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Kapitel 2 – Sonntag

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Milkas Nacht war kurz. Ihr Bruder Christoph hatte sie am gestrigen Abend wegen einer anscheinend unaufschiebbaren Ersatzinvestition in Beschlag genommen. Es gab zwar keine schriftliche Festlegung, aber eine gewachsene Verantwortung. Milka war für Marketing, Vertrieb und für Buchführung und Finanzen zuständig. Jedenfalls bedurfte der neue Trecker ihrer Zustimmung. Die Diskussion entzündete sich an den Sonderausstattungen, die den vorgesehenen Finanzierungsrahmen sprengten. Wie immer wurde es ein Kompromiss, der mit den beiden Kooperationspartnern und Mitnutzern abzustimmen war. Und wie immer dauerte es lang, trotz des guten Verhältnisses zwischen Bruder und Schwester. Und dann hatte es Ewigkeiten gedauert, bis sie einschlafen konnte. Es gab da etwas, das ihr am Tatort aufgefallen war. Etwas, das nur für einen winzigen Augenblick in ihr Blickfeld geraten war. Oder, sie zweifelte, hatte sie sich das nur eingebildet? Sie haderte mit ihrem Gedächtnis.

Wie üblich meldete sich ihr innerer Wecker kurz vor 6 Uhr. Milka blieb liegen, ging in Gedanken ihr Meeting mit Beate Balzer, zuständig für den Hofladen, und den Brüdern Lukas und Tim Holl vom benachbarten Betrieb durch.

Sie kam später als sonst zum Frühstück. Bettina, ihre Schwägerin, redete gerade auf ihre beiden Kinder Jonas und Laura ein. Es ging um eine Theaterprobe, die ausgerechnet heute Vormittag stattfinden sollte. Ihr Vater Georg, 65 Jahre alt, war bereits irgendwo auf dem Hofgut unterwegs. Christoph blickte von der Zeitung auf. »Kaffee?«

»Und ob. Steht was Wichtiges in der Zeitung?« Sie griff nach dem Bauernbrot und der Butter.

»Wir werden wieder mal aufs Korn genommen. Ein Rundumschlag von A wie Antibiotika über G wie Gülle bis Z wie Zerstörung der Insektenwelt. Von den Bienen ganz zu schweigen. Die Wunschliste an uns ist riesengroß. Ach was, Wunschliste. Es sind alles Forderungen. Dabei mussten in den vergangenen zehn Jahren mehr als 100.000 Höfe aufgeben.«

»Das hatte nicht nur wirtschaftliche Gründe, Christoph«, warf Milka kauend ein.

»Stimmt ja. Aber trotzdem.«

Bettina bugsierte ihre Kinder zur Tür, die zwölfjährige Laura, riss sich wieder los. »Ich hab morgen meine erste Reitstunde. Kommst du dazu?«, flüsterte sie Milka ins Ohr. »Bitte!«

Milka nickte. »Bei den Paludis?«

»Ja. Britta macht das. Danke.« Sie eilte zur Tür. »Um 14 Uhr!«

Milka wechselte von ihrem kleinen Büro zum Hofladen, der sich seit der Neugestaltung im Vorjahr immer besser entwickelte. Abgelehnt hatte sie bislang allerdings, zusätzlich auch einen Bio-Lieferservice anzubieten. Nachdem aber viele Stammkunden nachfragten und es ihr gelungen war, mehrere Heime und Firmenkantinen als Abnehmer zu gewinnen, änderte sie langsam ihre Meinung.

Lukas und Tim Holl, deren benachbarter Hof zu ihrem kleinen Kooperationsverbund gehörte, saßen bereits mit Beate Balzer, der Leiterin des Hofladens, am großen Tisch vor der Theke.

Milka stellte das Konzept vor, unterbreitete Vorschläge für die Hinzunahme von Waren aus fremder Produktion, um das Angebotssortiment auf eine breitere Basis zu stellen. »Eines muss klar sein«, betonte Milka, »die Produkte aus unserer Kooperation müssen überwiegen. Und das, was wir dazu nehmen, muss ausnahmslos unseren Bio-Anforderungen entsprechen.« Allgemeines Nicken. »Und wir dürfen uns nicht verzetteln.«

Tim Holl demonstrierte eine Vorversion der Internetseite, auf der die Kunden ihre Warenbestellung vornehmen sollten. Die Diskussion übersprang die Funktionen, entzündete sich an der grafischen Darstellung und den Bildern. Bis Tim laut wurde: »Diese Fotos, das sind doch nur Platzhalter. Ihr müsst aber endlich eine Lösung für die Auslieferung finden. Die sollten nicht wir übernehmen.«

»Und für eine personelle Unterstützung, wenn der Lieferservice ins Laufen kommt«, ergänzte Beate Balzer.

Milka drehte sich um, als sie das »Guten Morgen« einer bekannten Stimme in ihrem Rücken hörte. Angesichts der Präsenz von Beate Balzer und den Holls fiel Pauls Begrüßung vornehm zurückhaltend aus. Er wies in Richtung des Eingangs. »Ihr habt da draußen vor dem Hofladen freilaufende Hühner und sogar einen kleinen Stall mit Leiter, bringt denn …«

»Den hat Christoph zusammen mit Laura und Jonas gebastelt«, erklärte Milka.

»Was ich wissen wollte: Bringt das überhaupt was für euren Laden? Die Fläche ist doch ziemlich klein.«

»Aber mit Baum und Sträuchern. Die Anlage ist eher für Kinder gedacht, die mit ihren Eltern zum Einkaufen kommen. Die haben dann was zum Gucken. Und einen Hahn haben wir auch.«

»Hab ich gesehen. Der beschützt dann die Hennen, wenn der Fuchs kommt, ja?« Paul grinste.

Milka und Beate konnten ein Kichern nicht unterdrücken. »Wenn ein Fuchs kommt, ist der Hahn in Regel der Erste, der Fersengeld gibt und sich über die Hühnerleiter verdrückt. Ist schließlich kein Hocco, kein Buschhahn«, erklärte Milka.

»Ist nicht wahr. Kann nicht sein.«

»Doch. Wie im richtigen Leben.«

Paul grinste breiter. Er kannte Milkas manchmal spitze Ironie und wechselte das Thema. »Und die braunen Hühner legen die braunen Eier, die weißen die weißen Eier?«

»Nix da. Die Schalenfarbe hat mit der Farbe der Federn nichts zu tun. Hängt von den Genen ab. Meist ist es so: Hat die Henne rote Ohrscheiben, so legt sie braune Eier. Hat sie weiße Ohrscheiben, dann meist weiße. Können wir jetzt das Thema wechseln?«

Paul nickte zustimmend. »Gern. Hab ich eure Besprechung unterbrochen?«

»Nein. Wir sind mehr oder weniger durch. Setz dich dazu. Ein Kaffee?«

Paul ging mit Frau Balzer zum Kaffeeautomaten hinter der Theke. »Habt ihr heute die Zeitung gelesen?« Paul balancierte den Becher mit Cappuccino zurück zum Tisch.

»Allerdings«, sagte Milka, »wir werden wieder mal als die großen CO2-Sünder gebrandmarkt.«

»Na ja, eure Trecker und Maschinen, die …«

»Die, lieber Paul, werden statistisch im Energiesektor verbucht. Ackerbau und Viehzucht machen gerade acht Prozent des Treibhausgasausstoßes, und …«

»Das ist doch schon erheblich.«

»… und Haushalte etwa zehn und der Verkehr weitaus mehr, um die 18 Prozent«, schaltete sich Lukas Holl ein. »Das Thema beschäftigt uns ja, sehr sogar, Herr Eichert. Wir bringen weniger Dünger auf die Felder, nutzen demnächst in unserem Dreierverbund die Gülle zur Energieproduktion, stoppen die Umwandlung von Grünflächen in Ackerland. Was uns nicht gefällt, ist, dass alles auf Verzichtsstrategien hinausläuft.«

Milka lächelte leise und beobachtete die Diskussion, in die sich nun auch Beate Balzer einbrachte. »Wenn die Verbraucher ihren Hamburger oder ihr Steak wollen, können wir nicht einfach die Tierhaltung stoppen. Sonst kaufen die eben Importware, und wir fahren die Betriebe gegen die Wand. Wir sind ja dabei, stärker auf Obst und auf Gemüse umzustellen. Ein Butterverzicht allein wird unser Klima nicht retten und uns auch nicht.« Frau Balzer redete sich in Rage, holte tief Luft.

Milka nutzte die kleine Pause. »Wir verkennen gar nicht, dass Methan und Lachgas weitaus schädlicher sind als CO2. Deshalb sind wir auch dran, mit Maßnahmen auf breiter Front. Was mich persönlich ärgert, das ist eine gewisse, beinahe blinde Fokussierung auf bestimmte Hassobjekte. Mal sind pauschal alle SUVs die Umweltsünder, die verteufelt werden, mal der Diesel und morgen wieder etwas anderes. Die Diskussionen hängen sich pauschal an einzelnen Dingen oder Objekten auf, ohne wirkliche Differenzierung.«

Tim Holl setzte seine Cola ab. Kaffee war nicht sein Ding. »Eigentlich müssten wir dann unseren Canis sofort einschläfern lassen.«

Paul erinnerte sich. »Euren Schäferhund? Warum das? Und was hat das jetzt mit …«

»Hat es.« Tim grinste. »Hab gerade ein Buch darüber gelesen. Der Titel lautet: ›Time to eat the dog?‹«

Paul schüttelte nur den Kopf und wunderte sich über Milkas helles Lachen. Sie kannte die Story.

»Zu Deutsch: Ist es an der Zeit, den Hund zu essen?«, übersetzte Tim vorsorglich. »Anscheinend wird momentan für alles und jedes das Treibhausgas berechnet. In der Schweiz titelte eine Zeitung: ›Lumpi ist ein Sauhund‹. Jedenfalls soll die Haltung eines Hundes einer jährlichen Umweltbelastung von 1.400 Fahrkilometern mit dem Auto entsprechen. Die Katze kommt etwas besser weg. Das Pferd schlechter, da sind es 21.500 Kilometer.«

Paul schmunzelte. »Eines ist mal sicher. Wenn nach dem Butter- ein Hunde- und Katzenverbot kommt, dann bleibt in dieser Republik nichts mehr so, wie es war.«

»Kommt nicht durch, wäre auch zu kurz gesprungen«, meinte Milka. »Kein Hund, kein Spaziergang mehr an der frischen Luft, zu wenig Bewegung, kein Ansprechpartner zu Hause. Dann füllen sich die Wartezimmer bei den Ärzten bis zum Bersten. Man muss die Dinge einfach zu Ende denken.«

»Du hast heute frei?«, wollte Milka wissen, als sie zu zweit im Kaminzimmer saßen.

Paul nickte. »Du hast den gestrigen Tag überstanden?«

»Das Geschehen ging mir nach. Die halbe Nacht. Hast du was von deinem Kollegen gehört, diesem Karle?«

»Nein, nichts gehört, und das ist auch gut so. Hast du etwas vor? Mit mir?«

Milka zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, stand auf, gab Paul einen Kuss, schenkte Apfelsaft nach, ging zum Fenster und sah auf den Hof hinaus.

»Also was?«

»Also gut. Demnächst ist diese Langenburg Historic Rallye. Hab ich dir erzählt.«

»Ist mir bekannt. Und …« Paul stand auf, ging zum Fenster, hob sacht Milkas leicht geneigten Kopf an, blickte ihr in die Augen. »Und? Nun red schon.«

»Und? Ich suche weiter nach einem Beifahrer. Hättest du … ich meine, kannst du dir vorstellen …« Milka verstärkte ihr Lächeln.

Paul lächelte zurück. »Dein Bruder? Nein? Dieser Deiniger, der dir stets die Tipps für deinen Käfer gibt, nein? Und dein Professor, der könnte doch …«

»Paul, bitte. Der drückt doch das Bodenblech schon durch, wenn ich langsam an eine rote Ampel rolle. Du nimmst mich nicht …«

»Also gut. Zusage. Das geht über drei Tage, ja?«

»Und würdest du heute mit mir einmal die Bergstrecke fahren? Vom Startort bis hoch nach Langenburg?«

Paul akzeptierte. »Du hast deinen Oldtimer bereits vor die Scheune gestellt. Du wusstest, dass ich zusage, ja?«

Milka öffnete die Beifahrertür, sah zu, wie Paul mit skeptisch prüfendem Blick einmal um das Fahrzeug schlich und sich dann in den schmalen Sitz des 64er Käfers fädelte. »Du bist sicher, das Teil bringt uns bis nach Langenburg?« Er bewunderte den makellosen Zustand des lackierten Armaturenbretts, das zerbrechlich wirkende Zweispeichenlenkrad, den hoch aufragenden Ganghebel, drückte eine der fünf Tasten des Radios, öffnete das Handschuhfach.

»Ist deine Kontrolle damit zur vollen Zufriedenheit abgeschlossen, lieber Paul?«

»Dein Radio tut nicht.«

»Puh. Erstens ist die Zündung nicht an, und zweitens fehlt die Verbindung zur Antenne. Aber keine Sorge: Alles vom TÜV abgenommen. Einschließlich der Sicherheitsgurte.«

»Wunderte mich bereits, dass es welche gibt.«

»Die waren nicht serienmäßig. VW hat aber seit dem Jahr 1961 Verankerungspunkte eingebaut. Also hab ich nachgerüstet.«

Der Boxermotor sprang willig an, äußerte ein vernehmliches Brabbeln, das auch im Innenraum gut zu hören war. Milka fuhr los.

Es dauerte immerhin gute 20 Kilometer, bis Paul Eichert anfing, sich zu entspannen und nach den technischen Daten fragte.

»116 Stundenkilometer Spitze und in 32 Sekunden von null auf 100«, gab Milka bereitwillig Auskunft.

»Und damit willst du ein Bergrennen fahren? Gegen Porsche, Maserati und Co.?« Pauls Stimme klang eher belustigt als erstaunt.

»Das ist eine GLP, eine Berggleichmäßigkeitsprüfung. Es ist nicht so, dass der Schnellste gewinnt. Du hast zwei Trainingsläufe und dann zwei möglichst zeitgleich zu fahrende Wertungsläufe.«

»Und jetzt willst du mit mir einen Testlauf machen?«

»Aber nein, das ist eigentlich untersagt. Ich fahr einfach mal die Strecke bis hoch zum Schloss, und du schaust halt aus Versehen auf die Uhr, ja?«

Paul gab sich geschlagen, genoss die abwechslungsreiche Landschaft und schielte ab und zu verstohlen zu Milka hinüber, die konzentriert und umsichtig fuhr.

»Ab da vorn, Paul, ab der Brücke bitte Zeit nehmen.«

»Bist du jetzt zufrieden, Milka?«

Nach dem obligatorischen Besuch des Deutschen Automuseums im Schloss Langenburg saßen sie unter einem riesigen gelben Sonnenschirm auf der Terrasse des Schlosscafés bei einem bunten Sommersalat mit Frischkäsetasche für Milka. Mit einem herrlichen Blick hinunter ins sattgrüne Jagsttal, zum kleinen Ort Bächlingen und auf die Orangerie und den weitläufigen Barockgarten. Paul, im Status eines Junggesellen, benötigte eine deftigere Stärkung, obwohl er in letzter Zeit häufig Kostgänger bei den Mayrs war. Und das nicht nur, weil es dort gut schmeckte. Er bestellte einen Schwäbischen Zwiebelrostbraten mit Spätzle und Salat.

»Hast du von diesen Gerichtsmedizinern aus Heidelberg etwas gehört? Irgendeine Information zu dem Toten?«

Paul gab etwas Zucker in seinen Espresso, verneinte. »Habe ich auch nicht erwartet. Karle ist ihr Ansprechpartner.« Paul streckte sich und korrigierte den Sitz seiner Sonnenbrille. »Warum fragst du?« Nicht, dass er es wirklich wissen wollte. Es war eher eine belanglose Floskel. Ein externer Fall, nicht seine Zuständigkeit.

»Mir ist da was eingefallen.«

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis der Kriminalhauptkommissar Milkas Antwort inhaltlich registrierte. »Du meinst jetzt nicht …«

»Doch.«

Paul räumte sich erneut Bedenkzeit ein, bevor er nachfragte. Nicht gerade unwirsch, aber doch so, als würde er das Thema am liebsten über die Brüstungsmauer ins Tal kippen. »Und was?«

Milka ignorierte seine Unwilligkeit. »Stell dir mal vor, dieser Angler sitzt da, in der sengenden Sonne. Und wartet. Wartet darauf, dass ein Fisch beißt. Es ist heiß. Richtig heiß.«

»Milka, bitte!«

»Er bekommt Durst. Richtigen Durst. Was macht er?«

»Er trinkt, verflixt auch. Was ist da …«

»Habt ihr was gefunden? Eine Flasche, eine Milchtüte, irgendwas?«

»Den Angler möcht’ ich sehen, der in der Sommerhitze eine Tüte Milch neben sich stehen hat. Hm. Aber du hast recht. Es wurde alles abgesucht. Und in seinem Anglerkorb war auch nichts. Vielleicht hat er Jagstwasser geschöpft.«

»Da hätte er springen müssen. Was machst du, wenn du beispielsweise ein Bier kalt oder zumindest kühl halten willst? Du bindest die Flasche fest und hängst sie ins Wasser.«

Pauls Kombinationsgabe erwachte zu neuem Leben. »Da er bereits mehrere Fische gefangen hatte, könnte man vermuten, dass nicht mehr viel in der Flasche war. Aber, vielleicht, seine Fingerabdrücke drauf.«

»Wir fahren jetzt da hin und sehen nach.«

»Nix da. Ich ruf Karle an, der soll jemanden vorbeischicken.«

»Nein. Wenn dann nichts ist, stehe ich da wie ein Idiot. Wenn du nicht mit willst, bitte. Dann hol ich dich hier wieder ab.« Milka stampfte zur Bekräftigung mit dem linken Fuß auf.

»Liebe Milka, manchmal bist du schon …«

»Was bin ich, Paul? Sag’s schon. Nur Mut.«

»… so stur, na ja, so störrisch, wie ein Esel.«

»Eselin. Esel sind nicht stur, sie geben dem Menschen nur die Chance, seine Fehler zu erkennen.« Paul gab sich geschlagen.

Nun war Milka nicht einfach nur stur. Nicht im Sinn von bockig. Und nicht, dass sie neben ihrer Meinung keine andere duldete. Rechthaberisch war sie ganz und gar nicht. Milka nahm sich aber Zeit, analysierte, wog ab, versuchte, die Dinge zu drehen, sie aus anderen Winkeln zu betrachten. Hatte sie sich eine Meinung gebildet, ein Ziel vor Augen, bedurfte es überzeugender Argumente, sie umzustimmen. Andererseits ließ Milka auch Raum für Empfindungen. Sie schloss Gefühle nicht aus. Am wenigsten die Gefühle für ihre Familie, die Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Ihr war bewusst, dass rationale Argumente allein nicht überzeugen konnten. Meist jedenfalls.

Und selbstverständlich wusste das alles auch Paul Eichert. Manchmal war es zwischen ihm und Milka eine Art Spiel. Zu sehen, zu hören, wie der andere argumentierte, antwortete.

Milkas Vertrauen in ihren Käfer war am Wachsen. Dass es sich jetzt um die Jungfernfahrt handelte, das hatte sie Paul vorsichtshalber verschwiegen. Mit einem beherzten Tritt aufs Gaspedal nahm sie Anlauf, um den Anstieg zur nächsten Ortschaft zu nehmen. Als sie sich Künzelsau näherten, unternahm Paul den erneuten Versuch eines Abbruchs ihres Vorhabens mit bürokratischem Hinweis auf die Zuständigkeit der lokalen Kripo und einer kritischen Anmerkung zum Tankinhalt des Käfers. Milka blockte das durchsichtige Argument ab. In Bieringen nahm sie die Brücke über die Jagst, dann links den Weg Zum Lauschbusch, fuhr langsam über den holprigen Waldweg, passierte die Fundstelle und hielt am Wegrand, als sie links die schmale Lichtung zum Ufer erreichte.

Das Gras zeigte deutliche Spuren der gestrigen Trampelei. »Wo würdest du als Angler deine Flasche kühl halten? Im Schatten eines Baumes oder im Wasser?« Milka ging vor bis zum Ufer, suchte alles ab. Nichts. Sie drehte sich nach Paul um. Der stand ganz links, neben einer buschigen, ausladenden Purpurweide und zog offensichtlich an einer Schnur – so dünn, dass Milka sie auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Paul zog weiter, langsam jetzt. Einen Augenblick später hielt er am Ende der Angelschnur eine Bierflasche hoch. So triumphierend, als hätte er gerade mit der bloßen Hand eine kapitale Forelle aus einem Gebirgsbach gefischt. »Du hattest recht. Eine Bügelflasche.«

Milka beäugte den Fund. »Da ist was drin.«

»Bier vielleicht?«, sagte Paul in leicht süffisantem Ton.

»Sieht eher nach Papier aus. Steckt ganz oben.«

»Stimmt. Das Ding bringen wir Karle auf dem Rückweg.«

»Der ist bestimmt nicht im Büro. Nicht heute. Und ich will wissen, ob da was draufsteht.«

Es bedurfte Milkas hartnäckiger Überzeugungskraft und mehrerer Papiertaschentücher aus dem Handschuhfach des Käfers sowie einer Pinzette aus dem Erste-Hilfe-Kasten, bevor es Milka gelang, den Zettel weitgehend unbeschädigt aus der Flasche zu ziehen. Paul kommentierte den Vorgang vorrangig unter dem Aspekt, Fingerabdrücke nicht zu verwischen. Milka wollte wissen, was auf dem Zettel stand. Unter Pauls gewissenhafter Aufsicht rollte sie das lädierte Papier behutsam auf, es nur mit Pinzette und Taschentuch berührend. Die Schrift war krakelig und an verschiedenen Stellen kaum zu entziffern.


»Hm, merkwürdig«, kommentierte Milka sibyllinisch.

»Wieso? Ist doch eine recht klare Aussage«, sagte Paul. Er zückte sein Smartphone und fotografierte den Zettel und die Fundstelle der Flasche. »So, das packen wir alles ein und geben es auf dem Rückweg bei Karle ab.«

»So klar nun auch wieder nicht. Warum nennt er nicht Ross und Reiter? Sagt, wer ihm an die Gurgel will. Und warum.«

»Du meinst, so wie in den Krimis, wenn der Angeschossene mit letzter Kraft die Anfangsbuchstaben des Täters in den Sand schreibt. Vielleicht kam er nicht mehr dazu. Dachte, er hätte mehr Zeit.«

»Das könnte sein. Paul, da ist noch was.«

»Wo?«

»Nicht wo, etwas, das mir eingefallen ist. Bei dem umgekippten Klappsessel des Anglers lag doch ein dünnes Sitzkissen. Da war was aufgedruckt. Oder aufgestickt. Konnte ich auf die Entfernung nicht erkennen.«

»Ich erinnere mich. Das war aufgedruckt. Auf einer Seite. Und ziemlich lädiert, durchgescheuert vom Sitzen. Ein Oldtimer war da abgebildet. Frag mich nicht, welcher Typ.«

Milka schwieg, dachte nach.

»Was fängst du jetzt mit der Information an?«

Milka zögerte. »Angler und Oldtimer. Klar, kein Widerspruch. Passt aber irgendwie nicht zwingend zueinander.«

»Du denkst wahrscheinlich an Langenburg? Liegt bei deiner bevorstehenden Rallye auch nahe. Komm, wir fahren jetzt.«

Paul Eichert lieferte den Fund bei der Kripo in Künzelsau ab. Sein Kollege Karle hatte anscheinend dienstfrei. Einer seiner Kollegen notierte sich Pauls Handynummer.

Kurz vor Vellberg wies Milka auf die rechts liegende Stöckenburg hin. »Da gab es mal eine keltische Siedlung mit einer Fliehburg. Heute steht da die evangelische Sankt Martins-Kirche, sozusagen die Mutterkirche der ganzen Region.«

»Hast du bestimmt von deinem Miraculix, Professor …« Pauls Handy klingelte in Milkas Worte »Lothar braut nix« hinein. Kommissar Karle ließ sich die Umstände des Funds erklären, versprach für später eine Überraschung, wollte aber partout nicht verraten, was er damit meinte.

Milka saß mit Paul zusammen, beide über das Programm und die Formulare zur Langenburg Historic gebeugt. »Am Freitag Anreise, Dokumente und technische Abnahme. Und die wiederholt sich jeden Tag. Ab 18 Uhr starten dann die ersten Fahrzeuge zum Oldathlon. Am Samstag sind wir nach der Fahrerbesprechung um 9 Uhr dran. Zum ›Landtag‹?« Paul setzte ein Fragezeichen hinter Landtag.

»Damit ist nicht der Landtag in Stuttgarts Schlossgarten gemeint, Paul.«

»Dachte ich mir schon. Und am Sonntag ist dann Bergtag.«

»Genau. Zwei Trainingsläufe und dann die zwei möglichst zeitgleich zu fahrenden Wertungsläufe. Den Start erklär ich dir später.«

Die Tür zum Kaminzimmer öffnete sich rücksichtsvoll langsam, Laura steckte vorsichtig ihren Kopf durch den Spalt. »Morgen nicht vergessen, bestimmt nicht?« Milka schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«

Ihr Bruder Christoph tauchte hinter seiner Tochter auf: »Da draußen steht Sebastian mit seinem Hund, beäugt gerade deinen Käfer.« Das Peterle, der schwarze Hofkater, zwängte sich zwischen Christophs Beinen durch und sprang auf Milkas Schoß. Allen Bemühungen zum Trotz hatte sie seinerzeit die Namensgebung durch Laura und Jonas nicht mehr abbiegen können.

Sebastian Wild, ehemaliger Kreisjägermeister und Pauls Onkel und, nicht zu vergessen, Lieferant einer leider nur geringen Menge an exzellenter Wildsalami für den Hofladen, war durch den Flur zu hören. Genauer, sein Deutsch-Kurzhaar machte sich bemerkbar.

Milka begrüßte ihn im Flur, wies auf das Kaminzimmer. Sebastian Wild kannte den Weg. Der Deutsch-Kurzhaar folgte Milka in die Küche, wartete artig auf seinen dicken Wurstzipfel, folgte Milka auf dem Fuß und machte in respektvoller Distanz zu Peterle Platz. Man kannte sich und die jeweiligen Reviergrenzen.

Milka stellte einen Lauffener Katzenbeißer auf den Tisch und schenkte dem ehemaligen Kreisjägermeister ein sehr gutes Viertele ein. Sebastians Augen begannen zu glänzen. Den kritischen Blick seines Neffen bemerkend, fragte er: »Bist du im Dienst?«

Paul ging nicht darauf ein. »Du siehst etwas erschöpft aus, Sebastian. Etwas derangiert. Und das Pflaster an der Hand?«

»Wir waren auf Fuchsjagd. Und mein Deutsch-Kurzhaar ist hinterher, wollte in den Bau – dafür ist er aber nicht geschaffen.«

»Momentan ist doch keine Jagdsaison.«

»Das ist wohl richtig. Aber meine Nichte, die Inge, in Gaildorf, kennst du doch …«

»Das ist schon ewige Zeiten her.«

»Na ja, und vor ewigen Zeiten hatte ich mal so viele Fuchsfelle zusammen, dass sie sich vom Kürschner einen Mantel …«

»Sebastian, was hat das mit heute zu tun?«

»Mach ja schon.« Sebastian Wild nahm einen großen Schluck des Rotweins. »Vor einigen Tagen rief sie mich an. Also, wie soll ich sagen, sie hat etwas zugenommen. Oder etwas mehr. Jedenfalls passt der Mantel nicht mehr so recht. Sie fragte an, ob ich einige Füchse erlegen könnte, sodass der Kürschner …«

Paul platzte laut heraus, Milka unterdrückte ihren Lachreiz, so gut es eben ging. Es ging ausgesprochen schlecht.

»Also bist du jetzt im Sommer auf Fuchsjagd. Falsche Zeit, oder?«

»Nicht die beste. Aber an den Waldrändern mit den Übergängen zu Feldern und mit Geduld hat man eine Chance.« Sebastian Wild nahm einen kräftigen Schluck Katzenbeißer, das Glas war schon beinahe leer. »Nur, das Schwierige daran ist, du musst Füchse aus der gleichen Region schießen. Je nach Standort haben die andere Fellfarben und dann, na ja, dann passt es erst wieder nicht.«

Das Gelächter fiel diesmal verhaltener aus, übertönte jedoch das Klopfen an der Tür.

Michael Deiniger kam herein, zwar ein eher seltener Gast im Mayr’schen Hofgut, aber Milkas technischer Ratgeber für die Komplettrestaurierung ihres Käfers. »Guten Abend. Geht lustig zu bei euch.« Nur die Mundwinkel seines hageren Gesichts bewegten sich zu einem angedeuteten Lächeln, als Paul die Story vom Fuchsfellmantel in Kurzfassung wiederholte.

»Dein Käfer steht draußen, Milka. Hattest du heute deine Jungfernfahrt?«

Milka behauptete später steif und fest, Pauls Gesicht habe in diesem Moment eine kränkliche Blässe angenommen. Was Paul vehement bestritt.

»Sehr gut bestanden. Paul kann das bezeugen. Und du bist bei der Rallye auch dabei? Mit deinem 75er Morgan Plus8 Cabrio?«

Diese Fachsimpelei sagte Sebastian Wild nun gar nichts. Er schenkte sich nach und füllte ein Henkelglas für Deiniger. Sein fragender Blick an Paul fand nur ein Kopfschütteln. »Du warst wohl zu lang in Hamburg. Ihr Nordlichter habt eben vom guten Württemberger keine Ahnung.«

»Du bist es, der keine Ahnung hat, Sebastian. Im Norden, genauer gesagt in Bremen, lagert mehr Württemberger Wein als bei euch.«

»Du tüddelst doch«, meinte Sebastian, der das Wort bei Paul aufgeschnappt hatte, es aber »tüddelscht« aussprach. Der reine Horror für Paul.

»Von wegen. Das geht zurück auf einen Ratsbeschluss der Hansestadt aus dem Jahr 1405. Heute ist der Ratskeller mit seinen 5.000 Quadratmetern die weltweit größte Lagerstätte für deutschen Wein und gehört zum Weltkulturerbe. Alle Großen waren hier. Bismarck, Kaiser Wilhelm I und II, Richard Wagner, Strauss, Gogol. Selbst die Queen war einmal da und hat Wein verkostet. Richtiggehend legendär waren die Besäufnisse von Friedrich Engels.«

»Der Revoluzzer? Der …« Pauls Smartphone meldete sich und verhinderte Sebastians Ansatz zu einer heftigen Replik. Auch Milka und Deiniger, die Köpfe zu einem Flüstern zusammengesteckt, horchten auf.

Pauls eingestreuten Worten war so gut wie nichts zu entnehmen. Zumindest Milka wartete gespannt. »Kommissar Karle«, erklärte Paul, öffnete seine Foto-App und starrte gebannt auf das sich öffnende Bild. Eine digitale Rekonstruktion des Aussehens des Toten. Die linke Gesichtshälfte, weitgehend vom Schlag verschont geblieben, hatte anscheinend geholfen.

Milka nahm das Handy in die Hand. »So knapp unter 60, würde ich schätzen.« Paul nickte nur, gab eine kurze Erklärung zu der Aufnahme und der Person.

Michael Deiniger beugte sich interessiert zu Milka, drehte ihre Hand mit dem Smartphone ein wenig, hob seine Augenbrauen zu einem erstaunten Blick, sah Milka an. »Und der soll tot sein? Ich kenne ihn. Das ist Alfred Wagner aus Langenburg. Der technische Haus- und Hofmeister von Claus Peter Thaler, dem Fabrikanten.«

»Den kenn ich auch«, hustete Sebastian Wild, der sich bei der Nennung des Namens an seinem Katzenbeißer verschluckt hatte.

»Alfred Wagner?«, erkundigte sich Deiniger, schlug ihm mit der flachen Hand zweimal zwischen die Schulterblätter.

»Nein«, hustete Wild erneut. »Nicht den Wagner, aber den Thaler. Von der Jagd her.«

Die Kuh gräbt nicht nach Gold

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