Читать книгу Der Ruhestand: Perspektiven eines Arbeitslebens - Brigitte Geldermann - Страница 12

Beide Seiten führen die besonderen Belastungen in bestimmten Berufen an, um dann über einige Jahre mehr oder weniger Tortur zu rechten. Dabei ist diese Diskussion für die Mehrzahl der Betroffenen irrelevant. So gingen 2011 ca. 60 Prozent der Versicherten in Bauberufen bereits vor dem 60. Lebensjahr in Rente (vgl. DRV 2012a, 177). Die Übergänge in Rente aus der Arbeitslosigkeit sind hier besonders hoch. Eine Studie zur Realisierbarkeit beruflich differenzierter Altersgrenzen, die besondere Belastungen berücksichtigen, kommt zu dem Schluss: „Die fehlenden Chancen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gesund und erwerbstätig das Rentenalter zu erreichen, stellen ein erhebliches sozialpolitisches Problem dar. An diesem Problem werden auch beruflich differenzierte Altersgrenzen effektiv nur wenig ändern können. Lösungen müssen primär in der Arbeitsgestaltung und in der Erhaltung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit gesucht werden und erst nachrangig durch eine Variation rentenrechtlicher Regelungen“ (Brussig et al. 2011, 7). Die für die Rentenkürzung politisch Verantwortlichen kennen dagegen nur gesunde und leistungsfähige Ältere: „Für Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen ist der Fall klar: Die Älteren, sagt die CDU-Politikerin, seien so fit wie nie zuvor und bekämen im Durchschnitt inzwischen 18 Jahre Rente. Wenn die Menschen aber immer länger das gesetzliche Altersgeld bezögen, könnten sie ‚auch ein bisschen länger arbeiten‘ (Süddeutsche.de vom 24.06.2013 http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/erhoehung-des-rentenalters-furcht-vor-der-rente-mit-1.1703934).“ Ob die Betroffenen das auch so sehen, spielt jedenfalls keine Rolle. Der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière äußerte in einer Diskussion zum Instrument des Volksentscheids: „Es ist Aufgabe politischer Führung, auch unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen, die man für richtig hält. Die Rente mit 67 hätte es mit einer Volksabstimmung nie gegeben“ (Die Welt 25.11.13 http://www.welt.de/politik/deutschland/article122233616/Volksabstimmungen-beguenstigen-die-Nein-Sager.html). Während die Gewerkschaften durch die Rente mit 67 eine Verschiebung potenzieller Rentnerkohorten in die Arbeitslosigkeit und damit einen Anstieg der Arbeitslosigkeit prognostizieren, begrüßen die Arbeitgeberverbände eine absehbare Linderung des Fachkräftemangels. Dies steht im Kontrast dazu, dass die Unternehmen früher Möglichkeiten, Entlassungen über Vorruhestandsregelungen abzuwickeln, gern wahrgenommen und 60-Jährige nicht als Fachkräftepotenzial angesehen haben. Heute hat allerdings die „Beitragssatzstabilität“ Priorität: „Notwendig ist die Anhebung der Regelaltersgrenze vor allem mit Blick auf die gesetzliche Rentenversicherung. Die gesetzlichen Beitragssatz- und Rentenniveauziele (max. 22 % bzw. mind. 43 % bis 2030) können ohne Rente mit 67 nicht eingehalten werden“ (BDA 2013, 1). Für Personalanpassungsmaßnahmen gibt es auch andere Instrumente als Frühverrentung. Veränderte Mechanismen des Personalaustauschs Mit der „Deregulierung“ des Arbeitsmarkts ist der Einsatz von Arbeitskräften so flexibilisiert worden, dass Altersgrenzen als Instrument des Austauschs an Bedeutung verloren haben. Die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland haben sich seit den siebziger Jahren drastisch verändert. Während sich die Wachstumsraten erheblich verringert haben, ist die Produktivität stark gestiegen. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen ging zurück, und die Zahl der Erwerbspersonen nahm zu (vgl. Röger 2006, 25 ff.). Das „Normalarbeitsverhältnis“ – unbefristete, sozialversicherte Vollzeitbeschäftigung – ist heute für viele keine kalkulierbare Lebensgrundlage mehr wie in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Der Lohn eines Mannes reicht nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren; Frauen müssen wenigstens etwas dazuverdienen und als Ersatzernährerinnen angesichts unsicherer Arbeitsplätze bereitstehen. Viele sind daher gezwungen, Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, die dem Maßstab der Sicherung des Lebensunterhalts nicht mehr entsprechen. Die zeitlichen Spielräume, die Frauen für die Familienarbeit benötigen, werden von der Wirtschaft gegen drastische Lohnabschläge gewährt. Der Staat schafft dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen wie 450 €-Jobs. Weitere Ergebnisse dieser Deregulierungspolitik waren u. a. die erweiterten Möglichkeiten für den Abschluss befristeter Arbeitsverträge, Einschränkung des Kündigungsschutzes, Minderung von Transferzahlungen und verstärkte Anforderungen an Arbeitslose, sowie arbeitsrechtliche Verbesserungen für Teilzeitbeschäftigte (vgl. ebd. 27). Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung berichtet, ist die selbstständige Beschäftigung in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dies geht zum großen Teil auf Solo-Selbstständigkeit, überwiegend von Frauen, zurück. Bis Ende des Jahres 2011 startete ein erheblicher Teil der neuen Selbstständigen aus der Arbeitslosigkeit und wurde dabei mit Mitteln der Bundesagentur für Arbeit (BA) unterstützt (vgl. Gerner/Wießner 2012, 2). Bei einem geringen Selbstständigen-Einkommen ist allerdings eine wenigstens rudimentäre Absicherung gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersrisiken kaum möglich (ebd., 5). Arbeitgeber haben neben Altersteilzeitregelungen für Ältere ein Repertoire der Vertragsgestaltung für die Integration Jüngerer, die zu nahezu jeder Bedingung den Einstieg ins Berufsleben suchen. Menschen, die mit 40, 50 Jahren ihren Arbeitsplatz verlieren, haben nur geringe Chancen, zu vergleichbaren Konditionen wieder eingestellt zu werden und ihre Karriere bruchlos fortzusetzen. Mit 60 ist der Abstieg in Arbeitslosigkeit und/oder Hilfsjobs programmiert. Als Peter Hartz im Jahr 2002 sein Konzept für ein Brückengeld zum vorzeitigen Ausstieg aus dem Berufsleben vorstellte, war er selbst 61 Jahre alt und verkündete: „Einen wie mich würde ich doch auch nicht mehr einstellen (vgl. Niejahr 2005, 19).“ Ruhestand und Alter Im staatlich geregelten dreigliedrigen Lebenslauf markiert der Eintritt in den Ruhestand den Beginn des Alters. Der zentralen Phase der Berufstätigkeit geht eine Erziehungs- und Bildungsphase voraus und folgt eine Ruhephase. Das Bildungs- und das Sozialversicherungssystem regulieren diese Phasen, die mit Jugend, Erwachsensein und Alter gleichgesetzt werden. Ein solcher Rückgriff auf Natürliches verleiht einer gesellschaftlichen Ordnung den Anschein von Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit (vgl. Kohli 1992, 234). Faktisch ist die Altersphase weit weniger reglementiert als die der Jugend, die unter dem Regime des Bildungssystems und die Erwachsenenphase die unter dem Diktat der Wirtschaft/des Arbeitslebens steht. Die Regularien des Renten- und Krankenversicherungswesens bestimmen zwar die oft erbärmlichen Lebensbedingungen der Alten, nicht jedoch deren Tagesablauf. Sie erlegen ihnen auch keine Pflichten auf. Ältere haben eine „roleless role“ in der Gesellschaft (Atchley 1976, 60) und werden zuweilen auch getadelt als Menschen, die „völlig unverpflichtet vor sich hinleben“ (Tews 1994, 58). Der Ruhestand als Phase zeichnet sich wesentlich aus durch den Gegensatz zum Erwerbsleben und legitimiert sich durch Alter als Hinfälligkeit. „Ehe es nicht über uns hereinbricht, ist das Alter etwas, das nur die anderen betrifft“, so Simone de Beauvoir (2008, 10), die umfassend über die Situation alter Menschen und das Altersbild in verschiedenen Epochen berichtet. Das eigene Älterwerden wird zumeist verdrängt. Ganze Industriezweige leben davon, dass die Menschen ihr Altern nicht wahrhaben wollen. Sprüche wie: „Man ist so jung, wie man sich fühlt.“ oder Komplimente nach dem Muster: „Aber Sie sehen viel jünger aus.“ – belegen, dass das Alter tabuisiert wird. Wenn man mit Jüngeren über ihre Zukunft spricht, hört man oft: „So alt will ich gar nicht werden.“ Altern wird weitgehend mit negativen Veränderungen, mit Verfall, Verschlechterung und Degeneration der Fähigkeiten verbunden. Das Untauglichkeitsurteil, das eine kapitalistische Wirtschaft über die von ihr ruinierten alten Menschen fällt, wird auf das Alter an sich übertragen. Juristisch spielt das (höhere) Alter abgesehen vom öffentlichen Rentenwesen keine Rolle. Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt keinen Unterschied zwischen einem 40- und einem 100-Jährigen. Ähnliches gilt für den kulturellen Bereich: Es gibt eine Jugendliteratur und Kindertheater, aber keine Seniorenliteratur – abgesehen von der seit einiger Zeit anschwellenden Ratgeberschwemme. Mediale Angebote, die sich explizit an „Alte“ wenden, haben es schwer, da ja keiner dazugehören will. In Volkshochschulkursen und klassischen Konzerten sieht man zwar überwiegend Grauköpfe, die nach ihrem Selbstverständnis jedoch keine Besucher einer Seniorenveranstaltung sind. Im Marketing werden beschönigende Prägungen wie „Best Ager“ oder „Silver Generation“ gebraucht. Alt sein, bedeutet nicht mehr brauchbar und letztlich hilfsbedürftig zu sein. Und damit gilt der Mensch in der Konkurrenzgesellschaft nichts mehr, ist nur noch Verwahrungs- und Versorgungsobjekt. Das Alter als Lebensphase konstituiert sich unter Aspekten von Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Dabei wird seit einigen Jahren der Beginn des Alters mit einem bestimmten Lebensjahr in Frage gestellt und das pauschale Aussortieren aus dem Berufsleben kritisch gesehen, da die Aussortierten keinen gesellschaftlichen Beitrag mehr leisten und nur noch Kostgänger sind. Die Last für die Gesellschaft, die sie darstellen, gilt es möglichst zu verringern, die Alten differenziert zu betrachten, statt sie pauschal abzuqualifizieren und ihre nützlichen Seiten zu entdecken.

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Zu allen Zeiten, lange bevor es die Einrichtung des Ruhestands gab, haben Philosophen und Dichter versucht, das Alter als Lebensphase zu rehabilitieren und gegen die gängigen herabsetzenden Darstellungen zu verteidigen. Am bekanntesten sind wohl Ciceros „De Senectute“ und Jakob Grimms Rede über das Alter. Nach Cicero wird das Nachlassen von Kraft und Schnelligkeit kompensiert durch Voraussicht, Autorität und Entschlusskraft. Er zieht zum Vergleich die Tätigkeit eines Steuermanns heran, der nicht auf die Masten steigt oder durch das Schiff läuft, sondern ruhig auf dem Hinterdeck sitzt und dabei Wichtigeres tut als die geschäftigen Matrosen. Für Jakob Grimm steht die Fähigkeit der Alten auch zu „strengen Arbeiten“ außer Frage. Wichtiger noch erscheint ihm aber eine zunehmende Klarheit und Freiheit des Geistes: „Je näher wir dem Rande des Grabes treten, desto ferner weichen von uns sollten Scheu und Bedenken, die wir früher hatten, die erkannte Wahrheit, da wo es an uns kommt auch kühn zu bekennen (Jakob Grimm, Rede über das Alter).“ Artur Schopenhauer hat sich ausführlich über das Alter geäußert und betont neben dem Zuwachs an Erfahrung auch die geistige Unabhängigkeit, die durch den Verlust aller Illusionen entsteht: „Erst im späten Alter erlangt der Mensch ganz eigentlich das horazische nil admirari, d. h. die unmittelbare, aufrichtige und feste Überzeugung von der Eitelkeit aller Dinge und der Hohlheit aller Herrlichkeiten der Welt: die Schimären sind verschwunden (Artur Schopenhauer: Vom Unterschiede der Lebensalter).“

Für die Wissenschaft ist das Alter bzw. Alterungsprozesse ein relativ neues Thema.

Der Ruhestand: Perspektiven eines Arbeitslebens

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