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Die ersten Tage

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Dienstag Vormittag, 11.23 Uhr. Luisa saß im Stadtpark und blinzelte in die Sonne. Wenigstens das Wetter war gut hier, aber das war auch das Einzigste. Diese Stadt war ihr so wahnsinnig fremd und unangenehm. Warum hatte ihre Mutter auch schon wieder eine neue Anstellung gefunden? Warum mussten sie schon wieder umziehen? Luisa kam sich vor wie ein kleiner Hund, den niemand fragt, der aber überall hin mitgeschleift wird und dann sehen kann, wie er klarkommt. Immer wieder eine fremde Stadt, fremde Menschen, eine fremde Schule, fremde Mitschüler... Dabei war es in Köln doch so nett gewesen. Aber Moni – Luisa nannte ihre Mutter beim Vornamen- hatte gesagt in Kleinstadt sei es viel gemütlicher und sie könnte sich dort viel besser beruflich entfalten... Luisa hatte nur noch müde genickt. So hatten sie wieder einmal ihr Bündel geschnürt und waren umgezogen. 11.35 Uhr. In fünf Minuten wäre ihre Englischstunde vorbei. Naja, was soll´s? Englisch war nicht so wirklich wichtig, fand Luisa. Gleich hätte sie Mathematik gehabt. Und dann? Sie musste erst mal auf ihren neuen Stundenplan schauen. Bloß keinen Fehler machen. Nicht aus versehen zu früh nach Hause kommen. Dann würde es auffallen, dass sie heute gar nicht in der Schule war. Es könnte zumindest sein. Moni war noch nicht zu Hause, aber es könnte ja immerhin eine Nachbarin etwas mitbekommen und sie verraten. Das würde dann noch mehr Probleme geben. Probleme hatte sie wirklich genug. Noch mehr konnte sie wirklich nicht gebrauchen. Sie würde einfach morgen in der Schule erzählen, wie elend es ihr gewesen wäre. Und das stimmte ja auch in gewisser Hinsicht. Dann würde das schon gehen. Mal so ein Tag. Was ist schon ein Tag? Nichts. Ein Tag Schule schwänzen konnte nicht so schlimm sein. Morgen würde sie ja wieder... Oder vielleicht noch ein Tag morgen? Zwei Tage sind auch nicht viel und man könnte doch so nett auf den Kastanienbaum klettern. Weglaufen ist eigentlich keine Lösung. Eigentlich. Uneigentlich war der Tag heute gar nicht so schlecht, ohne die komischen Klassenkameraden, mit denen sie noch nichts so richtig anfangen konnte. Schließlich hatten sie Luisa gehänselt wegen ihrem langen roten Haar, das wie Feuer in der Sonne leuchtete. Ob sie in einen Farbtopf gefallen wäre? Flämmchen hatten sie zu ihr gesagt. Das war gemein und deshalb hatte sie heute frei. Zur Entschädigung quasi. Alle anderen mussten jetzt gleich unter der fürchterlichen Mathelehrerin leiden. Luisa nicht. Nicht heute. Auszeit. Prima. Und so saß Luisa im Kastanienbaum, bummelte durch den Stadtpark (das einzig nette in dieser komischen Stadt) und ließ sich von der Sonne bescheinen. Bald hatte sie das hintere Ende des Parks erreicht. Dort führte eine kleine Brücke über einen kleinen Bach in das anliegende große Waldstück. Schön war es hier und der Wald sah einladend aus. Ein kleines Stück könnte man vielleicht... Die Vögel zwitscherten. Der Wald wurde immer dichter und dunkler. Moose und Flechten hingen von den Bäumen. Der Wald sah recht geheimnisvoll aus. Einzelne Lichtstrahlen kämpften sich mühsam durch das dunkle Gehölz. Der Boden war ganz weich von Moos und Tannennadeln. Luisa atmete tief ein. Ein Gefühl von Freiheit und Wohlfühlen begann sich in ihr breit zu machen. Der Wald übte eine große Anziehungskraft auf sie aus. Dass sie allein in diesem Wald unterwegs war, löste in Luisa keinerlei Bedenken aus. So wanderte sie eine Weile den Weg entlang, der von einem flüsternden Bach begleitet wurde. Gedankenverloren, gewohnheitsmäßig fiel ihr Blick auf die Uhr. Schulschluss! Das hatte sie fast vergessen. Sie wollte doch pünktlich zu Hause sein und den Schein wahren. Das musste sein. Bloß nicht erwischen lassen. Ihre Mutter würde da wenig Spaß verstehen. Schnell machte sie sich auf den Heimweg. Wo war denn noch mal diese verdammte Straße? Erst zurück in den Park, über die kleine Brücke und dann aus dem Park heraus, den Haupteingang benutzen. Dann stand Luisa wieder mitten im Straßenverkehr. Das Leben schien um sie herum zu toben, während sie völlig entspannt aus dem Wald kam. Links oder rechts? Da hinten war das große Kaufhaus. Daran konnte sie sich erinnern. Das war auf jeden Fall richtig. Dann wieder rechts, geradeaus, an dem Haus mit dem großem Hund vorbei gehen und daneben in dem großen Mietshaus wohnte sie mit ihrer Mutter. Auf die Schnelle hatte sich nichts besseres finden lassen, obwohl Moni sicher genug verdiente, um ein besseres zu Hause zu finanzieren. Aber dazu hätte man etwas länger suchen müssen und dafür war keine Zeit gewesen. Pech gehabt. Es wäre sowieso nicht für lange, hatte Luisa gedacht. Vielleicht wird die nächste Wohnung - wo auch immer - besser. Im ersten Stock angekommen, kramte sie in ihrer Tasche. Wo waren bloß die Schlüssel schon wieder? Hoffentlich hatte sie die nicht im Wald verloren. Aufatmend fand sie den Haustürschlüssel in der rechten Seitentasche. Sie öffnete die Tür, ließ die Schultasche fallen und stapfte in die Küche. Moni hatte ihr ein Mittagessen vorbereitet, das sie achtlos in die Mikrowelle schob, während sie in Gedanken immer noch im Wald war. Wie schön angenehm kühl und ruhig war es dort gewesen. So eine Stille und wie geheimnisvoll die Sonne sich durch das Geäst gekämpft hatte. Pling machte die Mirkowelle und holte Luisa in die Realität zurück. Lustlos aß sie Bratkartoffeln und Gemüse mit Käse überbacken. Eigentlich nicht schlecht. Wenn sie doch bloß in Köln bei Angelika sein könnte. Angelika war ihre beste Freundin geworden in der kurzen Zeit , in der sie zusammen dort zur Schule gegangen waren. Ach, ja. Seufzend stellte sie den Teller in die Spülmaschine und ging ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Sie war lustlos und fand es schade, nicht mehr im Wald sein zu können. Wann Moni wohl nach Hause kommen würde? Um 18 Uhr endlich drehte sich der Schlüssel im Schloss. Luisa war schon längst auf dem Sofa eingeschlafen. Nachmittagsprogramm war einfach langweilig. Und Hausaufgaben musste sie ja keine machen heute. „Hallo Luisa, wie war dein Tag heute?“ „ Och, ganz gut.“ „Sag mal, musst du keine Hausaufgaben machen heute? Deine Tasche liegt noch im Flur, wo du sie heute Mittag hast fallen lassen.“ Mist. Luisa hatte vergessen, sie wegzuräumen. Ein bisschen verdächtig war das schon. Aber nicht wirklich. „Wir hatten heute nichts auf bei dem schönen Wetter.“ „Und du warst den ganzen Tag im Haus bei dem schönen Sonnenschein? Warum gehst du nicht mit anderen Kindern spielen?“ „Ich kenne die ja gar nicht. Außerdem, Mama, mit dreizehn geht man nicht mehr einfach so draußen spielen. Mit Angelika habe ich Tee getrunken und erzählt. Wir haben Bravos gelesen und so was. Aber spielen gehen, draußen, das ist out. Das ist was für kleine Kinder.“ Luisas Mutter seufzte. Sie wusste, dass es nicht leicht werden würde, bis sie sich hier endlich ein bisschen eingelebt hatten. Luisa war mit diesen Worten in ihrem Zimmer verschwunden. Sie wollte nicht schon wieder eine dieser endlosen Diskussionen mit ihrer Mutter führen und sich endlose Ratschläge anhören, wie sie am besten und schnellsten neuen Kontakt bekommen würde. Sie wollte ja gar keinen. Sie würde Angelika einen Brief schreiben und ihr das Leid klagen wie grässlich Kleinstadt im Vergleich zu Köln war. Ein hinterwäldlerisches Städtchen. Ohne jeden Pfiff. Angelika würde sie schon verstehen. Luisas Mutter wusste auch, dass es sinnlos war, zu diskutieren. So saßen sie dann später schweigsam zusammen vorm Fernseher bis sie sich schließlich müde ins Bett legten. Luisa wegen ihrer langen Spaziergänge und ihre Mutter wegen der vielen Arbeit. Ein neuer Job ist eben kein Zuckerschlecken.


Am nächsten Morgen stand Luisa schwungvoll auf. Es gab kein Gemaule wegen der Schule. Ihre Mutter wunderte sich ein wenig, sagte aber nichts und hoffte auf eine Besserung der Situation. Hätte sie auch nur leise geahnt, was Luisa vor hatte, hätte sie ganz anders reagiert. Aber so lief das Frühstück in gut gelaunter Atmosphäre ab und dann machten sich beide auf den Weg. Die Mutter zur Arbeit und Luisa Richtung Schule, zumindest erst mal. Dann zog es sie magisch in Richtung Wald. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu werden, lenkte sie ihre Schritte dorthin. Immerhin kannte sie den Weg in den Stadtpark inzwischen schon richtig gut. Wenigstens etwas in dieser komischen Stadt, was den Anschein erweckte, ein wenig vertraut zu sein. Sie folgte den Parkwegen und war froh um jeden Menschen, der ihr nicht begegnete. Irgendwie machte es schon einen seltsamen Eindruck, wenn ein junges Mädchen auf dem Weg in den Wald war, mit Schultasche und Sportzeug. Auch das noch. Als wenn sie nicht schon genug an den blöden Mathebüchern schleppen würde. Aber daran war nun mal nichts zu ändern. Wo war denn das Waldstück geblieben? Hatte sie sich gestern getäuscht? Sie war doch an der Kastanie rechts abgebogen und dann hatte sie an der Gabelung den mittleren Weg genommen. Mmh. Seltsam. Gestern war hier doch der kleine Bach gewesen mit der kleinen Brücke, die direkt in das Waldstück führte. Hatte sie sich geirrt? Sie hatte sich den Weg doch ganz genau eingeprägt. Wie konnte das sein? Verdammte Stadt. Noch nicht mal den Wald konnte man hier wiederfinden. Ärgerlich stapfte Luisa die Parkwege entlang. So etwas blödes. Dabei hatte sie sich so gefreut, den ganzen Tag durch den Wald zu streifen. Und morgen, morgen wäre sie dann auch wieder in die Schule gegangen. Aber heute noch nicht. Heute nicht. Ein einziger Tag noch. Vielleicht war das ein Zeichen, dass sie zur Schule gehen sollte. Das schlechte Gewissen plagte sie. Aber sie konnte die anderen nicht ertragen. Alle diese fremden Gesichter. Das mitleidige Gesicht der Lehrerin. Fünf mal umgezogen in den letzten Jahren. Oh, das tut mir aber leid. Ist sicher nicht einfach. Nein, was auch sonst. Wenn wenigstens Angelika hier wäre. Wenn ihre Mutter doch auch einen Umziehjob hätte. Dann könnten sie zusammen... Aber so gütig war das Schicksal nicht gewesen. Gedankenverloren irrte Luisa durch den Stadtpark. Wo war denn bloß die Brücke in den Wald? Sie konnte sie nicht finden. Keine Brücke, kein Wald. So ein Mist! Eine ältere Dame kam ihr entgegen. „Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo die Brücke ist, die vom Stadtpark direkt in den angrenzenden Wald führt?“ „Welche Brücke Kind?“ „Na, die Brücke in den Wald.“ „Wald gibt es hier nicht. Hier gibt es nur den Park. Du musst dich irren. Solltest du nicht eigentlich in der Schule sein, Kind?“ „Nein, der Unterricht ist heute überraschend ausgefallen und meine Mutter ist arbeiten. Da wollte ich ein bisschen spazieren gehen und nicht den ganzen Tag zu Hause herumhängen.“ Warum erzählte sie das überhaupt? Die Frau konnte schließlich von ihr keine Rechtfertigung verlangen und weiterhelfen konnte sie auch nicht. Also besser das Gespräch abbrechen. Sie quatschte aber schon weiter:“ Und was ist mit deinem Vater, Kind?“ „Das geht Sie überhaupt nichts an. Und nennen Sie mich nicht immer Kind!“ Luisa war wütend und rannte davon. Kopfschüttelnd sah die ältere Dame hinter ihr her. Die Dame musste verwirrt gewesen sein. Sonst hätte sie doch vom Wald gewusst. Vielleicht war sie selbst erst vor kurzem zugezogen. Das könnte die Lösung sein. Was sollte Luisa jetzt anfangen mit dem begonnenen Tag? Vielleicht sollte sie doch zur Schule gehen. Sport konnte sie ganz gut und vielleicht konnte sie damit ein paar der neuen Klassenkameraden beeindrucken. Das könnte ihre Situation doch vielleicht verbessern. Eher als Englisch. In Englisch hatten nur alle über ihre Aussprache gelacht. Egal. Wozu braucht man schon Englisch? Ein Blick auf den Stundenplan machte deutlich, dass Englisch gerade vorbei war. Na, also. Chemie wäre das nächste und dann Sport. Wenn sie schon den Wald nicht finden konnte, dann konnte sie auch zur Schule gehen. Den ganzen Vormittag die Zeit im Park totschlagen wäre auch langweilig. Sie mochte Chemie. Chemie hatte immer so etwas geheimnisvolles. Es kam selten das erwartete Versuchsergebnis heraus. Meist wurde dann lange analysiert und überlegt, woran es wohl liegen konnte. Weißer Rauch statt gelber Flüssigkeit. „Mmh“, machte der Chemielehrer. „Mmh“, machte die Klasse und grinste. Nett war es gewesen in Köln. Sie suchte den Weg zur Schule. (So oft war sie noch nicht hier gewesen.) Dann suchte sie den Chemiesaal. Mit fünf Minuten Verspätung hatte sie ihn gefunden. Mal sehen, wie die neue Chemielehrerin so ist... Die rümpfte als erstes die Nase, als Luisa fünf Minuten zu spät auftauchte. „Ich bin neu und habe mich auf dem Weg in den Chemieraum verlaufen“, entschuldigte sich Luisa. „In Ordnung. Wie heißt du?“ „Luisa Morgenstern." Jetzt würde bestimmt auffallen, dass sie heute als fehlend eingetragen war und die erste Stunde geschwänzt hatte. Aber die Chemielehrerin sagte nichts. Sie zeigte nur mit freundlichem Kopfnicken auf einen freien Platz. Seufzend ließ sich Luisa auf den Stuhl fallen. Überstanden. Vorläufig. Ihre Klassenkameraden musterten sie neugierig. Wenn es der Englischlehrerin entgangen war, dass Luisa nicht da gewesen war – ihre Klassenkameraden hatten es gemerkt. Anscheinend hatten sie dicht gehalten. Ließ sich da eine Spur von Anstand in dieser Truppe ausmachen? War vielleicht doch nicht alles schwarz, sondern nur fast alles? „Luisa, was meinst du dazu?“ „Luisa“ Oh, eine Frage an mich? Hier fragt mich doch sonst keiner, dachte sie. Laut sagte sie:“ Entschuldigung, ich habe gerade nicht zugehört.“ Die Chemielehrerin wiederholte die Frage und holte Luisa damit aus ihren Gedanken. Zumindest ging es um etwas, was sie in Köln schon gemacht hatten. Kein Problem. Die anderen schauten überrascht auf, als sie die Antwort wusste. Na, also. Wenigstens etwas. Die Chemielehrerin schaffte es irgendwie, Luisa in ihren Bann zu ziehen, oder besser in den der Chemie. So konnte Luisa nicht weiter mit ihrem Schicksal hadern und ihren düsteren Gedanken nachhängen. Kaum hatte es zur Pause geklingelt, war Luisa von einigen ihrer Klassenkameraden umringt. „Wo warst du heute morgen? Und gestern? Sag bloß, du hast blau gemacht?“ Luisa schaute sie der Reihe nach an, nicht ohne zu genießen wenigstens für kurze Zeit im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Dabei überlegte sie blitzschnell. „Nein, natürlich habe ich nicht blau gemacht. Ich war beim Arzt.“ Und leiser fügte sie hinzu:“ Ihr müsst wissen, ich habe eine seltene Krankheit. Man weiß nicht genau, was es ist.“ Die anderen schoben sich näher an Luisa heran, um nichts zu verpassen. Als sie das mit der Krankheit hörten, wichen sie zurück. „Nein, es ist nicht ansteckend“, beruhigte Luisa ihre Klassenkameraden. Diese Notlüge brachte ihr das Mitleid der ganzen Klasse, die daraufhin viel freundlicher war. Man ging vorsichtig mit ihr um. Man verfolgte sie mit großen Augen beim Sport als würde jeden Moment ein Körperteil abbrechen oder noch dramatischer Luisa mitten im Schlussspurt kollabieren. Aber nichts dergleichen geschah. Der Sportlehrer lobte die Klasse für ihre Rücksicht auf die neue Mitschülerin. Das sei wirklich lobenswert. Erhobenen Kopfes verließ die Klasse die Sporthalle. „Darfst du denn überhaupt Sport machen? Ist das nicht gefährlich?“ Luisa wusste im ersten Moment gar nicht, was ihre Klassenkollegin da meinte. „Na, mit deiner Krankheit.“ Ach, so. Das hatte sie fast vergessen. Sie würde aufpassen müssen. „Nein, ein bisschen Sport ist schon okay. Natürlich darf ich mich nicht total verausgaben. Aber das tue ich auch nicht.“

Der Geographielehrer betrat die Klasse und die Klasse versank im Halbschlaf oder hielt sich mit Käsekästchen bei Laune. Was sollte man auch sonst sinnvolles mit einer Geographiestunde anfangen? Geographielehrer waren allesamt Langweiler. Luisa wusste das. Schließlich hatte sie Erfahrungen durch die vielen Umzüge. Da war noch nicht eine interessante Stunde herausgekommen. Also machte sie es wie alles anderen und gab sich ihren Gedanken hin. In Gedanken begab sie sich in den Stadtpark und versuchte den Weg zu rekonstruieren, auf dem sie gestern nach Hause gegangen war. Irgendwo musste doch der Wald gewesen sein. Sie hatte ihn schließlich mit eigenen Augen gesehen. Die alte Dame hatte bestimmt keine Ahnung. Wie konnte sie wissen, dass es keinen Wald gab, wenn Luisa doch gestern erst da war. Sie hatte immer noch vor Augen, wie sich der kleine Bach durch den Wald gewunden hatte. Die Sonne hatte ihre Strahlen durch das dunkle Gehölz geschickt. Flechten und Moose hatten den Boden bedeckt. Es war so geheimnisvoll gewesen und so angenehm kühle frische Luft. Sie nahm ein leeres Blatt und begann den Park zu zeichnen, so wie er in ihrer Erinnerung war. Sie versuchte die Wege zu rekonstruieren. Aber so genau hatte sie die Wege noch nicht im Kopf. Plötzlich hatte sie eine Idee: Es gab einen Weg, den sie heute morgen nicht gegangen war. Vielleicht war das genau der Weg, der über den Bach in den Wald führte. Sie musste das ausprobieren. Als es klingelte und Geographie beendet war, griff sie ihre Schulsachen und wollte gehen. “Hey, seht euch das an, unser Flämmchen kommt später und geht eher.“ Luisa sah auf und stellte fest, dass ihr ein hässlicher korpulenter Typ den Weg verstellte. „Tu dich vom Acker.“ „Ach, Madam aus der großen Stadt ist wohl was besseres als der ganze Rest. Madam geht, wie es ihr gerade gefällt, oder wie?“ „Haben wir noch eine Stunde?“ fragte Luisa verdutzt. Lachend wandte sich die Klasse von ihr ab und verschwand. Ja, wohin denn eigentlich? Der Stundenplan sagte Biologie. Noch eine Stunde. Aber dann war Schluss für heute. Sie beeilte sich, den anderen zu folgen, um nicht schon wieder hilflos durch die Gänge zu irren und zu spät zu kommen. Mit Mühe hielt sie den Anschluss. Wieder bekam sie den Platz, der übrig war und den keiner haben wollte. Direkt vor der Biolehrerin. Als Zugezogene hatte man wirklich einen schweren Stand. Mehr schlecht als recht durchlitt sie die Biologiestunde und versuchte, einen nicht allzu verträumten Eindruck zu machen. In Gedanken war sie schon im Park. Sie musste diesen Weg ausprobieren. Als es schellte, war sie so schnell verschwunden, dass sie die Hausaufgaben schon gar nicht mehr hörte und dass alle ihr besorgt nachschauten: ob das gut war, so zu rennen, angesichts der schlimmen Krankheit? Besorgte vielsagende Blicke wurden ausgetauscht. Vielleicht ging es ihr auch schon wieder schlecht und sie hatte einen Anfall oder so etwas. Schließlich erinnerte sich jeder, dass sie es schon vor einer Stunde sehr eilig hatte zu gehen. Wahrscheinlich war sie froh, wenn sie gleich zu Hause war und ihre Medikamente nehmen konnte. Die Phantasie trieb wilde Blüten. Zumindest für einen Moment. Dann hatten alle den gleichen Wunsch: Bloß raus hier aus der Schule und ab nach Hause. Als die ersten ihrer Klassenkameraden aus der Schule traten, war Luisa schon im Stadtpark. Sie rang nach Atem so schnell war sie gerannt. Sie kramte nach der Skizze, die sie vorhin gemacht hatte. Eindeutig. Gestern auf dem Rückweg war sie an der großen Kastanie vorbeigekommen. So viel stand schon mal fest. Wenige Minuten später hatte Luisa die Kastanie erreicht. Aus welcher Richtung war sie zur Kastanie gekommen? Sie drehte sich um und lief rückwärts, um den gleichen Anblick zu haben, wie gestern auf dem Nachhauseweg. Abgesehen davon, dass sie beinahe im Kinderwagen einer jungen Mutter landete, schaffte sie es nur wieder in den Weg, den sie heute morgen auch schon gegangen war. Das war eindeutig falsch. Der hatte nirgendwohin geführt. Schwitzend schleppte Luisa das Sportzeug und die schweren Mathebücher die Stadtparkwege entlang. Puh, wo war denn bloß dieser eine Weg, von dem sie sicher war, dass sie ihn heute morgen noch nicht ausprobiert hatte? Schließlich schien er ihre einzige Chance zu sein. Von der Kreuzung am Kastanienbaum gingen fünf Wege ab. Zwei hatte sie schon ausprobiert, auf einem war sie gekommen. Also blieben noch zwei. Sie probierte den ersten der beiden aus. Der führte direkt in die Stadt zurück und endete beim Kaufhaus, wo sie fast dem dicken Mitschüler in die Arme gelaufen wäre. Eine rasante Kehrtwendung konnte das gerade im letzten Moment noch verhindern. Also wieder zurück zur Kreuzung. Da blieb nur noch ein Weg. Der musste es einfach sein. Sie hetzte zurück zur Kreuzung, bog in den fünften Weg ein und stand nach wenigen Metern an einem meterhohen Zaun. Der Weg hörte hier einfach auf. Das ist doch ein Ding. Hatte die Frau doch recht? Gab es den Wald gar nicht? War sie gestern in der Sonne eingeschlafen und hatte sie alles das nur geträumt? Erschöpft ließ sie sich im Schatten des Kastanienbaums nieder. Hier ließ es sich aushalten. Sie döste ein wenig. Dann machte sie etwas von ihren Hausaufgaben und stieß auf ihr Pausenbrot. Dazu war sie noch gar nicht gekommen heute. Was für ein Stress. Da soll mal einer sagen, Schüler haben keinen Stress. Genüsslich verspeiste sie ihr Butterbrot und trank ihre Apfelschorle. Sie schaute den kleinen Vögeln zu, die in den Ästen spielten und war annähernd zufrieden, weil der heutige Tag ein bisschen besser war, als die letzten in der Schule, wenn auch mit Hilfe einer faustdicken Lüge. Aber was hätte sie auch sagen sollen? Sie hätte ja schlecht zugeben können, dass sie blau gemacht hatte. Irgendeiner dieser Deppen hätte sie bestimmt verraten, ob absichtlich oder unabsichtlich. Schließlich ging sie nach Hause. Die Tür war nicht abgeschlossen. Moni war schon zu Hause. „Hallo, du kommst aber spät. Wo bist du denn so lange gewesen?“ fragte sie. Mütter waren immer fürchterlich neugierig. Aber diesmal war das kein Problem. Luisa konnte problemlos vom Stadtpark erzählen und dass sie dort ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Das konnte sie sogar beweisen. Moni hatte früh Feierabend gemacht, hatte eine schönere Wohnung besichtigt und wollte gerne mit Luisa zusammen eine endgültige Entscheidung treffen. Schon wieder umziehen, dachte Luisa nur. Aber immerhin wurde sie diesmal wenigstens mit Vetorecht an der Entscheidung beteiligt. Das war ein Fortschritt, der zu würdigen war. Sie fuhren also zusammen zur vielleicht neuen Wohnung. Es stellte sich heraus, dass die Wohnung in der Nähe des Stadtparks lag. Allein das hätte ausgereicht, um Luisa zu überzeugen. Allerdings hatte ihre Begeisterung für den Stadtpark heute merklich nachgelassen, weil sie den Wald nicht wiedergefunden hatte. Aber so schnell war sie nicht bereit aufzugeben. Außerdem wusste sie doch, was sie gesehen hatte.

Die Wohnung war hell und freundlich und wies noch andere Vorzüge auf, als einfach nur nah am Stadtpark zu liegen. In der Nachbarschaft konnte Luisa eine der netteren ruhigeren Mitschülerinnen ausmachen. Vielleicht würde sich in dieser Stadt ja doch noch ganz passabel leben lassen. Vielleicht. Ihre Mutter war total begeistert und völlig aus dem Häuschen, wie ein kleines Mädchen. „Sieh mal, das könnte dein Zimmer werden, oder das und das die Küche und ein schönes großes Wohnzimmer hätten wir auch. Ist das nicht phantastisch?“ Erwartungsvoll sah sie Luisa an. Luisa guckte skeptisch. Die Wohnung war schön. Zu schön. Da lag das Problem. Aus dem Loch, in dem sie jetzt wohnten, würde es ihre leicht fallen, wieder auszuziehen. Aber hier? Solch eine schöne Wohnung zurücklassen zu müssen, würde ihr das Herz brechen. Es war doch sicher nur eine Frage der Zeit bis Moni wieder einen neuen Job annehmen würde. „Mama, ich weiß nicht. Lohnt es sich denn überhaupt, dass wir hier einziehen? Wie lange schätzt du, werden wir hier wohnen?“ „Oh, daher weht der Wind. Ich dachte schon, es würde dir nicht gefallen. Ich gedenke nicht mehr umzuziehen.“ „WAS???“ Luisa fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. „Ja, du hast richtig gehört. Dies ist eine schöne kleine Stadt. Hier können wir es wohl aushalten und mein Arbeitsvertrag ist diesmal unbefristet. Es sieht also alles so aus, als könnten wir uns hier so richtig gemütlich einrichten.“ „Aber warum konnten wir uns in Köln nicht gemütlich einrichten, wo ich meine Freunde hatte? Hier ist alles so kleinkariert. Die sind so hinterwäldlerisch hier. Die lesen noch nicht mal die Bravo.“ „Du weißt, dass wir dort nicht bleiben konnten, weil ich arbeitslos geworden bin. Ich bin dies Vagabundenleben genauso leid wie du. Aber was sollte ich denn machen?“ Was sollte Luisa dazu sagen. Natürlich konnte sie nichts dazu. Und doch. Warum hatte sie sich ausgerechnet hier eine Dauerstellung gesucht und nicht in Köln? Mist. Ausgerechnet hier musste sie eine dauerhafte Anstellung finden. Ausgerechnet hier, wo sie mit den Klassenkameraden nichts anfangen konnte und ihnen eine faustdicke Lüge aufgetischt hatte. Verflixt. Aus Luisas Gesicht sprach nicht gerade Begeisterung. Ihre Mutter ignorierte das. „Also, wenn du einverstanden bist, sollten wir hier einziehen. Es ist ein äußerst günstiges Angebot. Der Eigentümer der Wohnung hat finanzielle Schwierigkeiten. Was meinst du?“ „Von mir aus. Wenn wir schon nicht in Köln wohnen können, dann wohnen wir hier wenigstens besser als da, wo wir jetzt wohnen. Viel besser. Aber ich will mein Zimmer selbst einrichten und alles aussuchen: Tapete, Teppichboden, Möbel, einfach alles. Das ist Bedingung.“ „Akzeptiert.“ „Okay.“ „Dann rufe ich den Makler an, sage zu und wir feiern unsere neue Wohnung und gehen richtig schick essen.“ „Prima.“ Essen gehen war gut. So richtig lecker konnte Moni nämlich gar nicht kochen. Das war in jedem Fall die bessere Alternative. Das schien ja doch noch ein richtig netter Abend zu werden. Wurde es auch. Sie quatschten ziemlich lange und waren so spät wieder zu Hause, dass ihre Mutter vorschlug, die erste Stunde am nächsten Tag zu schwänzen. Aber das war unmöglich. Ebenso wenig wie Mutter schwänzen konnte, konnte Luisa schon wieder fehlen und so gingen beide mit dem guten Gefühl ins Bett, dass sie der nette Abend für diesen blöden Tag morgen vollkommen entschädigte.

Am nächsten Morgen riss der Wecker Luisa aus dem Tiefschlaf. War die Nacht wirklich schon um? Es war gestern viel zu spät gewesen. Gähnend schlug sie die Bettdecke zurück. Heute schien alles länger zu dauern als normal. Die Müdigkeit saß in allen Knochen und ließ sich überhaupt nicht vertreiben. Nur das Frühstück ging total fix. Aber das lag daran, dass Luisa vom Abendessen noch mehr als satt war. Nicht die Spur von Hunger. Also einen Schluck Kakao und ein Knäckebrot. Fertig. Noch immer verschlafen machte Luisa sich auf den Weg zur Schule. Das konnte ja ein Tag werden. Wurde es auch. Es fing mit Mathe an und damit, dass Luisa feststellte, dass sie ihr Mathebuch vergessen hatte und keine Hausaufgaben gemacht hatte. Übel, übel. Die Lehrerin war ziemlich sauer und nur die Tatsache, dass sie neu war, bewahrte sie vor einem Tadel. „Aber nur dieses eine Mal!“ Ansonsten schien sich die Lehrerin sehr für Luisas mathematische Fähigkeiten zu interessieren, die aber mehr als mäßig waren. Von dem, was die hier in Kleinstadt rechneten, hatte sie noch nie auch nur im entferntesten gehört. Außerdem hatte sie heute sowieso keine klaren Gedanken. Die anderen machten sich mal wieder lustig über sie. Flämmchen konnte wohl nicht rechnen, wie? Und dieser kleine hässliche dicke Junge war wieder der erste, der seinen Mund aufriss. Sie war froh, als die Pause nach der Mathestunde vorbei war. Dann folgte Geschichte. Geschichte war ganz akzeptabel. Die Lehrerin erzählte nette Geschichten von den alten Römern. Ganz passabel und unterhaltsam sorgten diese Geschichten dafür, dass Luisa nicht einschlief. Jens, der kleine Dicke, erhielt einen Tadel, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Luisa konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das traf den Richtigen. Natürlich hatte Jens das gesehen und schnitt fürchterliche Grimassen. In der Pause versperrte er ihr den Weg bis alle anderen Klassenkameraden verschwunden waren. Dann rannte erschnell davon. Luisa brauchte ein paar Minuten, um herauszufinden, was überhaupt auf dem Stundenplan stand. Ah, ja. Chemie. Sie war schon spät dran. Sie war doch gestern erst im Chemiesaal gewesen, oder war das vorgestern gewesen? Wie kam sie bloß dahin? Die anderen Schüler waren schon in ihren Klassen, so dass sie niemanden fragen konnte. Die Flure waren leer und ausgestorben und niemand war weit und breit zu sehen. Gedämpfte Stimmen drangen aus den Klassen auf den Flur. Sonst war nichts zu hören. Dieser miese Typ hatte sie schon wieder reingelegt. Er hatte genau gewusst oder zumindest geahnt, dass sie den Weg nicht so schnell finden würde und nun schon zum zweiten Mal zu Chemie zu spät kommen würde. Diesmal würde es bestimmt Ärger geben. Dabei war sie diesmal wirklich unschuldig. Wie war das gewesen? War der Chemiesaal nicht oben gewesen? Nein, oben war der Kunstsaal. Also unten irgendwo. Nach weiteren fünf Minuten des Herumirrens hatte sie den Chemiesaal gefunden. Nun war sie satte zehn Minuten zu spät. Zaghaft klopfte sie an und trat ein. Die Lehrerin guckte ärgerlich. „Luisa, woher kommst du denn so spät?“ Luisa murmelte kleinlaut:„Entschuldigung.“ Sie sah aus den Augenwinkeln wie Jens grinste. Das hatte besser geklappt, als er zu hoffen gewagt hätte. Er hatte vermutet, dass Luisa den Weg schneller gefunden hätte. Die Lehrerin selbst war sogar auch zu spät gekommen. Aber Luisa hatte es tatsächlich geschafft, noch später als die Lehrerin einzutreffen. „Zweimal zu spät. Das gibt einen Tadel. Beim dritten Tadel schicken wir einen Brief nach Hause. Ich hoffe, dass dir das klar ist, Luisa.“ „Aber ich habe doch den Weg suchen müssen.“ „Du hättest auch einfach mit einem deiner neuen Klassenkameraden mitgehen können.“ Luisa schwieg und die Lehrerin trug den Tadel ins Klassenbuch ein, während Jens von einem Ohr bis zum anderen grinste. Der restliche Vormittag verlief dann glücklicherweise ohne weitere Zwischenfälle. Luisa hatte Jens spätestens jetzt in Gedanken den Krieg erklärt und überlegte, wie sie sich rächen könnte. Auf die Art ging auch die Englischstunde schnell vorbei. Dann endlich klingelte es zum Schulschluss. Luisa war so schnell verschwunden, dass Jens gar nicht einmal nachdenken konnte, was er noch anstellen konnte. Sie atmete auf, als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel. Sie aß ein wenig und legte sich dann aufs Bett. Sie schlief ein und träumte, wie sie in dem wunderschönen Wald spazieren ging und alles, die Schule, Kleinstadt, die Mitschüler weit hinter sich ließ. Hier war alles so unbeschwert, so leicht. Hier roch es so gut und die Probleme waren so weit weg. Wunderschöne Blumen standen am Wegesrand. Ein leichter Windhauch spielte mit den Blättern. Der kleine Bach speiste einen kleinen Weiher und setzte von dort aus seine Reise fort. Im Wasser sah sie Fische und eine Seerose. Über dem Weiher spielten Mücken und Libellen. Sie legte sich am Ufer ins Gras und ließ sich von der Sonne bescheinen und spürte die Wärme auf ihrer Haut. Sie beobachtete die Vögel in den Bäumen. Eine Amsel baute gerade ihr Nest. Da klopfte ein Specht an einen Baum und sagte:“ Hallo Luisa.“ Luisa murmelte:„Hallo“ und sah verwundert auf zum sprechenden Specht. Dann hörte sie ein Scheppern und fuhr erschrocken hoch. Moni stand im Zimmer und war gegen eine von ihren alten Spielzeugkisten getreten, die sie schon längst auf dem Dachboden lagern wollte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht wecken.“ „Macht nichts. Sonst kann ich heute Nacht nicht schlafen. Ich habe gerade wunderbar geträumt.“ „Das tut mir leid, dass ich dich gestört habe. Sollen wir gleich zusammen Abendbrot essen?“ „Ich komme gleich.“ Luisa musste erst mal wieder zurück kommen. Und das war gar nicht einfach. Am liebsten wäre sie dort geblieben in dem wunderbaren Wald. Jetzt war sie wieder in der harten Realität und dachte an die Probleme in der Schule und die Hausaufgaben, die sie immer noch nicht gemacht hatte. Zum Glück war das heute nicht so viel. Sie konnte unmöglich morgen schon wieder ohne Mathematikhausaufgaben dort aufkreuzen. Das würde bestimmt Ärger geben. Aber erst mal Abendbrot essen. Dann konnte man weitersehen. Moni war heute auch müde und alles andere als gesprächig. So ging das gemeinsame Essen schnell und schweigsam über die Bühne. Luisa machte dann schnell ihre Hausaufgaben. Abends lag sie gedankenverloren in ihrem Bett und dachte über ihren Traum nach. Er hatte die Sehnsucht nach dem Wald wieder lebendig werden lassen. Sie musste ihn suchen gehen. Sie war doch schon dort gewesen. Luisa war sich absolut sicher. Irgendwo dort im Stadtpark musste dieser Weg in den Wald sein. Er musste einfach. Beim ersten Mal hatte sie nicht geträumt. Sie musste weitersuchen.


Am nächsten Tag war Luisa fit und ausgeruht. Endlich mal wieder ausgeschlafen. Das konnte nur ein guter Tag werden. Als sie ihre Schulsachen packte, wurde ihre Euphorie schlagartig gebremst. Der Stundenplan für heute war alles andere als gut. Mathe, schon wieder. Und dann noch Deutsch und Musik. Beide Fächer hatte sie in der neuen Schule noch nicht gehabt. Wer weiß, was das wieder für Typen waren, die Lehrer für Deutsch und Musik. Musik war immer schon ein Alptraum gewesen. „Luisa, bist du so weit? Wir müssen los.“ „Ja, ich komme ja schon.“ Immer diese Hektik am frühen Morgen. Außerdem hatte Luisa es gar nicht eilig. Pünktlich erreichte sie den Klassenraum. Einer der wenigen Tage, an denen sie bisher schon gleich morgens in der Schule aufgetaucht war. Aber so wie bisher konnte es auch nicht weitergehen. Wenn sie noch öfter schwänzen würde, wäre es nur eine Frage der Zeit bis es auffliegen würde. Ihre Tischnachbarin erschien kurz nach ihr. „Hallo. Du bist ja tatsächlich mal vor mir hier.“ Blöder Spruch. Blöde Tussi. „Hey, war nicht so gemeint. Wie geht es dir denn heute?“ „Och, ganz gut, wenn ich davon absehe, dass wir Mathe haben. Ich hasse Mathe. Außerdem haben wir in Köln was ganz anderes in Mathe gemacht.“ „Wenn du möchtest, können wir für die nächste Arbeit zusammen lernen. Du könntest mir als Gegenleistung Chemie erklären.“ Luisa überlegte. Sollte sie sich wirklich mit einer dieser hinterwäldlerischen Tussis treffen? Die waren doch alle blöd. Die kannten wahrscheinlich keinen Darjeeling Tee und hatten sicher noch nicht einmal die Bravo gelesen. Die wussten gar nicht, dass dieses Blatt existiert. Wahrscheinlich. Andererseits: Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie hier wohnen bleiben würden. Sie konnte schließlich nicht immer nur alleine sein. Das war schließlich ein nettes Angebot. Luisa hatte anscheinend zu lange überlegt. Ihre Nachbarin begann gerade einen Rückzieher zu machen. „Ist schon okay, wenn du nicht willst. War nur so eine Idee. Ich kann auch Sonja wegen Chemie fragen.“ „Nein ich hätte schon Lust. Wenn du willst, können wir das machen. Wer ist denn Sonja?“ So weit sich Luisa erinnern konnte, gab es keine Sonja in der Klasse. Oder hatte sie da schon wieder was falsch mitbekommen? „Sonja ist meine große Schwester. Ich würde sie aber nur ungern fragen. Sie meint immer, sie wäre etwas besseres als ich.“ „Okay, dann treffen wir uns mal.“ „Okay.“ Bevor sie einen Termin ausmachen konnten, erschien die Mathelehrerin. Frau Sommer kontrollierte zuerst die Hausaufgaben. Dann musste Luisa an der Tafel eine der Aufgaben vorrechnen. Sie machte alles falsch und wusste irgendwann einfach nicht mehr weiter. „Was habt ihr bloß in Köln gelernt?“ „Wir haben zuletzt Zinsrechnung gemacht.“ „Also damit sind wir hier schon lange fertig. Ich sollte mal mit deiner Mutter reden Du solltest Nachhilfe in Mathe nehmen. Du hängst total weit hinten dran. Du kannst wieder auf deinen Platz gehen.“ Seufzend ließ Luisa sich wieder auf ihren Platz fallen. Nachhilfe in Mathe, das fehlte ihr gerade noch. Als wenn sie nicht schon genug um die Ohren hatte. Diese Type musste nur kurz ihre Mutter anrufen und sie hätte in kürzester Zeit einen Nachhilfelehrer. Dafür würde Monis schlechtes Gewissen schon sorgen. Sie wusste selbst, dass es ziemlich schwierig für Luisa war, sich einzuleben und mit den unterschiedlichen Standards in den Schulen zurecht zu kommen. Wahrscheinlich würde ihre Mutter ihr für zwei Nachmittage in der Woche einen Nachhilfelehrer engagieren. Mindestens für den Rest des Schuljahrs. Und der Lehrer würde ihrer Mutter dann immer erzählen, dass Luisa einfach Unterstützung brauchte, um den Level zu halten, selbst wenn sie bessere Noten hätte. Schließlich konnte der Nachhilfelehrer mit ihr Geld verdienen. Sie musste das unbedingt verhindern. Unbedingt. Sie würde gleich mit Frau Sommer sprechen und ihr erzählen, dass sie mit ihrer Tischnachbarin zusammen lernen wollte. Hoffentlich würde sie ihr das abnehmen. Frau Sommer machte so einen strengen Eindruck. Sie würde ungern mit ihr alleine reden. Aber das war auf jeden Fall das kleinere Übel. Sie würde das schon überstehen. Außerdem machte so was einen guten Eindruck. So von wegen Eigeninitiative und so. „Luisa, was meinst du zu Daniels Vorschlag diese Aufgabe zu lösen?“ Luisa war komplett in Gedanken gewesen. Sie hatte gar nicht richtig zugehört. „Luisa, ich habe eine Frage an dich gerichtet.“ „Das habe ich gehört. Ich weiß keinen anderen Vorschlag.“ „Ich habe den Eindruck, dass du gar nicht zugehört hast.“ „Natürlich habe ich zugehört, aber ich habe nicht viel Ahnung von Mathe, wie Sie eben schon feststellen konnten.“ „Dann kannst du mir sicher Daniels Vorschlag wiederholen.“ Puh, böse Falle. Ihre Nachbarin schob ihr unauffällig einen Zettel zu. Luisa stammelte eine Antwort zusammen. Frau Sommer schien überrascht und vorläufig zufrieden. Sie überlegte noch einen Moment. Dann sagte sie: “Luisa, ich möchte nach der Stunde kurz mit dir reden.“ Auch das noch. Der Ärger schien sie nur so anzufliegen. Sie bemühte sich, für den Rest der Stunde ihre Sorgen zu verdrängen und dem Unterricht zu folgen. Sie konnte ihr einfach erzählen, wie es gewesen war: Dass sie überlegt hatte, ob sie mit der Tischnachbarin zusammen lernen sollte. Jetzt war sie schon wieder in Gedanken. Sie musste zuhören. Endlich klingelte es zur Pause. Luisa bedankte sich für die Unterstützung bei – ja wie hieß sie eigentlich? Katrin stand auf dem Schulheft. „Danke, Katrin. Also ich würde gerne mit dir zusammen Mathe lernen und Chemie.“ „Okay. Dann ist das abgemacht, falls du nicht Nachhilfe nehmen musst.“ „Nicht, wenn ich das irgendwie verhindern kann.“ „Bis gleich. Viel Glück.“ „Bis gleich.“ Luisa sah zu, wie sich die Klasse zur großen Pause leerte. Sie packte ihre Sachen zusammen und ging dann zu Frau Sommer nach vorne. Sie wartete schon auf sie. „Luisa, ich habe gesehen, dass deine Nachbarin dir einen Zettel zugeschoben hat mit der Lösung von Daniel, nach der ich dich gefragt hatte. Du hattest nicht zugehört. Wie kannst du so vor dich hin träumen, wenn du sowieso schon Schwierigkeiten in Mathe hast? Du solltest dir wenigstens Mühe geben. Ich weiß, dass es wahrscheinlich schwierig ist, sich neu einzuleben und zum Wissensstand der Klasse aufzuschließen. Aber auf diese Art wird das gar nichts.“ „Ich hatte überlegt, ob ich nicht mit Katrin zusammen Mathe lernen könnte. Sie hatte mir das angeboten. Deshalb habe ich nicht zugehört.“ „Diese Überlegungen haben so lange gedauert? Ich hatte schon eine ganze Weile beobachtet, dass du nicht zuhörst, bevor ich dich angesprochen habe.“ „Ja, das hat so lange gedauert. Ich möchte keinen Nachhilfelehrer, mit dem ich zwei Nachmittage in der Woche verbringe. Ich möchte lieber mit Katrin lernen und endlich mal jemanden hier in Kleinstadt kennen lernen.“ „Das verstehe ich. Also gut. Ich werde vorerst abwarten. Aber wenn sich deine Leistungen nicht verbessern, werde ich mit deiner Mutter telefonieren.“ „Das ist prima. Danke.“ „Du hast Zeit bis zu den Weihnachtsferien. Dann ist die Frist abgelaufen.“ „Okay, wir werden was tun.“ „Das will ich hoffen. Bis morgen dann. Und gib dir mal Mühe mit deinen Hausaufgaben.“ Mit diesen Worten war sie verschwunden, bevor Luisa noch etwas antworten konnte. Das war knapp gewesen. Die bekommt aber auch alles mit. Sie würde sich echt anstrengen müssen. Das waren keine leeren Worte. Sie würde also am besten gleich mal ein Treffen mit Katrin ausmachen. Katrin wartete schon auf Luisa. „Und wie war es?“ „Sie hat mir eine Frist gesetzt. Bis zu den Weihnachtsferien muss ich besser werden.“ „Okay. Das schaffen wir. Wann fangen wir an?“ „Wann hast du denn Zeit?“ „Morgen.“ „Oh, so bald schon?“ „Na, klar, wie sollen wir das sonst schaffen?“ Luisa nickte. Sie ergab sich in ihr Schicksal. Sie würde heute Nachmittag über den Mathehausaufgaben brüten und morgen mit Katrin Mathe lernen. Die Woche hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt. Sie wollte doch den Wald suchen. Aber vor übermorgen würde das nichts werden. Wenn sie Katrin gut kennen würde, könnte sie Katrin nach dem Wald fragen. Aber erst mal nichts überstürzen.


Traumland - Reise in eine andere Welt

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