand ... egal. Setzt euch.«

Er zeigte auf einen Stuhl und eine schmale Liege, ging um seinen Schreibtisch herum, öffnete das einzige Fenster im Raum und setzte sich.

In einem Regal rechts von ihm stapelten sich Papiere, Unterlagen und Rollenbücher, genauso wie auf dem Schreibtisch, doch zusätzlich standen hier noch drei Aschenbecher und vier leere Kaffeetassen herum.

Elisabeth setzte sich eiligst auf den freien Stuhl, für Susanne und Clemens blieb lediglich die Liege. Vorsichtig, nur auf der Vorderkante, nahmen beide Platz, ohne sich zu berühren, ohne die Liege wirklich zu berühren.

»Ihr müsst entschuldigen, aber das ist im ganzen Studio der einzige Platz, an dem man rauchen darf. Außer draußen natürlich. Raucht ihr?«

Die drei Neuen schüttelten wortlos und im Takt den Kopf.

»Gut für euch«, sagte er, schob einen Aschenbecher zur Seite und griff nach den Rollenbüchern. »Denn draußen ist es noch arschkalt.«

Sein Mobiltelefon klingelte. Hektisch zog er es hervor, blickte auf das Display und drückte den Anrufer wortlos weg.

»Also, jetzt zu euch. Heute läuft es hier nicht gut, ich möchte fast sagen, es läuft richtig beschissen. Aber dafür könnt ihr glücklicherweise noch nichts ... Eure Rollen?« Wieder wühlte er sich durch die Rollenbücher, durch die Skripte, fand aber nicht, wonach er suchte, nahm sein Mobiltelefon hervor und drückte eine Kurzwahltaste.

»Gabi, wo sind denn diese verdammten Skripte für die Neuen? ... Hier liegt nichts ... Die sollen Montag anfangen, und nichts ist organisiert, das ist scheiße, Gabi«, brüllte er augenblicklich ins Telefon. Einen Moment später griff er links auf einen Stapel Papiere, sah sie sich genauer an und maulte: »Nächstes Mal legst du sie ganz einfach offensichtlich hin und versteckst sie nicht auf meinem Schreibtisch, ist das so schwer? Wo bist du überhaupt? ... Dann sieh zu, dass du schleunigst herkommst, hier ist der Teufel los.«

Er legte auf, drückte seine Zigarette aus, zündete sich eine neue an und schob drei Rollenbücher über den Schreibtisch.

»Hier, für euch, ihr wisst ja, welche Rollen ihr übernehmen werdet. Gabi wird gleich zurück sein und sich dann weiter um euch kümmern. Ich muss jetzt wieder. Nebenan ist so eine Art Kantine. Da gibt es Kaffee und Tee und Wasser. Und Sandwiches müssten auch noch da sein. Wartet da so lange.«

Und weg war Egi.

Was für ein Auftritt, dachte Clemens, und er lächelte.

»Du lachst«, sagte Susanne und blickte noch immer in die Richtung, in die Egi verschwunden war. »Ich finde das überhaupt nicht komisch.« Und leise ergänzte sie: »Das kann ja heiter werden.«

Gabi, die Assistentin, eine kleine, pummelige, etwa vierzigjährige Frau mit hektischen Augen, war zwanzig Minuten später bei ihnen.

»Egi habt ihr ja schon kennengelernt. Er ist nicht immer so. Meistens ist er noch schlimmer.« Und sie lachte. Clemens und Elisabeth lachten mit, Susanne fand das überhaupt nicht lustig.

Dann erklärte Gabi ihnen den Ablauf: »Um acht Uhr beginnen die Arbeiten. Alle müssen anwesend sein, egal, wann sie drankommen, außer sie sind an dem Tag definitiv nicht dabei, dann haben sie frei. Jeden Tag wird eine Folge abgedreht, mit Ausnahme der Außenaufnahmen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Hier ...«, sie zeigte auf die Teile im Skript. »Das sind die Sätze, die bis Montag sitzen müssen. Und mit sitzen, meine ich wirklich sitzen. Es gibt ein bis zwei Stellproben, aber keine zehn Klappen. Doch das hat man euch ja im Vorfeld schon alles erklärt. Zeit ist Geld, und dieser Satz gilt hier besonders. Die Maske und alles andere seht ihr dann am Montag. Lernt euren Text, und seid Montag pünktlich um acht hier, und seid ausgeschlafen. Okay?

Übrigens, morgen sind Außenaufnahmen im Stadtgarten, wenn ihr nichts anderes vorhabt, dann schaut mal vorbei. Ihr müsst aber nicht.

Ach eines noch, es kann abends schon mal zehn Uhr werden, bis hier die Lichter ausgehen. Also, nehmt euch nicht schon für acht Uhr was vor, zumindest nicht von Montag bis Freitag. Noch irgendwelche Fragen?«

Die drei Neuen schüttelten nur den Kopf. Sie waren angekommen in der Welt der Soaps, auf dem ›Sprungbrett‹ zu einer steilen Schauspielerkarriere – wie sie gehofft hatten, wie alle hofften. Doch Zeit ist Geld. Und hier hatte man scheinbar weder das eine noch das andere ... in angemessenem Maße.

Kurz vor drei waren sie wieder draußen. Elisabeth verschwand wortlos. Susanne blickte Clemens eindringlich an.

»Hast du noch Lust auf einen Kaffee?«

»Tut mir leid, aber heute geht es nicht.«

»War ja auch nur ... Dann vielleicht ein andermal.«

»Ganz bestimmt.«

Und blicklos verschwand auch Susanne.

Clemens überquerte die Straße und schickte Vivian eine erste SMS: >Alles schon erledigt. Komme gleich nach Überlingen. Freue mich auf dich. LG.

Clemens ging langsam zu seinem Appartement und dachte über die letzten Stunden nach. Er spürte etwas in sich, etwas, das er befürchtet hatte, etwas, das er in seiner Euphorie über dieses Engagement gänzlich zur Seite gedrängt hatte, worüber er jetzt auch nicht nachdenken wollte. Vielleicht irrte er sich ja.

Heute Abend wollte er feiern, mit Vivian, in Überlingen. Nach Villingen-Schwenningen würde er erst am Sonntagnachmittag zurückkehren. Acht Sätze mussten bis Montag sitzen, und dafür benötigte er maximal einen Abend. Und die Außenaufnahmen, morgen, würde er sich schenken.

Gegen vier Uhr, kurz bevor er losfuhr, rief er Vivian an, doch sie meldete sich nicht. Und auch eine weitere SMS – >Ich freue mich auf dich. Kann es kaum erwarten, dir alles zu erzählen und dich zu küssen. LG. –, blieb lange ohne Antwort. Erst als er in Überlingen eintraf, piepste sein Mobiltelefon.

>Ich kann heute nicht. Ich bin bei meiner Mutter. Vielleicht bleibe ich heute Nacht hier. Ich melde mich. LG.

Lange blickte er auf diese Zeilen. Was war geschehen? Kein Herz, kein Kuss, kein ›Ich liebe dich‹, nicht einmal ein ›Ich freue mich auch auf dich‹.

Nichts.

Noch einmal versuchte Clemens, sie zu erreichen, doch wieder sprang nur die Mailbox an.

Nachdenklich blätterte er schließlich das Skript durch und überflog seine acht Sätze, die ziemlich anspruchslos waren.

*

»Hier.« Sabine Schreiber überreichte ihrer Tochter einen Brief. »Ich habe auch einen bekommen. Ich hoffe, das ist reine Formsache. Gern hätte ich dir all das erspart. Und ich hoffe außerdem, dass du mich irgendwann verstehen wirst.«

Vivian sah ihre Mutter verwirrt und fassungslos an. Ohne Umwege war sie von Villingen-Schwenningen direkt zu ihr gefahren.

»Was ist das?«

Zynisch und auch ein wenig ängstlich sagte Vivians Mutter: »Dein Vater ... Er ist vor zwei Wochen gestorben, und das hier ist offensichtlich seine letzte Genugtuung.«

Genugtuung? Wofür?, dachte Vivian. Und merkwürdig, sie empfand nichts bei den Worten ihrer Mutter: Dein Vater ist vor zwei Wochen gestorben ... Seit sechzehn Jahren war ihre Mutter mit Manfred zusammen, und irgendwie war er in der Zwischenzeit zu einer Art Ersatzvater für sie geworden. Doch befremdlich empfand Vivian den Zynismus und die unüberhörbare Angst in den Worten ihrer Mutter. Genugtuung ... eines Toten?

Vivian blickte abermals auf den Brief, und erneut fragte sie: »Aber was ist das? ... Von ihm?«

»Mach ihn auf. Es ist eine Einladung zur Testamentseröffnung. Irgendetwas hat er dir hinterlassen.« Höhnisch und besorgt ergänzte sie: »Irgendetwas hat er auch mir hinterlassen. Wobei ich nicht weiß, ob uns das glücklich machen wird.«

Vivian erstaunten die Worte ihrer Mutter.

»War er so schlimm? Aber ... hast du ihn nicht irgendwann einmal geliebt? Oder hat er dich mit Gewalt ...?«

»Unsinn.«

»Was? Dass du ihn geliebt hast?«

Empört sah Sabine ihre Tochter an, schien sich aber rasch wieder zu beruhigen.

»Sei nicht so frech. Natürlich habe ich ihn geliebt, sonst gäbe es dich nicht. Doch mehr sage ich nicht.«

So viel wie eben hatte ihre Mutter in fünfundzwanzig Jahren nicht von ihrem Vater erzählt. Und doch war es so gut wie nichts.

»Wann ist denn die Beisetzung?«

»Die war bereits. Und auch deshalb sage ich dir, wir haben nichts mit ihm und dieser Familie zu tun.«

Nichts? Und doch sollen wir bei der Testamentseröffnung dabei sein, dachte Vivian und wusste nicht, was sie von all dem halten sollte, wie all das zusammenpasste.

»Und wann ist diese Testamentseröffnung?«

Aber ohne die Antwort abzuwarten, wurde Vivian plötzlich unruhig. Sie hörte die Worte ihrer Mutter nicht – »Nächsten Mittwoch!« –, sie blickte nur auf den Brief, denn sie begriff, dort würde sie endlich den Namen ihres Vaters finden. Ganz sicher. Endlich würde er seine Existenzlosigkeit verlieren, würde er ein menschliches Antlitz bekommen.

Mit zitternder Hand riss sie das Kuvert auf, überflog die Zeilen, suchte nach einem Namen, nach seinem Namen, fand ihn nicht gleich, bis sie begriff, dass der Name, der etwas größer herausgestellt worden war, der allzu offensichtlich war, der Name ihres Vaters sein musste. Und er war es.

Vivian starrte ihre Mutter ängstlich und fassungslos an, und sie räusperte sich, schluckte trocken und fast piepsend quetschte sie den Namen hervor: »Hektor ... Graf zu Hohenberg ... Ein Adliger ist mein Vater?«

Ihre Mutter nickte kaum merklich.

Sekunden der Stille vergingen, nicht einmal das Klingeln von Vivians Mobiltelefon konnte diese Stille durchbrechen, blieb einfach ungehört.

Die beiden Frauen standen in der ›Rumpelkammer‹ ihrer Mutter, zwischen einem Korb mit Wäsche und einem Regal voller Akten, vor einem Bügelbrett und einem Staubsauger, der vor dem Regal lag, und betrachteten einander. Wortlos. Vivian wartete, doch es kam nichts. Ihre Mutter nahm ein Handtuch aus einem Korb und legte es zusammen. Sie wollte nicht reden. Vivian hatte zusehends das Gefühl, einer fremden Frau gegenüberzustehen.

Ein Graf war ihr Vater. Ein Adliger. Wie konnte das sein? Nie hatte es Kontakte zu dieser völlig fremden Schicht gegeben.

»Und du willst mir nichts dazu sagen?«, fragte Vivian schließlich.

Sabine Schreiber presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte entschieden den Kopf.

Vivian war enttäuscht und erbost und wütend – und furchtbar ohnmächtig. Tränen liefen ihr die Wangen herunter, doch ihre Mutter blieb stumm, nahm ein weiteres Handtuch aus dem Korb, hob schließlich den Kopf und sah blicklos durch ihre Tochter hindurch, etwas, das Vivian an ihr nicht kannte, etwas, das sie mutlos und traurig machte.

»Ich denke, dann habe ich heute hier nichts weiter verloren.«

Vivian verließ die ›Rumpelkammer‹, drei Schritte später folgte ihre Mutter, noch immer das Handtuch zwischen den Fingern. An der Wohnungstür blieb Vivian noch einmal stehen.

»Ich bin enttäuscht von dir, Mama. Und wie soll ich dich je verstehen, wenn du nichts sagst. Ich finde es schade. Über alles konnten wir reden. Immer. Nur was meinen Vater angeht, da bist du irgendwie ... wie soll ich es sagen ..., da bist du irgendwie nicht meine Mutter.«

Zwei Minuten später saß Vivian wieder in ihrem roten Polo und verließ, im Schritttempo des Feierabendverkehrs, Lindau. Sie fuhr am Bodensee entlang, ohne ihn zu sehen, ohne das Glitzern der Frühlingssonne, die sich endlich durch die graue Wolkenwand gekämpft hatte, auf den Wellenkämmen wahrzunehmen.

Vivian dachte immer wieder nur an ihre Mutter.

Warum war sie so verschlossen? Warum erzählte sie ihr nichts von ihrem Vater, jetzt, wo er tot war? Jetzt, wo Vivian wusste, wer er war?

Aber wusste sie denn, wer er war?

Sie kannte seinen Namen, den sie sich nicht einmal gemerkt hatte, so unwichtig war er ihr in diesem Moment vorgekommen. Wichtig war ihre Mutter, war ihr Schweigen, wichtig war das Gefühl der Abneigung, das sie das erste Mal ihrer Mutter gegenüber empfunden hatte. Sie fühlte sich getrennt von ihr, abgeschnitten. Entfremdet.

LiebesTaumel

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