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Erster Advent

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Sonntagvormittag.

Die ersten Sonnenstrahlen quälten sich durch den grauen Freisinger Himmel. In der Ferne konnte man die Berge erkennen. Es würde ein sonniger Tag werden. Der Föhn drückte die warme Luft aus den Alpen bis aufs Oberland nach Freising. Von Schnee war keine Spur. Überhaupt ließ der Winter auf sich warten. Die Temperaturen würden gegen Nachmittag bis über 15 Grad Celsius wandern. Kein Wetter also für Glühwein und Christstollen.

Alois Kreithmeier putzte sich die Zähne und blickte aus dem Fenster. Es war halb Zehn und Rainer und Melanie würden ihn bald abholen. Er war schon früh auf gewesen, obwohl es gestern Abend oder besser gesagt heute früh recht spät geworden war. Sie waren alle drei noch ins Nachtcafe gefahren und es wurde doch mehr als nur ein Drink. Leicht beschwipst war er dann gegen halb drei in der Früh ins Bett gefallen und pünktlich um halb acht Uhr morgens aufgewacht, um mit seinem treuen Hund Gizmo Gassi zu gehen, doch Gizmo war nicht da.

Alois hatte ihn für ein paar Tage zu Freunden nach Regensburg gebracht. Er hatte sich eigentlich vorgenommen den Ersten Advent und den daran anhängenden Montag in Salzburg bei einer Freundin zu verbringen. Er hatte genug Überstunden gemacht und dachte, die könnte er ja in der Adventszeit abfeiern. Margit, so hieß die Dame aus Salzburg, hatte er im Internet kennengelernt und sich zum ersten Mal mit ihr am Chiemsee getroffen. Da sie auch einen Hund hatte, war es besser, Gizmo zu Hause zu lassen, bevor sich die beiden gegenseitig umbrachten. Aber mit Salzburg wurde es nichts. Der Tote auf dem Domberg hatte seine gesamten Pläne durcheinander gebracht. Der Auftrag, den Fall bis Heiligabend zu lösen, saß ihm in den Knochen und so sagte er sein Date mit Margit ab.

Er versprach ihr aber, sowie der Fall beendet sei, sich sofort auf den Weg nach Salzburg zu machen. Vielleicht könnten sie ja sogar die Feiertage zusammen verbringen.

Außer ein paar Treffen zum Wandern am Chiemsee, Tegernsee und am Wendelstein, war bisher nichts zwischen ihnen gewesen. Sein Liebesleben war eben eher als dürftig wie als ausgefüllt anzusehen. Und so wie Melanie ihren Hormonhaushalt in Ordnung hielt, das war nichts für ihn. One Night Stands gehörten in seinem Alter einfach nicht mehr dazu. Und die paar wenigen Frauen, die er übers Internet kennenlernte, klammerten sich sofort an ihm fest. Und so blieb ihm oft nichts anderes übrig, als jedes Mal nach einem Date schreiend die Flucht zu ergreifen.

Margit war ganz anders. Zum einen, dass sicher auch die geografische Distanz eine gewisse Rolle spielte. Zum anderen war sie eine Österreicherin. Sie stand mit beiden Beinen im Leben, besaß eine schöne Eigentumswohnung in Salzburg, ein kleines Aktienpaket auf der hohen Kante und war offen für alle neuen Dinge. Unkompliziert und vor allem hübsch. Und in seinem Alter.

Natürlich bemerkte er auch, wie es zwischen ihm und seiner Kollegin Melanie ab und zu mal funkte. Aber eine seiner Regeln war, niemals etwas mit einer Kollegin anfangen, und an diese Regel hielt er sich vehement. Melanie war auch viel jünger, kam aus Gera, sprach über Sex und Männerbekanntschaften wesentlich offener als er, und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, ihn anzubaggern und ihn dabei aus der Fassung zu bringen. Da kannte sie nichts.

Es war nicht leicht für ihn, sie auf die nötige Distanz zu halten. Melanie war hübsch und hatte eine natürliche erotische Ausstrahlung. Und in der Dienststelle in der Haydstraße konnte sie alle Beamten mühelos um den Finger wickeln.

Alois spülte sich den Mund aus, steckte die Zahnbürste in ein Glas und verwarf seine Gedanken. Melanie, dachte er. Nie und nimmer. Schade eigentlich.

Kurz Zeit später klingelte es. Er rief nur durch die Gegensprechanlage ein knappes »Ich komme«, dann sprang er ins Treppenhaus und rannte die Stufen herunter wie ein junger Mann: zumindest mit dem Elan eines zwanzig Jahre Jüngeren

Rainer und Melanie erwarteten ihn vor ihrem roten Audi. Rainer trug Jeans, Pullover und einen abgegriffenen Armeeparker. Und wie immer hatte er seine ergrauten Haare zu einem Zopf zusammen gebunden.

Melanie sah dagegen aus wie das blühende Leben: Ihre blonden langen Haare trug sie offen. Ihre Beine steckten in hellblauen knallengen Jeans, ihre Füße in Wildlederboots, darüber trug sie eine weiße Bluse mit dunkelblauem Pulli und über allem ihre wadenlange Wellensteynjacke mit echtem Wolfspelz an der Kapuze. Und zur Krönung hatte sie eine dunkle Ray Ban Sonnenbrille auf der Nase. Sie sah eher aus, als wollte sie nach St. Moritz oder nach Davos zum Winterurlaub fahren, als in die Freisinger Altstadt, um die Wohnung des geheimnisvollen Toten vom gestrigen Abend zu untersuchen.

»Servus, ihr Beiden. Und seid ihr schon fit?«, fragte Alois seine Kollegen.

»Natürlich Alois!«, kam es wie aus der Pistole geschossen synchron aus ihren Mündern. »Klar doch!«

»Dann lasst uns fahren.«

Die Kochbäckergasse war eine kleine Seitenstraße, die von der Oberen Hauptstraße Richtung Norden abging und wie ein L rechts um die Ecke führte. Eine verkehrsberuhigte Zone. Die Nummer 19 war ein einfaches Zweifamilienhaus mit angebauter Garage und einem kleinen Garten hinter dem Haus. Sascha Krüger wohnte im ersten Stock.

Josef Schurig wartete schon auf sie.

Bevor sie das Haus mit dem Schlüssel des Toten betraten, zogen sie Einmalhandschuhe über.

Es war eine helle Dreizimmerwohnung, in der der Ermordete allein gewohnt haben musste. Alois schloss die Wohnungstür auf und schritt voran. Vorsichtig sicherten sie zuerst die Räume. Doch die Wohnung war leer. Sie bestand aus einem Wohnzimmer mit Esszimmer, einem Schlafzimmer, einem kleineren Arbeitsraum, Küche und Bad.

Sie teilten sich auf. Rainer kümmert sich um das Schlafzimmer, Schurig um die Küche und den Keller, Melanie um den Wohnraum und Alois um das Arbeitszimmer. Nach einer halben Stunde wollten sie sich wieder im Esszimmer treffen, es sei denn, es würde jemand auf etwas Außergewöhnliches stoßen, doch wie das Außergewöhnliche auszusehen hatte, das konnten sie noch nicht definieren.

Alois begab sich ins Arbeitszimmer, einen etwa 10 Quadratmeter großen Raum, mit einem Schreibtisch, ein paar Wandregalen und einem alten Bauernschrank. Alois begann den Schreibtisch zu untersuchen.

Auf einer ledernen Schreibtischunterlage hatten sich mehrere Briefe und Schreiben angesammelt. Nichts Verdächtiges: Etwas Werbung, ein Schreiben von einer Bank wegen der zu erwartenden Kontonummernumstellung, ein Schreiben von einer Versicherung und eine Rechnung über ein Navigationssystem. Rechts davon stand ein relativ neuer Laptop. Alois schaltete ihn an. Doch der Bildschirm war gesperrt. Den würden sie mitnehmen müssen und in der KTU versuchen den Code zu knacken. Am Kopf des Tisches standen mehrere Bücher und Bildbände über Flugzeuge: Düsenjets, Tarnkappenbomber und Segelflugzeuge. Sascha Krüger musste wohl ein Fan für diese Technik gewesen sein.

Alois öffnete den Schrank hinter sich. Fein säuberlich waren hier Pappkartons diverser Modellbaufirmen gestapelt: Revell, Robbe, Airfix, Italieri und ein paar von japanischen und russischen Herstellern. Die meisten Modelle waren Militärmaschinen. Krüger war wohl ein Modellbauer, insbesondere von Flugmodellen. Wenn hier die Schachteln waren, wo waren dann die Modelle, fragte sich Alois.

Er schaute im Raum umher, doch es war nichts zu erkennen. Alois zog eine Schachtel heraus, eine Junkers Ju-87 Sturzkampfbomber von der Firma Trumpeter im Maßstab 1:32. Das Modell sollte eine Länge von über 35 cm haben und eine Spannweite von knapp 50 cm. So ein Modell konnte man nicht so ohne weiteres verstecken. Alois öffnete hob den Deckel ab und blickte überrascht hinein. Das Flugzeugmodell lag in allen Einzelteilen unverbaut in der Schachtel. Alois öffnete ein paar weitere. Überall lagen die Einzelteile ungenützt darin.

Alois wunderte sich. Der Krüger hatte zwar eine stattliche Sammlung dieser Bausätze, aber er baute sie nicht zusammen. Er sammelte sie nur im Neuzustand. Alois schüttelte den Kopf, schob die Pappkisten wieder in den Schrank, schnappte sich den Laptop und machte sich auf den Weg zu Melanie ins Wohnzimmer.

»Und?«, fragte er sie, »schon etwas gefunden, was uns helfen könnte?«

»Eigentlich nicht«, sagte sie knapp und untersuchte die Fächer und Schubladen der Schrankwand im Wohnzimmer. »Und du?«

»Ich habe hier seinen Laptop, sonst nichts. Er hatte wohl einen Fabel für Flugzeuge - insbesondere für Bausätze - aber er baute sie nicht zusammen, er sammelte sie im Neuzustand. Und nebenbei gesagt, er hat einen ganzen Schrank voll davon.«

Melanie drehte sich um und sah ihren Kollegen entgeistert an. »Aber deswegen wird man nicht erschossen, oder?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Hier ist auch alles normal. Vielleicht kommen wir mit dem Laptop weiter. Der Krüger hatte so weit ich das erkennen kann, keine Schulden, verdiente ein gutes Geld mit seinen Weihnachtsmannauftritten und in den Sommermonaten bekam er sein Geld von einer Firma mit dem Namen LSV, vor 2010 von einer mit dem Namen FCM. In beiden Fällen circa 2000 Euro netto pro Monat.«

»Woher hast du diese Informationen, Melanie?«

»Aus seinen Kontoauszügen. Er heftete sie alle ordentlich ab.« Melanie legte ihrem Kollegen ein Auszugsheft auf den Tisch.

»LSV und FCM? Irgendeine Ahnung?«

»Nicht dass ich wüsste. Muss ich noch googlen. Morgen im Büro.«

»Die Wohnung ist meiner Meinung nach sauber«, sagte daraufhin Alois. »Es waren keine Besucher da, haben nichts durchwühlt oder angefasst. Rainer und Josef sollen dann in jedem Raum die Fingerabdrücke nehmen. Die können wir dann mit dem Toten vergleichen. Das komplette Team der KTU können wir uns hier sparen. Hast du etwas über eine mögliche Verwandtschaft herausgefunden? Ist er oder war er einmal verheiratet? Wie sieht es mit seinem Portemonnaie und seinem Handy aus? Etwas gefunden?«

»Rainer hat die Sachen. Sie lagen im Schlafzimmer auf dem Bett. Entweder hat er sie schlicht und einfach dort vergessen, als er sich in seinem Gewand zum Domberg aufgemacht hat. Oder er hat sie mit Absicht dort gelassen. Wollte ungestört sein. Und eine Bratwurst hätte er sicher von einem der Stände umsonst bekommen können.«

»Ich gehe mal zu Josef in die Küche. Vielleicht finde ich dort etwas.«

Selbst in der Küche wurde Schurig nicht fündig. Alois sah sich auch noch um. Alles war ordentlich aufgeräumt, es gab kein schmutziges Geschirr, die Lebensmittel im Kühlschrank waren frisch. Nichts war abgelaufen. Und in keinem geheimen Fach konnten Alois und Schurig Waffen, Drogen, Geld oder andere verdächtige Dinge finden. Kein einziger Hinweis konnte in der Wohnung gefunden werden, warum ein kaltblütiger Killer den armen Krüger so brutal ermordet hatte.

Zuletzt untersuchten sie den Wagen des Toten. Einen weißen Seat Ibiza. Doch auch hier gab es nichts Ungewöhnliches. Nur ein sauber gepflegter Wagen.

Nach eineinhalb Stunden packte Alois den Laptop und sammelte sein Team ein. Es gab nichts mehr zu sehen. Hoffentlich öffnete der Computer ihnen ein paar Geheimnisse.

»Josef und ich, wir nehmen seinen Rechner, die Geldbörse und das Telefon mit«, klärte Rainer seine Kollegen auf. »Mal sehen, was wir da alles darin finden kann. Der Sonntag ist jetzt sowieso gelaufen, da können wir auch gleich weiter arbeiten. Wir laufen zu Fuß ins Polizeirevier. Ist ja gleich um die Ecke. Und was macht ihr beiden Hübschen noch?«

»Noch mal auf den Adventsmarkt, noch mal den Tatort bei Sonnenlicht begutachten?«, fragte Melanie und sah ihren Kollegen Kreithmeier bittend an.

»Von mir aus«, knurrte der Angesprochene und folgte ihr zum Wagen. Mit einem mitleidvollen Lächeln auf den Lippen verabschiedeten sich Zeidler und Schurig von den beiden und marschierten Richtung Haydstraße.

Im Tageslicht sah der Markt ganz anders aus. Keine Lampen brennten, keine Christbaumkugeln glänzten und bei den Temperaturen waren Glühwein und Feuerzangenbowle ganz einfach das falsche Getränk. Ein kühler Sprizz oder ein eisiger Caipi kamen der Sache schon näher. Auch das Besuchervolk hatte sich geändert. Jetzt waren es vermehrt Familien, die mit ihren Kindern durch die Budengassen zogen. Die trinkfreudigen Jugendlichen würden erst wieder nach Sonnenuntergang die Getränkebuden aufsuchen.

Dass am gestrigen Abend hier ein blutiger Mord passiert war, das hatte sich wie ein Lauffeuer durch Freising verbreitet. Immer wieder standen Besucher in dem Innenhof zwischen Dom und Bibliothek um Blumen, Kerzen oder kleine Kränze an der Stelle nieder zu legen, an der der Weihnachtsmann den Abend zuvor sein Leben hatte lassen müssen.

Alois konnte sich nur wundern. Die meisten, die hier eine Kerze oder dergleichen abstellten, hatten den Mann überhaupt nicht gekannt. Es sollte wohl nur ein Symbol der Pietät und der Anteilnahme sein.

Ein Unbekannter erschoss den Weihnachtsmann. Erst morgen am Montag würde die Freisinger Presse voll damit sein und ihre eigenen Ideen und Fantasien für diese blutige Tat veröffentlichen. Da der Tote in seinem Kostüm abtransportiert worden war, konnte keiner der gestrigen Fotografen und Gaffer das eigentliche Gesicht des Toten vor die Linse bekommen haben. Außer dem Oberbürgermeister und der Polizei wusste niemand von der wahren Identität des Toten. Und der OB würde seinen Mund halten, das war gewiss. Einen Skandal wollte er auf jeden Fall vermeiden.

»Oberbürgermeister schickt den Weihnachtsmann in den Tod«, dachte Alois.

Das wäre eine grässliche Schlagzeile.

»Lass uns bitte gehen, Melanie, ich mag nicht mehr. Einen Glühwein will ich nicht und Hunger habe ich auch noch keinen. Lass uns gehen, hier gibt es nichts mehr zu sehen. Ich denke, wir wissen morgen mehr, wenn wir die Daten vom Einwohnermeldeamt haben. Und wir müssen jemanden zu den Nachbarn schicken. Irgendjemand wird den Toten wohl besser kennen.«

»Na gut, wenn du unbedingt willst. Dann gehen wir eben. Ich fahre dich nach Hause. Was ist eigentlich mit Gizmo?«

»Der ist in Regensburg bei Freunden. Die haben einen Bauernhof, da kann er herum tollen.«

»Vermisst du ihn denn nicht?«

»Ich wollte ihn am Mittwoch wieder abholen aber das überlege ich mir noch. Wenn er sich ordentlich benimmt, dann soll er bleiben, bis der Fall abgeschlossen ist. Das ist schon okay so.«

Melanie ließ nicht locker: »Warum hast du ihn überhaupt weg gebracht?«

»Wegen Salzburg.«

»Salzburg? Was ist denn mit Salzburg?«

»Ach, Melanie, das ist eine ziemlich private Geschichte.«

Melanie spitzte die Ohren. »Etwas Privates, und ausgerechnet von dir. Das ist interessant. Erzähl! Handelt es sich dabei um eine Frau, Alois?«

»Ich sage jetzt nichts. Fahr mich nach Hause. Bitte! Ein anderes Mal. Vielleicht. Ich will jetzt heim.«

Zwanzig Minuten später war Alois wieder in seiner Wohnung, schnappte sich das Telefon, legte sich auf die Coach und telefonierte mit Margit in Salzburg, um ihr ein wenig von dem zu erzählen, was passiert war und warum er nicht hatte kommen können. Und es war schön mit ihr zu reden.

Als Alois am Montag früh ins Büro kam, hing Melanie schon am Telefon und ärgerte sich mit jemandem vom Einwohnermeldeamt herum. Es ging natürlich um Sascha Krüger.

»Dann schicken Sie mir bitte alles zu, was Sie haben, und zwar schnell. Es geht hier um Mord. Basta.«

Dann legte sie auf und knallte das Telefon unsanft auf ihren Schreibtisch.

»Das ist doch das Letzte. Diese Clowns«, schimpfte sie weiter.

»Was ist denn los, Melanie? Komm bitte wieder runter. Erzähl mal!«, versuchte Alois sie zu beschwichtigen.

»Sachen gibt es, die gibt es nicht. Unser Sascha Krüger ist in Freising erst seit 1990 bekannt. Da ist er hierher gezogen. Hatte zunächst nur ein Einzimmerappartement, dann eine Zweizimmerwohnung und jetzt die Dreizimmerwohnung in der Kochbäckergasse. Er kommt angeblich aus Weimar. Ist nach Öffnung der Mauern nach Freising gekommen, ohne jegliche Papiere. Sein DDR-Ausweis soll ihm angeblich noch vor der Wende vom Staatssicherheitsdienst abgenommen worden sein. Damit er nicht fliehen kann. Er hatte nur eine Geburtsurkunde und ein Schreiben von der Stadt Weimar dabei. Daraufhin haben die lieben Freisinger ihn recht herzlich in der Domstadt aufgenommen. Er bekam einen neuen Ausweis und einen neuen Reisepass. Seither nennt er sich Sascha Krüger, gebürtig in Weimar und wohnhaft in Freising.«

»Nennt er sich? Und was ist daran so schlimm, Melanie?« Alois verstand ihre ganze Aufregung nicht.

»Weil das Quatsch ist. Nach der Wende, ich sage mal nach dem bürokratischen Chaos nach der Wende, hätte sich jeder aus der DDR in der BRD neue Papiere besorgen können. Keiner in der BRD wusste wie eine Geburtsurkunde zu DDR-Zeiten aussah und ein Schreiben der Stadt Weimar? Das machte man mit einer alten Schreibmaschine. Die Stempel gab es auf dem Flohmarkt. Was glaubst du wie viel ehemalige Stasi Agenten so in die BRD geflohen sind, um vor ihren ostdeutschen Häschern sicher zu sein?«

»Jetzt holst du aber weit aus. Du willst also sagen, der Sascha Krüger ist ein ehemaliger Stasi-Mann, der unter einer neuen Identität jetzt hier in Freising wohnte?«

»Nein, das will ich nicht sagen. Das ist nicht das Thema. Nur es besteht auf jeden Fall die Möglichkeit, dass sein Name falsch ist ......«

»..... und er als geheimer Spitzel unerkannt unter uns weilte .....«, fügte Alois belustigt hinzu.

»Du weißt doch überhaupt nichts über uns. Stasi, nicht Stasi, was glaubst du, was da so alles passiert ist? Auch ich habe meine Stasi-Akte eingefordert.«

»Und was stand darin?«

»Nichts. Gar nichts. Braves Mädchen. Keine Ambitionen die DDR zu verlassen.«

»Na also. Und den Krüger hat nun ein ehemaliger Stasi-Agent erschossen, damit er sein Geheimnis mit ins Grab nimmt?«

»Alois, du bist manchmal so doof. Ich wollte nur damit sagen, dass es 1990 leicht war, sich in die BRD abzusetzen. Ihr habt ja nicht mal gecheckt, dass manche zwei- oder mehrmals die hundert DM Begrüßungsgeld bekommen habe. Für einen Stempel im Pass oder Ausweis haben wir auf der Bank 100 DM bekommen. Manche auch etwas mehr.«

»Unser lieber Sascha Krüger hat dergleichen nichts in seinen Papieren in seiner Wohnung, auch keinen Hinweis auf ein Schließfach bei einer Bank, wo er diverse Papiere versteckt haben könnte. Er war ein unbescholtener Mann, der sich im Winter als Weihnachtsmann verdingte. Vielleicht auch aus Versehen erschossen wurde, vielleicht einfach nur eine Verwechslung.«

»Niemals. Denk an die Worte von Frau Dr. Nagel. Sein Herz. Sein Herz auf der falschen Seite. Und der Schuss ging direkt durchs Herz.«

»Ich bleibe dabei, er war ein unbescholtener Mann.«

»Wir müssen wissen, wer er war, nur so kommen wir weiter. Über den Mann zum Motiv und vom Motiv dann zum Mörder.«

»Das würde ich so nicht sagen, dass er ein unbescholtener Mann war«, unterbrach Rainer Zeidler die beiden, indem er mit dem Laptop auf dem Arm ins Büro hinein schneite.

»Mit der Stasi hatte der ganz sicher nichts zu tun«, fuhr er fort. »Wir haben nichts dergleichen auf seinem Rechner gefunden, aber er hatte andere Vorlieben und das nicht zu wenig. Wenn ihr mal schauen wollt?«

Rainer stellte den Laptop auf Melanies Schreibtisch und klappte ihn auf.

»Wie habt ihr ihn denn knacken können, der war doch verschlüsselt?«, fragte Alois.

»War nicht einfach, aber Schurig hat es geschafft. Das Kennwort war Antonov-An-225. Der Name für das größte Flugzeug der Welt . Und das Passwort war Mrija. Mrija war der Spitzname des Kolosses. Das ist Russisch und heißt auf Deutsch Traum. Es wurde übrigens nur einmal gebaut. Und es fliegt heute noch.«

»Ein Flugzeugname? Was soll denn das?«

»Na der Krüger war doch ein Fan von diesen Bausätzen, die du in seinem Arbeitszimmer gefunden hast. Mich hat das interessiert, deshalb bin ich noch ein zweites Mal mit Schurig hin. Und der Bausatz von diesem Frachtflugzeug hatte einen Aufkleber. Schurig hat es entdeckt. Krüger hatte einen Aufkleber vom Hersteller des Laptops darauf geklebt. Wahrscheinlich eine Art Gedankenstütze. Ich habe ein paar Mal herumprobiert und dann hatte ich es.«

Alois schüttelte den Kopf. »Ein Aufkleber. Die Menschen sind doch doof.«

»Ich finde das mit dem Aufkleber ziemlich kreativ. Es gibt viele, die kleben ihre Kennwörter unten auf den Rechner. Für alle zugänglich. Und einfach zu finden.«

»Unglaublich. Aber zurück zu Krüger. Was willst du uns denn zeigen?«

Rainer klickte ein paar Mal auf der Tastatur herum, dann erschien ein Ordner mit Bildern.

»Hier schaut mal. Lauter Nackedeis. Mädchen und junge Frauen. Allesamt nackt und in eindeutigen Posen.«

Melanie und Alois blickten auf den Bildschirm. Vor ihnen scrollte Rainer durch diverse Aufnahmen mit erotischen Bildern von jungen Frauen. Die meisten davon waren an einem See aufgenommen, einige auch in einem Wald. Aber alle in freier Natur, kein Bild in einem Atelier.

»Was macht so ein alter Knacker mit diesen Aufnahmen? Geilt er sich nur daran auf und benutzt er sie als Wichsvorlage oder .......«

Alois unterbrach Melanie: »..... bitte Melanie, nicht diese Ausdrucksweise.....«

»..... na ist doch wahr! Wie kommen diese Bilder auf seinen Rechner? Keine einzige Frau ist in seinem Alter. Hat er die Bilder selbst gemacht? Oder nur irgendwo herunter geladen?«

»Die Bilder sind höchstwahrscheinlich alle vom selben Fotografen. Die Locations sind alle gleich, die Posen ähnlich, nur die Mädchen wechseln«, sagte Rainer Zeidler.

»Wie viele sind es denn? Auf einigen Bildern sehe ich die gleichen Fotomodelle.«

»Es sind etwa 30 Modelle. Aber ich habe noch etwas für euch. Hier bitte.« Rainer Zeidler wechselte den Ordner und zeigte seinen Kollegen weitere Bilder. Der Unterschied zu den eben gezeigten waren die Farben, die Bilder sahen aus wie schlechte Kopien, hatten verblichene Farben und es gab auch ein paar Bilder in schwarzweiß.

»Diese Bilder sind älter«, kommentierte Melanie die Aufnahmen. »Ich schätze sie sind aus den 70er oder 80er-Jahren. Wahrscheinlich Scans von Printfotos oder von alten Dias.«

»Wie kommst du denn darauf, Melanie, woher weißt du das?«

»Alois, sei jetzt bitte nicht spröde und pikiert. Aber schau dir mal die Geschlechtsteile der Frauen auf diesen Bildern an. Was fällt dir da auf?«

Melanie ließ Alois keine Chance, die Frage zu beantworten, sie löste für ihre Kollegen selbst das Geheimnis.

»Sie haben alle noch ihre Schambehaarung. Dunkle schwarze Haare. Richtige Wuschel. Das war damals so, heute geht das nicht mehr, heute laufen fast alle Frauen unten rasiert herum. Diese Bilder sind alt. Und diese Aufnahmen in schwarzweiß sind definitiv nicht digital gemacht worden.«

Rainer sah Melanie bewundernd an. »Melanie, du hast Recht. Ich dachte noch zuerst daran, dass diese Bilder mit einem Bearbeitungsprogramm auf alt und vintage gemacht worden sind. Aber Melanie hat Recht, die Frauen sehen anders aus. Auch ihre Brüste. Nicht operiert. Deswegen sind die auch nicht so groß wie auf den anderen Bildern.«

Alois holte tief Luft. »Dieser Sascha Krüger hat demnach nicht nur Gefallen an Flugzeugmodellen, sondern auch Gefallen an Aktmodellen gefunden. Und das in seinem Alter. Er ist doch knapp 60. Von wann sind die Bilder?«

»Laut Datei sind die älteren Bilder etwa aus den Jahren 1978 bis 1989. Die neuen Dateien sind in den letzten Jahren gemacht worden. Wobei ich das wirkliche ursprüngliche Aufnahmedatum nicht mit Sicherheit sagen kann«, antwortete Rainer.

»Was mich nur wundert«, fügte Melanie hinzu, »wir haben in seiner Wohnung nicht einen einzigen Hinweis auf seine sexuellen Vorlieben finden können. Keine Kamera, keine Printabzüge diverser Bilder, keine pornografischen Zeitschriften oder Bildbände über Aktfotografie.«

»Nein, nichts dergleichen«, bestätigte Alois ihre Annahme. Rainer nickte.

»Sonst noch etwas auf dem Rechner?«, hakte Melanie nach.

»Nein! Nichts Verdächtiges«, gab Rainer zur Antwort. »Nur ein paar Flugsimulationsprogramme, für Kampf-Jets, Hubschrauber, Passagier- und Segelflugzeuge. Passt zu seinem Hobby der Fliegerei.«

»Und diese Frauenbilder? Könnten denn diese Nacktaufnahmen ein Motiv für den Mord sein?« Melanie sah ihre Kollegen fragend an.

»Wegen einem Nacktbild bringe ich doch niemanden um«, sagte Rainer nachdenklich.

»Und wenn es nicht bei den Aufnahmen geblieben ist, wenn diese Mädchen nicht nur fotografiert worden sind, vielleicht hat Krüger mit denen auch geschlafen? Oder er hat sie sexuell genötigt?«, fragte Alois.

»Ein Sechzigjähriger vögelt mit 25 bis 30 Jährigen«, fasste Melanie zusammen. »Zuerst fotografiert er sie nackt, dann vögelt er sie und dann wird er entweder von einem eifersüchtigen Ehemann oder einem bösen Liebhaber erschossen .....«

»..... oder einer eifersüchtigen Geliebten«, ergänzte Alois ihre Ausführungen.

»Dann hätten wir jetzt so an die 80 Verdächtige. Dabei habe ich die Frauen und Männer aus den 80er-Jahren noch nicht einmal dazu gezählt.«

Alois ging auf ihren Kommentar nicht ein und fragte den Kollegen: »Kannst du feststellen, wo die Aufnahmen gemacht worden sind, Rainer?«

»Die neueren am Wasser sind am Marzlinger Weiher gemacht worden. Das Gelände kenne ich. Die Bilder im Wald könnten im Freisinger Forst entstanden sein. Die früheren Bilder kann ich nicht bestimmen. Was mir nur auffällt, die Frauen von damals sitzen unverklemmt und völlig entspannt da. Als ob ihre eigene Sexualität etwas ganz Natürliches für sie ist. Zu dieser Zeit war die BRD noch ganz schön spröde. Diese Frauen könnten aus Schweden oder Dänemark sein. Da war man mit der sexuellen Revolution schon wesentlich weiter.«

»Wenn Krüger also für alle Fotografien verantwortlich zeichnet, dann muss er vor 1990 in Schweden oder Dänemark gelebt haben. Also nicht in Weimar, nicht in der DDR.«

»Was sollen wir nun tun, Alois? Sollen wir versuchen an Hand der Nacktfotos die Personalien der Damen zu ermitteln? Eine Seite mit nackten Tatschen im Freisinger Tagblatt unter dem Motto: wer kennt diese Damen?«

»Jetzt werde nicht albern. Natürlich nicht, Rainer. Wir kommen so nicht weiter. Wir müssen wissen, wer war dieser Sascha Krüger? Das muss erst einmal geklärt werden. Und es ist nicht sicher, dass er diese Bilder alle selbst gemacht hat.«

»Wir haben keine Kamera bei ihm gefunden«, sagte Melanie.

»Ja! Aber wo hat er gearbeitet, wenn er nicht gerade in roter Joppe durch die Altstadt gestiefelt ist? Es gibt keine Verwandten, keine Freunde, aber ein paar Dutzend Frauen, die sich dem Anschein nach, freiwillig vor ihm ausgezogen haben.«

Rainer starrte auf die Bilder auf dem Monitor.

»Was hat der Kerl gehabt, was ich nicht habe?«, fragte Alois sich. »Ich bin jünger, sehe besser aus und habe weniger auf der Plauze. Bei mir stehen die Frauen nicht an, um nackt fotografiert geschweige denn flach gelegt zu werden.«

Melanie sah ihren Kollegen mitleidvoll an, als er so vor sich hin brabbelte, dann brach es endlich aus ihr raus. Sie fing lauthals an zu lachen, so laut und herzlich, dass Rainer miteinstimmte. Alois sah die beiden bitterböse an, stammelte ein leises »Ihr Arschlöcher« und rannte aus dem Büro.

Wäre jetzt Gizmo an seiner Seite, hätte er mit ihm in den Krankenhausgarten gehen können oder in den alten Friedhof. Beides waren Areale, in denen er seine Ruhe fand. Keiner ging ihm auf die Nerven. Gizmo markierte die Bäume und er rauchte eine Zigarette. Aber Gizmo war in Regensburg und Zigaretten hatte er schon eine ganze Weile keine mehr. Also schritt er nur ein paar Meter vor die Haustür, holte tief Luft und kam nach wenigen Minuten zurück ins Büro.

Rainer und Melanie hatten sich in der Zwischenzeit beruhigt. Sie saßen nebeneinander vor dem Bildschirm und suchten im Internet nach dänischen Aktfotos aus den 80er-Jahren. Sie wurden aber nicht fündig. Die einzigen Bilder die sie fanden, waren einige alte Dias, die in Ebay angeboten wurden. Solche Bilder wie auf Krügers Laptop gab es nicht. Ansonsten gab der Laptop nicht viel her. Es gab keine Sex-Videos oder Pornos. Auch die Favoritenleiste führte zu keinem Ergebnis. Die einzigen verwerflichen Sachen waren diese Bilder. Und was für die einen Schweinskram war, war für die anderen moderne Kunst. Wo war da der Unterschied? Und wer sollte es entscheiden?

Alois setzte sich leise an seinen Schreibtisch. Er wollte seine Kollegen bei dieser anspruchsvollen Arbeit nicht stören. Er fuhr seinen Rechner hoch und suchte nach Sascha Krüger. Aber leider fand Google nichts. Es gab einige Sascha Krüger: einen Journalisten, einen Koch, einen Informatiker, einen Dachdecker und einige Professoren an diversen Universitäten, aber keinen Sascha Krüger aus Freising. Dann gab er nur Krüger und Freising ein. Insgesamt sechs Einträge. Sollte er jetzt alle anrufen und fragen ob sie einen Sascha kennen? Er ersparte sich die Mühe.

So kamen sie auf jeden Fall nicht weiter. Heute war der Neunte Dezember und jetzt hatten sie nur noch zehn Arbeitstage bis Heilig Abend.

Wenn es eines seiner Aktmodelle war, dass ihn erschossen haben sollte, warum dann auf diese brutale Art und Weise: Rache oder Eifersucht? Und woher wusste es von seiner Herzanomalie? Oder es war ein eifersüchtiger Ehemann? Woher sollte der das aber wissen? Wegen einiger offenherziger Bilder brachte man doch niemanden um.

»Kränkung und Verletzung des Selbstwertgefühls ist wohl der häufigste Tötungsgrund«, sagte Alois leise zu sich. »Habgier und materielle Bereicherung stehen an zweiter Stelle, gefolgt von Rache. Nach diesen drei Grundmotiven geht es weiter mit sexuellen Motiven, Eifersucht, Hass und Liebe.«

Alois dachte nach. Das erste Motiv schien wohl auszufallen. Die Frauen saßen da, als ob ihnen der Fototermin Spaß machen würde. Eine Verletzung des Selbstwertgefühles kam wohl nicht in Frage.

Habgier? Wollten sie dafür Geld haben und Krüger hatte ihnen keines gegeben. Unwahrscheinlich, denn die Fotos wurden nirgends vermarktet. Es war die persönliche Erinnerungskartei des Toten. Nur auf seinem Rechner. Keines der Bilder wurde ins Internet gestellt oder anderweitig verkauft.

Rache? Rache könnte ein Motiv gewesen sein. Oder unerfüllte Liebe, Eifersucht und Hass. Eine abgewiesene Frau? Der Prozentsatz der Menschen hingegen, die aus reiner Lust am Töten morden, war sehr gering. Die Methode, wie jemand umgebracht wurde, sagte dabei viel über seinen Mörder aus. Es war ein Unterschied, ob jemand sein Opfer anfassen musste, um es durch Erwürgen langsam zum Tode zu bringen, oder ob er es vergiftete, beziehungsweise aus der Distanz erschoss. Und Krüger war erschossen worden. Der Täter brauchte das Opfer nicht anzufassen. Und das wollte er auch so. Ihn anzufassen hätte den Täter angewidert. Aber wer wusste ganz genau wer unter diesem Kostüm steckte?

Natürlich wusste Kreithmeier, dass die Mehrzahl aller Morde ohnehin Beziehungsdelikte waren, bei denen Opfer und Täter sich kannten. Doch wenn eine Person erwürgt wurde, war ziemlich sicher, dass sie mit dem Täter in irgendeiner Art von Beziehung stand. Jemandem mit den eigenen Händen den Hals zuzudrücken und ihm dabei ins Gesicht zu sehen, erforderte nicht nur ein erhebliches Maß an Kraft, sondern auch eine wahnsinnige Wut, sinnierte Alois über die Tat nach. Diese Art von Zorn empfand man kaum gegenüber einer fremden Person. Manche Arten zu töten setzten einfach andere Fähigkeiten voraus – sowohl körperliche, als auch charakterliche.

Und so war ein einfacher Schuss immer eine saubere Sache. Der Täter kam nicht mit dem Blut des Opfers in Kontakt. Ein Herzschuss war meistens tödlich. Und der Täter brauchte das Opfer nicht anfassen, ein wichtiger Punkt, vor allem, wenn man sich vor dem Opfer ekelte. Und selbst die Entsorgung einer Leiche machte oftmals erhebliche Mühe. Wohin damit? Versenken? Zerstückeln? Auflösen? Einbetonieren? Auf den Kompost? Alois lachte zynisch als er seine eigenen Gedanken erfasste.

Der Täter in seinem Fall brauchte nur zu töten. Unblutig. Sich keine Gedanken um die Leiche machen. Einfach nur unerkannt weglaufen. Mitten durch die Menge. Eigentlich einfach und unproblematisch. Der Täter war ein Ästhet. Er wollte sich mit dem Mord nicht beschmutzen. Er wollte effektiv sein. Der Mord war geplant. Und es war Rache. Eine sehr starke Rache.

Krüger hatte jemandem etwas Böses angetan. Das muss so schlimm gewesen sein, dass derjenige beschlossen hatte seinen Widersacher zu töten. Und er hat sich ihm sicher noch vorher zu erkennen gezeigt, bevor er diesen tödlichen Schuss abgegeben hat. Ihm einmal kurz in die Augen geschaut, damit das Opfer weiß, wer ihn tötet. Das muss für den Täter die größte Genugtuung gewesen sein. Das Opfer sollte wissen, wer und warum. Und das konnte Jahre zurück liegen. Ein Fall aus Krügers Vergangenheit. Doch wie weit zurück? Achtziger Jahre? Die 90er? Oder seit Krüger in Freising lebte?

Doch im Moment war Krüger für sie noch ein Mann ohne Vergangenheit. Wenn er wirklich aus der DDR aus Weimar kam, dann sollte es äußerst schwierig sein, seine richtige Identität zu erfahren. Und wenn, dann müsste es doch so etwas wie eine Stasi-Akte über ihn geben? Wenn denn sein jetziger Namen echt war?

Alois sah auf seinen Schreibblock. Obwohl er introvertiert ganz für sich, seinen Überlegungen hingegeben hatte, musste er nebenbei im Unterbewusstsein Protokoll darüber geführt haben, denn sein Block war voll geschrieben. Alles, was er leise gedacht hatte, hatte er hier schwarz auf weiß zu Papier gebracht. Er sah auf und blickte Rainer und Melanie an.

»Und was habt ihr?«, fragte er sie.

Rainer und Melanie sahen auf. »Wie bitte?«, fragte Melanie zurück.

»Na, was habt ihr denn bis jetzt?«

»Nicht viel.«

»Ich zwar auch nicht, aber ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass das Tatmotiv Rache ist.«

»Und wieso?«, wollte Melanie wissen.

»Weil die Tat geplant war. Mitten in der Altstadt, ein gezielter bewusster Schuss. Rache für eine Demütigung, die auch einige Zeit zurück liegen kann. Eine Frau, die er sexuell abhängig gemacht und gequält hat. Oder abgewimmelt. Verletzte Eitelkeit. Oder ein Mann, dem er seine Frau weggenommen und ihn gekränkt allein zurückgelassen hat. Wenn ich mich an jemandem rächen würde, ich würde ihm den Hals umdrehen oder zudrücken bis ihm die Augäpfel aus dem Kopf treten.«

»Alois!«, rief Melanie überrascht auf.

»Ja!« Alois nahm seine Hände und tat so als ob er jemandem den Hals zudrückte.

»Nein! Unser Täter wählte eine saubere Art des Tötens. Er erschoss ihn mit nur einer Kugel, nicht mal mehrere Kugeln oder gar ein ganzes Magazin. Nein, nur eine einzige Kugel, ein kleines Kaliber. Wie kann er da sicher sein, dass diese Kugel auch tötet? Dass konnte er, weil er sie direkt in das Herz des Opfers schoss. Der Herzschlag endete abrupt und durch die Einschussöffnung strömte das Blut aus dem Herzen. Und das hatte zur Folge, dass der Blutdruck sofort zusammenbrach, was im Gehirn des Opfers zur Blutleere führte. Der Hirntod trat zwar erst nach etwa drei Minuten ohne Sauerstoffversorgung ein, aber der Getroffene wurde augenblicklich bewusstlos.«

»Rache? Rache weswegen, Alois?«

»Das weiß ich noch nicht. Nur die Fakten sprechen dafür. Wir müssen alles über den Toten erfahren, anders kommen wir nicht weiter. Was ist mit seinem Handy? Telefonate, Nummern, SMS. Was ist damit, Rainer?«

Rainer blickte Alois an. »Nichts Auffälliges. Telefonate mit dem Rathaus, mit ein paar Familien, Termine wegen Weihnachtsmannbesuchen. Josef hat den ganzen Vormittag damit verbracht, während ich mich um den Laptop gekümmert habe.«

»Frauen? Freundinnen? Sexkontakte?«

»Nichts per Telefon.«

»Was ist mit seinen Kontakten?«

»So weit bin ich noch nicht.«

»Und die Fingerabdrücke in seiner Wohnung, DNA Spuren?«

»Bearbeitet Josef Schurig. Sind morgen fertig.«

Alois stand auf und schritt unruhig durch den Raum.

»Wir brauchen einen Fotografen, einen Profi, einen, der sich mit Aktaufnahmen auskennt und mit den Locations. Und wir brauchen einen, der sich mit den Stasi-Akten auskennt, falls Melanie mit Ihrer Vermutung Recht hat. Schicken wir das Bild des Toten ans BKA, ans BLKA, an den MAD und an den Bundesnachrichtendienst. Wenn er für die Stasi gearbeitet haben soll, dann muss doch jemand von diesen Organisationen etwas über ihn gesammelt haben. Und wir brauchen seine Arbeitgeber. Wie hießen die gleich?«

»FCM und LSV«, antwortete Melanie.

»Dann machen wir uns ans Werk. Rainer und Josef, ihr kümmert euch um die Fingerabdrücke, Kontoauszüge, Handy und dergleichen. Und lasst ein Programm über den Rechner laufen, das gelöschte Dateien feststellen kann. Melanie, du setzt dich bitte mit deinem Freund Burger vom BLKA in Verbindung und er soll seine Beziehungen spielen lassen. Es muss doch etwas über den Krüger geben. Und ich kümmere mich um den Fotografen. Jetzt sind es noch 10 Tage. Packen wir es an. Der Countdown läuft.«

»Er ist nicht mein Freund, Alois.«

»Wer ist nicht dein Freund, Melanie?«

»Der Burger!«

»Ach ich dachte bloß.«

»Blödmann!«

Der Mann, der den Weihnachtsmann erschoss

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