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5.

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Es war ein leicht verhangener, warmer Morgen. Unheil lag, meteorologisch gesehen, nicht in der Luft, vielmehr das Versprechen eines weiteren sehr schönen Tages und Wochenendes. Doch Max war mulmig zumute, sehr mulmig sogar. Er hatte Angst, die Zeitungen aufzuschlagen, und versuchte daher diesen Moment so lange wie möglich hinauszuzögern. Er stocherte in seinem Früh­stück herum, das Agnes ihm wie stets bei entsprechendem Wetter heraus auf die Terrasse gebracht hatte, nahm jeweils nur winzige Happen von dem Rührei und dem Toast und wünschte sich insgeheim, Agnes wäre nicht da.

Er wollte einfach mit niemandem reden und er wollte sich auch nicht mit diesen gewissen forschenden, musternden, ja lauernden Blicken anschauen lassen, so wie Agnes es immer wieder tat, wohl in der irrigen Annahme, er bekomme nichts davon mit. Man musste ihr zugute halten, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten um Diskretion und Zurückhaltung bemüht war, was ihr bestimmt nicht leicht fiel. Jedoch empfand er ihre Anwesenheit schlichtweg als lästig und störend. Im Grunde sprach nichts dagegen, ihr für den Rest des kaum begonnenen Tages einfach frei zu geben. Er ging in die Küche, um ihr das mitzuteilen.

Sie machte hin und wieder Bemerkungen über einen so genannten Bekannten, was bei Max jedes Mal eine Art innere Verlegenheit auslöste. Er mochte sich das einfach nicht vorstellen. Dabei war er bezüglich des Wahrheitsgehalts ihrer Andeutungen stark im Zweifel. Die Vermutung lag nahe, dass sie sich damit lediglich wichtig machen wollte, weil es ihr unangenehm war, als alte Jungfer angesehen zu werden, die mit den Männern abgeschlossen hatte. Über ihr Leben als junge Frau in Polen sprach sie so gut wie nie, und wenn, dann blieben ihre Schilderungen meist skizzenhaft und sehr allgemein. Aber Hanna meinte einmal herausgehört zu haben, dass Agnes eine Beziehung hinter sich hatte, die mit einer großen Enttäuschung für sie zu Ende gegangen war. Dies sei für sie auch der wesentliche Grund dafür gewesen, weshalb sie ihr Land verlassen und damals von Danzig nach Berlin übergewechselt sei. Wirtschaftliche Erwägungen und der Wunsch nach einem besseren Leben hätten dabei nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Max wusste nicht so recht, was davon zu halten war.

Agnes schien über sein unverhofftes Angebot eines freien Tages eher überrascht als sonderlich erfreut zu sein. Als er ihr sagte, er brauche sie für den Rest des Tages nicht mehr, sie könne seinetwegen ruhig irgendetwas unternehmen und er würde es sogar begrüßen, wenn sie ausginge, reagierte sie geradezu beleidigt. Ihr Mienenspiel verriet ihm, dass sein Verzicht auf ihre aktuelle Anwesenheit eine schwer erträgliche Kränkung für sie darstellte. Sie gab sich nicht die leiseste Mühe, das zu verbergen.

„Aber Herr Ziegler“, wandte sie ein, „das kommt nun aber doch etwas plötzlich. Das passt mir, ehrlich gesagt, nun aber gar nicht so recht. Eigentlich wollte ich …“ Sie ließ den Satz unvollendet. Max merkte, wie sich sein Unbehagen wegen ihrer Anwesenheit in Zorn über ihr offenkundiges Pochen auf die eigene Unentbehrlichkeit zu verwandeln drohte.

„Mir wäre es wirklich lieber, wenn Sie ausgingen“, sagte er mit einem kaum unterdrückten Beben in der Stimme. Sie zuckte förmlich zusammen und errötete.

Soweit er wusste, verbrachte sie sonst ihre planmäßigen freien Tage mit Ausflügen in die Innenstadt oder auch in die Umgebung, welche Rolle dabei auch immer dieser ominöse Bekannte spielen mochte, dessen Existenz letztlich nicht nachgewiesen war. Früher hatte sie die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, aber seit dem vorletzten Jahr war sie stolze Besitzerin eines Autos, eines schon etwas älteren, knallroten VW Polo, den sie sich nach langem Überlegen angeschafft hatte, aus Gründen der „persönlichen Mobilität“, wie sie es ausdrückte. Gelegentlich betonte sie, dies sei der einzige Luxus, den sie sich gestatte, so als müsse sie sich für diese bescheidene Investition auch noch rechtfertigen. Dabei verdiente sie genug, um sich ohne weiteres auch einen teureren Wagen leisten zu können.

Max wollte, dass sie in ihr verdammtes Auto stieg und verschwand – jetzt, sofort.

„Es ist wirklich nicht nötig, dass Sie hier bleiben. Ich brauche Sie heute nicht mehr“, versuchte er es noch einmal, jetzt etwas konzilianter. „Das Wetter ist schön, was wollen Sie denn da hier im Haus sitzen. Fahren Sie doch irgendwo hin, unternehmen Sie etwas.“

Als sie nicht sofort darauf reagierte, sondern ihn nur stumm und vorwurfsvoll anschaute, setzte er, aus einem plötzlichen Impuls heraus, noch hinzu:

„Bestimmt würde sich Ihr Bekannter freuen, wenn Sie ihn mit dem Wagen abholen und ein bisschen mit ihm raus ins Grüne fahren würden.“

Sie errötete noch eine Spur tiefer und wandte sich ab, beinahe demütig, sodass es ihm fast schon wieder Leid tat. Er hörte sie etwas sagen, das er aber nicht verstand, weil sie zu leise sprach. Und dann war es ihm auf einmal egal, ob sie ausging oder blieb. Sollte sie doch tun oder auch lassen, was sie wollte. Was ging das schließlich ihn an. Was hatte es ihn zu kümmern, ob sie zu Hause war oder nicht.

Ohne ein weiteres Wort ließ er sie in ihrer Küche zurück, griff sich den Stapel Zeitungen von der Kommode in der Diele und nahm ihn mit in den Salon. Eine zeitlang drangen noch gedämpfte Geräusche vom Hantieren mit Töpfen und Geschirr an sein Ohr, dann klappte die Küchentür zu und er hörte Agnes' Schritte, wie sie die Diele durchquerte, um ihr Appartement aufzusuchen. Erst jetzt begann er damit, sich die Zeitungen vorzunehmen. Das eine Blatt, das früher vor allem im Westteil gelesen worden war – und weiterhin gelesen wurde, da es in mancherlei Hinsicht nach wie vor Unterschiede zwischen den Gewohnheiten in den Stadthälften gab –, brachte auf der ersten Lokalseite gar nichts, und auf der zweiten musste er kurz suchen, bis er auf einen längeren Einspalter stieß. In Kreuzberg an der Schledestraße sei eine männliche Leiche aufgefunden worden, hieß es in kaum gefiltertem Polizeiberichtsjargon. Vieles deute auf Fremdverschulden hin, abschließende Erkenntnisse hinsichtlich der Todesursache lägen aber noch nicht vor. Bei dem Toten handele es sich laut den vorgefundenen Ausweisdokumenten um einen 22-jährigen polnischer Abkunft, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitze.

Kein Wort über die Frau, keine Erwähnung des Feuerzeugs, keine Rede von irgendwelchen Knöpfen, die am Tatort gefunden worden waren – Max konnte es kaum glauben. Wurde hier absichtlich etwas zurückgehalten, aus ermittlungstechnischen Gründen, wie es in solchen Fällen immer hieß? Oder waren die Leute bei der Zeitung einfach nur zu bequem gewesen, weiter nachzufragen oder hatten derlei Details nicht für interessant gehalten? Max hielt nicht allzu viel von Tageszeitungsjournalisten. Vor Jahren hatte er selbst eine Weile in dieser Branche gearbeitet, allerdings im Feuilleton, von wo aus man auf die anderen Ressorts ein bisschen herabzublicken pflegte. Doch diese Arbeit hatte ihn nicht befriedigt. Sein Freund Wieland, der als Verlagskaufmann über Beziehungen verfügte, hatte ihm seinerzeit zugeredet, sich doch endlich um eine sichere, gut bezahlte Position bei einer der Zeitungen in der Hauptstadt zu bemühen, was angesichts seiner Qualifikation kein Problem sein dürfe; immerhin konnte Max neben mehreren Jahren Berufserfahrung sogar einen Doktortitel vorweisen, was zunehmend eine Rolle spielte. Aber den Doktor verheimlichte er mehr oder minder konsequent, er bedeutete ihm nicht viel. Und die Vorstellung, in eine hierarchische Struktur eingebunden zu sein, schreckte ihn ab. Seit er mit Hanna verheiratet war, hatte sich dieses Thema ohnehin erledigt. Arbeiten, um Geld zu verdienen, musste er nicht mehr.

Er nahm sich die andere, im Osten erscheinende Zeitung vor, die schon zu DDR-Zeiten als „führende Hauptstadtzeitung“ gegolten hatte – ein fiktiver Titel, der inzwischen heiß umkämpft war –, und fand auf der ersten Lokalseite einen Zweispalter mit der Überschrift „Rätsel um toten Polen." Im Prinzip enthielt der Bericht auch keine anderen Informationen als das westliche Konkurrenzblatt, jedoch hatte sich der Redakteur wenigstens der Mühe unterzogen, den Polizeibericht umzuschreiben. Um dem Ganzen etwas mehr Farbe zu geben – und wohl auch, um die vom Layoutplaner vorgegebene Zeilenzahl zu erreichen –, hatte er darüber hinaus Spekulationen über beklagenswerte Formen der Ausländerfeindlichkeit sowie die zunehmende Ausbreitung von Gewalt und Verrohung in der Gesellschaft allgemein und in der Hauptstadt im besonderen angefügt. Der Artikel endete mit der vom Verfasser offenbar als besonders originell empfundenen rhetorischen Frage, ob denn ein Menschenleben heutzutage so wenig zähle, dass ein Toter stundenlang auf einem dunklen Gehweg liegen könne, bis er endlich gefunden werde.

Dieser Schluss wiederum erschien Max dann doch bemerkenswert, und so kurios er es fand, wie es dem Redakteur gelungen war, ein solch wichtiges Detail wie die Frage des Zeitraums zwischen Tat und Entdeckung auf eine derart ungeschickte, unpräzise Art und Weise zu präsentieren, so nachdenklich stimmte ihn die Sache selbst.

Es waren also bis zur Entdeckung des Toten offenkundig Stunden verstrichen nach seinem zweiten Aufenthalt am Tatort – seit er noch einmal zurückgekehrt war, um sein Feuerzeug zu suchen und festgestellt hatte, dass die Frau verschwunden war. Er ärgerte sich erneut, dass er nicht die Nervenstärke besessen hatte, den Boden noch einmal intensiv abzusuchen, sondern einfach davongelaufen war. Andererseits hatte er kaum ahnen können, dass so lange niemand vorbeikommen würde, zumindest niemand, der sich für den Leichnam des toten Polen interessierte. Womöglich war tatsächlich jemand vorbeigekommen, ohne sich aber weiter um den am Boden Liegenden zu kümmern, den er vielleicht für einen Betrunkenen hielt. Oder er hatte schlichtweg kein Interesse daran gehabt, sich irgendwelche Scherereien einzuhandeln und hatte deshalb darauf verzichtet, die Polizei zu informieren.

Genau wie ich selbst, dachte Max. Er hatte sich so verhalten, als sei es ganz selbstverständlich, einen Toten wie einen ausrangierten Gegenstand am Straßenrand liegen zu lassen, da ihm ja ohnehin nicht mehr zu helfen war. Nur um die Frau hatte er sich gekümmert, aber auch nicht eben so, wie es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. Er hatte nicht einmal den Mut aufgebracht, die Polizei und den Rettungsdienst anzurufen, um sicherzustellen, dass ihr geholfen wurde.

Dass die Frau es offenbar aus eigener Kraft geschafft hatte, den Ort des Geschehens zu verlassen, durfte er sich nun wahrhaftig nicht als Verdienst anrechnen. Der Schneid, den er bewiesen hatte, als er der Frau zur Hilfe gekommen war, wurde durch seine anschließende Kopflosigkeit, ja Feigheit völlig entwertet, sodass die vorläufige Bilanz seines Handelns deutlich im Minusbereich blieb. Ein Mensch war durch ihn zu Tode gekommen, daran gab es nichts zu beschönigen. Und wie immer sein mannhaftes Einschreiten, das dieses niederschmetternde Resultat verursacht hatte, juristisch zu gewichten sein mochte – wahrscheinlich so, dass er glimpflich davon käme –, so bedeutete es in der Konsequenz doch für ihn selbst eine regelrechte Katastrophe. Man würde sich von ihm abwenden, er würde fortan, wie es so hieß, als gesellschaftlich unmöglich gelten, als jemand, über den getuschelt werden würde, wenn nur der Name fiele. Und an Hannas Reaktion wollte er lieber gar nicht denken. Doch selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass seine Rolle in dieser Angelegenheit niemals ans Licht käme, einfach deswegen, weil es niemand für möglich hielt, dass ein Mann wie er in so etwas verwickelt sein könnte, so würde sein Leben nie mehr sein wie zuvor. Immer würde er mit diesem Bewusstsein leben müssen, dass er den Tod eines Menschen verursacht hatte, und das, ohne ganz genau zu wissen, was tatsächlich passiert war.

Er brauchte jetzt dringend etwas zu trinken. Er packte alle Zeitungen zusammen, die durchgesehenen wie die ungelesenen, und warf das ganze Bündel in die Altpapiertonne, die neben der Doppelgarage stand. Dabei streifte sein Blick Agnes' Auto, das wie immer auf dem plattierten Abstellplatz neben der anderen Garagenseite geparkt war, und er spürte wieder Ärger in sich aufsteigen. Schnell ging er ins Haus, mixte sich in der Küche einen dreistöckigen Wodka-Lemon mit Eis und versuchte, während er ihn noch im Stehen trank, seine Gedanken zu ordnen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, schüttete er sich sicherheitshalber ein zweites Glas ein, nahm es mit in den Salon, ließ sich in einen Sessel sinken und trank es in kleinen Schlucken aus.

Plötzlich fiel ihm ein, dass die Online-Ausgaben der Zeitungen vielleicht schon etwas Neues hatten. Er eilte in sein Zimmer und fuhr den Laptop hoch. Aber was er dort las, war identisch mit dem, was in den Printausgaben stand. Er zögerte, bevor er noch einen Blick in die Boulevardblätter warf, tat es dann aber doch und ärgerte sich sofort. Dort hatte man es nicht einmal nötig gefunden, angesichts der Ungeklärtheit der Ereignisse relativierende Formulierungen zu benutzen, sondern war sogleich zu dem reißerischen Schluss gelangt, dass hinter dieser Geschichte das organisierte Verbrechen stehen musste, die „osteuropäische Mafia."

Er schaltete den Computer in den Standby-Modus, und während er auf den sich schwärzenden Bildschirm starrte, fiel ihm etwas ein, das er bis dahin noch gar nicht bedacht hatte: Die Frau hatte es bisher offenbar nicht für notwendig gehalten, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Das war äußerst merkwürdig. Entweder maß sie der Sache zu wenig Bedeutung bei, was dann noch merkwürdiger wäre – oder es verhielt sich mit dieser Sache in Wirklichkeit ganz anders, als er bisher vermutete und sich aus seiner bruchstückhaften Erinnerung zusammenreimte. Vielleicht hatte er die nächtliche Situation völlig falsch eingeschätzt und die Frau war gar nicht von dem jungen Mann polnischer Abkunft überfallen worden. Nachts stellte sich vieles anders dar als bei Tag. Die Nacht konnte eine große Schwindlerin sein. Wieder klang ihm das Stakkato der Schritte jenes weglaufenden dritten Mannes im Ohr, dessen Rolle ihm nach wie vor rätselhaft war.

Nur zu gern hätte er mit jemandem über alles geredet. Ein Außenstehender hätte die Dinge gewiss mit klarerem Blick gesehen. Doch dass es diesen Außenstehenden nicht gab, war ebenso klar. „Ach, übrigens, ich habe momentan ein Problem. Ich bin da in eine dumme Sache hineingeraten. Jemand ist dabei zu Tode gekommen – nach Lage der Dinge muss ich davon ausgehen, dass ich ihn totgeschlagen habe. Ich möchte mal deine Meinung dazu hören." Die Vorstellung, einem seiner Bekannten gegenüber ein derartiges Bekenntnis abzulegen, war zu absurd, um dabei zu verweilen. Plötzlich musste er an Agnes denken, die ja auch aus Polen stammte, genau wie der Tote. Was sie wohl sagen würde, wenn sie erführe, dass ihr famoser Herr Ziegler einen ihrer Landsleute umgebracht hatte? Ob sie jemanden, der zufällig ebenfalls in Polen zur Welt gekommen war, überhaupt noch als Landsmann ansah, nachdem sie nun seit so vielen Jahren in Deutschland lebte und, zumindest soweit erkennbar, wenig Wert auf demonstrative Pflege ihrer Herkunftswurzeln legte?

Er musste unbedingt mit dieser Grübelei aufhören, die ihn in Lähmung und Lethargie zu ziehen drohte. Denn am schlimmsten war die Ungewissheit. Er musste unbedingt herausfinden, was tatsächlich geschehen war. Und der bisher einzige Ansatzpunkt war die Adresse, die in dem Streichholzheftchen stand, das er in der Tasche der Frau gefunden hatte. Es gab keinen anderen Weg, als mit dieser Person namens Modick zu reden, wer immer das sein mochte.

Nocturno

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