Читать книгу Pater Noster - Carine Bernard - Страница 5

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DONNERSTAG

Deborah stand vor dem Spiegel und sah, wie ihre Mutter hinter ihr in der Tür zum Badezimmer auftauchte.

»Mama, brauchst du am Wochenende dein Auto?« Sie war noch im Bademantel und rubbelte die blonden Haare mit einem Handtuch trocken.

»Am Wochenende? Kind, das weiß ich doch jetzt noch nicht!«

Marion Peters trat näher und sah sie fragend im Spiegel an. »Wofür brauchst du es denn?«

»Weißt du nicht mehr? Ich bekomme heute die Schlüssel für meine Wohnung«, erwiderte Deborah. »Ich wollte am Samstag zu IKEA fahren und Möbel kaufen.«

»Möbel kaufen?« Das Gesicht der Mutter erhellte sich. »Soll ich mitkommen?«

»Mama, ich bin fünfundzwanzig, ich bin kein Baby mehr«, wimmelte Deborah sie ab. Ihre Mutter meinte es gut. Aber im Bemühen, ihr zu helfen, neigte sie dazu, alles selbst in die Hand zu nehmen. Für Deborah war es das erste Mal, dass sie eine Wohnung bezog, die sie ganz für sich hatte. Schon seit Tagen richtete sie in Gedanken das Zimmer ein und freute sich darauf, Bett, Tisch und Stühle auszusuchen. Womöglich stieß sie ihre Mutter mit ihrer Ablehnung vor den Kopf, das täte ihr zwar leid, aber es änderte nichts an ihrer Entscheidung.

»Trinkst du noch einen Kaffee mit mir, Debbie?« Ihre Mutter ließ sich keine Verstimmung anmerken. Sie war schon auf dem Sprung zur Arbeit. Schick gekleidet in ein helles Kostüm, die dunkelblonden Haare kurz geschnitten, sah sie deutlich jünger aus als Ende vierzig. Deborah lächelte ihr im Spiegel zu.

»Ja, Mama, gerne. Ich komme gleich runter!«

Während ihre Mutter die Treppe hinunterging, inspizierte Deborah kritisch ihr Gesicht: die Nase etwas zu groß, der Mund ein wenig zu breit. An den Zähnen hätte ein Kieferorthopäde heute gut verdient, aber als Teenager hatte sie keine Zahnspange tragen wollen. Wirklich zufrieden war sie eigentlich nur mit ihren Augen. Wenn die Beleuchtung stimmte, waren sie von einem erstaunlichen Grün, so wie jetzt, unter der hellen Lampe am Spiegel. Ihre blonden Wimpern umgaben die Iris wie ein goldener Kranz, den Deborah hasste, denn ohne Wimperntusche waren sie praktisch unsichtbar.

Sie streckte sich selbst die Zunge heraus und folgte ihrer Mutter in die Küche.

Die goss ihr gerade eine Tasse Kaffee ein und stellte die offene Milchpackung daneben.

»Ich muss gleich los«, sagte sie und sah auf ihre Armbanduhr. »Wenn ich dich mitnehmen soll, musst du dich jetzt sehr beeilen.«

»Danke, Mama, heute nicht. Ich wollte die Wohnungsschlüssel abholen, bevor ich zur Arbeit fahre. Dann kann ich heute Nachmittag die ersten Sachen von Stefan hinbringen.«

»Ach so.« Ihre Mutter sah sie aufmerksam an. »Hast du etwas von ihm gehört? Wie geht es ihm?«

Deborah schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«

»Schade. Du weißt, ich mochte ihn immer sehr gern.« Marion Peters stand auf.

Deborah holte tief Luft. Eine scharfe Erwiderung lag ihr auf der Zunge.

»Aber es ist natürlich deine Entscheidung«, setzte ihre Mutter schnell hinzu. Sie drückte Deborah zum Abschied einen Kuss auf die Wange, dann war sie weg und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Deborah blickte aus dem Fenster und sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie zwei Stockwerke tiefer das Haus verließ und in ihren Wagen stieg. Erst als der silberne Renault um die Straßenecke verschwunden war, stieß sie sich vom Fenster ab und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. Gedankenverloren sah sie zu, wie sich die Milch in einer Wolke im Schwarz verteilte und goldbraune Schlieren entstanden. Sie seufzte.

Stefans Espressomaschine vermisste sie nach ihrer Trennung am meisten, zumindest redete sie sich das ein. Die Kaffeemaschine und Josh, den struppigen Mischlingshund, den Stefan irgendwann mit nach Hause gebracht hatte und der sie beide innerhalb von 24 Stunden um den Finger gewickelt hatte.

Stopp, befahl sie sich selbst. Das Grübeln führte zu nichts. Die Trennung von Stefan war die richtige Entscheidung gewesen. Die einzige Lösung, wenn sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte. Und zum Teufel mit dem ständigen Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben!

Deborah stellte die leere Tasse mit unnötiger Heftigkeit in die Spüle und ging die steile Treppe nach oben. Ihre Mutter hatte ihr das Zimmer in der gemütlichen Maisonettewohnung in der Krahestraße immer frei gehalten, obwohl sie schon vor – sie musste kurz rechnen – fast fünf Jahren ausgezogen war. Erst die begonnene Fotografenlehre nach dem Abitur, da hatte sie noch zu Hause gewohnt. Dann ein Jahr als Au-pair in England. Im Anschluss daran das Studium an der Fachhochschule für Grafik und Design. Hier hatte sie Stefan kennengelernt, der damals noch Assistent an der Uni gewesen war. Sie hatten sich verliebt und schon nach wenigen Wochen war sie bei ihm eingezogen.

Ihre Mutter hatte in all den Jahren hinter ihr gestanden und ihre Pläne immer unterstützt. Dafür war Deborah ihr aus ganzem Herzen dankbar. Auch diesmal hatte sie keine Fragen gestellt, als sie vor ungefähr eineinhalb Monaten, nur mit einem Rucksack in der Hand, vor der Tür gestanden hatte. Sie tat so, als wäre Deborah nie fort gewesen, sondern nahm sie einfach in die Arme. Stefan Schrödinger hatte sie bis heute mit keinem Wort erwähnt.

Trotzdem fühlte sich Deborah eingeengt und war froh, dass diese Zeit nun zu Ende ging. Bald würde sie ihre eigenen vier Wände haben. Heute, genau genommen, wurde ihr plötzlich klar.

Die Wohnung war ein Glücksgriff. Klein natürlich, keine zwanzig Quadratmeter groß, ein Wohnschlafzimmer und ein winziges Bad, dazu eine Kochnische, die kaum die Bezeichnung verdiente, aber sie gehörte ihr, ihr ganz allein. Finanziell würde es eng werden, das war ihr klar. Von dem Geld, das sie als Praktikantin bei Schulze & Niess verdiente, ging fast die Hälfte für die Miete drauf. Aber sie hatte schon früher mit wenig Geld auskommen müssen und sie würde es wieder schaffen.

Deborah sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb neun. Wenn sie gleich noch die Schlüssel abholen wollte, musste sie sich langsam beeilen. Die anderen in der Agentur tauchten meistens erst gegen zehn auf, aber sie legte großen Wert darauf, immer zu den Ersten zu gehören.

Sie ging ins Bad und begann mit dem täglichen Morgenritual. Sie verrieb getönte Tagescreme im Gesicht, zog die Lidränder mit grauem Kajal nach, fluchte, als sie mit dem Stift abrutschte, und feuchtete ein Wattestäbchen mit der Zunge an, um das Malheur wieder zu beseitigen. Zuletzt noch die Wimperntusche, warmes Braun für den Natural Look, und schimmernden braunen Lipgloss. »Nude« stand auf der Hülse, und wie jeden Tag fragte sie sich, wer ausgerechnet einer Lippenstiftfarbe so einen Namen geben konnte.

Ihr Haar war inzwischen fast trocken und sie besprühte es großzügig mit Glättungsspray. Während sie es föhnte, bürstete sie es kräftig, bis sich der gewünschte Effekt einstellte: seidige Wellen, die in weichem Schwung ihr Gesicht umrahmten und bis zu den Spitzen ihrer Brüste reichten. Es war etwas heller als das ihrer Mutter, besonders jetzt im Sommer, und frisch gewaschen und geföhnt glänzte es wie poliertes Gold – zumindest solange das Wetter trocken blieb.

Deborah suchte ein breites Haargummi in ihrem Kulturbeutel und band die blonde Mähne straff im Nacken zusammen. Dann lockerte sie den Haaransatz mit den Handflächen und schob den Pferdeschwanz zurecht, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.

Eigentlich trug sie ihr Haar lieber offen. Überhaupt fand sie den ganzen Aufwand jeden Morgen lästig, aber in der Agentur wollte sie gepflegt und gestylt wirken. Außerdem störten die Haare, wenn sie am Zeichentisch saß und sie ihr ständig ins Gesicht fielen.

Sie ging zurück in ihr Zimmer, um sich anzuziehen: dunkle Jeans und helle Bluse, die Uniform der Kreativen in der Werbebranche. Keine bunten T-Shirts mehr mit witzigen Sprüchen darauf, wie noch an der Uni. Sie entschied sich heute für ein kurzärmeliges Seidenhemd in kühlen Grün- und Blautönen, das mit ihren Augen harmonierte. Eigentlich gehörte noch ein lässiger weißer Seidenschal dazu, aber dafür war es heute zu heiß. Ein kurzer Blick auf das Thermometer am Fenster zeigte jetzt schon 25 Grad.

Carl Schulze stellte seinen Wagen unter der alten Kastanie ab. Einen Augenblick blieb er noch im Auto sitzen. Er liebte diese stille Zeit am Morgen und genoss es, ein oder zwei Stunden in der Agentur für sich allein zu haben, bevor seine Mitarbeiter kamen und der tägliche Trubel losging. Zum Glück waren kreative Köpfe in der Regel keine Morgenmenschen. So konnte er die Verwaltungsaufgaben der Agentur morgens in aller Ruhe erledigen, bevor sich alle um zehn zur Teambesprechung einfanden.

Er schwang seine Beine aus dem Sportwagen. Der schattige Hinterhof, in dem die Werbeagentur Schulze & Niess ihre Räumlichkeiten hatte, empfing ihn mit morgendlicher Kühle. Das unscheinbare Haus mit der abbröckelnden Fassade in der Neusser Straße verriet nicht, welches Juwel sich dahinter verbarg: ein verwinkelter Hof mit Steinpflaster und mehreren großen Bäumen, umgeben von einem Zaun, der die Last einer üppig blühenden Clematis kaum zu tragen vermochte, und an der Hauswand eine Kletterrose, die ihre dunkelroten Blüten zum Licht reckte. Kleine runde Tische, zierliche Klappstühle, noch an der Wand lehnend, und eine altmodische Parkbank luden zu einem Schwatz in der Pause ein. Auf einem Podest neben dem Eingang thronte ein steinerner Löwe, die Mähne schwarz vom Alter. Hochmütig sah er auf die Menschen herab, die hier täglich ein und aus gingen. Carl nickte ihm grüßend zu, während er unter seinem strengen Blick hindurchging.

Er schloss das zweiflügelige Holztor auf und öffnete die Glastür dahinter. Mit einem Griff stellte er die Alarmanlage ab. Anschließend drückte er eine Taste neben der Tür und polternd fuhren die schweren Rollläden vor den Fenstern hoch. Es wurde hell. Er betrat den geräumigen Eingangsbereich und der vertraute Geruch stieg ihm in die Nase: altes Holz, gemischt mit heißem Kunststoff und Farbe, dazwischen eine Spur Lösungsmittel. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Atelier der Grafiker mit seinen riesigen Monitoren und den langen Arbeitstischen, die sich rundum an der Wand entlangzogen. Breite Panoramafenster spendeten den vorderen Tischen natürliches Licht, während im Hintergrund starke Neonröhren aufflammten, als er den Schalter betätigte.

Ein offener Durchgang mündete in einen kurzen Flur. Rechts befand sich die kleine Küche und dahinter der Serverraum. Alle Kontrolllampen blinkten in beruhigendem Grün, stellte Carl mit einem Blick fest, und die Klimaanlage surrte gleichmäßig.

Linker Hand waren die beiden Türen zu den Büros der Geschäftsführung, dem von Boris und seinem eigenen. Am Ende des Gangs führte eine unscheinbare Metalltür wieder nach draußen in den Hof, wo die Müllcontainer standen. Sie war abgesperrt und der Schlüssel hing wie immer an einem Haken daneben.

In der Tür zu seinem Büro blieb Carl stehen. Ohne hinzusehen, schaltete er die Espressomaschine ein. Während er wartete, bis das Gerät in Bereitschaft war, ließ er den Blick durch den Raum schweifen.

Der alte Parkettboden war auf Hochglanz poliert und reflektierte die Sonne, die durch das bodentiefe Fenster hereinfiel. Schräg vor dem Fenster thronte der riesige Schreibtisch mit den beiden Monitoren. An der Wand dahinter zogen sich bis zur Decke die Regale mit dem Herz der Agentur: Briefe, Entwürfe, Verträge, Unterlagen, Dokumente und Rechnungen, die sichtbaren Beweise seiner Erfolge, abgelegt hinter unscheinbaren Aktendeckeln. Links von ihm hing ein surrealistisches Aquarell in bunten Farben. Unter dem Bild stand eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder. Gegenüber war ein riesiges Whiteboard an der Wand befestigt, über und über bedeckt mit Notizen und Bildern von aktuellen Projekten: ein Schriftzug mit tanzenden Figuren, ein Faltkarton, das Storyboard eines Fernsehspots, Ideen aus dem Brainstorming zum Namen eines Produkts. Es war sein perfekter Arbeitsplatz.

Auf dem futuristischen Sideboard neben der Tür stand die Espressomaschine, chromblitzend und teuer. Darunter war eine Bar mit einem Kühlschrank eingebaut.

Das grüne Licht leuchtete auf. Dankbar sah er zu, wie der starke Kaffee in die dickwandige Tasse lief. Dampf stieg auf und er schnupperte erfreut.

Boris lehnte all das ab, so wie er jeden Protz und Prunk ablehnte. Wenn es nach ihm ginge, würde sein Kompagnon und Freund am liebsten unter freiem Himmel arbeiten, aber davon hatte Carl ihn zum Glück abgebracht. Boris hatte sein eigenes Büro nebenan, mit viel Licht und ausreichend Platz, um all seine Ideen zu Papier zu bringen und – wie es seine Art war – an drei oder fünf Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Carl hielt den Atem an und lauschte, doch aus dem Nebenraum drang kein Laut. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass Boris noch nicht da war, denn sonst wäre schon Musik zu hören. Indisch, irisch, japanisch, meditatives Gezimbel, wie Carl es im Stillen nannte, und überhaupt nicht sein Fall. Aber er nahm es hin, so wie er fast alles hinnahm, was seinen Geschäftspartner betraf.

Er und Boris hatten die Agentur vor neun Jahren gegründet, als Boris gerade dabei war, der Kunstwelt endgültig den Rücken zu kehren. Boris hatte Kunst studiert. Schon während des Studiums war er zu einem gefragten Talent der Düsseldorfer Szene avanciert. Sehr früh machte er sich mit eigenen Ausstellungen einen Namen und die neureiche Schickeria feierte ihn wie einen jungen Gott. Bis er zusammengebrochen war unter dem Druck, ständig etwas Neues und immer noch Besseres abliefern zu müssen.

Carl hatte ihm vorgeschlagen, sich stattdessen der materiellen Seite der Kunst zuzuwenden. In der Werbebranche könne er sich noch besser verwirklichen, legte Carl ihm dar. Er müsse sich nicht mehr mit Kunden und Finanzen abgeben, das würde Carl für ihn erledigen. Am Ende brachte Boris sein beträchtliches Barvermögen in die Firmengründung ein, während er, Carl, seine beruflichen Kontakte aus den Jahren als Marketingleiter beisteuerte. Dank dieser Verbindungen zogen sie gleich zu Beginn einige lukrative Aufträge an Land, mit denen Schulze & Niess ihren gegenwärtigen Ruf in der Branche begründeten.

Carl war durch und durch Geschäftsmann. Er hatte seinen Abschluss in Wirtschaftspsychologie gemacht und im Anschluss noch einige Semester an der renommierten London Business School absolviert. Seine Stärke lag in der Planung, in der Konzeption eines Gesamtpakets, in der raschen Erfassung aller Aspekte einer Sache. Er erkannte sehr genau, wie gut er und Boris sich ergänzten. Der kreative Kopf und der Umsetzer, so sah er ihre Zusammenarbeit, und der Erfolg der letzten Jahre gab ihm recht.

Carl kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten der Agentur Schulze & Niess. Er entschied, an welchen Ausschreibungen sie teilnahmen, in welche Kontakte investiert wurde und welche Aufträge für ihr Team geeignet waren. Boris hatte als Art Director weitgehend freie Hand in der künstlerischen Arbeit und bei der Auswahl der Mitarbeiter.

Nur schien diese Aufteilung in den letzten Monaten nicht mehr so richtig zu funktionieren. Boris mischte sich zunehmend in Carls Kompetenzen ein. Er verlangte mehr Mitspracherecht bei der Auswahl der Aufträge. Störrisch verweigerte er die Mitarbeit an Projekten, die ihm nicht zusagten. Im Gegenzug hatte sich Carl über Boris hinweggesetzt, indem er Deborah als Praktikantin einstellte. Er musste sich eingestehen, dass er überhaupt nicht auf ihre berufliche Qualifikation geachtet hatte, sondern nur auf ihre meergrünen Augen, als er ihr den Praktikumsplatz zusagte. Boris war stinksauer gewesen, nicht auf Deborah, die sich als ausgesprochen talentiert und in jeder Hinsicht als Bereicherung für das Team erwiesen hatte, sondern wegen Carls eigenmächtiger Vorgehensweise.

»Schwanzgesteuert«, hatte Boris ihn genannt und ihn daran erinnert, dass sie die Beschäftigung von Praktikanten zu einem Hungerlohn, wie es in der Branche üblich war, immer abgelehnt hatten.

Carl runzelte die Stirn, als er sich an die unschöne Szene erinnerte. Beim Gedanken an die ihm noch bevorstehende Diskussion verzog er angewidert das Gesicht. Er hatte Boris bis heute nichts von der aktuellen Ausschreibung erzählt, zu deren Präsentation sie morgen eingeladen waren. Aber was hätte er sonst auch tun sollen? Er wusste schließlich genau, wie Boris reagieren würde.

Der Auftraggeber war Rheopharm, ein Pharmakonzern, der üblicherweise nur mit einer internationalen Agentur in Berlin zusammenarbeitete. Aber die Kampagne, um die es ging, sollte diesmal in Düsseldorf konzipiert werden, durch »ein junges Team für ein junges Produkt«, wie es in der Ausschreibung hieß. Für Schulze & Niess bedeutete das, einen Fuß in die Tür eines wirklich großen Kunden zu bekommen. Mit dem Renommee, das die Agentur durch so einen Auftrag bekäme, spielten sie plötzlich in einer anderen Liga, sie würden zu den Großen der Branche gehören. Carl fand diesen Schritt wichtig und notwendig. Nur wenn sie sich ständig weiterentwickelten, konnten sie mit dem sich schnell ändernden Markt mithalten.

Boris interessierte das jedoch nicht. Er war mit ihren bisherigen Erfolgen völlig zufrieden, und ihm fehlte jeglicher Ehrgeiz, noch weiterzukommen. Er war der Meinung, sie verdienten mit Schulze & Niess schon jetzt genug, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Jeder Euro mehr wäre ungehörig, waren seine Worte gewesen. Und überhaupt, eine Pharmafirma! Das war ja noch schlimmer als der Automobilkonzern, an dessen Ausschreibung teilzunehmen er sich letztes Jahr schlichtweg geweigert hatte.

Deshalb hatte Carl diesmal gar nichts gesagt. Mit einem kleinen Team, zu dem in der Endphase auch Deborah gehörte, hatte er die Konzeption und die ersten Entwürfe allein durchgezogen. Offenbar waren sie auch ohne Boris erfolgreich gewesen, denn sonst wären sie nicht zur Bekanntgabe des Siegers eingeladen worden.

Er griff nach dem Brief mit der Einladung, der vor einigen Tagen gekommen war. Er las ihn nochmals durch, obwohl er den Text bereits auswendig kannte.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben sich an der Ausschreibung zu unserer Werbekampagne »Ein Schmerzmittel für Kinder und Jugendliche« beteiligt. Wir dürfen Ihnen hiermit mitteilen, dass Sie zu den drei Bewerbern in der Endausscheidung gehören.

Wir freuen uns, Sie am Freitag, dem 19. Juni, um 13.00 Uhr zur Bekanntgabe des Gewinners in unseren Räumlichkeiten zu begrüßen.

Hochachtungsvoll

Marianne Leidenberg

Projektleitung Rheopharm

Sollten sie die Ausschreibung wirklich gewonnen haben, blieb ihm natürlich keine Wahl. Dann musste er Boris davon erzählen und er konnte sich dessen Reaktion nur zu gut vorstellen. Der Streit war vorprogrammiert. Aber diesmal würde er nicht nachgeben, nicht bei einer so großen Chance. Er legte den Brief zur Seite und fuhr seinen Computer hoch.

Deborah saß auf ihrem Schreibtisch und die Hälfte der Agenturmitarbeiter hatte sich um sie geschart. Voller Begeisterung erzählte sie von ihrer neuen Wohnung, als ob es sich um einen Palast handelte und nicht um ein winziges Zimmer unter dem Dach.

»Und heute Morgen habe ich die Schlüssel abgeholt«, schloss sie und klimperte wie zum Beweis mit ihrem Schlüsselbund.

»Wieso hast du uns nicht schon früher davon erzählt, Debs?«, fragte Sam, der Animateur, wie sie ihn liebevoll nannten, der Spezialist für Computeranimation.

»Ich war abergläubisch«, gab Deborah zu. »Ich wollte erst ganz sichergehen, dass alles klappt.«

»Wann hast du den Vertrag unterschrieben?«, wollte Klaus wissen. Er war Werbegrafiker, so wie Deborah, und hier in der Agentur so etwas wie ihr Tutor. Er hatte sie unter seine Fittiche genommen, als ihr Praktikum vor zwei Monaten begann.

»Letzte Woche.« Deborah sah sich im Kreis ihrer Kollegen um, die ihr in der kurzen Zeit schon so ans Herz gewachsen waren. »Sobald ich eingerichtet bin, gibts eine große Party, und ihr seid alle eingeladen.«

Das war mutig gesprochen, denn die Wohnung war viel zu klein für eine Party mit – Deborah sah sich um und überschlug die Zahl kurz im Kopf – neun Personen, wenn man die beiden Geschäftsführer nicht mitzählte. Genau genommen wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Noch war die Wohnung leer und besenrein, wie es so schön hieß. Solange keine Möbel herumstanden, hätten vielleicht wirklich alle Platz.

Deborah sah kurz zu ihrem Chef hinüber, um festzustellen, ob er sich von ihrer Einladung ebenfalls angesprochen fühlte. Carl Schulze lehnte lässig im Durchgang zum Atelier und beobachtete schmunzelnd die Szene. Als er ihren Blick bemerkte, hob er fragend die Brauen. Schnell sah sie wieder weg und befeuchtete mit der Zunge die plötzlich trockenen Lippen.

»Und was zahlst du jetzt dafür?« Es war klar, dass diese Frage kommen musste, und natürlich war es Svenja, die sie stellte. Die Texterin nahm nie ein Blatt vor den Mund. Sie trug auch nie etwas anderes als Schwarz: schwarze Kleidung, schwarze Stiefel, raspelkurze schwarze Haare, schwarzer Kajal und dazu ein blutroter Lippenstift.

»180 Euro kalt«, antwortete Deborah und grinste übers ganze Gesicht.

»Wie hast du …« – »Wie findet man so was …« – »Wen hast du dafür …«

Alle riefen durcheinander, als sie den Mietpreis hörten. Für Düsseldorfer Verhältnisse war das geradezu verboten günstig und für Oberbilk schlichtweg unvorstellbar. Dafür bekam man normalerweise kaum einen Verschlag in einem Keller.

»Ihr werdet es nicht glauben.« Deborah senkte verschwörerisch die Stimme. »Ihr kennt doch die Litfaßsäule vor der Uni, wo die Studenten immer alles Mögliche anschlagen?«

Alle nickten und murmelten zustimmend.

»Da war ein Aushang für die Wohnung mit einer Telefonnummer. Ich rief da an, traf mich mit dem Hausbesitzer und aus irgendeinem wunderbaren Grund habe ich sie bekommen.« Deborah strahlte noch immer. Irgendwie konnte sie es selbst noch gar nicht glauben.

»Und du musstest nicht …« Svenja unterbrach sich und hüstelte übertrieben.

Alle lachten.

»Nein, was denkst du denn!« Deborah gab sich empört. »So weit würde ich für eine Wohnung dann doch nicht gehen.«

»Gibt aber genug Leute, die da weniger Hemmungen haben«, bemerkte Svenja mit ihrer kratzigen Stimme. »Wenn das nicht so war, dann hast du wirklich Glück gehabt.«

Deborah gab ihr im Stillen recht. Was sie in den letzten Wochen bei ihrer Wohnungssuche erlebt hatte, passte durchaus zu Svenjas Bemerkung. Aber so etwas war für sie natürlich nicht infrage gekommen und am Ende hatte sich ihre Geduld ausgezahlt.

Der Hausbesitzer war ein liebenswürdiger älterer Herr, der das kleine Appartement normalerweise an Studenten vermietete. Dass Deborah bereits arbeitete, gefiel ihm. Deborahs Mutter war bereit, die Kaution zu bezahlen, also stand dem Abschluss des Mietvertrags nichts mehr im Wege.

Carl Schulze stieß sich vom Türrahmen ab und schlenderte in das Großraumbüro, in dem sich inzwischen alle Mitarbeiter um Deborahs Platz versammelt hatten.

»Deborah, was hältst du davon, wenn wir das mit einem Glas Sekt begießen?«, schlug er vor. »Ich gebe einen aus!«

Ihr Chef war der Einzige hier, der sie Deborah nannte, alle anderen in der Agentur riefen sie Debs. Aber sie mochte es, wie Carl Schulze ihren Namen aussprach, englisch, mit der Betonung auf dem e, sodass er mehr wie »Debra« klang.

Er nickte Sam zu, der erfreut grinste und nach hinten verschwand. Schnell kam er mit zwei Flaschen Prosecco und einigen Gläsern zurück. Carl nahm ihm die Flaschen ab und löste das Stanniol vom Verschluss.

Deborah sah das Etikett und musste lachen. »Frohe Weihnachten wünscht Schulze & Niess« stand da unter dem schwarzen Löwenkopf, der das Logo der Agentur zierte. Offenbar waren die Flaschen übrig gebliebene Werbegeschenke für Kunden, aber das änderte nichts an der netten Geste ihres Chefs.

Sam schenkte ein und der Sekt schäumte in den Gläsern. Deborah übernahm die Verteilung. Als sie Schulze sein Glas reichte, berührten sich kurz ihre Fingerspitzen. Ihr Herz klopfte schneller. Hatte er etwas bemerkt? Sie räusperte sich und überspielte ihre Verlegenheit, indem sie das Glas hob und ihm zuprostete.

»Auf deine neue Wohnung, Deborah!«, sagte er und seine Stimme klang wie das Schnurren einer Katze.

»Auf deine Wohnung«, stimmten die anderen ein. »Und auf eine schöne Zeit, Debs«, fügte Klaus hinzu. »Möge sie dir schnell ein Zuhause werden!«

»Das wird sie bestimmt«, erwiderte Deborah. »Heute werde ich noch die Wände streichen, sauber machen und die ersten Sachen hinbringen. Und am Wochenende gehts zu IKEA.«

Carl sah unauffällig auf die Uhr. Die Gläser waren geleert und die Glückwünsche verstummt. Er klatschte mehrmals in die Hände und rief: »Genug gefeiert, meine Herrschaften, nun geht es wieder an die Arbeit!«

Er betrat sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Überrascht hob er den Kopf, als er die leise Stimme seines Partners hörte.

»Da bist du ja endlich. Habt ihr dein Schätzchen ausgiebig gefeiert?« Eine deutliche Anklage schwang in den Worten mit. Boris hatte ihm die Eigenmächtigkeit mit Deborah noch immer nicht verziehen. Er saß in Carls Stuhl und trommelte mit seinen dürren Fingern auf der Tischplatte.

»Sei nicht unfair, Boris«, antwortete Carl ruhig. »Du siehst doch, dass sie gute Arbeit macht.«

»Das kann schon sein, aber dann zahlen wir ihr nicht genug«, schnappte Boris zurück. »Und wir brauchen keinen weiteren Grafiker, das weißt du ganz genau.«

Carl schwieg. Im Grunde hatte Boris recht, aber das würde er ihm gegenüber nicht zugeben. In den Machtspielchen, die Boris in der letzten Zeit immer öfter herausforderte, gab er sich besser keine Blöße.

»Was führt dich in mein Büro?«, fragte er stattdessen. Betont gleichgültig ließ er den Blick über die mit Papieren bedeckte Arbeitsfläche gleiten.

»Ich wollte eigentlich nur die letzten Entwürfe für den Biolieferdienst mit dir durchgehen«, erwiderte Boris. Seine Stimme klang nur mühsam beherrscht. »Aber dann fand ich das hier.«

Er hielt den Rheopharm-Brief hoch und wies mit einem Finger anklagend auf Carl.

»Ich …« Carl kam nicht zu Wort.

»Du hast hinter meinem Rücken an dieser Ausschreibung teilgenommen! Du wusstest ganz genau, dass ich dem niemals zugestimmt hätte.«

Carl nickte. Es abzustreiten hatte keinen Sinn mehr. »Es ist nur ein kleiner Auftrag, aber er wäre eine einmalige Chance …«

Boris unterbrach ihn mit erhobener Stimme. »Eine einmalige Chance, sich an einen dreckigen Pharmakonzern zu verkaufen! Ein Konzern, der Tierversuche macht, der in Dritte-Welt-Ländern produziert und sich einen Teufel um die Umwelt schert. Und dafür wirfst du alle unsere Prinzipien über den Haufen?«

»Unsere Prinzipien?« Carl wurde jetzt ebenfalls laut. »Das sind deine Prinzipien, diese unausgegorene Öko-Kacke, auf der du ständig herumreitest, und nicht meine oder gar die der Agentur! Du weißt ganz genau, dass ich immer auf dich Rücksicht nehme und dir entgegenkomme, wo es nur geht, aber du kannst nicht alles ablehnen, womit wir unser Geld verdienen!«

»Ach, ums Geld geht es dem werten Herrn? Verdienst du nicht schon genug? Bekommst du den Hals nicht mehr voll?« Boris’ Stimme wurde schrill und er schnappte nach Luft. »Selbst du, Carl, kannst nicht mit zwei schnellen Autos gleichzeitig fahren, und mehr als ein Haus braucht auch kein Mensch!«

Carl schüttelte zornig den Kopf. »Es geht überhaupt nicht ums Geld, Boris. Aber du weißt ganz genau, dass wir uns nicht da halten können, wo wir jetzt sind, wenn wir nicht ständig nach vorne schauen und uns weiterentwickeln. Wir können es uns einfach nicht leisten, so ein prestigeträchtiges Projekt nicht wahrzunehmen. Sonst gehen wir in der Masse unter, und das willst du genauso wenig wie ich.«

Carl hatte sich in Fahrt geredet. »Ich lasse dir gerne deine Prinzipien und deinen Öko-Trip, du kannst leben, wie du willst. Aber bitte halte das aus unserer Arbeit raus, das funktioniert nämlich nicht.«

»Das werde ich bestimmt nicht tun. Mein Öko-Trip, wie du es nennst, ist nämlich eine Grundeinstellung, die mein Leben ausmacht, und nicht ein Mäntelchen, das ich an der Bürotür abgebe.«

Die Stimme seines Partners kippte bei den letzten Worten.

»Aber Boris …«

»Nichts mit aber Boris. Solange du deine Weibergeschichten nicht aus der Arbeit heraushältst, brauchst du mir so überhaupt nicht zu kommen!«

Boris’ Gesicht war rot angelaufen und er fuchtelte mit dem Brief in der Luft herum. Seine dünnen blonden Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab.

»Du wirst diesen Auftrag nicht annehmen, hörst du?«, kreischte er. »Keinen Handschlag wird unsere Agentur für diese Firma tun, hast du mich verstanden?«

Carl atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. »Das entscheiden wir morgen. Noch haben wir den Auftrag ja nicht. Ich werde morgen mit Klaus zu der Präsentation gehen und …« Er hob warnend den Finger und deutete auf Boris, der ihm schon wieder ins Wort fallen wollte. »Nein, du hörst jetzt mir zu. Wir besprechen das morgen, sobald wir wissen, wer die Ausschreibung gewonnen hat. Und jetzt raus hier, ich habe zu arbeiten.«

Carl öffnete auffordernd die Tür und Boris stürmte wutschnaubend aus dem Zimmer. Eine Tür knallte, und Carl erkannte an dem scheppernden Geräusch, dass Boris das Gebäude durch den Hinterausgang verlassen hatte.

Draußen bei den Grafikern herrschte Totenstille. Alle Fenster zum Hof standen weit offen. Ihre Mitarbeiter hatten jedes Wort mitbekommen.

Stefan saß an dem langen Tisch in seiner Wohnung, der ihm gleichzeitig als Ess- und Arbeitstisch diente. An dem Ende, das zu der kleinen Küche zeigte, waren die Papierstapel zur Seite geschoben und es war für eine Person gedeckt. Das leise Piepen des Heißluftherds ertönte. Er legte den Brief zur Seite, den er inzwischen so oft gelesen hatte, dass er ihn auswendig herunterbeten konnte.

Mit zwei Topflappen holte er das Fertiggericht aus dem Ofen, eine billige Nudelpfanne vom Discounter, und stellte es auf den Tisch. Während das Essen etwas abkühlte, las er den Brief ein weiteres Mal durch.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben sich an der Ausschreibung zu unserer Werbekampagne »Ein Schmerzmittel für Kinder und Jugendliche« beteiligt. Wir dürfen Ihnen hiermit mitteilen, dass Sie zu den drei Bewerbern in der Endausscheidung gehören.

Wir freuen uns, Sie am Freitag, dem 19. Juni, um 13.00 Uhr zur Bekanntgabe des Gewinners in unseren Räumlichkeiten zu begrüßen.

Hochachtungsvoll

Marianne Leidenberg

Projektleitung Rheopharm

Dieser Auftrag könnte der entscheidende Wendepunkt sein, der langersehnte Anschub, den seine Ein-Mann-Agentur so dringend brauchte. Er hatte natürlich gewusst, dass es nicht einfach würde, als er sich mit seinem eigenen kleinen Grafikbüro selbstständig machte. Ihm war auch klar, dass er Geduld brauchte und es eben seine Zeit dauerte, bis er sich einen Namen gemacht hatte. Bis er durch Mundpropaganda und ein paar coole Aufträge so bekannt war, dass irgendwann jemand genau ihn und nur ihn haben wollte.

Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er das allein durchziehen musste. Für ihn war die ganze Zeit klar gewesen, dass er die Arbeit und den Erfolg mit einer Frau teilen würde, mit seiner Frau, seiner Debbie. Sie war sein Spiegelbild, die zweite Hälfte seiner Kreativität, sein ständiger Ansporn. Seit Debbie ihn verlassen hatte, verlassen musste, wie sie ihm messerscharf dargelegt hatte, fehlte ihm ein wichtiges Stück seiner Inspiration. Nur langsam fand er sich in sein Schicksal. Noch immer war er weit entfernt von dem überbordenden Ideenreichtum, der seine Arbeit früher geprägt hatte. Er vermisste ihre Diskussionen und den fachlichen Austausch. Er vermisste die Streitereien um winzige Details, das ständige Reiben an Ecken und Kanten, bis alles, was sie gemeinsam taten, rund und perfekt war. Er vermisste sie jeden Morgen, wenn er allein aufwachte, jeden Mittag, wenn er allein mit dem Hund spazieren ging, und jeden Abend, wenn er sich müde und allein in sein leeres Bett legte.

Ob sie jetzt wohl glücklich war? Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr sich Debbie in ihrer Zweisamkeit beengt gefühlt hatte. Er selbst war immer schon ein Einzelgänger gewesen, mit vielen oberflächlichem Bekanntschaften, aber kaum echten Freunden. Debbie war nicht nur seine Frau, sondern auch seine beste Freundin gewesen. Aber ihr war diese Ausschließlichkeit am Ende zu viel geworden. Seit Debbie mit dem Studium fertig war, hatte es kaum noch Kontakte mit anderen gegeben. Ihr fehlte die Inspiration von außen, zumindest hatte sie das so gesagt. Er hatte sie immer als festen Bestandteil seiner kleinen Agentur gesehen, aber plötzlich wollte sie neue Erfahrungen sammeln und sich verändern. »Sich weiterentwickeln« hatte sie es genannt und sich für ein Praktikum bei der Konkurrenz beworben, bevor er ihre Zusammenarbeit offiziell machen konnte.

Vielleicht hätte er sie gehen lassen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihren Schritt in eine große Agentur zu unterstützen, anstatt sie ganz für sich behalten zu wollen. Dann wäre sie ihm vielleicht Freundin und Partnerin geblieben. Aber nun war es zu spät, zu viele bittere Worte waren gefallen. Zu viel Geschirr war zerschlagen worden, als dass sich das so einfach wieder kitten ließe. Es war zu spät.

Er schaufelte das Essen in sich hinein, an den Geschmack nach Pappkarton hatte er sich inzwischen gewöhnt. Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. Die morgige Präsentation. Wer waren die beiden anderen Kandidaten? Würde es dieses Mal reichen, um zu gewinnen? Was hätte das für Konsequenzen für ihn und seine Arbeit? Er bräuchte wohl ein oder zwei Freelancer, wofür er sich weiter verschulden müsste. Er hatte sich nach Deborahs Auszug sehr kurzfristig zur Teilnahme entschlossen und schon einen Kredit aufgenommen, um nur den Grafiker für seine Entwürfe zu bezahlen. Aber es würde sich lohnen, vielleicht nicht so sehr in finanzieller Hinsicht, aber umso mehr für seine Reputation. Er könnte endlich aus der Masse der vielen Talentierten heraustreten und zum ersten Mal mit einer Kampagne in der großen Öffentlichkeit stehen.

Er lachte laut auf. »Hör auf zu träumen, Schrödinger«, sagte er laut, während er das Geschirr in die Küche trug und es auf der vollgeräumten Arbeitsfläche abstellte. Josh kam ihm hinterhergetrabt. Offenbar fühlte er sich angesprochen, denn er stand nun mit wedelndem Schwanz neben ihm.

Stefan nickte ihm zu. »Bist ein feiner Hund!« Er schob die restlichen Nudeln von seinem Teller in die Schüssel des Hundes und kippte eine Handvoll Hundefutter darüber. Mit der Gabel rührte er Nudeln und gepresstes Trockenfleisch um, bevor er den Napf auf den Boden stellte.

»Langsam, niemand frisst dir etwas weg«, bremste er den Hund, der das Futter sofort in sich hineinzuschlingen begann. Josh liebte Nudeln, genau wie Debbie. Früher hatten sie oft zusammen gekocht, Fertiggerichte aus dem Tiefkühlregal hatte es so gut wie nie gegeben.

Stefan schob den Gedanken mit Gewalt beiseite. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage ein. Die epischen Klänge von Nightwish und die Stimme von Tarja Turunen erklangen. Er holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, bevor er sich in seinen Lieblingssessel fallen ließ. Er schloss die Augen, als die kalte Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann, und seufzte tief. Es war heiß in seiner Wohnung, obwohl die Fenster den ganzen Tag geschlossen waren und Jalousien die Sonne aussperrten. Nur im Bad und im Schlafzimmer, die nach hinten in den Lichthof hinausgingen, waren sie weit geöffnet, aber das reichte nicht aus, um den Altbau bei 36 Grad Außentemperatur kühl zu halten.

Deborah blickte von ihrer Arbeit auf. Ein Schatten war auf ihre Zeichnung gefallen. Sie wandte sich um. Carl Schulze stand halb hinter ihr und schaute ihr über die Schulter. Wie lange beobachtete er sie schon?

Die Kehle wurde ihr eng. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, wie immer, wenn er sie so ansah. Ein wenig herausfordernd und dabei leicht amüsiert, als ob es ein Spiel wäre, von dem er wusste, dass sie es noch nicht begriffen hatte.

Sie schob den Stuhl zurück und stand eilig auf. Seine Gegenwart schüchterte sie ein, da wollte sie nicht noch zu ihm aufschauen müssen, zumindest nicht mehr als notwendig. Er wich nicht aus, als sie sich erhob. Der schwache Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Selbst im Stehen überragte er sie noch um fast dreißig Zentimeter. Schnell trat sie einen Schritt zur Seite, um seiner körperlichen Nähe zu entkommen.

Carl Schulze sah nicht nur blendend aus, er kleidete sich dazu noch mit einer lässigen Eleganz, um die Deborah ihn beneidete. Er war erfolgreich in allem, was er tat, und er war sich dessen vollkommen bewusst. Das war zumindest die Ausstrahlung, die er wie einen Schild vor sich hertrug und die dazu führte, dass sie sich neben ihm klein und unbeholfen vorkam.

Seine Mitarbeiter führte er mit fester Hand. Er brachte sich überall ein, lobte selten und kritisierte oft, aber seine Kritik war immer durchdacht und hilfreich. Ein Lob aus seinem Mund empfand Deborah als etwas ganz Besonderes.

Ihre Initiativbewerbung war ein Schuss ins Blaue gewesen. Eine spontane Aktion, um der beruflichen Enge mit Stefan zu entkommen, die sie immer mehr wie ein Gefängnis empfunden hatte. Dass sie sich ausgerechnet bei Schulze & Niess beworben hatte, war ebenfalls Stefan geschuldet, der die Kultagentur von Carl Schulze und Boris Niess abwechselnd als das größte Vorbild oder den schlimmsten Feind betrachtete, je nach Auftragslage und Kontostand.

Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, die Praktikantenstelle zu bekommen. Schulze & Niess hatten noch nie einen Praktikanten länger als einen Monat beschäftigt. Deborahs Anstellung war ein Novum und eine Chance, die sie um jeden Preis nutzen wollte.

All das ging ihr in den wenigen Augenblicken durch den Kopf, die Carl brauchte, um sich über ihre Skizzen zu beugen. Durch den offenen Ausschnitt seines Hemdes blickte sie direkt auf seine nackte Brust, dicht bedeckt von lockigen schwarzen Haaren. Ihre Wangen wurden heiß, aber zum Glück sah er sie nicht an, sondern war auf ihre Zeichnung konzentriert.

Er musterte die Bewegungsstudien der kleinen Figur, an der sie gearbeitet hatte. Es war die stilisierte Silhouette einer Tänzerin mit übertrieben schlanker Taille und langen Beinen im Stil der Zwanzigerjahre, die sich in lasziven Posen auf diversen Buchstaben rekelte.

»Ist das für die Narula Bar?«, fragte er und deutete auf die Zeichnungen.

Deborah nickte. »Ja«, krächzte sie. Sie räusperte sich und verfluchte im Stillen ihre Nervosität. Er war doch immer freundlich zu ihr, warum um alles in der Welt war sie dann in seiner Gegenwart jedes Mal so verunsichert?

»Ja, genau. Klaus hat den Schriftzug fertig und ich soll die Tänzerin draufsetzen.«

»Darf ich?« Carl nahm die Zeichnung, ging damit zum Fenster und hielt sie ins Licht. Deborah folgte ihm. Er musterte jede Skizze und wendete dabei das Blatt hin und her. Sie betrachtete währenddessen sein Profil, die klassische gerade Nase, die sinnlich geschwungenen Lippen und die dunklen Schatten auf Kinn und Wangen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie sich sein Mund auf ihrer Haut anfühlen würde. Sie schloss kurz die Augen und rief sich selbst zur Ordnung.

»Es sind nur Studien«, beeilte sie sich zu erklären. »Ich habe noch gar nicht richtig angefangen.«

Carl schüttelte den Kopf. Eine dunkle Strähne fiel ihm in die Stirn. »Nein, Deborah, das ist schon recht gut. Diese hier oben, wo die Tänzerin auf dem B von Bar sitzt, das gefällt mir. Kannst du das mal größer und am Computer machen?«

Deborah atmete tief durch und nickte. »Ja, Herr Schulze.« Ihr Herz schlug bis zum Hals, vor Freude über sein Lob wahrscheinlich, und ihre Hände waren feucht.

»Gib ihr noch ein bisschen mehr Oberweite, schließlich ist das ein Nachtklub und kein Restaurant.« Er reichte ihr das Blatt zurück und sah sie aufmerksam an. »Wie lange bist du jetzt schon bei uns?«

»Zwei Monate«, erwiderte Deborah. Was kam jetzt?

»Dann wird es Zeit, dass du Carl zu mir sagst.« Er hob einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln und zwinkerte ihr verschmitzt zu. Mit der Hand fuhr er sich durch das schwarze Haar, eine seltsam jungenhafte Geste für den großen Mann. »Wir sind hier alle per Du.«

»Ja, äh, danke, Herr Sch…, äh, Carl, ja …«, stammelte sie. Nun hatte er sie schon wieder aus dem Konzept gebracht.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Du machst tolle Arbeit, Deborah, das wollte ich dir schon länger sagen.« Er lächelte anerkennend. »Klaus hat mir erzählt, wie gut du dich bei der Schmerzmittelkampagne der Firma Rheopharm eingebracht hast.«

Deborah nickte und war ein wenig verwirrt. Die Kampagne war das aktuelle Projekt gewesen, als sie gerade ihr Praktikum begonnen hatte. Sie hatte nur einen Entwurf für die Verpackung beigesteuert. Es war ihr mehr wie ein Test erschienen und nicht wie eine richtige Arbeit.

»Morgen findet die Präsentation der Entwürfe statt und der Sieger der Ausschreibung wird bekannt gegeben«, fuhr Carl fort. »Ich hätte gerne, dass du mitkommst.«

Deborah schluckte. »Ich? Wieso …«

»Du warst doch auch daran beteiligt. Also solltest du ebenfalls dabei sein.« Carl sah sie erwartungsvoll aus grauen Augen an. Seine dunklen Wimpern waren lang und dicht wie die einer Frau.

»Aber ich …« Deborah zwang sich zur Ruhe. »Ich bin doch nur Praktikantin und ich …«

»Dann wird es eine wertvolle Erfahrung für dich sein«, beendete er das Gespräch. »Es beginnt um eins, wir fahren von hier aus gemeinsam hin.«

Im Gehen warf er einen vielsagenden Blick auf ihre Leinenschuhe. »Und zieh dir was Nettes an!«, setzte er hinzu.

Deborah sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Als ob sie das nicht wusste!

Carl schloss die Tür zu seinem Büro und lehnte sich dagegen. Sein Puls hämmerte, als ob er gelaufen wäre, und seine Hose schien ihm plötzlich eine Nummer zu eng. Er fluchte unterdrückt und zwang sich zur Ruhe.

Er wollte Deborah haben, um jeden Preis und am liebsten sofort. Wenn sie ihn so aus ihren grünen Augen ansah, geriet seine sorgfältig gepflegte Fassade ins Wanken. Doch bis jetzt schienen all seine Annäherungsversuche ins Leere zu laufen. Sie ging jedes Mal auf Distanz, wenn er sie ansprach. Er wünschte sich plötzlich, er wäre nicht ausgerechnet ihr Chef, vielleicht wäre sie dann zugänglicher. Aber nein, wenn er ehrlich war, reizte ihn gerade ihre Zurückhaltung. Frauen, die er einfach haben konnte, gab es schließlich genug.

Die Präsentation morgen war eine einmalige Gelegenheit, ihr näherzukommen, deshalb lag es nahe, Deborah mitzunehmen. Sie konnte nicht gut Nein sagen, natürlich nicht. Es war das erste Treffen außerhalb der Agentur und er würde dafür sorgen, dass es nicht das letzte blieb. Er wollte sie unbedingt haben.

Carl setzte sich an seinen Schreibtisch und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Klaus, kommst du bitte mal zu mir?«

Draußen im Atelier der Grafiker konnte er den Widerhall hören. Er rief selten einen Mitarbeiter zu sich, meistens ging er selbst hinaus zu seinen Leuten. Aber er wollte jetzt nicht noch einmal an Deborah vorbei.

Es klopfte leise, und auf Carls »Herein« betrat der Chefgrafiker das Büro.

»Klaus, wegen morgen …«, begann Carl.

Klaus Rüdiger ließ sich auf den Besucherstuhl fallen und musterte seinen Chef ungeniert. Carl wusste genau, was Klaus sah: das weiße kurzärmelige Hemd, das am Hals offen stand, die tief gebräunten, kräftigen Unterarme, die muskulösen Schultern, alles schien wie immer. Aber das sonst so sorgfältig frisierte Haar war durcheinandergeraten und seine Haut glänzte feucht, als wäre er gerade der Dusche entstiegen. Carl konnte die Frage im Blick seines Mitarbeiters schon spüren, bevor er sie stellte.

»Was ist los?«

»Ich habe Deborah eingeladen, uns morgen zu der Präsentation zu begleiten«, erklärte Carl betont beiläufig.

Klaus pfiff durch die Zähne und grinste.

»Ich finde, sie sollte dabei sein. Immerhin hat sie auch daran mitgearbeitet.« Carl breitete die Hände aus, eine eigenartige Geste, als ob er sich rechtfertigen müsste. »Außerdem war sie noch nie bei so etwas dabei. Ich finde, das ist eine nützliche Erfahrung für sie.«

»Unbedingt, Chef, keine Frage. Ich freue mich.«

Klaus klang, als meinte er tatsächlich, was er sagte. Carl wusste, dass er sehr viel von Deborah hielt. Sie alle hatten sie in den letzten zwei Monaten als hochtalentierte Grafikerin und stets lernbereite Schülerin zu schätzen gelernt. Ja, mit ihr als Praktikantin hatte er einen Glücksgriff getan.

Stefan wartete in der Tür seiner Wohnung, während Deborah die Treppe bis in den obersten Stock hochstieg. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, drängte sich Josh an ihm vorbei und begrüßte sie stürmisch. Sie beugte sich hinunter, um Josh zu streicheln, und als sie sich aufrichtete, war ihr Gesicht gerötet.

Er musterte sie von oben bis unten. Die ungewohnte Frisur ließ sie größer erscheinen. In der dunklen Hose und der hellen Bluse sah sie aus wie die Verkörperung der erfolgreichen Karrierefrau, die sie offenbar gerne werden wollte. Fast schon spießig, redete er sich ein. Von dem Hippiemädchen in ausgefransten Jeans und Schlabber-Shirts, in das er sich damals verliebt hatte, war nicht mehr viel zu bemerken. Hatte sie nicht auch abgenommen? Oder lag es wirklich nur an der Kleidung, dass sie so – er suchte in Gedanken nach dem richtigen Wort – so erwachsen wirkte?

Er trat einen Schritt zurück. »Komm rein«, sagte er und ging voraus in das große, unaufgeräumte Wohnzimmer, das gleichzeitig als Esszimmer, Büro, Atelier und Computerraum diente. Sie folgte ihm. Josh sah hoffnungsvoll von einem zum anderen.

»Ist jetzt alles wieder gut?«, schienen seine braunen Augen zu fragen.

»Wie geht es dir?« Deborahs unschuldige Frage entfachte Stefans Zorn aufs Neue.

»Was meinst du wohl, wie es mir geht, Debbie?« Er deutete auf das Chaos rundherum. »Zu viel Arbeit für einen allein, das sieht man doch!«

»Aber das ist doch gut, wenn du viel Arbeit hast!« Deborah wich seinem Vorwurf aus.

»Ja, schon, aber nicht gut genug für dich, hast du das schon vergessen?« Seine braunen Augen waren dunkel vor Schmerz. Schnell senkte er den Kopf und verbarg seinen verbitterten Gesichtsausdruck hinter den rotbraunen Locken, die ihm ins Gesicht fielen.

»Das meinte ich nicht«, antwortete Deborah. Sie ging zum Fenster und sah hinunter auf die Oberbilker Allee. Stefan fühlte den Boden erzittern, als die Straßenbahn um die Kurve fuhr.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete er resignierend. »Du meinst es ja nie so.«

»Wenn du mich ein bisschen mehr unterstützt hättest, wäre es nie so weit gekommen«, gab Deborah zurück. »Aber du konntest ja nicht akzeptieren …«

»Du konntest nicht akzeptieren, dass ich dich für unsere gemeinsame Arbeit brauche!«

Stefan schloss die Augen. Sie hatten ihren Streit übergangslos an genau derselben Stelle wieder aufgenommen, an dem sie ihn vor sechs Wochen unterbrochen hatten. Deborah war damals einfach gegangen und nicht wieder zurückgekehrt.

»Ich wollte aber auch noch etwas anderes machen! Mich weiterentwickeln und andere Dinge kennenlernen, nicht nur« – sie schloss den Raum mit ihrer Armbewegung ein – »das hier. Kannst du das nicht nachvollziehen?«

»Debbie, was ist schlecht an dem hier?« Seine heftige Betonung der letzten zwei Worte machte ihm selbst deutlich, wie verletzt er immer noch war.

»Ich wollte nur einen Teil meiner Sachen holen und nicht den alten Streit wieder aufwärmen«, sagte sie leise.

»Ja, das hast du gesagt.« Stefan gewann nur mühsam seine Beherrschung zurück. Er streichelte Josh mit schnellen hektischen Bewegungen, bis der sich seiner Hand entzog. Demonstrativ rollte er sich zu Deborahs Füßen zusammen. »Du weißt ja, wo du alles findest.«

Deborah nickte. Sie stieg über den Hund hinweg, der ihr traurig hinterhersah. Im Schlafzimmer nahm sie die leere Reisetasche von ihrer Schulter und schaute sich um.

Stefan war ihr gefolgt. Er stand in der Tür und sah ihr schweigend zu. Deborah öffnete die Spiegeltür des Kleiderschranks. Einen Augenblick lang zog sein eigenes Spiegelbild an ihm vorbei: eine schlanke Gestalt in ausgeblichenen Jeans und verwaschenem T-Shirt, mit wirrem, lockigem Haarschopf, die Hände zu Fäusten geballt in den Hosentaschen.

Deborah betrachtete den Stapel alter T-Shirts und Jeans im Schrank und schüttelte den Kopf. Sie schien eine Entscheidung zu treffen und begann mit ihren Büchern und den Stofftieren, gefolgt von ihrer CD-Sammlung, mehreren Fotoalben und der großen Mappe mit ihren Arbeiten von der Uni. Am Ende war die riesige Tasche voll und dieser Teil des Schranks von den letzten Spuren ihrer Anwesenheit befreit. Den gerahmten Fotodruck mit der Skyline von London klemmte sie sich unter den Arm, das hatte er nicht anders erwartet, denn auf diese Aufnahme war sie immer besonders stolz gewesen. Die anderen Fotos an der Wand, die in den letzten gemeinsamen Jahren entstanden waren, ließ sie hängen. Ihm war das nur recht, sie würden ihn an schöne Zeiten erinnern. Zeiten, die offenbar endgültig vorbei waren.

Deborah wandte sich zu ihm um.

»Ich komme nächste Woche noch einmal und hole den Rest«, erklärte sie. »Es ist ja nicht mehr viel.«

Er nickte nur. »Hast du inzwischen etwas gefunden?«

»Ja«, antwortete sie kurz angebunden und verbot ihm so jede weitere Nachfrage.

Er wollte es ohnehin nicht wissen. Vielleicht hatte sie ja auch schon einen Neuen, mit dem sie sich ihr Liebesnest einrichtete. Der Gedanke schmerzte und er biss die Zähne zusammen. Es war besser, wenn er es gar nicht erfuhr.

Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, ging er mit schleppenden Schritten zum Kühlschrank und holte eine Dose Bier heraus. Er ließ sich aufs Sofa fallen, die ungeöffnete Dose in der Hand, und starrte blind aus dem Fenster. Josh weckte ihn aus seiner Starre, indem er zu ihm aufs Sofa sprang und den Kopf auf seinen Oberschenkel schob. Er öffnete die Bierdose und trank sie in einem Zug zur Hälfte aus. Dann legte er die Hand auf den Kopf des Hundes und begann die seidigen Ohren zu kraulen.

Deborah ließ erleichtert die Farbrolle sinken. Die letzte Wand war fertig gestrichen. Der Eimer Farbe, den sie heute Nachmittag gekauft hatte, war so gut wie leer, dafür leuchtete das Zimmer nun in strahlendem Gelb. Das Streichen der schrägen Decke war besonders anstrengend gewesen. Stöhnend bewegte sie die schmerzenden Schultern.

Sie ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Als sie ihr Gesicht im Spiegel sah, musste sie lachen. Tausende winziger Farbspritzer übersäten ihr Gesicht wie Sommersprossen. Wenn die Leute aus der Agentur sie so sehen könnten, sie würden sie kaum wiedererkennen, ging ihr durch den Kopf. In weiser Voraussicht hatte sie wenigstens ein altes Tuch um den Kopf gebunden, sodass die Haare nicht allzu viel abbekommen hatten.

Sie säuberte gründlich ihre Hände, dann zog sie die Klebestreifen von Fenstern und Türen ab. Sie warf alles auf die riesige Plastikfolie, die den Boden komplett bedeckte und auch noch das Sofa und die kleine Einbauküche überzog. Am Ende faltete sie die Folie zu einem großen Paket und trug es vor die Wohnungstür. Sie würde es später mit hinunternehmen.

Im Bad brauchte sie nichts weiter zu tun, denn es war erst kürzlich vom Vermieter renoviert worden. Helle Fliesen zogen sich bis unter die Decke. Ein bunter Duschvorhang bauschte sich im Luftzug, als sie die Tür hinter sich schloss. Warum eigentlich? Sie war allein hier, sie konnte die Toilette genauso gut bei geöffneter Tür benutzen, aber die jahrelange Gewohnheit hielt sie davon ab. Zum Glück hatte sie daran gedacht, Toilettenpapier zu kaufen und ein Handtuch mitzubringen!

Sie wusch sich das Gesicht und rubbelte den Rest der Farbe mit dem Handtuch ab. Anschließend musterte sie sich im Spiegel. Die Farbtupfer waren verschwunden, ihr Gesicht war gerötet. Sie zog das Tuch vom Kopf und schüttelte die Haare aus. Sie hatte keine Bürste dabei, deshalb strich sie das Haar nur nach hinten und band es mit dem Haargummi wieder zusammen. Zu Hause würde sie ohnehin noch duschen.

Zu Hause? Ihr Zuhause war jetzt hier, korrigierte sie sich im Stillen. Sosehr sie ihre Mutter auch liebte, auf Dauer ging das unter einem Dach mit ihr nicht gut. Deborah war froh, jetzt endgültig auf eigenen Füßen zu stehen.

Es klopfte energisch an der Tür. Deborah erstarrte mitten in der Bewegung. Besuch? Außer ihrer Mutter kannte niemand ihre neue Adresse und die traf sich heute Abend mit ihren Freundinnen zum Bridge.

Sie spähte durch den kleinen Spion nach draußen. Zuerst sah sie – nichts. Erst als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und den Blick nach unten richtete, erkannte sie graue Locken und eine gemusterte Jacke.

»Wer ist da?«, fragte sie vorsichtshalber.

»Ich wollte Ihnen etwas bringen«, bekam sie zur Antwort. Eine leise Frauenstimme mit einem heiseren Unterton.

Deborah öffnete. Vor ihr stand eine zierliche alte Frau in heller Jogginghose. Trotz der Hitze trug sie eine bunte Strickjacke über der Bluse. Sie war ein gutes Stück kleiner als Deborah. Die silbergrauen Locken tanzten, als sie den Kopf hob, und ihr Gesicht strahlte vor Herzlichkeit. Sie streckte Deborah einen kleinen Laib Brot und einen schönen Salzstreuer aus Keramik hin.

»Salz und Brot zum Einzug, herzlich willkommen, Frau Peters!«

Deborah lächelte zurück, das Lächeln der alten Dame war ansteckend.

»Das ist aber lieb von Ihnen, danke schön!«

»Ich bin Frau Maichen, vom ersten Stock«, erklärte die Frau. »Maichen wie Mai, nur kleiner.«

Deborah musste lachen. »Das ist ein schöner Name! Kommen Sie doch herein!«

Frau Maichen stieg über das Folienpaket hinweg. Deborahs ausgestreckte Hand, die ihr helfen wollte, ignorierte sie. Anerkennend sah sie sich in dem kleinen Flur um.

»Vorsicht, ich habe gerade erst frisch gestrichen«, warnte sie Deborah. »Die Farbe ist vielleicht noch feucht.«

Die alte Frau nickte und folgte ihr ins Wohnzimmer. Deborah legte das Brot auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. Den Salzstreuer stellte sie in den leeren Hängeschrank darüber. Es roch durchdringend nach frischer Farbe.

»Wenn Sie irgendetwas brauchen, kommen Sie ruhig zu mir«, sagte Frau Maichen und sah Deborah ernst an. »Ich weiß, wie es ist, wenn man ganz allein ist.«

Deborah zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Woher wusste Frau Maichen, dass sie außer ihrer Mutter niemanden mehr hatte? Stand es ihr so überdeutlich auf die Stirn geschrieben? Kein Freund, kein Partner, nicht einmal richtige Freunde, sah man ihr das so sehr an?

Frau Maichen lächelte noch immer. »Keine Angst, ich kann nicht Gedanken lesen. Ich kann nur eins und eins zusammenzählen«, sagte sie. Dabei machte sie eine wegwerfende Handbewegung, als ob das alles nicht wichtig wäre.

»Werden Sie heute schon hier übernachten?«, wechselte sie abrupt das Thema. Sie sah sich in dem leeren Raum um, in dem bis jetzt nur das hässliche alte Sofa stand, das die Vormieter zurückgelassen hatten.

»Nein, ich fahre gleich zu meiner Mutter«, erwiderte Deborah. »Ab dem Wochenende werde ich dann hier wohnen, sobald ich meine Möbel habe.«

Frau Maichen nickte. »Dann will ich Sie nicht länger stören, Frau Peters. Alles Gute in der neuen Wohnung!«

»Ach, sagen Sie doch Debbie zu mir«, bat Deborah. Der Name ihrer Kindheit, den sie eigentlich hinter sich lassen wollte, der Name, mit dem sie außer ihrer Mutter nur noch Stefan rief, rutschte ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte. Aber Frau Maichen hatte etwas Mütterliches an sich, also passte es irgendwie doch wieder.

Frau Maichen lachte. »Na gut, Debbie. Ich bin Dorothea, wenn Sie möchten. Kommen Sie doch einmal auf eine Tasse Tee vorbei, sobald Sie eingezogen sind.«

»Danke, Frau Maichen.« Deborah stockte. »Dorothea. Das werde ich gerne tun.«

Pater Noster

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