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2.

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Die Kellnerin musterte ihn mit einem abschätzenden Blick, mit dem Frauen ihn häufiger ansahen. Sie war sehr jung und ziemlich hübsch und hatte ein Tattoo am linken Oberarm.

„Alles okay soweit?“ fragte sie.

Statt einer Antwort nickte er und brummte etwas, das wie ein „Ja, ja“ klingen sollte. Nachdem er auch den zweiten Wodka geleert und diesmal die kalt-wärmende Wohltat etwas ausgiebiger genossen hatte, begab er sich zur Toilette. Im Spiegel des Waschraums inspizierte er sich erneut – und spürte einen leisen Schock. Er sah doch schlimmer aus, als es eben noch im matten Schaufensterglas geschienen hatte.

Das Auge würde sich bald bunt färben. Sein Gesicht wirkte hohl und fahl. Auf dem Hemd befanden sich Blutspritzer. Er zog es aus und behielt nur das T-Shirt an, eine Aufmachung, die nach seinem und erst recht Hannas Geschmack normalerweise indiskutabel war. Mit Rücksicht auf gewisse Konventionen pflegte er sich damit zu begnügen, auf eher diskrete Weise stolz zu sein auf seinen trainierten Körper, dessen obere Hälfte sich jetzt unter dem engen Textil abzeichnete und für dessen Zustand er einiges an Zeit und Schweiß aufwandte, wenn auch nicht mit jener Konsequenz, die den Verzicht auf Zigaretten und die gar nicht so seltenen alkoholische Exzesse eingeschlossen hätte. Er glaubte das alles unter Kontrolle zu haben. Für jede Sünde verordnete er sich die angemessene Strafe in seinem Fitnessraum. Mit dem Hemd in der Hand starrte er in sein Gesicht und nannte sich stumm einen eitlen, gedankenlosen Narren. Dann hob er den Deckel des Abfalleimers unter dem Waschbecken, stopfte das Hemd hinein und zog sein Jackett über. Er spürte einen leichten Schwindel und lehnte sich kurz gegen die Wand.

An der Theke fragte er nach einem Telefon, und der Wirt, ein schwerer älterer Mann mit der eingefrorenen Miene eines Menschen, der viel gesehen hat, langte beiläufig und ohne seine Beschäftigung des Bierzapfens zu unterbrechen, nach unten, holte einen abgenutzten beigen Festnetzapparat mit Tasten hervor und schob ihn Max wortlos hin.

Er nahm ihn und ging so weit weg von der Theke, wie es die Schnurlänge zuließ. Im selben Augenblick, als er den Hörer abnahm, drängte sich die junge Serviererin von hinten an ihm vorbei und er legte wieder auf. Was wäre, wenn jemand hier mitbekäme, wie er sagen würde: „Ich möchte einen … Unfall melden … Ein Toter … und eine verletzte Frau. Mein Name? Der tut nichts zur Sache …“ – und dann einfach auflegte?

Er bestellte einen weiteren Wodka und ging zurück an seinen Platz, setzte sich aber doch nicht, sondern wandte sich zur Tür, um draußen zu rauchen. Da fiel ihm ein, dass er sich dringend neue Zigaretten und Feuer besorgen musste, und er ging abermals zur Theke. Die Kellnerin lud gerade Gläser auf ein Tablett. Mit schrägem Blick und einer kleinen Ironie in der Stimme fragte sie ihn, ob er ein Problem habe und sie ihm irgendwie helfen könne.

„Ein Problem? Sehe ich etwa so aus?“, brachte er hervor.

„Ehrlich gesagt, ja“, konstatierte sie.

Er drückte ihr Geld in die Hand und bat sie, ihm eine Schachtel von seiner Marke und Streichhölzer zu bringen, ging vor die Tür, ließ sich von jemandem Feuer für seine vorletzte, halb zerdrückte Zigarette geben, rauchte in hastigen Zügen und sagte sich, dass er endlich aufhören müsse, sich so konfus zu verhalten. Er schnippte die Kippe zu Boden, zertrat sie mit dem Absatz, ging wieder hinein, setzte sich an seinen Tisch, trank in kleinen Schlucken sein Glas aus, und versuchte seine Gedanken zu ordnen.

Es war ja überhaupt nicht sicher, dass es tatsächlich sein Schlag gewesen war, der den Mann getötet hatte. Vielleicht war er nur unglücklich gestürzt. Außerdem hatte es sich doch wohl eindeutig um eine Art Notwehrsituation gehandelt, in der es darum gegangen war, eine Frau vor einem brutalen Angreifer zu beschützen – wenn das kein ehrenwertes Motiv war. Er sah das jetzt alles wieder deutlich vor sich, jedoch in einem völlig anderen Licht. Wurde nicht allenthalben beklagt, dass die Gewalt auf den Straßen im öffentlichen Raum immer mehr überhand nehme und zu wenig dagegen unternommen werde? Ständig hörte und las man doch von Schlägern, die wehrlose Passanten traktierten, ohne dass diesen jemand zur Hilfe kam. Nun, er hatte nicht feige weg geschaut, wie die meisten, sondern sich mutig eingemischt und sogar einiges riskiert und dafür Verletzungen eingesteckt. Objektiv gesehen hätte er sich ohne weiteres als Held fühlen können, als jemand mit Zivilcourage. Zivilcourage, ja, das war es, er hatte Zivilcourage bewiesen.

Subjektiv sah die Sache jedoch erheblich anders aus. Das, was er getan hatte, passte ganz einfach nicht zu ihm. Was hatte ein Mann, der in einer der teuersten Gegenden der Stadt mit einer reichen Frau in einer repräsentativen Jugendstilvilla wohnte und dessen komfortables Leben sich zwischen Bücherwänden, Vernissagen, Konzertbesuchen und Theaterpremieren abspielte, sich nachts für irgendwelche fremden Frauen in dunklen Straßen zu schlagen? Ein Mann, der sich nicht nur sehr viel auf seine Kultiviertheit zugute hielt, sondern auch keine Gelegenheit ausließ, seine pazifistischen Prinzipien und seine Abscheu vor jeder Art von Gewalt zu propagieren, sodass es auf andere bisweilen schon leicht übertrieben anmutete? Und nun war ausgerechnet dieser Mann in einen Vorfall verwickelt, bei dem sogar jemand gewaltsam zu Tode gekommen war. Niemand in seinen Kreisen würde das verstehen, und am wenigsten Hanna.

Er sah sich in endlose Dispute mit ihr verstrickt, in denen sie ihn immer wieder fassungslos fragen würde, wieso um alles in der Welt er sich dazu habe hinreißen lassen können, jemanden tot zu schlagen. Genau so würde sie es ausdrücken. Hanna war in vielerlei Hinsicht großzügig, aber in dieser Hinsicht würde sie keine Gnade kennen, und alle guten Gründe, die der Polizei und der Justiz einleuchten mochten, würden in Hannas Augen nichts zählen. Immer wieder hatte sie ihm mehr oder minder offen zu verstehen gegeben, dass sie seinen physischen Ambitionen misstraute. Sie argwöhnte, dass es uneingestandene, rohe Absichten gebe hinter seinen Bemühungen, sich fit zu halten, vor allem hinter seinen Schlagübungen am Boxsack. „Übertriebene Körperlichkeit“, wie sie es nannte, war ihr grundsätzlich suspekt. Besonders verwerflich aber schien in ihren Augen zu sein, dass er sich seinen zweifelhaften Übungen auch noch in der Einsamkeit eines eigenen, höchst privaten, mit entsprechenden Geräten ausgestatteten Raums im Souterrain hingab. Wenn er wenigstens noch ein öffentliches Fitnessstudio aufgesucht hätte, wäre Hanna womöglich bereit gewesen, die Dinge in einem etwas milderen Licht zu sehen. Aber in letzter Zeit hatte er sich gelegentlich gefragt, ob bei ihrer diesbezüglichen Aversion nicht noch mehr und anderes im Spiel war. Es war Wochen her, dass sie miteinander geschlafen hatten. Es lief, wie man so sagte, schon seit geraumer Zeit nicht mehr gut mit ihnen beiden.

Der Gedanke, sie jetzt anzurufen, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Die Tage, da sie einander Rechenschaft darüber abgelegt hatten, was der andere jeweils beabsichtigte oder tat, lagen weit zurück. Er wusste auch gar nicht, ob Hanna überhaupt zu Hause war. Sie hatten nur am Morgen ein paar Worte miteinander gewechselt. Es war eine geradezu absurde Vorstellung, ihr jetzt mitzuteilen, er sitze momentan in einem Lokal beim Wodka und denke verzweifelt darüber nach, wie er halbwegs heil aus einer höchst bedenklichen Zwangslage heraus kommen könne, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte – und das durch ein Verhalten, das alle Vorurteile Hannas zu bestätigen schien. Der Gedanke, dass dies das Ende ihrer Ehe bedeuten könnte, war absolut realistisch, zumal die möglichen Bruchstellen ihrer Beziehung bereits in ihrer fragilen Konstruktion angelegt zu sein schienen.

Viele hatten seinerzeit, vor gut vier Jahren, nicht verstehen können, wie das denn wohl zusammenpassen sollte: Hanna, die junge, umschwärmte, geschäftstüchtige Erbin eines der größten und erfolgreichsten Bauunternehmen Berlins, und er, ein mittelloser, fünfzehn Jahre älterer Intellektueller, der außer seiner Bildung und seinem allgemein als präsentabel angesehenen Äußeren nichts vorzuweisen hatte, höchstens, wie er manchmal selbstironisch anzumerken pflegte, ein ausgeprägtes Talent zur materiellen Erfolglosigkeit. Aus eher bescheidenen Verhältnissen stammend, hatte er sich nach dem Studium, das er mit einer Promotion in Germanistik abgeschlossen hatte, all die Jahre mehr schlecht als recht als Autor von Zeitungs- und Magazinbeiträgen durchgeschlagen, sich auch an einem Roman versucht, der immer noch ungedruckt in irgendeiner Schublade lag, und sich im Lauf der Zeit schon damit abgefunden, dass ihm sowohl der Ehrgeiz als auch die Gabe fehlten, es im Leben noch sonderlich weit zu bringen.

Und dann war er Hanna begegnet, bei einer Ausstellung, von der sie sich sichtlich gelangweilt gefühlt hatte. Sie war es gewesen, die ihn angesprochen hatte. Danach war dann alles sehr schnell gegangen, fast etwas zu klischeehaft nach dem alten Muster der wechselseitigen Anziehungskraft von Gegensätzen, die sich vor allem im Sexuellen zeigte. Nach wenigen Tagen waren sie im Bett gelandet. Einige Monate später folgte dann schon die Hochzeit. Sie genossen den Ruf eines ungewöhnlichen und gerade deswegen interessanten Paars, das seine Attraktivität aus dem Kontrast zwischen seinem etwas scheuen, zerknitterten, nicht mehr ganz frischen virilen Charme und ihrer auf eine sehr solide, beinahe altmodische Weise hübschen Jugendlichkeit gewann. Dabei hatte sie, bei all ihrer konventionellen Coolness im Geschäftlichen, auch etwas Spielerisches an sich. Nichts hätte dies eindrücklicher demonstrieren können als ihr spontaner – und von einigen, womöglich auch von ihr selbst, später als ein wenig übereilt betrachteter – Entschluss, anlässlich der Eheschließung ihren traditionsreichen Elternnamen, Gruber, abzulegen und sich stattdessen fortan Ziegler zu nennen so wie er.

Später, als der erste Rausch verflogen war, hatte er gelegentlich gedacht, dass sich in dieser formalen Geste auch eine subtile Bestätigung ausdrückte für den Status, den er an ihrer Seite innehatte. In ihrer besitzergreifenden Großzügigkeit hatte sie ihm dieses kleine Entgegenkommen gewährt, um ihm umso mehr den Platz einer Trophäe, eines Dekorums für ihr saturiertes Dasein zuweisen zu können. Denn als genau das begann er sich in der Folgezeit mehr und mehr zu fühlen, was ja auch insofern nur zu berechtigt schien, als sie es war, die ihn aushielt. Er lebte von ihrem Geld und ihrem Reichtum. Und währenddessen lebten sie sich immer mehr auseinander.

So gut wie nichts, was er tat und womit er seine Zeit verbrachte, war Hanna recht. In den letzten Tagen hatte es jedes der seltenen Male, wenn sie aufeinandergetroffen waren, Streit gegeben. Er war bereits schlechter Stimmung gewesen, als er sich früher am Abend mit einigen Bekannten getroffen hatte, die Hanna ebenfalls nicht mochte, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Wieland, Niklaus und Kohnen, mit denen er regelmäßig ausging und sich jeden Donnerstagabend zum Essen traf, hatten ihm mehr als einmal ohne Umschweife zu verstehen gegeben, dass er ihrer Ansicht nach – Geld und Wohlstand hin oder her – die falsche Frau geheiratet hatte. Das Essen war diesmal in jeder Hinsicht ein Reinfall gewesen. Kohnen, der große, wilde, erstaunlich teure Bilder malte, hatte in letzter Minute abgesagt, weil es Probleme mit der Vorbereitung einer Ausstellung gab. Die Unterhaltung mit Wieland und Niklaus hatte sich als ähnlich zäh erwiesen wie der enttäuschende Lammbraten. Wieder einmal ging es um Niklas und dessen Unfähigkeit, einen angemessen bezahlten Job als Feuilletonredakteur zu finden, was angesichts seiner Qualitäten trotz der wirtschaftlichen Misere der meisten Zeitungen möglich gewesen wäre, sofern er sich nicht derart hartnäckig gegen die Hilfsangebote Wielands gesträubt hätte. Wieland war früher als Verlagsmanager tätig gewesen und verfügte immer noch über beste Beziehungen, nachdem er sich, motiviert durch eine enorme Abfindung, frühzeitig zur Ruhe gesetzt hatte. Doch gegen Niklas' verqueren Stolz kam er, wie so oft schon, nicht an. Max hatte sich gelangweilt und sich später, nachdem sie auseinandergegangen waren, regelrecht deprimiert gefühlt. Und dann war er einfach losgegangen, ohne Ziel.

Wieder hatte er das Bild der Frau vor Augen, dann das, was plötzlich passiert war, sein eigenes, übertrieben hartes Agieren. Womöglich war in ihm allerlei aufgestaut gewesen, eine gehörige Portion an Ärger und Frustration, die sich in seinen Schlägen entladen hatte. Er bestellte noch einen Wodka, um diesen fatalen Gedanken hinunter zu spülen. Noch nie seit seinen Schulhofzeiten war er bisher je auf die Idee gekommen, sich zu schlagen, und das auch noch mit einer gewissen Befriedigung. Er merkte jetzt, dass der Alkohol Wirkung zeigte und ihn larmoyant machte. Aber er war noch nüchtern genug, um sich wieder an das Feuerzeug zu erinnern, an dieses verdammte goldene Ding, das er als Schlagverstärker umklammert hatte und das ihn, was noch schlimmer war, verraten konnte, weil es ein Indiz war. Er musste es auf jeden Fall finden und an sich bringen, und zwar sofort. Wenn er sich beeilte, war es anschließend immer noch früh genug, um die Polizei zu informieren.

Er bezahlte, gab ein viel zu hohes Trinkgeld, ohne die junge Kellnerin eines weiteren Blicks zu würdigen, und machte sich auf den Weg. Die ersten Meter ging er, dann fiel er in einen leichten Trab, schließlich rannte er, wie aufgeputscht durch den Alkohol und bald schweißnass und schwer atmend. Schon bog er in die dunkle Schledestraße ein, durchmaß eine leichte Kurve und hatte dann, gut hundert Meter entfernt, den Ort vor sich, an dem es geschehen war – den Tatort. Als er ihn erreicht hatte, stellte er zweierlei fest: Der tote Mann lag immer noch dort, wo er gelegen hatte. Aber die Frau war verschwunden.

Im ersten Moment glaubte er an eine Sinnestäuschung und fragte sich, ob er womöglich, verwirrt infolge seiner Bewusstlosigkeit und dann noch des Alkohols, nicht mehr imstande sei, die Wirklichkeit richtig wahrzunehmen. Doch Sekunden später sah er die Szene wieder deutlich vor sich. Es gab keinen Zweifel. Die Frau hatte dort gelegen, und jetzt lag sie dort nicht mehr.

Er hastete zurück und winkte an der übernächsten Kreuzung nach einem Taxi, von dem er sich nach Hause bringen ließ, hinunter an den südlichen Stadtrand, wo sich alles Städtische zwischen Wäldern und Wasserflächen verlor. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Fahrt noch weiter gegangen wäre, irgendwo hin, nur möglichst weit weg.

Nocturno

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