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Oskar Lindt spürte, dass es Zeit wurde, sich dem Sachverhalt von einer unkonventionellen Seite zu nähern. Nicht, dass er der KTU, den Pathologen und ihren peniblen Untersuchungen misstraut hätte, aber als kreativer Querdenker, wie ihn ein früherer Polizeipräsident einmal halb bewundernd und halb mit disziplinarrechtlich erhobenem Zeigefinger bezeichnet hatte, fühlte er, dass es einen anderen Zugang, einen anderen Lösungsansatz geben musste.

Er beschloss die Sandsteinmauern des Präsidiums zu verlassen und auf Außenermittlung zu gehen. So sagte er zumindest. Wellmann und Sternberg kannten diesen Ausdruck aber nur zu gut als Umschreibung für einen ausgedehnten Spaziergang, bei dem ihr Chef alleine sein wollte.

»Bei dem tollen Wetter …«, begann Jan Sternberg.

»Ja, genau«, unterbrach ihn Lindt schnell, denn er hatte keine Lust auf Begleitung. »Paul und du, ihr könntet auch raus und euch um die Vermisstenliste kümmern.«

Er hatte schon oft darüber nachgedacht, aber noch nie eine wirklich passende Erklärung dafür gefunden, warum er manchmal einfach alleine sein musste. Vielleicht, damit er sich voll konzentrieren konnte? Lindt wusste es nicht, doch schon oft war er bei seinen einsamen Spaziergängen plötzlich auf Zusammenhänge gestoßen, die ihn in den Ermittlungen entscheidend vorwärts brachten.

So wollte er es auch jetzt versuchen und ließ sich in die weichen Sitzpolster seines dunkelroten Citroen XM sinken, den er als Dienstwagen fuhr. Ein unkonventionelles Fahrzeug, gewiss, keines aus der langen Liste der deutschen Behördenwagen und zudem hatte es einmal mehrere Kilo Kokain in den ausgehöhlten Polstern seiner Rückbank versteckt gehabt, aber Lindt liebte den französischen Charme des beschlagnahmten Wagens und seinen unübertroffenen Fahrkomfort. Er war immer noch stolz darauf, dass er den gepflegten Sechszylinder von der polizeieigenen KFZ–Werkstatt ergattern konnte.

Heute aber schien es so, als wollte das Auto ein Eigenleben entwickeln und wieder seine Heimat ansteuern. Der Kommissar war einfach ohne Ziel losgefahren und irgendwie, er wusste selbst nicht wieso, an der Rheinfähre bei Neuburgweier gelandet. Auf der anderen Seite des breiten Stroms war zwar noch nicht Frankreich, aber bis zur Grenze fehlten nur ein paar Kilometer.

Lindt blieb am badischen Ufer des Flusses, parkte und nahm den Weg auf dem vorderen Hochwasserdamm. Die ungeheuren Wassermassen, die sich nach Norden wälzten, faszinierten ihn stets aufs Neue und manchmal sorgte ein Frachtschiff für Abwechslung.

Sand und Kieselsteine knirschten deutlich hörbar unter den Sohlen seiner stabilen braunen Halbschuhe und zügig ausschreitend genoss der Kriminalist das ungewöhnlich warme Wetter, dessen Ende allerdings für den übernächsten Tag vorhergesagt worden war.

Ab und zu blieb er stehen, schaute auf ein vorbeifahrendes Schiff oder auch nur auf den Strom.

›Eine besonders perfide Art, jemanden loszuwerden‹, kam ihm schon nach wenigen hundert Metern das Bild des holzfressenden Großhackers wieder in den Sinn.

Er wandte seinen Blick hinüber zum Auewald und betrachtete die hohen Pappeln, die ihre unbelaubten, silbergrauen Kronenäste jetzt hoch in den Himmel streckten. Solche oder ganz ähnliche Bäume mussten es auch gewesen sein, die am Tatort gefällt worden waren.

Der Kommissar stellte sich vor, wie bei den Stämmen mit über einem Meter Durchmesser eine orangefarbene Motorsäge angesetzt wurde. Es war sicherlich ein schweres Gerät und besaß ein silbrig blitzendes Metallschwert, über das die scharf geschliffene Sägekette sauste und sich in das weiche Holz der schnell gewachsenen Bäume fraß. Auch den tropischen Urwaldriesen trachteten die Holzfäller mit derartig monströsen Kettensägen nach dem Leben.

Ein lauter Achtungsruf ertönte und im Zeitlupentempo neigte sich der dreißig Meter hohe Baum. Im Fallen nahm er Fahrt auf, wurde schneller und schneller und die ausladende Krone zerbarst schließlich mit infernalischem Krachen auf dem Asphalt des Feldweges.

Lindt rieb sich die Augen, schaute wieder zu den alten Pappeln und freute sich, dass die stolzen Bäume alle noch standen.

Seine Einbildungskraft hatte ihm einen Streich gespielt. Nein, er war nicht dort, wo der Holzhäcksler vor wenigen Tagen gearbeitet hatte, sondern immer noch einige Kilometer weiter westlich auf dem sonnigen Rheindamm.

Hatte das Verbrechen etwa direkt mit den Baumfällarbeiten zu tun? Der Kommissar schaute wieder aufs Wasser, begann fast automatisch Tabak in einen Pfeifenkopf zu drücken und grübelte weiter.

Die Arbeiten waren von der Gärtnergruppe des Städtischen Bauhofs durchgeführt worden. Ein auf Baumpflege spezialisierter Mitarbeiter hatte die Pappeln präzise gefällt, das Nutzholz abgetrennt und die sperrigen Äste etwas kleingesägt.

So stand es in Paul Wellmanns Notizen von der Ortsbesichtigung.

Als nächsten Arbeitsschritt hatte der Kran eines großen Forstschleppers die Stämme seitlich aufgestapelt und erst danach kam die Hackerfirma zum Einsatz, um das übrig gebliebene Astwerk zu schreddern.

Bedächtig zog Lindt an seiner Pfeife und sah die Rauchwolken vom Rhein weg nach Osten ziehen. ›Westwind‹, konstatierte er. ›Also hat die Vorhersage doch recht gehabt. Die stabile, warme Wetterlage wird sich jetzt ändern.‹

Er stand, schaute aufs Wasser, blies Wolke um Wolke von sich, sinnierte und überlegte weiter.

Die Gärtnerkolonne und den Fahrer des Forsttraktors müsste man auf jeden Fall mit zu den Verdächtigen zählen. Sie hatten gewusst, wo die Maschine arbeitete und vermutlich auch, wie sie zu bedienen war.

Genauso war diesem Personenkreis bekannt gewesen, dass die Hackschnitzel in einem Heizkraftwerk verfeuert werden sollten.

Aber – Lindt zweifelte – Mitarbeiter des Städtischen Bauhofes hatten den Inhalt des letzten Containers für die Spielplätze verwendet.

Also doch nicht verdächtig?

Oder war für Spielplätze wieder eine andere Abteilung zuständig?

Aber wer könnte dann …?

Der Kommissar nahm sich vor, trotzdem von allen, die am Tatort gearbeitet hatten, Fingerprints abzunehmen und mit den Spuren in der LKW-Kabine zu vergleichen.

Reine Routine natürlich, würde er sagen, nein, nein, niemand ist direkt verdächtig, gehört alles zum üblichen Ermittlungsprogramm …

Er wollte jeder möglichen Fährte nachgehen.

Doch diese Spur führte ins Leere.

Gleich am nächsten Morgen stattete Lindt zusammen mit einem Kollegen des Reviers Ettlingen dem Bauhof der Stadt Rheinstetten einen Besuch ab. Die Mitarbeiter waren sehr kooperativ, ließen bereitwillig ihre Fingerkuppen auf die Erkennungsdienstformulare stempeln und bedauerten ein ums andere Mal, wie leid es ihnen täte, nichts gemerkt zu haben, als sie die Holzhäcksel auf dem Spielplatz ausstreuten.

Allgemeines Erstaunen machte sich breit, weil die Identität des Opfers immer noch nicht geklärt war. ›Dass den auch niemand vermisst!‹, wunderten sich die Arbeiter ein um das andere Mal und schließlich erklärte der Vorarbeiter der Truppe: »Wer das auch war, eines ist sicher: Keiner von uns, wir sind alle komplett!«

Lindt zuckte nur die Schultern, brummte etwas von sehr langwierigen Ermittlungen, bedankte sich und steuerte wieder das Präsidium an.

Doch auch dort sollten die Nachforschungen nicht den kleinsten Fortschritt ergeben.

DNA-Spuren von allen aktuellen Vermisstenfällen im Umkreis zu sichern, war zwar nicht einfach, aber mit einigen Hürden schließlich doch gelungen. Sämtliche Angehörigen zeigten Verständnis für die Arbeit der Ermittler und nach einigem Suchen und drei Überstunden hatten Sternberg und Wellmann das nötige Material beisammen. Haar- und Zahnbürsten erwiesen sich dabei als besonders ergiebige Spurenträger.

Nun galt es wieder zu warten, bis das Landeskriminalamt mit Ergebnissen dienen konnte.

Lindt machte es sich in seinem Bürosessel bequem, überlegte hin und her, dachte zurück an die ›Außenermittlung‹ am Rhein, die aber auch nichts Produktives erbracht hatte, stellte Theorien auf, verwarf die Gedanken wieder und kam einfach nicht vorwärts. Seine Stimmung verschlechterte sich mehr und mehr, aber fatalerweise konnte er nichts dagegen tun. Allen denkbaren Spuren waren er und sein Team schon nachgegangen, alle Hinweise aus der Bevölkerung hatten sie ergebnislos abgearbeitet … Nur ein paar Ergebnisse aus Stuttgart noch … Vielleicht war ja dort etwas dabei? Er glaubte es eigentlich selbst nicht.

Der sinnierende und grübelnde Kommissar wurde durch das Klopfen an der Tür jäh aus dem pfeifenqualmenden Nachdenken gerissen. Paul Wellmann trat ein und mit ihm ein gut gekleideter Mann, der so groß war, dass seine graue, gewellte, nach hinten gekämmte Mähne fast oben am Türrahmen streifte.

»Herr Gero Langenbach«, stellte Wellmann den Besucher vor. »Inhaber der Baufirma ›Langenbach‹, Ettlingen, Hoch-, Tief- und Straßenbau.«

Lindt bot Platz an und hörte aufmerksam zu.

»Wir vermissen unseren Prokuristen«, kam der Bauunternehmer gleich zur Sache. »Konrad Fink, so heißt er, meine rechte Hand sozusagen. Er fuhr am Dreikönigstag zum Skilaufen nach Österreich, ins Montafon, wo er eine kleine Ferienwohnung besitzt und hätte eigentlich heute früh wieder zur Arbeit erscheinen sollen.«

»Und er kam nicht«, vervollständigte der Kommissar. Er schaute sein Gegenüber einige Sekunden lang mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich verstehe. Was haben Sie unternommen?«

»Handy, Telefon, kein Kontakt, schließlich bin ich zu seiner Wohnung gefahren, aber nichts. Sie müssen wissen, der Conny, so nennen wir ihn alle, ist Single, eingefleischter Junggeselle, wie man so schön sagt und lebt in Forchheim allein in einer Dachgeschosswohnung.«

›Schon wieder Rheinstetten‹, dachte Lindt. ›Der abgehackte Finger lag auf einem Spielplatz in Mörsch, diesmal ist Forchheim dran. Wenn jetzt auch noch was in Neuburgweier geschieht, dann haben wir die drei Stadtteile komplett.‹

»Ich hab bei den Nachbarn geklingelt«, fuhr der Besucher fort. »Aber seit er sich abends zum Skifahren abgemeldet hatte, haben die ihn auch nicht mehr gesehen.«

Der Kommissar schaute Langenbach durchdringend an. »Das alles wäre aber noch kein Grund, schon am ersten Tag seines Fehlens hier bei uns aufzutauchen?«

Der Firmenchef schüttelte den Kopf: »Nein, eigentlich noch nicht, wenngleich der Conny sehr zuverlässig ist und in den über zwanzig Jahren, die er in der Firma arbeitet, noch nie unentschuldigt gefehlt hat. Nicht umsonst habe ich ihm vor fünf Jahren Prokura gegeben. Wir alle konnten uns bisher jederzeit auf ihn verlassen.«

»Aber …?«, ermunterte ihn Lindt, weiter zu berichten.

»Aber als ich schon wieder in meinem Wagen saß, um zurückzufahren, kam mir noch ein Gedanke. Ich erinnerte mich, dass seine Garage an der Rückwand ein schmales, langes, vergittertes Lüftungsfenster besaß. Das hat er mal extra einbauen lassen, weil ihm die üblichen kleinen, runden Luftlöcher nicht genügten. ›Zu feucht für mein teures Auto‹, sagte er damals, ›eine Garage braucht Luft.‹ Also habe ich mich nach hinten durchgekämpft – sie müssen wissen, sechs zusammengebaute Garagen und das Ganze schön mit allerlei stachligen Sträuchern eingegrünt – und durch dieses Gitterfensterchen geschaut.«

»Und?«

Langenbach nickte: »Sein schwarzer Sportwagen stand drin in der Garage und sogar die Ski und einen kleinen Rucksack auf dem Beifahrersitz konnte ich erkennen.«

»Und jetzt denken Sie …?«

»Es muss ihm etwas passiert sein! Ich habe da ein ganz komisches Gefühl. Ich bin mir sicher, dass er gar nicht im Skiurlaub war.«

Die beiden Kommissare sahen sich nur stumm an und dachten genau dasselbe.

»Wir fahren sofort hin«, entschied Lindt, sprang in einer für ihn ungewöhnlichen Schnelligkeit auf und griff nach seiner Jacke.

Er ließ sich noch die genaue Adresse geben, wies Jan Sternberg an, eine Streife und den Schlüsseldienst zu bestellen und war schon auf dem Weg zum Parkplatz.

Zusammen mit Paul Wellmann fuhr er hinter dem großen dunkelblauen Audi des Bauunternehmers her und nach gut zehn Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht.

Langenbach, der sich durch das Verhalten der Kommissare in seiner bösen Vorahnung bestätigt sah, war schon aus dem Wagen gesprungen und zu der fraglichen Garage geeilt. Energisch versuchte er, den Handgriff zu drehen, um das Schwingtor zu öffnen, hatte aber keinen Erfolg.

Er führte die Ermittler nach hinten, wo sie einen Blick ins Halbdunkel des Garageninnern werfen konnten.

»Sie könnten recht haben«, stimmte Lindt zu.

Zeitgleich trafen die Funkstreife und der Geschäftswagen einer ortsansässigen Schlosserei ein.

Lindt zeigte erst seinen Dienstausweis und dann auf das Garagentor. »Bitte keine Beschädigung.«

Der Handwerker nickte und begann ohne weitere Fragen den Schließzylinder zu bearbeiten. Ein kleines Gerät in seiner Hand summte, dann klackte es vier Mal, der Knebelgriff ließ sich mühelos drehen und das Tor schwenkte nach oben.

Die Männer blickten auf einen vornehm glänzenden, schwarzen Zweisitzer-Mercedes.

Der Kommissar hatte sich zwischenzeitlich Einmalhandschuhe angezogen und trat als Einziger ein. Er öffnete Kofferraum und Fahrertür, erblickte eine Reisetasche, Skischuhe, Rucksack und Carving-Ski. Gleichzeitig bemerkte er aber auch noch eine seltsam verwischte Schmutzstelle seitlich an der Fahrertür des ansonsten makellos sauberen Wagens.

»In die Wohnung?«, schaute Paul Wellmann fragend.

Lindt nickte, wies einen Streifenbeamten an, Garage und Auto abzusperren und wollte gerade den Schlosser bitten, mitzukommen.

»Halt, ich muss noch mal …«, drehte er sich um und ging zu dem schwarzen Sportwagen zurück. Er öffnete die Fahrertür und griff rechts neben die Lenksäule.

»Ich glaube, wir brauchen Sie doch nicht mehr«, wandte sich der Kommissar an den Handwerker und zeigte einen kleinen Schlüsselbund, den er aus dem Zündschloss des Sportwagens abgezogen hatte. »Da ist bestimmt auch der Wohnungsschlüssel dran.«

Schon der erste Schlüssel, den er in seiner Hand hielt, passte in das Zylinderschloss der Haustür.

Sie stiegen vier Treppen hoch, dann wies Bauunternehmer Langenbach auf die linke von zwei Türen am obersten Absatz. ›Konrad Fink‹ stand in schwarzer Schrift, säuberlich in ein Edelstahlschild geätzt, neben dem Klingelknopf.

Lindt wählte einen anderen Schlüssel und hatte wieder Glück. Zwei Mal umgedreht und die Wohnungstür öffnete sich.

Der Streifenpolizist und Paul Wellmann entsicherten ihre Neun-Millimeter-Pistolen, stießen die Tür vollends auf und drangen, sich gegenseitig sichernd, in die Wohnung ein.

»Sie bleiben bitte draußen«, drehte sich Lindt zu Langenbach in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ und folgte seinen Kollegen.

»Niemand hier«, meldete der Uniformierte. Auch Wellmann sicherte seine Pistole, steckte sie wieder in das eng anliegende Gürtelholster und bestätigte: »Alles leer.«

»Sagen Sie bitte der Spurensicherung Bescheid«, beauftragte Oskar Lindt den Polizisten, warf seinem Kollegen ein Paar Latexhandschuhe zu und begann, sich umzusehen.

Erstaunlich wenige Einrichtungsgegenstände verteilten sich über die weitläufige Fläche des Wohnzimmers. Ein Zweiersofa und zwei einzelne Sessel in streng rechteckiger Formgebung, bezogen mit schwarzem, glattem Leder, davor ein freistehender, großformatiger, offensichtlich teurer Fernseher, neuestes Modell mit Plasmatechnik und Edelstahlgehäuse.

Passend dazu auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes ein Schreibtisch mit Edelstahlgestell und einer Platte aus weiß mattiertem Glas, kombiniert mit einem Bürosessel, natürlich aus Edelstahl und schwarzem Leder.

»Fühlst du es auch, Paul?«, schaute Lindt seinen Kollegen an. Der nickte: »Kalt, sehr kalt hier drin!«

»Genau – alles in denselben Farben gehalten. Weiß, schwarz, silbergrau. Eigentlich sind das ja gar keine Farben.«

Wellmann bestätigte: »Das Ganze passt ganz genau zusammen, fast wie in einer Ausstellung. Aber kein einziger warmer Ton im Raum.«

Die Wände und die Dachschräge waren hoch bis in den First mit feinem, weißem Streichputz versehen, das Grau der Bodenfliesen passte zum Metallton des Edelstahls und auch der Computer auf dem Schreibtisch war samt Monitor und Drucker im selben Silberglanz gehalten.

»Eigentlich hätte er die Bücher da hinten im Regal noch in passendes Papier einschlagen müssen.« Lindt drehte sich zur Rückwand. Dicke Regalbauteile, selbstverständlich in strahlendem Weiß, waren passgenau eingebaut und tatsächlich milderten nur die verschiedenfarbigen Bücherrücken die Kälte des Raumes. Mehrere Reihen von Aktenordnern, natürlich in glänzend schwarzem Kunststoff und sauber gedruckter Rückenbeschriftung, füllten die untersten Etagen der Regalwand aus.

Die Kommissare nahmen sich noch Küche, Bad und Schlafzimmer vor und fanden überall dieselbe Farb- und Formgebung.

»Möchtest du hier wohnen, Paul?«

»Schön ruhig scheint es ja zu sein und die Aussicht ist auch nicht schlecht.« Wellmann zeigte durch die großen Glasfenster der Giebelwand nach draußen. »Da drüben der kleine Bach und dahinter der Wald.«

»Wenn die Bäume dort in zwei Monaten grün werden, stört das die Farbkomposition in der Wohnung aber gewaltig.« Lindt schüttelte sich schaudernd. »Ich finde es hier drin richtig ungemütlich.«

»Wenn Conny wenigstens eine Holzdecke hätte einbauen lassen. Das habe ich ihm so oft gesagt«, mischte sich Langenbach in die Unterhaltung der Kommissare.

»Ach, wir hatten Sie ja ganz vergessen vor der Tür«, entschuldigte sich Lindt schnell. »Sie kennen sich aus hier?«

»Das wäre zuviel gesagt, aber ein paar Mal im Jahr habe ich ihn schon besucht in seiner Designerwohnung. Klare Formen und klare Farben, das ist so ein Tick von ihm. Im Büro übrigens auch … kein Schriftstück zuviel auf dem Schreibtisch. Telefon, Computer, Bleistifte, Füller … alles hat seinen genau festgelegten Platz.«

»Scheint ein sehr penibler Mitarbeiter zu sein. Sind Sie mit ihm zufrieden?«

»Mein Bester! Denken Sie, ich hätte ihn sonst zum Prokuristen gemacht? Der findet jeden noch so kleinen Fehler in den Abrechnungen und auch, was juristische Fragen anbelangt ist er fit wie kein anderer. Hat meinem Betrieb schon viel Geld eingebracht.«

»Dann ist er wohl weniger auf dem bautechnischen Gebiet tätig, eher als Buchhalter?«

»In der Buchhaltung hat ihn mein Vater vor zwanzig Jahren eingestellt, aber mittlerweile ist er unser kaufmännischer Direktor. Auf Conny ist wirklich hundert Prozent Verlass.«

Lindt schluckte: »Oder es war Verlass auf ihn. Die ganzen Indizien mit dem fertig gepackten Wagen in der Garage … ich habe gar kein gutes Gefühl.«

Man konnte dem Bauunternehmer ansehen, dass er ähnliche Befürchtungen hatte. Mit sorgenvoller Miene schaute er sich in dem fast steril wirkenden Raum um: »Allerdings scheint hier nichts durchsucht worden zu sein. So hat es schon immer ausgesehen, so lange ich mich zurückerinnern kann.«

Der Kommissar schwieg und begann, bedächtig in der Wohnung umherzugehen. Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen, als wenn er aufpassen wollte, die wie geleckt wirkenden Räume bloß nicht schmutzig zu machen.

Aus allen möglichen Perspektiven ließ er die Atmosphäre auf sich wirken. In der schmalen Küche nahm er auf einem Barhocker an dem thekenartigen Essbereich Platz und betrachtete die hochpreisigen Küchengeräte, die aber nur wenig benutzt zu sein schienen. Eine Ceranplatte mit Induktionskochfeldern, Edelstahl-Designer-Esse als Dunstabzug, Schweizer Nobelfabrikat eines Kaffeeautomaten und … Lindts Herz schlug schneller … sogar einen Einbauherd als Kombination von Backofen und Dampfgarer!

Ein derartiges Gerät hatte er sich zusammen mit Carla erst vor wenigen Wochen in einer Küchenausstellung angesehen. Ein Traum für jeden Hobbykoch! Die Worte des Verkäufers klangen Lindt noch im Ohr: ›unvergleichliches Geschmackserlebnis‹ – ›vitaminschonend zubereitete Gemüsegerichte‹ – ›alle Inhaltsstoffe bleiben erhalten‹ – ›die Profis garen nur mit Dampf‹ – aber knapp sechstausend Euro auf dem verschämt seitlich angeklebten Preisschild ließen die Wünsche wie eine Seifenblase zerplatzen.

Auf Gäste schien weder Finks Küche noch die restliche Wohnungseinrichtung zugeschnitten zu sein. An der Theke gab es nur drei Sitzplätze und ein großer Esstisch fehlte vollständig.

Das Schlafzimmer verstärkte diesen Eindruck noch. Lindt schätzte die Breite des Bettes, mit silbergrauer Seide bezogen, auf maximal einen Meter zwanzig – viel zu schmal, als dass dauerhaft zwei Personen hätten darin schlafen können. Allerdings musste er sich von Carla zu Hause auch immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, er würde sich im Bett sehr breit machen.

In Gedanken versunken holte er die kurze, gerade Pfeife aus seiner Jackentasche und begann sie zu stopfen.

Noch bevor er nach seinem Feuerzeug tastete, drehte er den Griff an einer der vier Kleiderschranktüren. Schleiflack, schwarz, genauso wie das Bett, kontrastierte auch hier sehr hart zum Weiß von Wand und Deckenschräge.

Der Kommissar öffnete einen Schrank und fand vor, was er erwartet hatte. Weder bei den Anzügen, noch bei den Hemden oder der Wäsche gab es andere Farbtöne, als schwarz und weiß! Alles akkurat und fast millimetergenau ausgerichtet und gestapelt.

»Das hat Conny bestimmt nicht gerne«, zeigte Langenbach, der Lindt gefolgt war, auf dessen zwar gestopfte, aber noch kalte Pfeife. »Rauch hasst er wie die Pest. Wenn bei einer Besprechung in unserer Firma irgendjemand wagt zu rauchen, verlässt er sofort und kommentarlos den Raum.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Kommissar und schob die Pfeife vorsichtig wieder in seine Jackentasche. »Nur so eine Angewohnheit von mir – allerdings wird Pfeifenrauch im Gegensatz zum Gestank von Zigaretten meistens als wesentlich angenehmer empfunden.«

»Ja, mir geht es auch so. Pfeife rieche ich gerne, ab und zu genehmige ich mir eine Havanna, aber Conny ist da absolut kompromisslos. Auf unseren Baustellen draußen hätte er einen schweren Stand. Einer meiner Ingenieure hat ihn mal als ›militanten Nichtraucher‹ bezeichnet.«

Dieses Thema interessierte Lindt. »Wie kommt er denn sonst mit den Arbeitskollegen klar?«

Langenbach zögerte – für das Gespür des Kommissars eine Idee zu lange – bevor er antwortete: »Wissen Sie, ich messe meine Mitarbeiter an ihrer Leistung. Das Ergebnis ist mir wichtig und da gibt es wirklich nur Bestes zu berichten. Seine Kollegen … nun …«

Wieder kam eine Pause, wie wenn der eindrucksvoll große, grauhaarige Unternehmer sich seine Worte erst genau zurechtlegen müsste.

»Ich bin überzeugt, dass nicht alle seinen Arbeitsstil mögen. Korrekt, penibel bis in alle Einzelheiten. Die Genauigkeit eines erstklassigen Buchhalters hat er auch als kaufmännischer Direktor nicht abgelegt und damit natürlich manche Schlamperei in meiner Firma aufgedeckt.«

»Gab es denn irgendwann einmal richtige Reibereien?«

»Keine Probleme, die nicht zu lösen waren …«

Lindt merkte sich diesen Satz ganz genau, denn er konnte nichts und doch alles bedeuten. Falls dieser Konrad Fink, den sein Chef immer nur Conny nannte, tatsächlich verschwunden oder gar durch die Einzugswalzen des 500-PS-Hackers gegangen war, müssten die Ermittlungen in dieser Richtung wohl noch sehr vertieft werden.

›Wenn der so kalt war wie seine Wohnung …‹

Paul Wellmann unterbrach die Gedanken seines Vorgesetzten. »Oskar, die Kollegen von der Technik.«

Lindt schreckte hoch: »Alles auf den Kopf stellen hier. Zuerst natürlich DNA-taugliches Material suchen und schnellstens mit den Spuren aus dem Hacker vergleichen.«

»So sauber, wie es hier ist«, meinte einer der Kriminaltechniker im weißen Overall, »da werden wir unsere Mühe haben.«

Lindt klopfte ihm auf die Schulter. »Haare findet ihr bestimmt im Staubsauger und eine Zahnbürste hatte er sicherlich auch.«

Der Kommissar machte zwei Schritte zur Tür, griff sich dann aber an den Kopf und drehte wieder um, wie wenn er etwas vergessen hätte.

»Sagten sie nicht, er hätte nie mehr Papier als unbedingt nötig auf seinem Schreibtisch gehabt?«, wandte er sich an den Bauunternehmer. Der nickte.

»Na, dann müssen wir doch mal dort reinschauen.« Zielgerichtet ging er wieder in das großzügige Wohnzimmer und steuerte den Schreibtisch an.

Er tastete nach dem Einschaltknopf des PC’s, drückte aber irgendwie daneben und erschrak. Ein Segment an der Gehäusefront gab nach und klappte zurück. Dahinter war nichts. Leere! Ein Loch. Verduzt rieb Lindt sich die Augen. So etwas hatte sein Dienstcomputer nicht.

»Was kann denn das …?«

Der Kollege von der Spurensicherung wusste die Lösung: »Herausnehmbare Festplatte! Optimale Datensicherung – fragt sich nur, wo die versteckt ist.«

»Na, dann sucht mal schön«, gab der Kommissar zur Antwort und wandte sich an Langenbach.

»Wenn Sie gestatten, würden wir jetzt gerne den Arbeitsplatz Ihres Prokuristen sehen.«

»Natürlich, klar, selbstverständlich«, stotterte der ansonsten so selbstsicher wirkende, imposante Bauunternehmer.

»Ach, Paul«, warf Lindt seinem Kollegen in einer plötzlichen Eingebung die Schlüssel des Dienstwagens zu. »Bleib du doch hier, bestelle Jan zur Firmenzentrale und versiegle nachher die Wohnung.«

Er sah Langenbach direkt in die Augen. »Sie nehmen mich doch sicherlich gerne mit.«

Hackschnitzel

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