Читать книгу Die Kuh gräbt nicht nach Gold - Bernd Gunthers - Страница 4

Kapitel 1 – Samstag

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»Der sieht nicht gut aus, wirklich nicht. Irgendwie sehr tot«, meinte Milka und beugte sich gefährlich weit über den Bootsrand des Kanadiers. Es klang nicht nach Meinung, eher nach einer definitiven Feststellung.

»Wenn du dich samt Paddel weiter über den Süllrand hinauslehnst, liegen wir beide gleich neben ihm im Wasser«, mahnte Kriminalhauptkommissar Eichert eindringlich, angesichts der zunehmenden Schräglage des Kanus. »Milka, lass das, der treibt uns sonst weg!«

Dabei hatte der gestrige Tag, ein warmer, sonniger Sommerfreitag, vielversprechend begonnen. Paul Eichert hatte sich mit einer ominösen Andeutung für den Abend angesagt, und Milka Mayr fand am späten Nachmittag, nach Erledigung ihrer Pflichtaufgaben auf dem elterlichen Hofgut in Bühlerzell, tatsächlich eine Stunde Zeit, die sie hingebungsvoll ihrem restaurierten 1965er Käfer, 1200er Maschine, lackiert in L469 fontanagrau, widmete. Eigentlich gab es nichts mehr zu schrauben, allein die Kupplung bereitete einiges Kopfzerbrechen. Zum wiederholten Mal ging sie akribisch ihre Checkliste durch. Die Langenburg Historic Rallye stand kurz bevor – und ihre erstmalige Teilnahme. Das Nenngeld war bezahlt – ein Familiengeschenk zum 37. Geburtstag. Nur der Beifahrer blieb vorläufig offen. Oder die Beifahrerin. In einem kleinen Anfall emotionaler Annäherung hatte Milka vor zwei Wochen ihre Schwägerin Bettina angefragt. Dabei war ihr »Bergprüfung« herausgeflutscht. Ob nun absichtlich oder unabsichtlich, da wollte sie sich nicht festlegen. Jedenfalls winkte Bettina spontan ab, verwies mit ungewöhnlich blässlicher Gesichtsfarbe auf ihre bereits im Kindesalter erlittenen Schwindelanfälle auf dem Pferd im Karussell. Die Besetzung blieb also offen. Milka stellte am getriebeseitigen Ende den Kupplungszug nach, prüfte, und ließ nach einem letzten Blick die Haube ins Schloss fallen.

Zeit, ihrer Mutter Karin, mit 64 gerade mal ein Jahr jünger als ihr Mann Georg, in der Küche zu helfen. Es sollte Maultaschen und ihren traditionell schlotzigen Kartoffelsalat geben. Wie immer bereitete ihre Mutter die Maultaschen selbst zu, nur der Maultaschenteig war fertig gekauft. Und wie immer verscheuchte sie Milka mit einer kurzen Handbewegung aus ihrer Küche. Ihr Reich. Milka deckte den Tisch im Esszimmer, verzog sich dann in den großen Wohnraum und studierte den Prospekt einer Veranstaltung der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft.

Paul Eichert, seit mehreren Jahren schon Kriminalhauptkommissar in Schwäbisch Hall, kam nach leisem Klopfen ins Zimmer. »Dein Bruder Christoph hat mich reingelassen.« Milka schmunzelte, gab ihm einen Kuss. »Du bist hier doch beinahe zu Hause. Also, jetzt raus damit, was ist das Geheimnisvolles, das morgen passieren soll?« Paul strich über Milkas kurze schwarze Haare, entließ sie aus seiner Umarmung. Er öffnete die Sporttasche, die er zuvor auf der Bank des Kachelofens abgestellt hatte, und zog ein kleines Päckchen heraus.

Milkas gespannter Gesichtsausdruck wechselte zu Verblüffung. »Wie entzückend von dir, lieber Paul. Du schenkst mir ein Paar Socken?« Milka befühlte das Material. »Neoprensocken? Willst du mit mir unsere arten- und blütenreichen Feuchtwiesen an der Bühler erkunden?«

Der Kriminalhauptkommissar wusste Milkas Neckerei zu nehmen, fixierte ihre tiefblauen Augen. »Wir beide gehen morgen aufs Wasser.«

»Aufs Wasser?«, wiederholte Milka mit fragendem Blick. »Fehlt dir die Elbe oder die Alster? Heimweh?«

Paul grinste spitzbübisch. »Es geht auf die Jagst. Wir machen eine Fahrt mit einem Kanadier.«

»Führt die Jagst überhaupt genügend Wasser?«

»Jo!«

»Und kannst du überhaupt …«

»Jo, kann ich.«

»Was kannst du, bitte?«

»Ich hab in meiner Hamburger Zeit den Sportküstenschifferschein gemacht – und den Sportbootführerschein See.« Pauls Grinsen wurde breiter.

»Auf einem Kanu, ja? Das sind doch diese wackligen Dinger, die bereits kippen, wenn man an Bord geht.«

»Landratte! Bei einem Kanu geht man nicht an Bord.«

»Man entert, ja? Und Neoprensocken! Das kann doch nur bedeuten, dass du mich über Bord werfen willst.«

Milkas Bruder Christoph steckte den Kopf durch den Türspalt und beendete die Kabbelei: »In fünf Minuten gibt’s was zu essen.«

Pauls fragenden Blick richtig deutend, klärte Milka ihn auf: »Es gibt Herrgottsbscheißerle, selbst gemachte.«

Vor zwei Jahren hätte sich Paul Eichert stante pede nach Hamburg zurückgewünscht, inzwischen wusste er, dass es sich um Maultaschen handelte. Und dass zu früherer Zeit der Begriff Maultasche auch für Ohrfeige oder Backpfeife stand.

»Alles eingepackt?«, fragte Paul und deutete auf Milkas prall gefüllte Sporttasche, als er sie am frühen Samstagmorgen abholte. »Auch die Socken?«

»Dank deiner fürsorglichen Beratung am gestrigen Abend habe ich alles dabei. Wo steigen wir ein?«

»In Krautheim. Und dann geht es Jagst abwärts bis zum berühmten Kloster Schöntal, zur Besichtigung. Das sind knapp 16 Kilometer. Wir haben ein klitzekleines Wehr auf der Strecke, da müssen wir eventuell umtragen, je nach Wasserpegel.«

»Umtragen? Das ganze Boot? Wie bist du denn überhaupt auf diese Tour gekommen?«

»Erzähl ich dir später. Wir fahren jetzt erst mal los. Etwa eineinhalb Stunden hier von Bühlerzell aus. Über Vellberg und Künzelsau. Übrigens, wie kommt die Jagst eigentlich zu ihrem Namen?«

»Musste ich auch erst nachsehen. So gegen 770 ist sie als Teil des Gaunamens Jagesgouwe nachgewiesen, und 1024 als Jagas. Der Name ist wohl keltischen Ursprungs.«

»Hm, schon wieder die Kelten. Hast du nicht kürzlich erzählt, Professor Ebert würde irgendwo graben?«

»Heuneburg, in der Nähe von Sigmaringen. Und dieses Krautheim, bietet das was Besonderes?«

»Soll ein nettes mittelalterliches Stadtbild und eine sehenswerte Kirche aufweisen. Und, nicht zu vergessen, eine Burg, zu der es im Jahr 1516 Götz von Berlichingen zog. Der zündete im Tal unterhalb der mainzischen Stadt eine Scheune an, wollte damit den ihm verhassten erzbischöflichen Amtmann Max Stumpf herbeilocken. Der streckte aber nur den Kopf aus dem Burgfenster und schimpfte lautstark hinunter. Darauf sandte der Ritter mit der eisernen Hand seinen berühmten, wortgewaltigen Schwäbischen Gruss (»… er kann mich hinden lekhen«) hinauf zur Burg. Übrigens fand der Ritter im Kloster Schöntal seine letzte Ruhe.«

Milka beäugte misstrauisch die an der Einstiegsstelle, direkt hinter der Brücke Neue Straße, bereitstehenden Kanadier. »Paul, ich will den roten da, links.«

»Können Sie haben«, antwortete eine Stimme hinter ihr.

Milka drehte sich um.

»Alfred Hirsch, Grüß Gott. Sie sind Herr Eichert?« Der Mann, so um die 45, drahtig und bärtig, eine blaue Cap auf dem Kopf, Jeans und T-Shirt, schien es eilig zu haben. Paul Eichert konnte gerade mal mit dem Kopf nicken. »Sie kennen sich aus, ja? Jeder erhält ein Paddel und Schwimmweste. Im Boot ist eine wasserdichte Packtasche. Und die Paddel hätten wir auch gern wieder.« Er grinste. »Spätestens um 17 Uhr müsst ihr am Kloster Schöntal sein. Genügend Zeit für ein Picknick zwischendurch. So, und jetzt eine Einweisung.« Milkas weiterhin skeptischen Blick erkennend, fügte er an: »Junge Frau, die Jagst ist hier ganz brav. Sie haben überwiegend leichtes Wildwasser sowie Zahmwasser, also keine Bange.«

Milka hörte nur »Wildwasser« heraus.

»Übrigens haben wir ausreichenden Pegelstand, das Wehr ist also leicht fahrbar. So und jetzt zur Einweisung. Ein- und Ausstieg immer über Bug oder Heck. Wenn Sie seitlich einsteigen, kann es leicht kippen.« Milka hörte nur »kippen«. »Sie, Herr Eichert, sitzen hinten und steuern, ja?« Milka versuchte, sich zu konzentrieren, was bei der Fülle der Informationen nicht einfach war. »Und denkt bitte daran, wenn ihr herunterhängenden Zweigen ausweicht, nie beide nach rechts oder links beugen, immer nur nach vorn oder hinten.«

Erst ganz allmählich gelang es Milka, sich zu entspannen. Das Wasser floss ruhig, beinahe träge, und Paul gab seine Paddeltipps wie beiläufig und motivierend. Die Jagst machte einen leichten Bogen, Milka warf erste Blicke auf die Umgebung. Das uferbegleitende Gehölz zeigte sich streckenweise überraschend üppig: überkragende Weiden, deren Astwerk sich weit in die Jagst hinein beugte und sich zauberhaft im Wasser spiegelte, Bruchweiden mit dünnen Zweigen, große Sträucher der Mandelweiden, aufrechte, buschige Purpurweiden und hoch und gerade aufragende Schwarzerlen. Im Uferbereich Gräser, Schilf, gelbe Schwertlilien, Kalmus und Rohrglanzgras. Milka atmete tief ein. Das dünne Zweig­ende einer Weide streifte ihre Wange. »Schau mal da vorn, Paul, zwei Trauerschwäne.« Sie zuckte kurz, als ein Kanu in, wie sie meinte, gefährlich naher Distanz überholte.

Auf der Höhe von Gommersdorf verlief die Jagst in einer engen Flussschlinge. Hinter dem Ufergehölz erstreckte sich Grünland. Bei Marlach wies Paul auf eine große, steil aufragende Felswand am nach Süden gerichteten Talhang. Hier mündete der Sindelbach, trotz seiner geringen Wasserführung der längste linke Nebenfluss der Jagst.

Die Strömung wechselte im jetzt niedrigeren Wasser. An einer meterweit in den Fluss ragenden Flachstelle zeigten sich zarte Schaumkronen. Milka ignorierte das Wildwasser nonchalant, hielt kurz danach abrupt inne, als Paul durch sein Paddel dem Kanu eine ungewollte Richtungsänderung gab. »Was ist los, Milka? Eine Pause?«

»Hörst du diesen wild rauschenden Wasserfall da vorn?«

»Das ist kein Wasserfall, nur das kleine Wehr.«

»Wollen wir nicht lieber doch umtragen?« Milkas Skepsis klang merkbar durch, vibrierend.

»Das ist höchst gefährlich, da lauern …«

»Du lügst doch, was soll da gefährlich werden?«

»Vampire!«

»Bitte?«

»Das Mückenaufkommen ist an den Anlegestellen extrem hoch. Die Biester warten dort in Heerscharen auf verschwitzte Touris und frisches Blut. Die wissen genau, dass wir beim Tragen keine Hand frei haben, um sie tot zu klatschen.«

»Aber …« Das Rauschen des kleinen Wehrs übertönte ihren Einwand.

»Festhalten, es geht drüber!« Paul Eichert brachte das Kanu mit drei kräftigen Bewegungen des Paddels in Position, Milka, weit vorgebeugt, klammerte sich links und rechts am Süllrand fest und schrie. Laut.

Paul korrigierte die Richtung mit einem kleinen Paddelschlag. »War das ein Angstschrei?«

»Hm, nein, woher denn«, meinte Milka, wieder aufrecht sitzend, scheinbar relaxed und lächelnd nach hinten blickend. »Es war eine Mischung aus ich-mach-mir-Mut-Schrei und Jubelschrei – als wir drüber waren. Könnten wir gern wiederholen. Nur müssten wir dann das Kanu zurücktragen.« Pauls zurückhaltend süffisantes Lächeln bemerkend, sah Milka wieder nach vorn, stieß das Paddel ins jetzt ruhig fließende, schimmernde Wasser. Das sanfte Gleiten gab ihr Zeit, den Blick schweifen zu lassen. Über eine Badestelle, die momentan von einer Gruppe Jugendlicher bevölkert wurde, das Grünland, die Hanglagen der hügeligen Landschaft. Die Bäume gewährten traumhaft schöne Durchblicke. Ein ruhiges Wohlgefühl stellte sich ein. Milka begann, die Flussfahrt zu genießen. »Schau mal da vorn, Paul, links! Der Baum!«

»War wieder mal ein Biber am Werk. Das Jagsttal erfreut sich großer Beliebtheit bei den Nagern. Die spielen hier Landschaftsarchitekt und Holzfäller. Nicht jeder ist da hellauf begeistert, und …«

»Paul, ich meine weniger deinen Castor fiber, sondern das da, unter dem umgestürzten Baum. Ragt unter den Zweigen bis ins Wasser. Neben der überhängenden Weide. Irgendwas liegt da.«

»Ich seh da nichts. Pass auf die Richtung auf, bleib in Flussmitte … nein, rechts der Biegung folgen. Verd…, rechts.«

»Ich will da aber hin! Irgendwas ist da.«

Paul Eichert fügte sich widerwillig. Jeder weitere Disput wäre sinnlos. Er lenkte das Kanu vorsichtig näher. Die kleine Ausbuchtung am linken Ufer, das über eine längere Strecke von einer dichten, dunklen Waldfläche begleitet wurde, hatte so etwas wie einen kleinen Gumpen geformt. »Sieht aus wie ein Körper, ein totes Tier«, sagte der Kriminalhauptkommissar, als sie der Stelle näherkamen, und wollte die Sache damit abtun.

Milka widersprach. »Ein Mensch.« Nach zwei weiteren behutsamen Paddelschlägen: »Der sieht nicht gut aus, wirklich nicht. Irgendwie sehr tot«, meinte Milka und beugte sich gefährlich über den Bootsrand des Kanadiers. Es klang nicht nach Meinung, eher nach einer definitiven Feststellung.

»Wenn du dich samt Paddel weiter über den Süllrand hinauslehnst, liegen wir beide gleich neben ihm im Wasser«, mahnte Kriminalhauptkommissar Eichert eindringlich, angesichts der zunehmenden Schräglage des Kanus. »Milka, lass das, der treibt uns sonst weg! Hilf mir mal, wir müssen ein Stück zurück und anlegen.«

»Du willst jetzt nicht deinem Beruf nachgehen, oder? Das ist doch nicht dein Jagdrevier. Weißt du überhaupt, wo du bist?« Milka gelang es, ihrem ironischen Tonfall einen Hauch aufkommenden Ärger beizumischen.

»Auf der Jagst!« Paul gab sich kurz angebunden. »Wir sind hier kurz vor Bieringen«, fügte er erläuternd hinzu.

»Das sagt mir jetzt viel – außer, dass dieser Ort nicht zu deinem Verantwortungsbereich gehört, Herr Hauptkommissar«, meinte Milka.

»Wir legen dennoch an, hilf mal mit. Kurze Strecke zurück, da ist es flach.« Das konzertierte Anlegemanöver gelang im zweiten Anlauf.

»Jetzt konnte ich zumindest deine Neoprensocken testen. Schuhe nass, Füße trocken«, meinte Milka, als sie das Kanu glücklich ans Ufer gebracht hatten. Pauls Hosenbeine trieften.

Der Kommissar blickte auf sein Handy. »Unser Standort: Länge 9,5386, Breite 49,3393.«

»Danke. Das sagt jetzt wirklich alles.«

»Ein paar 100 Meter vor der Stelle, wo die Landstraße die Jagst quert«, sagte Paul, das Handy jetzt am Ohr. »Kripo in Künzelsau, die ist da zuständig, und …«, er unterbrach seinen Kommentar. »Herr Karle? … Ja, ich warte. Herr Karle? Wir sind hier auf der Jagst, kurz vor Bieringen. Nein, ich will Sie nicht zu einer Kanufahrt einladen. Wir haben hier einen Toten. … Ja doch. Sehr tot, soweit ich sehen kann. Ja, wohl ein Mann. Schlage vor, Sie kommen mit der Spurensicherung. Sanitäter? Nein bestimmt nicht, Tage zu spät. Ja, über die Brücke in Ortsmitte und dann gleich links, da müsste ein befahrbarer Weg in kurzer Distanz zum Ufer verlaufen. … Klar warte ich.«

Milka kramte in ihrer Tasche.

»Was machst du denn da?«

»Ich hab Durst. Und Hunger. Und Schöntal kann ich jetzt wohl abschreiben? Oder paddeln wir gleich weiter, wenn dein Kommissar kommt?«

Paul Eichert zuckte mit den Achseln und versuchte, das Wasser aus den Hosenbeinen zu wringen und sich mit dieser Aktivität einer Festlegung zu entziehen.

»Aha«, meinte Milka. Sie schnappte sich eine Wasserflasche und ihr Handy.

»Wo willst du hin?«

»Ein kleiner Spaziergang. Flussaufwärts. Ich gebe hier keine Totenwache. Der Tag dürfte wohl gelaufen sein.«

Paul unterdrückte seinen aufkommenden Ärger. Schließlich – da konnte er nichts für (manchmal dachte er auch im hanseatischen Idiom). Und sie wollte doch unbedingt die Stelle näher in Augenschein nehmen, nicht er. Mit seiner abschließenden Schuldzuweisung war Milka bereits hinter den ersten Bäumen verschwunden. Paul griff nach seinem Handy. »Wollte nur wissen, ob du hier ein Netz hast. Verirr dich nicht. Ja … nein. Vielleicht 20 Minuten, Milka. Nicht länger.«

Milka bewegte sich auf dem in geringem Abstand zum Fluss verlaufenden Weg, machte einzelne kurze Abstecher ans Ufer, das sich hier als wenig anlegefreundlich zeigte. Nicht allein wegen der Böschung. Auch der dichte Bewuchs mit den krautigen Brennnesseln störte. Ihr spontaner Ärger über den Abbruch der Kanufahrt wich einer insgeheimen Neugier. War der Mann – ihrer Meinung nach musste es ein Mann sein – gestolpert, gefallen? Konnte sich nicht mehr aufrichten? Der Kopf im Wasser – ertrunken, erstickt? Ein Unfall? Gar ein Mord? Die Überlegungen umschwirrten sie wie ein Mückenschwarm an der Badestelle. Nach zehn Minuten öffnete sich ein schmaler Zugang zum Ufer. Sie sollte jetzt umkehren. Nur ein letzter Blick auf den Fluss. Die Stelle bot sich an. Milka stoppte kurz vor der dünn bewachsenen Uferlinie abrupt, wenige Meter vor der Böschung, die hier einen guten Meter steil zum Wasser der Jagst abfiel. Sie sah sich um, rief. Niemand zu sehen, niemand gab Antwort. Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Sie richtete ihren Blick auf den Boden. Das Gras stand relativ hoch. Es gab nur eine einzige Spur: ihre eigene. Milka kehrte um, versuchte, exakt auf den eigenen Fußstapfen bis zum Weg zurück zu gehen, keine zusätzliche Spur zu verursachen.

Milka hatte das Kanu noch nicht erreicht, als schon die ersten Martinshörner von der gegenüberliegenden Straße zu hören waren. Ihr Fund am Ufer bewegte sie. Gab es irgendeine Beziehung zu dem Toten am Fluss? Sie legte die leere Wasserflasche ins Kanu, wechselte nach einem sichernden Rundblick ihr Polo und ging in Richtung des Fundortes. Drei Streifenwagen und ein Zivilfahrzeug blockierten den schmalen Weg. Vier Mann in Uniform sperrten einen weit gesteckten Bereich mit Flatterbändern ab. Ein blau besternter Polizeihauptmeister, ein Ende des Absperrbandes um einen Baum wickelnd, bedeutete Milka freundlich, aber bestimmt, weiterzugehen. Ich werde mich hier nicht vom Acker machen, sagte sich Milka in ihrer landwirtschaftlichen Sprache, und blieb stur stehen. Bevor der PHM, jede Freundlichkeit war von ihm abgefallen, handgreiflich werden konnte, kam Paul auf sie zu. Mit einem ebenfalls in Zivil gekleideten Mann etwa in ihrem Alter, schätzte Milka. Paul winkte dem pflichtbewussten PHM ab und stellte Kriminalhauptkommissar Oliver Karle vor. Irgendeine Story, die sich bestimmt nicht auf ihre Paddelleistung im Kanadier beschränkte, musste Paul seinem Kollegen bereits erzählt haben. Jedenfalls begrüßte er Milka nach einer raschen Musterung, als trage sie zumindest einen silbernen Stern. Sein Blick zeigte dabei ein leichtes Funkeln, das sich nur auf Milkas attraktives Erscheinungsbild beziehen konnte.

»Wir haben den engeren Tatort und die einzuhaltenden Pfade zur Fundstelle festgelegt. Werden gerade markiert«, informierte Karle in knappem Tonfall. Wir warten jetzt auf …« Er blickte über die Schulter. »Kommen gerade. Spurensicherung und Rechtsmediziner.«

Milka wunderte sich. Rechtsmediziner so schnell vor Ort? Aus Künzelsau? An einem Samstag? Sie musterte Karle. Er war etwa so groß wie sie selbst, durchtrainiert, kurzer dunkler Bürstenschnitt. Ihren Blick bemerkend, fuhr er sich mit der rechten Hand über die Frisur, als gäbe es da auch nur irgendetwas zu richten.

Drei Mann der Spurensicherung und ein Fotograf, alle bereits in Tatort-Schutzanzügen und Überschuhen, nahmen Karle in Beschlag und reichten nach einer kurzen Instruktion ihm und Paul Eichert zwei verpackte Einwegoveralls.

Paul fing Milkas fragenden Blick auf, interpretierte ihre Botschaft richtig und nahm sie beiseite. »Hab mit Karle gesprochen. Du musst da leider außen vor bleiben. Das ist seine Entscheidung.« Sein bedauernder Gesichtsausdruck konnte Milka allerdings nicht trösten. »Ich hab den Typ entdeckt. Du wärst doch glatt vorbei gerauscht, wenn ich nicht …«

»Milka, hier gilt nicht ›ich hab ihn zuerst gesehen, also gehört er mir‹. Und, wir haben nicht genügend Schutzanzüge. Und, je mehr herumtrampeln, umso größer die Gefahr einer …«

»Jaja.« Milka winkte mürrisch ab. »Hör schon auf mit deiner Aufzählung.«

»Bist du jetzt mucksch?«

»Nein, ich bin nicht ärgerlich.« Dennoch sah es ganz danach aus. »Und was mach’ ich jetzt? Soll ich hier rumstehen?«

Bevor Paul Eichert eine Antwort fand, eilte ein Mann in weißem Schutzanzug an ihnen vorbei, ihm auf dem Fuß folgte ein koffertragender zweiter, ebenfalls in weißem Einwegoverall, die Kopfhaube gab ein braun gebranntes Gesicht frei. Er nickte nach vorn: »Doktor Sven Rühle, Rechtsmedizin, Uni Heidelberg. Ich bin Peter Riegel. Nur Assi.« Er streifte Milka mit einem kurzen Blick, eilte weiter, vorbei an Karle, vorbei an Paul.

Der Hauptkommissar interpretierte Milkas Erstaunen richtig. »Wir holen die Rechtsmediziner aus Tübingen oder Heidelberg. Es war reiner Zufall, dass die beiden am gestrigen Abend für unseren ganzen Landkreis einen Vortrag gehalten haben. Sehr interessant übrigens. Haben sich in der Früh Langenburg angeschaut, und dann kam sein Notruf.« Er sah Paul schmunzelnd an. »Na ja, eine Wasserleiche wollte sich Doktor Rühle nicht entgehen lassen.«

Sie verbrachten eine gute Viertelstunde mit zunehmend mysteriösen Spekulationen über den Toten und Karles wiederholten Versuchen, auf scheinbar unverfängliche Weise Milkas Beziehung zu Hauptkommissar Eichert zu ermitteln. Ihre Antworten waren so glatt wie eine quicklebendige Bachforelle – nicht wirklich zu greifen. Karle, im Begriff, einen allerletzten Versuch zu starten, stoppte, als sich Peter Riegel näherte und ihnen winkend die Freigabe erteilte: »Sie dürfen jetzt.«

Milka wandte sich halblaut an Paul, startete erneut einen Versuch. »Du lässt mich jetzt wirklich hier stehen?« Paul schnitt eine Grimasse tiefsten Bedauerns, zuckte in einer hilflosen ich-kann-nicht-anders-Geste die Achseln und eilte dem Künzelsauer Kommissar nach.

Riegel streifte seine Kopfhaube nach hinten und zum Vorschein kam ein jugendlich-attraktives Gesicht. Er schüttelte seinen braunen Haarschopf zurecht und öffnete den Reißverschluss des Schutzanzugs. »Ganz schön heiß hier. Ich leiste Ihnen ein wenig Gesellschaft, Frau …«

»Mayr, Milka Mayr. Mayr mit Ypsilon.«

Riegels Augen blitzten bei dem Namen schelmisch, er unterließ jedoch jede anzügliche Bemerkung. »Sie wundern sich sicher, dass die Rechtsmedizin so schnell am Fundort war.«

»Nicht mehr«, klärte Milka ihn auf. »Kriminalhauptkommissar Karle hat mich informiert. Ich hab den Toten vom Wasser aus entdeckt.« Milkas Bericht war kurz und knapp.

»Ich gebe Ihnen mal einige Informationen«, sagte Riegel, der eher intuitiv Milkas Interesse an der Situation erkannte. »Der Tote liegt bereits längere Zeit an dieser Stelle. Bestimmt mehr als vier Tage.«

»Nicht ertrunken, vermute ich mal.«

»Soweit wir wissen, nein. Hätte natürlich ein Badetod sein können, und irgendjemand hat ihn dann rausgezogen.«

Milka nutzte die Gunst der Stunde und fragte nach.

»Ertrunken? Da gibt es einen klassischen Ablauf. Man hält beim Untertauchen zuerst die Luft an. Die einsetzende Anreicherung des Bluts mit Kohlendioxid führt dann zu einer zwanghaften Atmung. Wasser dringt in den Kehlkopf ein, löst einen Hustenreiz aus und führt dann mit weiterer Aspiration von Wasser zu starker Atemnot«, dozierte Riegel.

»Und dann ertrinkt der Mensch – mit dem eindringenden Wasser?«

Riegel nickte. »Da gibt es dann Erstickungskrämpfe, eine Schnappatmung und schließlich Atemstillstand.« Riegel holte Luft, sah in Richtung Ufer, der Blick zur Spurensicherung war aber von Bäumen versperrt. »Es kann aber auch unmittelbar zu einer Wassereinatmung kommen – bei schnell eintretender Bewusstlosigkeit, beispielsweise einem Infarkt.«

»Stimmt es eigentlich, dass alle Wasserleichen wieder nach oben kommen? Jetzt mal abgesehen von der Jagst, deren Wasser doch recht flach ist – zumindest im Sommer.«

»Wir kennen da den Spruch ›Die Wahrheit taucht immer auf – irgendwann‹. Wasserleichen, die nicht tiefer als 20 Meter liegen, tauchen nach einigen Tagen wieder auf, bleiben dann so zwei oder drei Tage an der Wasseroberfläche und sinken dann für immer wieder ab. Die Ursachen für das Auftauchen beschreibe ich Ihnen lieber nicht.« Herr Riegel rümpfte seine Nase.

»Und Sie sagen, bei unserem Toten war das nicht der Fall.«

»Bestimmt nicht. Mit abgehackten Händen geht man nicht ins Wasser. War übrigens wenig professionell gemacht, die reine Schlachterei.« Riegel schien Milkas heftiges Zucken nicht zu bemerken. »Der Mann ist bis zur Hüfte bekleidet, mit Jeans, deren Gürtel sich an einem Ast verfangen hat. Das hielt ihn fest. Der Oberkörper, der ab Brusthöhe im Wasser hängt, ist nackt. Keine Schuhe, keine Socken. Das Gesicht muss einen schweren Schlag erhalten haben. Der Kopf ist teilweise frei, wohl, weil der Wasserspiegel in den letzten Tagen leicht gesunken ist. Das alles, auch die Lage an diesem Baum, sieht so aus, als sei jemand beim Verbergen der Leiche gestört worden.«

Milka hatte sich wieder gefangen, biss kurz auf die Lippen, wollte abgebrühte Härte zeigen. »Die Verwesung hat bereits …?«

Riegel grinste, er betrachtete es wohl als kleine Vorlesung. »Die setzt bereits fünf Minuten nach dem Tod ein. Der menschliche Körper macht dann die letzte Metamorphose durch. Ein Wissenschaftler sagte einmal, der Mensch beginne sich selbst zu verdauen. Die Zellen lösen sich von innen nach außen auf. Erst wird das Gewebe flüssig, dann gasförmig.« Milka hielt sich anscheinend tapfer, jedenfalls sah Riegel keinen Anlass, seine Ausführungen zu beenden, schien aber neugierig zu werden. »Von der Kripo sind Sie wohl nicht, Frau Mayr? Andererseits, na ja, so ganz unbeleckt erscheinen Sie auch wieder nicht. Haben Sie denn, wie soll ich sagen, Erfahrung mit Mordfällen?«

»Ja, habe ich. Letztes Jahr. Ich konnte dabei Kommissar Eichert etwas helfen.« Milka zeigte einen ganz zarten Anflug von Lächeln.

»Klingt so, als wäre es mehr gewesen«, sagte Herr Riegel, mit einem Auge zwinkernd. »Warten Sie mal.«

Er war nach einer Minute vom Auto zurück, entfaltete nach einem kurzen Rundblick einen Schutzanzug. »Rein mit Ihnen, schnell.«

Plötzlich kamen Milka Bedenken. Klar, die Situation war höchst verlockend. Andererseits …

»Nun kommen Sie schon. Ich nehme das auf meine Kappe. Kapuze wäre wohl richtiger. Ziehen Sie die Haube über. Erkennt Sie niemand. Bleiben Sie immer an meiner Seite.«

Riegel bewegte sich in Richtung Fundort. Es war ein befremdliches, ein bizarres Bild, das sich ihnen bot. Einerseits die sanfte, reizvolle, beinahe liebliche Natur mit der leise murmelnden Jagst, sich im Uferbereich kräuselndes Wasser, das Grün der Wiese und eine idyllische Baumgruppe. Andererseits eine unwirklich erscheinende Szenerie. Der Tote, inzwischen vollständig aus dem Wasser gezogen, ein Fotograf, der seine Ausrüstung einpackte, der Rechtsmediziner auf den Knien, mit einer Lupe das Gesicht des Mannes absuchend und zugleich diktierend, fünf in Schutzanzüge Gekleidete. Einer, der Stimme nach konnte es Hauptkommissar Karle sein, schimpfte in Richtung Fluss, machte einem mit dem Handy fotografierenden Kanufahrer unmissverständlich klar, gefälligst zu verschwinden.

»Komplexe Geschichte«, flüsterte Riegel, der dicht bei Milka stehen blieb. »Einerseits haben wir den Körperteil, der an Land lag. Der bot verschiedenen Organismen sozusagen eine reich gedeckte Tafel.« Milka schauderte unter ihrem Schutzanzug ob der Wortwahl des Assistenten. »Da sind Bakterien, Insekten, Schmeißfliegen – das sind übrigens die schnellsten. Tja, und dann die Larven, die aus den Eiern schlüpfen. Die laben sich an der Substanz des Toten. Dann verlassen die Maden den Körper in Reih und Glied, folgen einer imaginären Linie nach Süden. Merken Sie übrigens den leichten Ammoniakgeruch? Das alles wurde hier gefördert durch die hohe Luftfeuchtigkeit am Wasser.«

»Das sind sicher keine Schauermärchen, Herr Riegel?« Trotz der Schwüle unter dem Anzug fröstelte Milka plötzlich.

»Ganz gewiss nicht. Manche Leicheninsekten sind für uns wie postmortale Totenuhren.« Riegel schüttelte den Kopf, die Bewegung eingeschränkt von der Kopfhaube. »Das Entwicklungsstadium, also Eier oder Larven, lässt auf die Liegezeit schließen. Nach dem, was ich gesehen habe, tippe ich auf etwa eine Woche Liegezeit. Ansonsten müssten bei den hohen Temperaturen bereits Anzeichen einer Skelettierung vorhanden sein. Da müssen wir aber ergänzend die Merkmale an den Körperteilen, die im Wasser lagen, hinzuziehen.« Milka versuchte, ihre Gefühlswelt durch kalte Schnoddrigkeit zu schützen. »Sie meinen, er wird angeknabbert?«

»Hm, ich kenne die Jagst und deren Besatz nicht. Aber wir finden da sicher Blutegel, Krebse, im Uferbereich möglicherweise …« Er brach ab, als Doktor Rühle mit eindringlicher Stimme seinen Namen rief.

Milka bewegte sich nicht von der Stelle, atmete tief durch, vermeinte, den Ammoniakgeruch wahrzunehmen, bemerkte, wie Pauls Blick über sie hinweg ging, als er, Karles Fingerzeig folgend, den Kopf drehte. Er sah Milka mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und tiefster Missbilligung an. Mit einem schelmischen Blinzeln wandte sich Milka ab, flüchtete gemessenen Schrittes Richtung Weg und streifte kurz davor den Schutzanzug ab. Zwei Polizisten lehnten gelangweilt an einem der Einsatzfahrzeuge. Mit einem knappen »Wird nicht mehr gebraucht« übergab sie ihnen den Schutzanzug und ging zurück bis zur Absperrung. Sie räumte Paul maximal fünf Minuten ein. Es wurden nur vier. Und er schien sich keineswegs beruhigt zu haben. Im Laufen schob er die Kapuze des Overalls nach hinten. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus mühsam unterdrücktem Zorn und verbissener Professionalität.

Bevor er seinen Unmut loswerden konnte, kam Milka ihm zuvor. »War das nicht reichlich übervorsichtig, dem Mann die Hände abzuhacken? Die Arme lagen doch im Wasser, da dürften dann beim Aufweichen der Haut kaum Fingerabdrücke mehr möglich sein, oder?«

»Der oder die Täter wollten wohl ganz sicher gehen. Sie konnten schließlich nicht wissen, wie schnell der Tote gefunden würde. Oder sie waren besonders schlau. Es gibt da neue Verfahren, die es erlauben, auch nach … Verdammt, warum erkläre ich dir das denn.« Milkas strahlendes Lächeln war einfach zu viel. Zumindest führte es zu einer gewissen Besänftigung. »Eigentlich sollte ich dir …«

»… die Leviten lesen, lieber Paul? Ich kann hier doch nicht auf Tourismus machen, während du auf Spurensuche gehst. Außerdem wurde ich eingeladen.«

»Von diesem jungen Assi etwa?«

Milka nickte, weiterhin strahlend. »Ja, netter Typ. Hat mir viel erklärt und …«

Paul unterbrach sie. »Still. Kein Wort weiter. Da kommt Karle.«

»Sie haben sich hoffentlich nicht gelangweilt, Frau Mayr.« Es klang beinahe fürsorglich, als würde 50 Meter weiter hinten die Welt in Ordnung sein, kein übel zugerichteter Toter hier liegen. »Die Spurensicherung ist eben eine langwierige Angelegenheit.«

»Aber nein, keineswegs.«

»Bitte?«

»Ich habe mich nicht gelangweilt. Wenn die Spurensicherung da fertig ist – ich hätte vielleicht etwas für sie.«

»Für mich?« Karle staunte, ratlos.

»Für Ihre Spurensicherung. Ich hab da was gefunden, das könnte …«

Paul, in der festen Überzeugung, es handle sich um das Umfeld am Fundort der Leiche, sandte Milka einen verzweifelten Blick zu.

»… von Interesse sein«, fuhr Milka unbeirrt fort, Pauls dezentes Kopfschütteln und Stirnrunzeln ignorierend.

»Soso. Und was?«

»Etwa 400 Meter flussaufwärts öffnet sich der Wald zum Ufer hin. Auf der kleinen Wiese liegen neben einem umgekippten Klappsessel eine Angel und ein Anglerkorb. Und Gummistiefel. Kein Angler weit und breit.«

»Hm.« Der Kommissar fand die Entdeckung nicht gerade weltbewegend. »Vielleicht musste er mal?« Karle grinste.

»Es roch nach verfaultem Fisch.« Milkas Kommentar veranlasste die beiden Kommissare zu einem kurzen Blickaustausch.

»Kommen Sie, da fahren wir hin.«

Milka deutete auf die gut erkennbare Spur, die sie in dem hohen Gras hinterlassen hatte. Hauptkommissar Karle ließ seinen Blick prüfend über die freie Uferstelle gleiten. »Sie sind dann da vorn herumgelaufen und haben sich umgeschaut?«

»Keineswegs. Ein paar Schritte nach vorn, haargenau auf dieser Spur wieder zurück.«

Der Kommissar zeigte sich einigermaßen verblüfft, griff nach seinem Handy und rief zwei Mitarbeiter der Spurensicherung. »Sie müssen wissen, Frau Mayr, Herr Riegel äußerte die Vermutung, der Tod könnte an anderer Stelle eingetreten sein – ein heftiger Schlag auf Gesicht und Schläfe.«

Milkas Augen glänzten, als Karle ihr nach Ankunft der Spurensicherung einen Schutzanzug bot. Beim Überziehen warf sie Paul einen Ätsch-Blick zu, gemildert durch ein spitzbübisches Grinsen.

Paul verschluckte seinen bissigen Kommentar, als er sah, wie Doktor Sven Rühle und sein Assistent, bis auf die Kapuzen bereits eingekleidet, einem Einsatzfahrzeug entstiegen. Peter Riegels verschwörerisches Zwinkern, als er an Milka vorbei eilte, entging ihm nicht. Milka stapfte hinterher, blieb auf der Spur und hielt in gebührendem Abstand zur Anglerausrüstung inne. Hier konnte sie nur stören. Das dachten wohl auch die beiden Hauptkommissare, die eine abwartende Beobachterposition einnahmen. Milka gesellte sich dazu.

»Die müssen Verdächtiges gefunden haben«, vermutete Kriminalhauptkommissar Karle angesichts der konzentrierten Aktionen. Er fand sich bestätigt, als gleich darauf der Fotograf mit seiner Ausrüstung erschien. »Sie haben eine hervorragende Beobachtungsgabe, Frau Mayr. Bin gespannt, was die herausfinden, und …« Er fummelte unter seinem Overall herum, als sein Handy plötzlich losheulte. Paul schreckte auf, Milka konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Statt eines gewöhnlichen Klingeltons war eine amerikanische Polizeisirene zu vernehmen. »Ja, ich höre … ja, okay. Die Adresse habt ihr bereits? Gebe ich weiter.«

Peter Riegel kam auf sie zu, streifte seine Kapuze ab und öffnete den Overall. »Kurzer Bericht: Wir haben Fußspuren von mindestens zwei verschiedenen Personen gefunden. Zu vermuten ist, dass eine davon wohl der Angler war. Dann …«

»Und das ist unser Toter«, unterbrach Karle.

»Mit großer Wahrscheinlichkeit. Dann gibt es Blutspuren. Auch hier nur eine Vermutung: Der Schlag auf Gesicht und Schläfe könnte hier, an dieser Stelle, erfolgt sein. Jedenfalls sind Blutspuren vorhanden. Ein DNA-Abgleich wird das klären.«

»Eine Blutmenge, die auf ein Abhacken der Hände an diesem Ort schließen lässt?«, warf Milka ein.

Riegel schüttelte den Kopf. »Definitiv nicht. Das muss am Fundort der Leiche erfolgt sein.« Der Assistent, das gewiss grausige Geschehen anscheinend ignorierend, lächelte Milka an. So, als hätte sie ihn gerade zu einem privaten Kerzenscheinsouper eingeladen. »Doktor Rühle meint, der Schlag auf den Kopf könnte bereits tödlich gewesen sein. Das wird sich bei der Obduktion erweisen.« Er richtete den Blick auf Karle, der nickte. »Ihr Opfer ist bereits auf dem Weg nach Heidelberg. Haben Sie so was wie eine Tatwaffe gefunden? Ich meine, für den Schlag, der dem Mann versetzt wurde?«

Riegel verneinte. »Wir haben hier alles abgesucht – außer …« Er blickte auf die träge dahinfließende Jagst.

»Sie meinen …«, setzte Karle an, stockte abrupt, als ihm der Rattenschwanz an Konsequenzen bewusst wurde.

»Tja, liegt an Ihnen. Wenn die Dichte der verwendeten Waffe größer als die Dichte von Wasser war, können Sie im Bereich der Wurfweite suchen. War die Dichte kleiner als ein Gramm je Kubikzentimeter, ist sie Ihnen weggeschwommen.«

Karle nahm es mit Humor. »Finden Sie das jetzt hilfreich?«

»Nicht wirklich. Reine Schulphysik.« Riegel hörte unvermittelt auf zu grinsen, als sich Doktor Rühle zu ihnen gesellte. »Wir sind jetzt hier durch. Unsere Hausaufgaben müssen wir am Institut erledigen. Und fragen Sie mich nicht, wann der Bericht kommt. Keine Ahnung, was alles zwischenzeitlich in Heidelberg auf meinem Seziertisch gelandet ist.«

»Wenigstens eine kleine, eine erste vorsichtige Einschätzung?« Karle wollte sich nicht so schnell abspeisen lassen.

Der Rechtsmediziner streifte seinen Overall ab und reichte ihn an Riegel weiter. »Das hat er Ihnen doch bestimmt schon erklärt. Also: Vor etwa einer Woche wurde der Mann an dieser Stelle mit einem stabartigen Gegenstand geschlagen. Ob der Schlag tödlich war? Hm, vermutlich. Wir werden sehen. Täter: eventuell eine Person, können auch zwei gewesen sein. Lässt sich aus den Spuren nicht klar erkennen. Einfach zu lange her.«

»Eine Woche?« Paul Eichert griff Riegels Andeutung auf.

»Plus ein oder zwei Tage. Werden wir ziemlich genau bestimmen können. Wir holen uns später die Wetterdaten.«

»Und nach dem Schlag wurde er zum Fundort geschafft?«

»Bei dem Gewicht des Mannes voraussichtlich mit einem Fahrzeug, ist immerhin ein halber Kilometer oder so«, sagte der Rechtsmediziner.

Oliver Karle nickte, als teile er die Einschätzung. »Dann könnten Blutspuren im Fahrzeug sein. Das Gesicht ist schließlich übel zugerichtet.«

»Da können Sie zuvor eine Plastiktüte drüber stülpen, damit nicht alles versaut wird. Aber theoretisch haben Sie recht.«

»Wie alt schätzen Sie denn das Opfer?«

»Schwer zu sagen«, Rühle zog die Augenbrauen hoch, »so um die 60, vielleicht knapp darunter. So. Das muss jetzt aber reichen. Wenn Sie noch etwas Wichtiges wissen wollen, fragen Sie Herrn Riegel.« Er blickte auf seinen Alukoffer. Sein Assistent verstand.

»Ich begleite Sie zum Auto«, meinte Karle. An Paul gewandt: »Bin gleich zurück.«

Peter Riegel nickte, lächelte Milka an und stapfte hinter seinem Chef her.

Paul Eichert sah für einen kurzen Moment den Kriminaltechnikern zu, die gerade ihre Utensilien verstauten. »Gehen wir, Milka?«

»Wohin?« Abgekoppelt von der Tatortanalyse und Spekulationen zum Geschehen, fehlte irgendwie der Plan. »Für Schöntal dürfte es jetzt zu spät sein.«

»Komm, wir gehen Karle nach.«

Der Künzelsauer Kommissar stand auf dem Weg und blickte dem Fahrzeug des Rechtsmediziners nach. »Ich nehme euch mit zum Kanu.«

»Und dann?«, fragte Milka trocken und blickte zwischen Karle und Paul hin und her.

Karle warf einen Blick auf das Display seines Handys. »Verdammt, schon spät. Ihr wollt bestimmt nicht weiter flussabwärts, Kloster Schöntal, oder? Ich rufe den Bootsverleiher an, der soll das Kanu abholen. Und euch nehme ich mit nach Krautheim zum Auto.«

Kommissar Karle und Paul schwiegen. Sie hängen anscheinend ihren eigenen Gedanken nach oder sind nach der nervenaufreibenden Aktion geistig entkräftet, dachte Milka. Sie fühlte sich selbst angegriffen, versuchte, Distanz zum Geschehen zu finden. Erst eine prickelnde, neugierige Anspannung zu Beginn ihrer Kanufahrt, das Wohlfühlen nach den ersten Kilometern in einer beruhigenden Natur. Und dann ein abrupter Schwenk, ein grausiger Fund, der an den Nerven zerrte und tief betroffen machte – obwohl sie persönlich nicht tangiert war. Es war das sich entfaltende innere Bild. Ein Mann, der geruhsam in einem Sessel am Flussufer sitzt, entspannt und geduldig auf den Biss eines Fisches wartend. Mit sich und der Welt zufrieden. Ruhig. Und dann, plötzlich, eine explosive Aktion. Womöglich ein kurzes, täuschend harmloses Gespräch über das Angeln an der Jagst, bei dem er den Kopf nach oben wendet und etwas über Elritzen oder Flusskrebse oder seinen Fang erzählt. Aus dem Nichts ein heftiger, brutaler Schlag auf Kopf und Gesicht, der Schmerz. Stille. Nichts mehr. Einfach so. Vorbei.

»Milka?«

Sie schreckte hoch. »Ja?«

»Kommissar Karle schlug gerade vor, hier in Krautheim in der Gaststätte zum Rad eine Kleinigkeit zu essen. Ist das okay für dich?«

»Ja sicher.« Im gleichen Moment bereute sie ihre Zusage. Eigentlich verspürte sie keinen Hunger und eine sicher belebte, laute Gasthausstube widersprach eigentlich ihrem momentanen Gemütszustand. Andererseits fehlte ihr die Energie, sich zu weigern und damit eine Diskussion auszulösen.

Milka atmete erleichtert auf, als sie das Lokal betraten. Nur an zwei Tischen saßen Gäste. Sie wählten einen entfernten Ecktisch.

Milkas Versuch, jedwede Nahrungsaufnahme zu verweigern und nur eine Apfelsaftschorle zu trinken, wurde von Hauptkommissar Karle entschieden abgeblockt – mit dem Hinweis, dies sei seine Einladung, sein Revier, und überhaupt. Schließlich musste sie seiner Empfehlung zu Kalbsbäckchen in Rahmsoße mit Spätzle und Salat Folge leisten. »Einen Seniorenteller«, rief sie der Wirtin nach, eingedenk ihrer Appetitlosigkeit.

»So äbbes hem’r ned«, kam es zurück, »s’isch ned so arg viel.«

Milka war froh, dass sich das Gespräch um, aus ihrer Sicht, eher belanglose Inhalte drehte. Die Konsequenzen der Polizeireform, neue Analysemethoden, die Kriminalstatistik im Landkreis. Für Milka war es nur ein Hintergrundrauschen, und so konnte sie ihren eigenen Gedanken nachhängen, bis die Wirtin das Essen auftrug. Zu ihrer eigenen Verwunderung entwickelte sie nach den ersten Bissen einen gesunden Appetit, es schmeckte auch zu gut. Als Karle dann doch auf den Mord zu sprechen kam, hatte Milka gerade ihren leer gegessenen Teller beiseitegeschoben und eine zweite Schorle bestellt.

»Die Tat soll ja vor gut einer Woche begangen worden sein. Mich wundert, dass in diesem Zeitraum keine Vermisstenmeldung auf unseren Tisch kam.«

»Viele Möglichkeiten«, meinte Paul Eichert. »Kann sein, er kommt von außerhalb, macht Urlaub, ist alleinstehend.«

»Muss er nicht eine Erlaubnis zum Angeln haben?«, warf Milka ein. »Ihre Leute könnten beim Hohenloher Fischereiverein nachfragen.«

»Ja, die Idee kam mir auch. Wenn er eine Gastkarte hat, dann wäre das wahrscheinlich ein Volltreffer. Ist er Mitglied, dann wird es schon schwieriger. Unsere IT-Spezialisten müssen mal zusehen, ob sie eine der Aufnahmen so bearbeiten können, dass ein halbwegs erkennbares Gesicht entsteht. Das Foto der Leiche kann ich unmöglich herumreichen.«

»Dem Anglerkorb konnten Sie nichts entnehmen, kein Handy, kein …?«

»Nichts«, sagte Karle in Milkas Satz hinein. »Kein Angelschein, kein Ausweis, kein Ring, keine Uhr – na ja, wir wissen, warum. Keine Geldbörse, kein Autoschlüssel. Absolut nichts, was irgendwie einen Hinweis auf die Identität des Toten geben könnte.«

»Also war jemand sehr gründlich«, folgerte Paul Eichert. »Unter der Annahme, dass ein Angler nicht in Gummistiefeln, Angelausrüstung und Klappstuhl Bus fährt, muss jemand sein Auto genommen haben.«

»Muss nicht, spricht aber einiges dafür.«

»Vielleicht sollten Sie doch die Jagst absuchen lassen.« Paul Eichert brachte den Vorschlag eher beiläufig, ins Off gesprochen vor.

Karle grinste. »Wollte diesem jungen Riegel nicht das Wort reden. Die Suche ist bereits veranlasst. Wir werden den Wald entlang des Weges absuchen und zwei Taucher in die Jagst schicken. Glaube zwar nicht, dass wir was finden, dran vorbei kommen wir aber nicht.«

»Irgendwie«, sagte Kriminalhauptkommissar Karle, als er Milkas Sporttasche in Paul Eicherts Auto umlud, »gefällt mir die Sache ganz und gar nicht.«

Paul hörte mit. »Ja? Ich ahne, was Sie meinen.«

Karle nickte. »Sie denken so wie ich. Das ist kein einfacher Mord. Hast du die feste Absicht, eine Person umzubringen, dann gehst du hin, haust ihr mit einem harten Gegenstand eins über die Rübe. Und wenn notwendig, dann eben nochmal. Aber du säbelst keine Hände ab, entfernst nicht alle Hinweise auf ihre Identität, versuchst nicht, sie zu verbergen, damit sie nicht so schnell gefunden wird, und fährst dann kaltblütig mit dem Wagen des Opfers weg. Nein und nochmals nein. Das wird uns länger beschäftigen, fürchte ich.«

Euch in Künzelsau, dachte Milka. Nicht Paul, und schon gar nicht mich.

Sie sollte sich irren.

Die Kuh gräbt nicht nach Gold

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