Читать книгу Pater Noster - Carine Bernard - Страница 6

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FREITAG

Debs, hier ist Post für dich!« Monique winkte Deborah zu sich.

Es war kurz vor halb zehn. Die Sekretärin, die hier auch als Empfangsdame fungierte, saß schon an ihrem Platz hinter dem riesigen Tresen aus Wurzelholz im Eingangsbereich der Agentur.

»Post für mich?« Deborah war erstaunt. Wer sollte ihr in die Agentur schreiben? Die Leute, die sie kannte, hielten eher über WhatsApp Kontakt oder schrieben E-Mails und keine Briefe.

Noch mehr überraschte es sie, als sie sah, dass es gar kein Brief, sondern ein Päckchen war. Ein Kartonwürfel von vielleicht zehn Zentimeter Kantenlänge, der durch einen kleinen Aufkleber verschlossen war, fein säuberlich von Hand beschriftet mit der Adresse der Agentur und ihrem Namen darauf. Er schimmerte in mattem Weiß, und sie fragte sich unwillkürlich, wie die Schachtel zusammengesteckt war, denn auf den ersten Blick waren keine offenen Kanten zu sehen.

Sie nahm das Paket mit zu ihrem Platz und legte es vor sich auf den Tisch. Sie musterte es genauer und stellte fest, dass es keinen Absender trug. Klaus kam neugierig heran.

»Was ist das?«, wollte er wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Deborah. »Es ist vorhin mit der Post gekommen.«

»Willst du es nicht aufmachen?«

»Doch, natürlich.« Deborah wusste selbst nicht, warum das Päckchen sie so verunsicherte. Vielleicht, weil praktisch niemand wusste, dass sie bei Schulze & Niess arbeitete? Ihr gesamter Freundeskreis bestand aus gemeinsamen Freunden von Stefan und ihr. In ihrem Wunsch, ein neues Leben zu beginnen, hatte sie sich seit ihrer Trennung bei niemandem mehr gemeldet.

Sie nahm eine Schere und schlitzte das Paket am Etikett auf. Dabei verspürte sie eine seltsame Hemmung, die Perfektion des kleinen Gegenstandes zu zerstören.

Unter dem Etikett befand sich eine Lasche, die den Deckel im Karton hielt, und Deborah benutzte die Schere, um ihn aufzuhebeln. Als sie den Inhalt sah, hielt sie verblüfft inne. Auf dem Grund der Schachtel lag eine kurze Kette aus rot-schwarzen Perlen. Sie nahm sie neugierig heraus und entdeckte darunter einen Zettel.

»Halt die Augen auf!« stand in akkurater Druckschrift darauf, wie mit einer alten Schreibmaschine getippt. Ein Rätsel?

Klaus nahm ihr die Kette aus der Hand. »Das ist ein Armband, würde ich sagen. Was meinst du, Debs?« Er zog sie über sein kräftiges Handgelenk. Die Perlen rutschten auseinander, als sich das Gummiband dehnte.

»Gib her!«, rief Deborah lachend und nahm ihm das Schmuckstück ab. »Zu deinen Pranken passt das doch nicht!«

Sie streifte es sich selbst über und hielt es ins Licht.

»Es ist schön, findest du nicht?«, fragte sie und drehte es hin und her. »Was sind das für Perlen, kennst du die?«

Carl betrat den Raum in diesem Augenblick. Sein Blick fiel auf den weißen Karton, der vor Deborah stand.

»Was hast du denn da bekommen?«, fragte er neugierig.

»Dieses Armband hier«, antwortete Klaus an Deborahs Stelle. Er wies auf ihren Arm.

Carl ergriff die günstige Gelegenheit. Er nahm Deborahs Hand und betrachtete die zierliche Kette eingehend. Sie bestand aus kleinen grellroten Samen, die wie kleine Bohnen aussahen, und jede hatte einen schwarzen Fleck, der durchbohrt war, um sie auf einem Gummiband aufzufädeln.

»Weißt du, was das ist, Deborah?«, fragte er. Sie schüttelte stumm den Kopf. Von dem Moment an, in dem Carl ihre Hand genommen hatte, war sie wie erstarrt.

»Das sind Pater-Noster-Erbsen«, erklärte Carl. »Sie stammen aus Asien. Früher hat man sie gerne für Rosenkränze verwendet, daher kommt ihr Name.«

»Ich habe keine Ahnung, wer mir so etwas schicken könnte.« Ihr Tonfall war betont neutral und sie vermied es, ihn anzublicken.

»Vielleicht hast du einen heimlichen Verehrer?«, mutmaßte Carl und zwinkerte Deborah zu. Sie wurde rot. Widerstrebend ließ er zu, dass sie ihre Hand aus seinem Griff befreite. Schnell streifte sie die Kette ab und legte sie zurück in die Schachtel.

Carl deutete auf die Verpackung. »Das ist sehr gute Arbeit, findest du nicht? Ich kenne gerade mal drei Firmen, die so einen Karton herstellen können.«

»Dieser Zettel hier war noch dabei.« Deborah drehte ihn so, dass Carl ihn lesen konnte.

»Halt die Augen auf?« Carl grinste sie an, seine Augen leuchteten silbern. »Das kann auf keinen Fall schaden.«

Noch immer lächelnd verließ er den Raum. Die Sache mit Deborah machte ihm immer mehr Spaß.

Deborah fuhr in ihrer Mittagspause die drei Stationen mit der Straßenbahn zur Wohnung ihrer Mutter, um sich umzuziehen. Eine Blitzdusche musste einfach drin sein, denn die Stadt kochte unter der brennenden Sonne. Obwohl sie heute Morgen erst geduscht hatte, fühlte sie sich schon wieder verschwitzt.

Auf ihre Nachfrage hin hatte Klaus ihr versichert, es sei völlig in Ordnung, bei der Präsentation in Jeans und Bluse zu erscheinen. Aber Carl hatte vorhin eine Anzughose getragen anstatt der sonst bei ihm üblichen dunklen Stoffhosen, und Klaus hatte sogar sein ewiges schwarzes T-Shirt gegen ein buntes Hawaiihemd getauscht.

Sie bürstete ihr Haar aus und flocht es noch feucht zu einem Zopf. Reichlich Deospray unter die Achseln, zwischen die Brüste und ein Sprühstoß auf das dunkelblonde Dreieck zwischen ihren Beinen. Schnell das Make-up, Wimperntusche, Kajal, ein Tupfen heller Lidschatten und perlmuttfarbener Lippenstift. Eine dunkelgrüne Leinenhose anstelle der Jeans, eine weiße Bluse und darüber einen hauchdünnen Blazer aus flaschengrünem Chiffon, der ihrer Mutter gehörte. Um den Hals eine Silberkette mit einem tropfenförmigen Anhänger aus Jade, der farblich zum Blazer und zu ihren Augen passte. Zuletzt schlüpfte sie in zierliche Sandalen mit kleinem Absatz, dann lief sie ins Schlafzimmer ihrer Mutter und begutachtete sich kritisch in dem großen Spiegel, der neben dem Bett an der Wand lehnte. Sie presste die Lippen zusammen, um den Lippenstift besser zu verteilen, und nickte sich anschließend zu. »Besser wird es nicht!«

Mit ihrer alten Umhängetasche über der Schulter, die so gar nicht zu dem neuen Outfit passen wollte, machte sie sich eilig auf den Rückweg in die Agentur.

Er stellt das Paket mit dem Armband achtlos zur Seite, doch dann kommt ihm ein Gedanke. Der Paketbote hat geschlampt und niemand weiß, dass er es hat. Das Risiko ist gering und der Gewinn verlockend. Eine solche Chance wird er nie wieder bekommen.

Deborah kam gerade rechtzeitig, um Carl im Empfangsraum im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme zu laufen. Er trug inzwischen ein dunkles Sakko über dem weißen Hemd, aber keine Krawatte. Die obersten Knöpfe seines Hemds waren geöffnet. Er nahm Deborah an den Schultern und musterte sie prüfend. Plötzlich hatte sie sein schwarzes Brusthaar vor der Nase, das sich unter dem Kragen kräuselte. Unwillkürlich machte sie einen Schritt rückwärts. Er ließ sie los, ergriff aber sofort ihre Hände.

»Deborah, so siehst du einfach toll aus.« Er sah ihr tief in die Augen. Prompt fühlte Deborah, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie holte tief Luft. Das war doch lächerlich, jedes Mal wie ein Backfisch zu erröten, wenn er sie nur ansah!

»Du aber auch«, antwortete sie deshalb mutig und grinste ihn schief an.

Er musste lachen und ließ sie los. Anerkennend nickte er ihr zu. »Gut gemacht!«

Bezog sich das auf ihr Aussehen oder auf die schlagfertige Antwort? Deborah war schon wieder verunsichert. War sie zu forsch zu ihrem Chef gewesen?

In diesem Augenblick kam Klaus aus dem Atelier der Grafiker. Neugierig sah er von einem zum anderen. Hatte er von ihrem kurzen Wortwechsel etwas mitbekommen? Er ließ sich nichts anmerken, sondern fragte nur: »Können wir?«

Carl nickte und ging voraus in den Hof, der jetzt in der prallen Mittagssonne lag. Die Hauswände reflektierten das Sonnenlicht und nach der Kühle der klimatisierten Agentur traf Deborah die Hitze wie eine Wand. Schnell folgte sie Carl, der den Hof mit langen Schritten überquerte. Mit einer Handbewegung winkte er sie und Klaus zu seinem schwarzen Sportwagen. Deborah quetschte sich auf die Rückbank, während Klaus ächzend vorne Platz nahm. Es roch nach Leder und nach Carls Aftershave.

»Das ist kein Auto für Leute wie mich«, stöhnte Klaus. »Du solltest mehr Rücksicht auf deine alten Mitarbeiter nehmen!«

Carl lachte. »Tu bloß nicht so«, gab er zurück. »Bist du nicht letztes Jahr noch selbst mit so einer Flunder herumgefahren?«

»Du meinst den Porsche? Das war ein Oldtimer, du Banause, das ist etwas ganz anderes!«

Deborah hörte dem Geplänkel nur mit halbem Ohr zu. In Gedanken war sie bei dem kurzen Augenblick vorhin im Empfangsraum der Agentur. Bei der Erinnerung daran bekam sie ein warmes Gefühl in der Magengrube.

Himmel, er war immer noch ihr Chef und damit so unerreichbar wie der Bürgermeister von Köln, rief sie sich selbst zur Ordnung. »Aber er sieht besser aus«, stellte eine Stimme tief drinnen in ihr fest. »Na und?«, widersprach sie sich selbst. »Ich werde mich nicht in meinen Chef verlieben. Niemals.« »Wirklich nicht?«, antwortete die Stimme. »Wen willst du eigentlich überzeugen?«

Sie schüttelte den Kopf. Über die Absurdität der Situation musste sie selbst lachen. Der Wagen hielt an einer roten Ampel und sie sah auf, direkt in Carls graue Augen, der sie durch den Rückspiegel beobachtete. Sein Blick hatte eine solche Intensität, dass sich ihr Magen verknotete.

»Was ist los, Deborah?«, fragte er.

»Nichts«, antwortete sie. »Ich glaube, ich bin ein bisschen nervös.«

»Das brauchst du nicht.« Klaus wandte sich zu ihr um. »Du musst gar nichts tun und gar nichts sagen. Du musst nur danebenstehen und wichtig aussehen.«

»Aber ich bin doch gar nicht wichtig«, gab sie zurück.

»Nein? Dann schau eben hübsch aus, das wirst du wohl schaffen«, frotzelte Klaus. Über die Lehne des Beifahrersitzes hinweg zwinkerte er ihr zu.

Sie musste lachen. Als der Wagen anfuhr, ließ sie sich in die Polsterung zurückfallen.

Deborah war beeindruckt von der glänzenden Marmorfassade des Firmensitzes von Rheopharm. Sie folgte den beiden Männern in ein großzügiges Foyer, wo sie ein Portier in schwarzer Uniform zu den Aufzügen wies. Im dritten Stock angekommen, versanken Deborahs Füße fast in dem dicken, flauschigen Teppich, mit dem der Flur ausgelegt war. Sie machte ein paar Schritte auf die offene Flügeltür zu, hinter der wohl die Präsentation stattfinden sollte, und warf einen Blick in den weitläufigen Raum.

Die erste Person, auf die ihr Blick fiel, war Stefan. Er lehnte lässig an einem Tisch, in der Hand ein halb leeres Sektglas. Er war ins Gespräch mit einer hochgewachsenen älteren Frau in dunklem Hosenanzug vertieft, die der Tür den Rücken zukehrte. Von dem stoppeligen Dreitagebart, den Deborah normalerweise an ihm kannte, war heute nichts zu sehen, sein Kinn war glatt rasiert. Das wirre rotbraune Haar war ordentlich nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem kleinen Pferdeschwanz gebändigt. Er hatte seine abgewetzten Jeans gegen eine enge graue Chino-Hose getauscht. Dazu trug er ein rosarotes kurzärmeliges Hemd und eine silbergraue Krawatte. Obwohl die Kombination ein wenig nach Schuluniform aussah, wirkte er darin sehr souverän.

Deborah war so überrascht, dass sie stehen blieb. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Ihre Begleiter schlossen zu ihr auf und Carl bemerkte ihr Zögern. Vielleicht hatte sie auch einen leisen Laut der Überraschung ausgestoßen, jedenfalls wandte er sich ihr zu.

»Komm, Deborah, du musst nicht nervös sein!« Mit diesen Worten lächelte er ihr aufmunternd zu. Er ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. In diesem Moment blickte Stefan herüber. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Deborah sah es und sofort stieg der alte Groll wieder in ihr hoch. Er hatte kein Recht, über ihr Leben zu bestimmen!

Trotzig löste sie ihre Hand aus der von Carl und hakte sich bei ihm unter. Carl sah sie einen Moment lang erstaunt an. Dann grinste er und winkelte den Arm ab. Gemeinsam betraten sie den Raum. Ihre Hand ruhte auf seinem Unterarm und sie konnte das Spiel seiner Muskeln unter dem Sakko fühlen. Klaus hielt sich einen Schritt hinter ihnen.

Eine zierliche kleine Frau in eisblauem Businesskostüm, die Deborah auf Ende dreißig schätzte, kam ihnen freundlich lächelnd entgegen.

»Herzlich willkommen!« Sie reichte Carl die Hand. »Ich bin Marianne Leidenberg, die Projektleiterin für das Marketing. Sie sind sicher Carl Schulze?«

Sie wandte sich zu Deborah, die nur ungern ihre Finger von Carls Arm löste, und schüttelte ihr ebenfalls die Hand.

»Das ist Deborah Peters«, stellte Carl sie vor und verschwieg ihren Status als Praktikantin. »Und Klaus Rüdiger, mein Chefgrafiker.«

Frau Leidenberg nickte jedem von ihnen zu. »Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten. Wo ist denn …« Sie sah sich um und winkte einen jungen Mann heran, der – in Anzug und Krawatte – ein Tablett mit Sektgläsern balancierte.

»Marco, kommen Sie bitte!«, rief sie und deutete auf die drei Neuankömmlinge. Der junge Mann nickte. Er eilte herbei und Frau Leidenberg wandte sich der nächsten Gruppe zu.

Carl nahm zwei Gläser vom Tablett. Eines reichte er an Deborah weiter und prostete ihr zu.

»Auf unsere Zusammenarbeit«, sagte er und sah ihr dabei tief in die Augen.

»Auf unsere Zusammenarbeit«, wiederholte Deborah. Ein wenig fühlte sie sich wie ein Kaninchen unter dem Blick einer Schlange.

»Prost, ihr zwei!« Klaus brach den Bann. Er stieß sein Glas gegen die von Carl und Deborah und trennte ihren Blickkontakt.

Sie fuhren auseinander. Deborah lachte verlegen und wandte sich ab. Ihr Blick fiel auf Stefan, der jetzt ein volles Glas in der Hand hielt. Er musterte sie mit einer Intensität, die ihr fast schon unheimlich war. War das wirklich derselbe Stefan, mit dem sie die letzten vier Jahre zusammen gewesen war? Dieser Ausdruck von unterdrückter Wut in seinen Augen war ihr völlig fremd. Sie leuchteten normalerweise in einem warmen Braun, doch nun waren sie fast schwarz im Schatten der eng zusammengezogenen Brauen.

Er schien der groß gewachsenen Frau an seiner Seite kaum zuzuhören. Als er sah, dass Deborah ihn beobachtete, drehte er sich jedoch seiner Gesprächspartnerin zu und begann, lebhaft auf sie einzureden. Es war Sabine Schallert, Leiterin der Agentur Shouting People, und jeder, wirklich jeder in der Branche kannte sie.

Carl hatte sich inzwischen ein paar Schritte entfernt. Er war mit einem etwa fünfzigjährigen Mann im Gespräch, der trotz der Hitze eine abgewetzte Lederjacke mit Nieten an den Ärmeln trug. Die langen Haare, der dichte schwarze Bart und die Schirmkappe ließen ihn wie ein Mitglied einer Motorradgang wirken.

»Wer ist das?«, fragte Deborah Klaus und nickte zu dem Mann hinüber.

»Das ist Tom Herwig, der Art Director von der Schallert«, erklärte Klaus. »Er ist ein ganz alter Hase im Geschäft.«

»Und offenbar jemand, der sich nicht viel um gesellschaftliche Konventionen schert, oder?«

»Tom nicht, nein. Der hat das auch nicht nötig«, gab Klaus ihr recht.

Nun gesellte sich Sabine Schallert zu Carl und Tom. Sie und Carl begrüßten sich mit Wangenküssen. Tom kam zu ihnen herüber. Klaus stellte Deborah vor, aber das Gespräch drehte sich schnell um gemeinsame Bekannte von Klaus und Tom, die sie nicht kannte.

Sie klinkte sich bald aus und schlenderte stattdessen durch den Raum. Sie betrachtete die gerahmten Bilder an den Wänden – hauptsächlich Produktfotos und Werbeplakate –, nahm noch ein Glas Sekt, als es ihr angeboten wurde, und fragte sich, wann die Präsentation endlich beginnen würde.

Carl folgte Deborah mit den Augen auf ihrer scheinbar ziellosen Wanderung. Sie blieb vor einem Werbeplakat stehen, das giftig rote Dragees in einer durchsichtigen Verpackung zeigte. Wohlgefällig betrachtete er ihren Po in der engen Hose, der sich unter dem hauchdünnen Blazer deutlich abzeichnete. Er atmete tief durch und versuchte, das beginnende Pochen zwischen seinen Beinen zu ignorieren. Während Deborah langsam weiterging, fiel ihm der junge Mann auf, der sie von der anderen Seite des Raumes mit brennenden Augen anstarrte. Sie schien es nicht zu bemerken.

»Wer ist das?«, fragte er Sabine Schallert, die neben ihm stand. Sie erzählte ihm irgendetwas, aber er hörte nur mit halbem Ohr zu.

»Wer?« Sie unterbrach ihren Satz und sah sich um.

Er deutete mit dem Sektglas in der Hand hinüber. »Der junge Mann da drüben. Du hast dich vorhin ziemlich lange mit ihm unterhalten.«

»Ach der.« Sie lachte leise. »Das ist Stefan Schrödinger. Einer von den jungen aufstrebenden Talenten, die es um jeden Preis allein schaffen wollen.«

Carl zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Allein? Wie meinst du das?«

»Stefan hält nicht viel von den großen Agenturen. Aber er ist wirklich gut. Ich traue ihm zu, dass er es sogar schaffen könnte.«

»Woher kennst du ihn?«

»Er hat bei mir ein Praktikum gemacht, das ist schon einige Jahre her. Das brauchte er nämlich für die Uni. Ich hätte ihn sofort eingestellt, aber er wollte nicht. Er arbeitet zwar manchmal für mich, aber ich bekomme ihn nur als Freelancer.«

»Und wieso ist er heute hier? Hat er eine eigene Agentur?«

»Ja, so kann man es wohl nennen. Eine Ein-Mann-Agentur, sozusagen. Er nennt sie STEFF.«

Carl nickte und beobachtete den Mann weiter. So jung war er gar nicht mehr, vermutlich an die dreißig. Er wirkte auf ihn eher wie ein Student und nicht wie der Leiter einer Agentur.

»Und du sagst, er kann was?«

»Oh ja, er ist sehr talentiert. Er ist zwar nicht der weltbeste Grafiker, aber er hat sehr pfiffige Ideen. Willst du ihn abwerben?« Sabine Schallert grinste schief. »Mach dir keine Hoffnungen, das habe ich auch schon versucht. Und momentan hast du sowieso keine Chance. Er hat mir gerade erzählt, dass er einen Auftrag am Laufen hat, der – wie er sagte – bei den richtigen Leuten in Düsseldorf einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird.«

»Ach was. Da gehört aber einiges dazu!« Carl schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Aber ja!« Sabine Schallert senkte die Stimme. »Er hat vorhin ein paar geheimnisvolle Andeutungen gemacht. Von Armbändern hat er etwas erzählt und von einer Serie von Werbeplakaten. Es klang ein wenig nach viraler Werbung, aber es ist wohl noch mehr als das.«

»Mehr als das? Jetzt machst du mich aber neugierig.«

»Sonst weiß ich auch nichts darüber. Wir müssen uns wohl überraschen lassen.« Sabine Schallert zuckte mit den Schultern.

»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Einzelner einen größeren Auftrag stemmen will.« Carl winkte ab. »Und noch dazu ist er so jung, der hat doch gar nicht die Leute, die er dafür braucht.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, antwortete sie. »Warten wir es ab.«

Ein Plan beginnt in ihm zu keimen, ein großartiger Plan, der all seine Probleme auf einen Schlag lösen wird. Er kann den lästigen Konkurrenten loswerden und endlich seine Firma nach vorne bringen. Und wenn er es richtig anstellt, gibt es Deborah als Bonus obendrauf.

Stefan kippte das Glas in einem Zug hinunter. Das Blut rauschte in seinen Ohren und er hielt sich an der Tischkante fest, als der Boden unter ihm schwankte. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, Debbie hier und heute zu treffen. Und dann noch am Arm dieses Schnösels, dieses … dieses … Schürzenjägers! Wusste sie denn nicht, was für einen Ruf Carl Schulze hatte? Es war doch ein offenes Geheimnis unter den Kollegen, dass er hinter jedem Rockzipfel her war und es überhaupt nicht akzeptieren konnte, wenn er einmal eine Frau nicht bekam!

Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Mit weichen Knien verließ er den Raum und ging zur Toilette. Nachdem er sich erleichtert hatte, wusch er Hände und Gesicht mit kaltem Wasser. Dann stand er da, den Kopf zum grellen Licht der Neonröhre erhoben, die über ihm schien, während ihm das Wasser in den Kragen rann. Nochmals benetzte er die Hände und fuhr sich damit durch die braunen Locken. Seine Finger verhedderten sich in dem ungewohnten Haargummi, er musste es lösen und die Haare neu zusammenbinden. Der kurze Pferdeschwanz kringelte sich feucht und kühl in seinem Nacken, die plötzliche Kälte tat ihm gut. Er atmete einmal tief durch.

Während er sich abtrocknete, musterte er sich in dem großen Spiegel hinter dem Waschtisch aus Granit. Seine Haut war leichenblass unter dem gnadenlosen Licht der Lampe. Die geröteten Augen, die den durchgearbeiteten Nächten geschuldet waren, ließen ihn wie einen Zombie aussehen. Er hatte sich für den Empfang in Schale geworfen, aber in seinen Augen fehlte es ihm an der Statur, um so ein Outfit angemessen tragen zu können. Jemand wie Carl Schulze wirkte in seinem schwarzen Anzug lockerer, als er selbst es in Jeans und T-Shirt tun würde. Und für den Stil der Nonkonformisten wie Tom Herwig war er schlichtweg nicht mutig genug.

Resignierend zuckte er mit den Schultern. Er richtete die Krawatte gerade und überprüfte, ob der Kragen seines Hemds jetzt komplett durchnässt war. Aber selbst wenn, er könnte es ohnehin nicht ändern.

Er kehrte in den Raum zurück und stellte fest, dass er den Anfang der Präsentation verpasst hatte. In der Zwischenzeit hatte man die Lampen heruntergedimmt und drei riesige Videoleinwände enthüllt. Auf den Projektionsflächen waren bereits die Logos der an der Ausschreibung beteiligten Agenturen zu sehen: links eine stilisierte Sprechblase, das Logo von Shouting People, in der Mitte der Löwenkopf von Schulze & Niess und rechts der markante Schriftzug von STEFF, seiner eigenen Agentur.

Stefan hielt den Atem an und stieß ihn geräuschvoll wieder aus, als Frau Leidenberg vorne zu sprechen begann. In blumigen Worten bedankte sie sich bei den Anwesenden, erwähnte lobend die anderen Bewerber, die es nicht in die Endausscheidung der besten drei geschafft hatten, und übergab dann das Wort an einen älteren Mann in schwarzem Anzug mit gepflegtem eisengrauen Vollbart.

»Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren«, begann er. »Ich bin Dr. Daniel Markhof, ich bin der leitende Produktmanager des Medikaments, mit dem Sie sich in den letzten Wochen und Monaten so ausführlich beschäftigt haben …«

Stefan blendete die sonore Stimme aus. Das Produkt selbst interessierte ihn herzlich wenig, ein Schmerzmittel für Kinder oder eine Supermarktkette, ein Autohersteller oder ein Waschmittel, es war ihm egal. Er versuchte bei seiner Arbeit immer, das Wesen einer Sache zu erfassen und zu erkennen, wie der Markt dafür beschaffen war. Dieses Wissen verband er zu einer Strategie, das war sein großes Talent. Mit Debbie an seiner Seite, die seine Ideen perfekt umsetzte, hatte er sich als Teil eines schlagkräftigen Teams gesehen, mit ihr hätte er gegen die großen Agenturen eine Chance.

Und jetzt? Jetzt stand er mit leeren Händen da. Weniger noch als leer, denn um an der Ausschreibung von Rheopharm überhaupt teilnehmen zu können, hatte er einen Kredit aufnehmen müssen. Er hatte einen anderen Grafiker für etwas bezahlt, was eigentlich Debbies Aufgabe gewesen wäre.

Wenn er heute die Ausschreibung gewann, war er aus dem Schneider, dann hatte er auf mindestens zwei Jahre ein regelmäßiges Einkommen. Mit dem ersten Honorar würde er seine Schulden bezahlen, mit dem Rest könnte er gut leben und sogar noch etwas zur Seite legen für die Zukunft.

Und wenn nicht? Dann hatte er durch das Erreichen der Endausscheidung mal wieder Anerkennung gewonnen. Man war auf ihn aufmerksam geworden, aber Lob und Ehre zahlten keine Miete. Die aktuelle Pater-Noster-Kampagne hielt ihn gerade noch über Wasser, doch wie es danach weitergehen sollte, wusste er nicht.

Vorne lief jetzt ein Film über die linke Leinwand. Die Agentur Shouting People hatte ihrem Namen Ehre gemacht und einen fulminanten Werbefilm produziert. Die finanziellen Mittel, die dafür investiert worden waren, hätten Stefan locker über die nächsten sechs Monate gebracht. Aber der Name, den sie sich für das Produkt ausgedacht hatten, machte den ganzen Aufwand zunichte. Ibuproteen, das war fantasielos, da fehlte der Pep. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance.

Nun war der Entwurf von Schulze & Niess an der Reihe. Das war die wahre Konkurrenz für ihn, denn Boris Niess war der genialste Grafiker, den Düsseldorf zurzeit zu bieten hatte. Gegen ihn zu bestehen war sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich.

In schneller Folge wechselten jetzt vorne die Bilder. Eine Diashow aus mehreren Plakaten, ganzseitigen Zeitungsannoncen und zum Schluss der Entwurf einer Verpackung, der unverwechselbar Debbies Handschrift trug. Ein kühner Pinselschwung in starken Farben quer über den Karton und darauf ein filigraner schwarzer Schmetterling. Die Namensvorschläge waren gut, Prep2Kids und Prep4Fit, die Tablette mit 200 Milligramm Wirkstoff für Kinder und 400 Milligramm für Jugendliche. Warum war ihm das nicht eingefallen?

Sein Entwurf leuchtete auf der rechten Leinwand auf. Das Konzept war wirklich stimmig, die Entwürfe sauber ausgeführt. Er fand seine Idee noch immer gut: Kinder und Jugendliche direkt in ihrem Alltag dargestellt, an dem sie durch Kopfschmerzen gehindert wurden, und dann die Erleichterung: Aktipep, und die Schule, der Sport, das Kino, das Treffen mit den Freunden konnte stattfinden. Natürlich war das alles nur skizziert und angedeutet, aber es war doch bisher nur eine Ausschreibung und keine fertige Kampagne. Oder etwa nicht?

Es wurde still im Raum. Unmerklich war das Licht noch ein wenig dunkler geworden. Ein leuchtender Rahmen umgab die linke Leinwand, wanderte in die Mitte, weiter nach rechts und zurück nach links. Immer schneller, immer schneller, Stefan wurde schwindelig, er hätte den letzten Sekt nicht mehr trinken sollen, und zuletzt blieb das Licht in der Mitte stehen. Es wurde dunkel und die beiden Projektoren an den Seiten erloschen. Dann flammten sie wieder auf und nun zeigten alle drei das Logo von Schulze & Niess.

Die Anwesenden applaudierten. Alle drängten sich vor, um Carl Schulze zum Sieg zu beglückwünschen. Stefan war wie betäubt. Es hatte wieder einmal nicht geklappt. Wo kamen all diese Leute auf einmal her? Vorhin waren nur ungefähr zehn Personen im Raum gewesen, die Mitarbeiter der beteiligten Werbeagenturen und einige Angestellte von Rheopharm. Doch nun schien der Raum schier zu bersten von dem Andrang.

Das Licht ging an. Sein Blick suchte automatisch nach Debbie. Da war sie, an der Seite von Schulze, und nahm die Glückwünsche entgegen. Sabine Schallert und ihre Leute gratulierten offenbar neidlos, aber klar, die konnten sich das auch leisten. Er wusste, dass das nun auch von ihm erwartet wurde. Widerstrebend stieß er sich von seinem Tisch ab. Mit steifen Schritten durchquerte er den Raum und gesellte sich zu den anderen. Mechanisch drückte er Hände und murmelte irgendetwas, er hätte nicht sagen können, was und zu wem.

Frau Leidenberg zog ihn zur Seite.

»Herr Schrödinger, ich muss Ihnen sagen, dass der Ausgang ganz knapp war. Mir persönlich hat Ihr Entwurf sogar noch besser gefallen. Aber es gab am Ende eine Abstimmung im Team, und die ging ganz knapp zugunsten von Schulze & Niess aus. Sie können auf Ihre Arbeit wirklich stolz sein!«

Er bedankte sich höflich und verabschiedete sich, so schnell er konnte. Er war schon im Gehen begriffen, da fiel sein Blick auf Debbie, die ihn mitleidig ansah. Mitleid? Ausgerechnet von Debbie? Oh nein, das hatte er nicht nötig.

Er setzte ein bemüht freundliches Lächeln auf und stellte sich zu Tom Herwig. Ihn kannte er noch aus der Zeit in Sabine Schallerts Agentur und er hatte ihn schon viel zu lange nicht mehr gesehen.

Nun wurden Häppchen herumgereicht. Der junge Mann von vorhin hatte das Tablett mit den Sektgläsern gegen eine große Platte getauscht und Unterstützung von zwei jungen Mädchen in dunklen Jeans und weißen Blusen bekommen. Sie gingen von Gruppe zu Gruppe und boten kleine Fleischspieße, Minifrikadellen, ausgestochene Lasagne auf winzigen Tellern und Schälchen mit Gemüsesticks an. Jeder Happen war kaum mehr als ein Bissen.

Der Durchgang ließ Stefan hungriger zurück als zuvor, aber mehr gab es nicht. Auf den nächsten Tabletts standen schon die Nachspeisen. Dickwandige Gläschen waren ungefähr zur Hälfte mit verschiedenen Cremes und Desserts gefüllt. Schokomousse, Vanillepudding, Rote Grütze und, ja, tatsächlich, sogar Tiramisu gab es zur Auswahl. In jedem Glas steckte ein kleiner Löffel, passend zu den winzigen Gefäßen, der den Glasdeckel offenhielt. Stefan stellte sich strategisch günstig neben einen der Stehtische und schaffte es diesmal, von jeder Sorte eine Portion zu ergattern. Danach war er zwar noch immer nicht satt, aber er hatte seine Fassung wiedergefunden. Er brachte es sogar fertig, freundlich zu lächeln, als Debbie auf ihn zukam.

Deborah hatte Stefan die ganze Zeit über aus dem Augenwinkel beobachtet. Weder war ihr sein Gang auf die Toilette entgangen, noch seine Enttäuschung, als er bei der Ausschreibung nur den zweiten Platz erreichte. Nun kratzte er gerade den letzten Rest Vanillepudding aus seinem Gläschen. Deborah fasste sich ein Herz und ging zu ihm hinüber. Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl dabei, so zu tun, als ob sie sich nicht kannten, aber bis zu diesem Augenblick hatte sich noch keine Gelegenheit für ein Gespräch ergeben.

Offenbar spürte er ihre Anwesenheit, denn er hob den Kopf und lächelte ihr entgegen. Überrascht erwiderte Deborah das Lächeln. Dann stand sie vor ihm, unsicher, ob sie ihm förmlich die Hand geben oder ihn umarmen und auf die Wangen küssen sollte, wie es hier üblich zu sein schien. Am Ende tat sie beides nicht, sondern verschränkte verlegen die Hände ineinander.

»Hallo Stefan.«

»Hallo Debbie«, antwortete er mit einem schiefen Grinsen. »Ich sollte dir wohl gratulieren.«

Deborah schüttelte den Kopf. »Nein, das musst du wirklich nicht. Es war die Arbeit der Agentur, nicht meine.«

»Aber die Verpackung am Ende, die war doch von dir, oder nicht?«

»Das war nur ein Entwurf«, schwächte Deborah ab. »Ich wusste nicht einmal, dass der mit eingereicht wurde.«

»Gerade mal zwei Monate im Praktikum und schon bei einer Ausschreibung dabei, nach der sich halb Düsseldorf die Finger leckt.« Deborah schluckte. Stefans verbitterter Tonfall ließ das Kompliment fast zur Beleidigung werden. »Und das da drüben ist also dein Chef?«

Ihr Gesicht erhellte sich wieder. »Ja, das ist Carl.« Stefan zog die Augenbrauen hoch. »Carl Schulze, einer der beiden Geschäftsführer«, beeilte sich Deborah zu sagen. Das fehlte noch, dass Stefan aus der harmlosen Anrede die falschen Schlüsse zog.

Stefans Augen verdunkelten sich wieder. »Debbie, ich hoffe, du weißt, was für einen Ruf Schulze in der Branche hat?«

Deborah sah ihn fragend an. »Nein, was meinst du?«

»Er ist bekannt dafür, dass er jede Frau in sein Bett kriegen will, die nur in seine Nähe kommt.« Er sah finster zu Carl hinüber, der ungeniert mit Frau Leidenberg scherzte.

Deborah schüttelte vehement den Kopf. »Nein, das kann ich nicht glauben. Zu mir war er immer sehr freundlich.«

»Eben, das meine ich ja. Er ist immer sehr freundlich zu Frauen.« Stefan lachte bitter auf. »Und man sagt, er bekommt am Ende immer das, was er will.«

Deborah schoss die Röte ins Gesicht. »Er ist nett zu mir, weil ich gute Arbeit leiste, und aus keinem anderen Grund«, fauchte sie.

Stefan hob die Schultern. »Das würde mich sehr wundern. Du wärst die Erste, bei der er es nicht versucht.«

»Stefan, du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Oder bist du neidisch, weil nicht du gewonnen hast?«

»Neidisch? Auf den da?« Stefan hatte jetzt die Stimme erhoben. Einige Köpfe wandten sich zu ihm um. »Das habe ich wirklich nicht nötig!«

Carl Schulze war inzwischen herangekommen. Er stellte sein leeres Dessertglas auf den Stehtisch und legte Deborah demonstrativ die Hand auf die Schulter. »Was ist los?«, fragte er ruhig.

»Nichts ist los«, giftete ihn Stefan an. »Ich will nur nicht, dass Debbie ein weiterer Punkt in Ihrer Statistik wird, das ist alles.«

»Darf ich fragen, was Sie das angeht?« Carl war die Ruhe in Person und kanzelte Stefan ab wie einen Schuljungen. »Deborah komm, wir gehen besser. Frau Leidenberg möchte noch mit uns sprechen.«

Deborah warf Stefan einen wütenden Blick zu, als Carl sie am Arm nahm.

»Hör auf, dich in mein Leben einzumischen«, zischte sie ihm zu. »Dazu hast du kein Recht mehr.«

»Kein Recht mehr?«, wiederholte Carl fragend, sobald sie außer Hörweite von Stefan waren.

Deborah presste die Lippen zusammen. »Ich will darüber nicht reden.«

Carl nickte und winkte einem der Mädchen mit einem Tablett. Sie bekamen die zwei letzten Gläschen mit Schokoladenmousse. Während sie das Dessert löffelten, sah Deborah, wie Stefan den Raum verließ, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie konnte nicht sagen, woher das mulmige Gefühl kam, das sie plötzlich verspürte.

Er nähert sich unauffällig dem Tisch und lässt das Glas in seiner Tasche verschwinden. Ein rascher Blick in die Runde, niemand hat etwas mitbekommen. Eine Hand hält er schützend davor, damit die kleine Beule nicht auffällt. Mit schnellen Schritten entfernt er sich.

Deborahs Augen leuchteten. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

»Stell dir vor, das letzte Bild in der Präsentation war mein Entwurf zur Verpackung!« Ihre Wangen röteten sich, während sie ihrer Mutter von dem Empfang bei Rheopharm erzählte.

»Herzlichen Glückwunsch, Debbie!« Marion Peters stand vom Sofa auf und nahm ihre Tochter in die Arme. »Ich freue mich so für dich!«

Deborah erwiderte die Umarmung und drückte ihre Mutter fest an sich. Ihre Gefühle quollen regelrecht über. Am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt.

Nach dem Empfang waren sie alle gemeinsam zurückgefahren. Die Stimmung im Auto war ausgelassen gewesen. Klaus hatte lauthals gesungen und Deborah strahlte übers ganze Gesicht.

»Wir haben gewonnen, wir haben wirklich gewonnen!«, wiederholte sie ständig, als ob sie es noch immer nicht glauben konnte. Zum ersten Mal fühlte sie sich wirklich der Agentur von Schulze & Niess zugehörig.

Carl lächelte ihr immer wieder im Rückspiegel zu, schloss sich aber den Gefühlsausbrüchen seines Grafikers nicht an. War der Erfolg bei ihm schon so sehr zur Routine geworden, dass er sich gar nicht mehr von Herzen darüber freute? Oder hatte seine Zurückhaltung einen anderen Grund?

In der Agentur waren sie mit großem Hallo empfangen worden. Offenbar hatte Klaus die anderen bereits per Handy verständigt, denn die komplette Belegschaft war im Empfangsbereich versammelt. Auf Moniques Tresen wartete weiterer Sekt auf sie. Deborah war im Anschluss tatsächlich ein wenig beschwipst. An vernünftiges Arbeiten war nicht mehr zu denken.

Carl hatte sich in sein Büro zurückgezogen. Bald darauf verließ er die Agentur, während Boris gar nicht erst aufgetaucht war. Der zweite Geschäftsführer schloss sich solchen Aktionen ohnehin nie an, er war ein Eigenbrötler. Deborah hatte ihn in den letzten zwei Monaten außer zu den Teambesprechungen kaum gesehen.

Das war schade, denn sie hatte sich von der Zusammenarbeit mit ihm viel versprochen. Aber die anderen hatten ihr versichert, dass das für sie so besser wäre. Wenn man den Kollegen glauben durfte, war Boris Niess ein ungeduldiger Vorgesetzter, sehr von sich eingenommen und störrisch gegenüber Kritik an seinen Ideen. Ganz anders als Carl Schulze, der dem Team nach den ersten Anweisungen weitgehend freie Hand ließ.

Später war Carl wiedergekommen und hatte ihnen die Teamzusammensetzung für den Rheopharm-Auftrag mitgeteilt. Zu ihrer Überraschung und Freude war auch Deborah dabei. Ihr schnell hingeworfener Entwurf für die Verpackung sollte direkt umgesetzt werden. Alle hatten sie beglückwünscht, ihr auf die Schulter geklopft und sie gelobt. Alle bis auf Carl, der sie einfach in die Arme genommen hatte.

»Willkommen im Team, Deborah«, hatte er gesagt und sie dabei mit seinen wunderschönen grauen Augen angesehen. Deborahs Herz hatte geklopft, wie wenn es zerspringen wollte, und die Antwort war ihr im Hals stecken geblieben. Das musste unbedingt aufhören!

Sie blickte auf. Ihre Mutter sah sie unverwandt an. »Was ist los, Mama?«

»Nichts, Debbie.« Frau Peters schüttelte versonnen den Kopf. »Ich kann nur manchmal gar nicht glauben, wie groß und erwachsen du schon bist.«

»Ach Mama, gib zu, du bist doch froh, dass ich kein Kleinkind mehr bin!«

Ihre Mutter musste lachen. »Ja, da hast du auch wieder recht.«

Sie schenkte ihr noch einen Tee ein. »Was ist jetzt mit morgen, brauchst du das Auto?«

Deborah nickte. »Ja, bitte. Ich würde gern erst noch Sachen von hier zur Wohnung bringen. Anschließend fahre ich dann zu IKEA.«

»Und du bist sicher, dass ich nicht doch mitkommen soll?«

»Ja, ganz sicher. Danke, Mama, aber ich möchte das wirklich allein machen.«

»Hast du wenigstens jemanden, der dir beim Tragen hilft?« Deborah hörte die Besorgnis in der Stimme ihrer Mutter.

»Nein, aber das brauche ich auch nicht.« Deborah gab sich selbstbewusst. »Bei IKEA sind Leute, die mir beim Einladen helfen. Und in die Wohnung trage ich notfalls alles einzeln hoch.«

Sie lächelte ihrer Mutter beruhigend zu. »Jetzt gehe ich schlafen, morgen wird ein langer Tag.«

Frau Peters winkte ihrer Tochter hinterher, während Deborah die schmale Treppe zu ihrem Zimmer hochstieg.

Er muss das Glas noch reinigen, aber nur von innen, das ist wichtig für seinen Plan. Er zieht dünne Handschuhe an und reißt ein Stück Frischhaltefolie ab. Vorsichtig glättet er die Folie – gar nicht so einfach mit den Handschuhen – und wickelt sie um das Glas, zweimal, dreimal, vom Rand bis zum Boden. Nun erst lässt er Wasser einlaufen, fügt ein paar Tropfen Spülmittel dazu und wäscht das Gefäß gründlich aus.

Das Armband. Er geht ins Bad und schneidet mit einer Schere das schwarze Gummiband durch. Die knallroten Erbsen lässt er auf ein Blatt Papier fallen. Er benutzt den Zahnputzbecher aus Glas, um die Samen zu zerdrücken. Sie sind überraschend hart, aber am Ende liegt auf dem Papier ein kleiner Haufen Schrot, braun mit schwarzen und roten Sprenkeln. Es ist nicht viel, vielleicht ein Esslöffel voll, aber das sollte reichen.

Das Glas ist inzwischen trocken. Vorsichtig lässt er das grobe Pulver hineinrieseln und schließt den Deckel. Jetzt erst wickelt er die Folie ab.

Der Karton. Er löst das alte Etikett ab, so gut es eben geht. Es haftet an der Laminierung des Kartons und klebt sich an seine Handschuhe, das Papier zerreißt, aber das ist nicht schlimm, das neue Etikett wird alles überdecken.

Der Brief. Durch ihn wird die Falle perfekt. Er geht an den PC und startet Photoshop.

Pater Noster

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