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Steine und Licht

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Überm Fluß Licht aus Glas und Stummheit, diaphanes Licht, zwischen Himmel und Wasser, schwarzem Wasser, und schwarz auch der Blick der Heiligen;

und Steine, Schwarzsteine, Steine aus Sonnen und Flußmövenschreien, Brücke aus Stein; und Schritte auf der Brücke: von Kaisern und Dichtern. Es liegen die Kaiser, es liegen die Dichter begraben in Prag. Und die Juden. Auch sie. Unter Steinen mit hermetischen Zeichen. Und auf allen Grabmälern die Wunschsteinchen: Kieselchen, Granit und Marmorbruch, Feldstein und Mauerwerk: Wunschsteine, magische Verwandlung des Bewußtseins, Gläubigkeit, die aus der Kirche, der Synagoge ausgezogen ist und sichtbar wird auf abgerissenen Zettelchen: I wish a guitar.

Die Synagoge, mit ihrem steilen Dach und dem Ampellicht im Gewölbe: Museum. Aber mit einem Rest von Geheimnis, einem unaufhebbaren Rest, der still die neugierigen Besucher, die griffigen Erklärungen der Reiseleiter zurückweist, auch den Japaner, der trotz Verbot fotografiert, auch die lauten Gespräche oder die kichernden Schülergruppen - sie ist also Museum geworden, ein Zeugnis spätromanischer Baukunst in Europa; bis 1938 gab es noch eine romanische Synagoge, die stand in Worms und wurde von den Nazis vollkommen zerstört. Nun ist diese hier die einzige, die geblieben ist aus den dunklen Zeiten des Mittelalters und des 20. Jahrhunderts.

Die Synagoge mit dem seltsam dialektischen Namen: Alt-Neu-Synagoge.

Gehen durch die Straßen von Prag;

hier wurde Franz K. geboren, in einem geborstenen Haus –

hier ging er zur Schule –

hier mietete er ein Zimmer –

und hier, im Goldmachergässchen auf dem Hradschin, die Nummer 22, ein kleines krummes Haus, das leider verschlossen ist und abweisend, ich würde gerne eintreten und den Geruch der Jahrhunderte atmen, der dieses Haus vielleicht erfüllt und die Räume um mich spüren, die Wände und niedrigen Decken, und mir vorstellen, wie Kafka, hochgewachsen, unter den Türen den Kopf einziehen mußte. Die Topographie Kafka: jedes Haus steht noch, hier sind keine Bomben gefallen, die Straßen und Stadtteile in Schutt und Asche legten, hier werden alte Häuser nicht abgerissen und das ist ein Glück, so kann man den Wegen Franz Kafkas nachgehen und das eigene Gedächtnis erproben, die Prager machen es mir leicht und manchmal schwer, denn ihr Gedächtnis ist hervorragend, sie dokumentieren es auf eine Weise, die mich nachdenklich macht angesichts von Geschichts- und Gedächtnislosigkeit in meinem eigenen Land -

hier, auf dem Altstädter Ring, wurden am 21. Juni 1621, ein Datum, das ins Pflaster geschrieben ist, die politischen und geistigen Führer des Aufstands gegen Kaiser und Reich hingerichtet, eine Ausrottung fast des gesamten böhmischen Adels und der Intellektuellen, und der Beginn der Vorherrschaft und Fremdherrschaft durch die Habsburger bis 1918 -

hier, am Denkmal des heiligen Vaclav, verbrannte sich Jan Palach, sein Bild und das anderer Verfolgter und Ermordeter steht, geschmückt mit einer Fülle von immer frischen Blumen und Bändern in den Landesfarben, auf einem Rondell von Wachs, grauweiß und erstarrt, Kerzenwachs, hier haben die Prager ihre berühmt gewordenen Kerzen angezündet, immer wieder, gegen geballte Staatsmacht und zum Gedächtnis –

und an einer alten Mauer mit abgeblättertem Putz lese ich: NDR je s vami za svoboda: Die DDR ist mit euch für die Freiheit! –

hier das Haus, in dem sich die Heydrich-Attentäter im Juni 1942 verschanzten und in dem sie sich, bevor die SS das Haus stürmte, selbst erschossen: an der Hauswand ein frischer Kranz -

aber auch dies hier: ein sowjetischer Panzer, ein Panzer der Befreiung, der erste der Roten Armee, der 1945 in Prag einrollte -

In Prag gibt es eine Uhr, die rückwärts geht - aber was heißt rückwärts? Gegen den Uhrzeigersinn, was nur beweist, daß unsere vorwärts gerichtete Zeit etwas Beliebiges hat, warum soll eine Uhr nicht links herum gehen, anstatt nach rechts, aber etwas in uns sträubt sich, es ist nicht nur die Gewohnheit, sondern noch etwas anderes: die Zeit, würden wir sagen, läuft nicht zurück. Aber läuft sie denn nach vorn? Und die hebräischen Ziffern auf dem Zifferblatt - was bedeuten sie? Zahlen? Geheime Zeichen? Zeigen sie Stunden an, die rückwärts gerechnet werden, sodass ich mich womöglich plötzlich am Anfang eines bereits gelebten Tages wiederfinde und nicht weiß, wo er geblieben ist, der Tag -

was in Prag nicht verwunderlich wäre.

Überm Fluß: der Himmel aus böhmischem Blau. Überhaupt: Böhmen. Der Wortklang ist dunkel und wie aus einer anderen Zeit und das Wort selbst ist aus einer anderen Zeit und heute heißt dieser Teil des Landes Cechy (und nicht Tschechei, ein Unwort Hitlers, das wir vergessen sollten).

Überm Fluß: das Licht. Garben von Licht, Netze von Licht, Licht gefiltert von Staub, von Wärme. Unzählige Male bin ich über Karluv most gegangen, um dieses Licht zu sehen; es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit, über die Moldau zu gehen, als über diese Brücke, es sei denn, man will sie einmal aus der Ferne sehen, als Kunstwerk mit der Burg darüber, fast schwebend im Licht, und auf der Burg die rotweiße Fahne. „Die Wahrheit siegt“ - das weiß hier jedes Kind. Eine jahrhundertealte Losung auf der Präsidentenstandarte, aber mir scheint, als hätte dieser einfache Satz noch nie so gestimmt wie heute, in dieser Zeit, in der ein Präsident in der Burg residiert, der diesen Satz hätte erfinden können.

Im Dunkel die Schwäne wie Brüste, schimmernd. Hier versagt alles, worauf wir uns verlassen, täglich, die Sätze, die Wörter, die Bilder, die Wirklichkeit. Prag ist magisch, natürlich ist es auch eine moderne Stadt, aber muss man sich das nicht extra immer wieder vor Augen halten? Und ist nicht doch hier der Golem zu Hause, in diesen Gassen mit ihrem Kopfsteinpflaster und dem matten Schein der Laternen an den Häuserwänden, der nicht weit reicht, der Golem ist eine jüdische Magie und es ist überhaupt nicht vorstellbar, daß er anderswo erschaffen worden sein könnte als in dieser Stadt, von einem jüdischen Rabbi, um dessen Grab die Legenden ranken, dem berühmten Rabbi Löw: ein Renaissancegrabmal, wie der Reiseführer ausweist, ein kleines Haus aus Granit, mit einem Spitzdach und zwei mächtigen Giebelwänden, die das Dach weit überragen, hebräische Schrift in den Stein gemeißelt, und Weintrauben als Zeichen der Weisheit, für die der Rabbi berühmt war zu seiner Zeit und weit über das Land hinaus.

Die Wasserspeier am Dom Sankt Veith blecken die Zähne, strecken die Zunge heraus, eine lange Teufelszunge, über die das Wasser rinnt bei Regen. Es ist eine Verwandlung; Verwandlung von Materie, von Stein und Metall, in ein Zeichen - wofür?

Ich bündle die Zeit in meinen Gedanken, bin hier und dort, ich sehe den Stein und sehe den Dämon. Zeichen in Stein, Manifestation der Angst einer anderen Epoche, Ausdruck eines allgemeinen, allgegenwärtigen Schreckens, sichtbar gemachte Wirklichkeit der Albträume und Visionen, Projektion von Wirklichkeit ins Innere und Entäußerung, Hervorbringung von Bewußtsein. Uns sind sie nicht mehr bedrohlich, weil wir sie als Kunst sehen: unsere Angst drückt sich anders aus, hat andere Ursachen, oder, besser gesagt, unsere Dämonen heißen anders und haben ein anderes Gesicht. Wir fürchten uns nicht mehr vor der vorspringenden Fratze am Gesims des Doms, aber es fragt sich doch, ob wir für unsere Ängste solch gültige Manifestationen gefunden haben.

Zwischen Himmel und Fluß der steinerne, schwarze Blick der Heiligen im Licht.


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