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Luisa erforscht den Wald

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In den nächsten Tagen war Jens gehässiger als je zuvor. Er war wohl für sich zu dem Schluss gekommen, dass er die unfreiwillige Dusche Luisa zu verdanken hatte. Er musste sich sehr darüber ärgern, dass er durch diese Aktion beinahe noch bestraft worden war, weil er die Beherrschung verloren und auf Luisa eingeprügelt hatte. Luisa dagegen war noch nicht einmal ernsthaft verdächtigt worden. Luisa war ihm gegenüber äußerst vorsichtig. Sie erwartete, dass er sich irgendwann rächen würde. Das wäre bestimmt wieder ein äußerst mieser Streich. Fürs erste jedoch beschränkte er sich auf miese Sprüche. Er ließ keine Gelegenheit aus, um sie zu beleidigen, zu beschimpfen oder schlecht zu machen. Er war aber auch etwas vorsichtiger geworden ihr gegenüber. Anscheinend war er inzwischen der Meinung, dass mit Luisa nicht gut Kirschen essen war. Am Dienstag Nachmittag traf sich die Clique wieder und es gab hier immer noch nur ein Thema: Sie weideten sich regelrecht an Jens unfreiwilliger Dusche. Luisas Ansehen war, falls das nach der Mutprobe noch möglich war, noch mal deutlich gestiegen. Vor allem Pia konnte nicht genug davon bekommen, in allen Details zu beschreiben, wie dumm Jens geguckt hatte und wie triefend nass er dort gestanden hätte. Bei ihren Erzählungen bogen sich alle vor Lachen und Pia stand ausnahmsweise mal im Mittelpunkt des Interesses. Sonst war sie eher ein ruhiges schweigendes Mitglied der Gruppe.

Am Mittwoch war herrliches Wetter. Es wäre ideal, um den Wald weiter zu erforschen. Aber Luisa brauchte dringend mal wieder Unterstützung in Mathe. Katrin war wieder gesund und so gab es keinen Grund, sich nicht mit ihr zu treffen. Als sie unterwegs war, wurde ihr bewusst, wie lange er her war, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Das musste irgendwann vor den Herbstferien gewesen sein. Katrin freute sich trotzdem sehr über Luisas Kommen. Inzwischen schien es ihr egal zu sein, dass Luisa sich so oft mit den anderen Mädchen traf. Wie bei den Treffen zuvor erklärte sie Luisa Mathe und Luisa ihr Chemie. Da sie sich so lange nicht gesehen hatten, gab es einigen Aufholbedarf. Katrin hatte durch ihre Krankheit in Chemie einiges verpasst und verstand gar nichts mehr. Luisa ihrerseits hatte in Mathe auch alles andere als den Durchblick. So war es schon halb sechs, als sie endlich die Bücher zuklappten und sich ziemlich geschafft gegenüber saßen. Sie redeten dann noch ein bisschen bis Luisa nach Hause musste.

Am Donnerstag hatte Luisa endlich wieder Zeit. Luisa wollte in den Wald. Sie musste einfach wieder dorthin und alles weiter erforschen. Sie hatte nun von Sophie schon so einiges erfahren, aber das reichte ihr nicht. Ihre Neugierde war gerade erst geweckt und nicht mal ansatzweise befriedigt. Sie wollte endlich die Eichenschule finden und nach Möglichkeit andere Schüler dort beobachten. Hektisch packte sie ihre Schulsachen weg, als sie endlich mit allem fertig war. So richtig viel Zeit blieb ihr heute nicht. Sie hätte erst gehen sollen und dann die Hausaufgaben machen. Aber das hätte wahrscheinlich auch nicht geklappt. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie beim Mittagessen den Fernseher angemacht hatte. Nach dem Essen musste sie natürlich die Serie noch zu Ende schauen. Mit den Hausaufgaben hatte alles länger gedauert, als gedacht und nun war Luisa richtig in Eile, um noch möglichst viel Zeit für ihre Nachforschungen im Wald zu haben. Sie schnappte sich ihre Jacke und stieß auf der Treppe fast mit der Nachbarin zusammen. Zügig lenkte sie ihre Schritte in Richtung Wald. Endlich war sie im Stadtpark. Dort war heute viel Betrieb wegen dem schönen Wetter. Luisa schob sich zwischen Fahrrädern und Kinderwagen hindurch und erreichte endlich die Wegkreuzung, deren einer Abzweig für alle anderen Parkbesucher am Zaun zum alten Industriegelände endete. Deshalb war dieser Wegabschnitt fast nicht begangen. Endlich hatte Luisa Platz und das Chaos blieb hinter ihr. Doch als sie um die letzte Kurve kam, blieb sie erschrocken stehen. Sie stand am Zaun! Wie war das möglich? Zuletzt hatte sie hier immer die Brücke in den Wald vorgefunden. Heute nicht. Sie traute ihren Augen kaum. Erschöpft setzte sie sich ins Gras. Diese ganze Hetze war nun völlig umsonst. Der Tag war gelaufen. Sie hatte jetzt auf einmal keine Pläne mehr. Sie hätte doch so gerne ein wenig weiter den Wald erforscht. Jetzt saß sie hier fest. Sie war völlig enttäuscht. Irgendwie hatte sie angenommen, den Wald jetzt immer finden zu können, nachdem sie ihn die letzten Male immer völlig problemlos vorgefunden hatte. Warum hatte sie ihn heute nicht gefunden? Diese Frage hatte sie sich schon so oft gestellt. Aber sie hatte immer noch keine Idee. Dies war sicherlich der normale Zustand. Alle anderen Menschen erlebten den Park in Kleinstadt genauso wie sie jetzt. Warum konnte sie manchmal über die Brück in den Wald gelangen? Luisa hatte keine Idee. Eine andere Sorge schoss ihr durch den Kopf. Wenn sie es heute nicht geschafft hatte, in den Wald zu kommen, wer garantierte ihr, dass sie es am Montag schaffen könnte? Wenn sie es nicht schaffen würde, würde Sophie vergeblich auf sie warten und sie hätte bestimmt wieder eine schlechte Meinung von Luisa. Dann wäre das dünne Band der Freundschaft, was gerade so zart entstanden war, bestimmt wieder zerrissen. Sophie würde sie für unzuverlässig halten und das bisschen Vertrauen, das seit dem letzten Gespräch herrschte, wäre gleich wieder kaputt. Vielleicht würde Luisa am Montag den Wald wieder finden, weil sie quasi eingeladen war. Vielleicht war das der Grund, aus dem es heute nicht klappte. Aber das konnte nicht sein, weil sie schon oft alleine hier gewesen war. Sie war die ersten Male ganz sicher nicht eingeladen gewesen. Unverrichteter Dinge machte Luisa sich schließlich wieder auf den Rückweg. Keine neuen Erkenntnisse. Nur neue Zweifel. Diese Chance, den Wald weiter zu erforschen, war vertan.

Am Sonntag eröffnete sich allerdings unerwartet eine neue Möglichkeit. Moni wollte eine alte Bekannte besuchen, die nicht sehr weit von Kleinstadt entfernt wohnte. Luisa hatte schon befürchtet, dass sie mitfahren sollte. Aber ihre Mutter meinte, dass sie sich das aussuchen könne. Da war die Sache für Luisa glasklar. Sie würde hier bleiben und einen neuen Versuch starten.

Kaum war das Auto ihrer Mutter vom Hof gefahren, zog sie sich eine bequeme alte Jeans an und einen alten Pulli. Vielleicht würde sie ja wieder durch das Gebüsch krauchen müssen. Da waren alte Klamotten wohl die bessere Alternative. Hoffentlich kam sie heute in den Wald. Gemütlich schlenderte sie zwischen den Sonntagsspaziergängern durch den Stadtpark. Die anderen Leute guckten alle etwas komisch, weil Luisa doch etwas abgewrackt aussah in ihrer alten Jeans und dem alten Sweatshirt. Luisa ignorierte die Blicke. Nach besagter Kreuzung war sowieso niemand mehr unterwegs. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als sie sich der letzten Kurve vor der Brücke näherte. Würde sie heute in den Wald kommen? Sie konnte einfach nicht verstehen, warum es manchmal funktionierte und manchmal nicht. Heute funktionierte es. Nach der letzten Wegbiegung lag die Brücke über den kleinen Bach vor ihr, als ob sie nie etwas anderes getan hätte. Der Weg führte sie dann direkt in den Wald. Wieder atmete sie tief ein und genoss die wohltuende Atmosphäre. Wunderbar. Sie entspannte sich und genoss es, heute endlich mal jede Menge Zeit zu haben. Moni war schon früh gefahren und würde erst spät wiederkommen. Luisa hatte sich sogar vorsorglich eine Kleinigkeit zu essen eingesteckt. Dann könnte sie ein kleines Picknick machen. Zuerst ging sie wieder zu der großen Kreuzung. Von dort aus ging es rechts zum See. Das letzte Mal, als sie noch mehr von diesen seltsamen Wesen beobachtet hatte, war sie einfach immer nur geradeaus gegangen. Diesmal wollte sie links abbiegen. Mal sehen, wie weit man in dieser Richtung kam. Es war schönes Wetter und Sonntag. Deshalb rechnete Luisa mit Spaziergängern. Sie ging bald nicht mehr in der Mitte des Weges, sondern so weit am Rand wie möglich, damit sie sich gegebenenfalls schnell verstecken konnte. Der Weg führte durch dunklen hohen Tannenwald, in den selbst bei dem sonnigen Wetter wenig Licht fiel. Es war richtig ein bisschen unheimlich hier. Der Weg wand sich durch den Wald und stieg langsam bergauf. Das Gefühl für die Richtung hatte Luisa nach so vielen Wegkurven endgültig verloren. Aber das war egal. Sie war ja nicht abgebogen und brauchte nur den eingeschlagenen Weg zurück gehen, um wieder nach Hause zu kommen. Dieser Teil des Waldes war still und ruhig. Niemand war hier unterwegs. Vielleicht hätte sie doch besser geradeaus gehen sollen. Da war mehr los gewesen. Und wenn sie tiefer in den Wald hineingelaufen wäre, hätte sie vielleicht auch die Eichenschule gefunden. So sah das heute eher nach einem Streichergebnis aus. Der hohe Tannenwald schien sich geradezu endlos hinzuziehen. Der Weg wurde immer steiler. Luisa fing langsam an zu schwitzen. Gerade weil nicht viel passierte, hatte sie das Tempo deutlich angezogen. Bald war sie ziemlich außer Atem. Der Weg war nach wie vor sehr steil und schien fast noch an Steigung zuzunehmen. Ob man von oben einen guten Blick hatte? Vielleicht konnte sie von oben die Schule entdecken und auf die Art einen Überblick gewinnen, was es sonst noch im Wald gab und wie groß er war. Dieser Gedanke trieb Luisa zusätzlich an. Nach einer Stunde war sie völlig außer Atem und klitschnass geschwitzt. Der Weg wand sich nach wie vor mal nach rechts mal nach links und stieg immer weiter an. Wie hoch sollte das denn hier noch gehen? Luisa hatte keine Ahnung. Sie spürte nur, dass sie langsam müde wurde. Vielleicht hätte sie sich doch beim Schulsport etwas mehr engagieren sollen. Dann wäre sie bestimmt fitter. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Die anderen Mädchen gingen wenigstens reiten. Luisa machte nichts dergleichen. Wegen der vielen Umzüge war sie eigentlich nie Mitglied in einem Sportverein gewesen. Sie setzte sich auf einen Baumstamm am Wegesrand und machte erst mal eine kleine Pause. Sie konnte unmöglich noch länger so zügig bergauf gehen. Sie schaute nach oben und versuchte durch den dicken Wald auszumachen, wie weit es denn noch war. Aber das ließ sich nicht abschätzen. Also musste sie gleich einfach weitergehen. Während sie so ruhig saß, wurde ihr schlagartig kalt. Ihr Pulli war ebenso feucht wie der Bund ihrer Jeans. Sie registrierte jetzt erst genau, wie sehr sie geschwitzt hatte. Eine längere Pause war also nicht drin. Sie musste weiter gehen. Vielleicht wäre es nicht so anstrengend, wenn sie etwas langsamer unterwegs war. Aber erst musste sie wieder warm werden. Das war sehr schnell erledigt. Dann ging sie etwas langsamer, obwohl sie Zweifel hatte, dass sie auf diese Art überhaupt jemals irgendwo ankam. Aber ihr blieb nichts anderes übrig. Schneller konnte sie einfach nicht. So langsam wurde ihr langweilig. Der Wald um sie herum hatte sich nicht ein bisschen geändert. Endlos folgte eine Kurve nach der nächsten. Immer weiter ging es bergan. Luisa wunderte sich. Einen solchen Berg hätte man doch von Kleinstadt aus sehen müssen. Aber ihr war noch nie einer aufgefallen. Vielleicht hatte sie auch noch nie richtig geguckt. Das war möglich. Verdammt noch mal, wie lange ging das denn hier noch weiter bergauf? Kein Wunder, dass hier niemand sonst unterwegs war. Niemand würde freiwillig stundenlang bergauf laufen. So langsam verschlechterte sich ihre Stimmung. Bis jetzt hatte sie gar nichts gesehen. Sie hatte gehofft, schneller auf irgendjemanden zu treffen, oder auf irgendein Gebäude zu treffen. Am liebsten hätte sie die Schule gefunden. Aber da war wohl nichts zu machen. Allzu weit entfernt vom See konnte sie nicht sein. Sonst könnte Sophie so kurz nach der Schule nicht dort sein. Andererseits konnte die Schule auch nicht wirklich nah am See liegen, sonst hätte sie dort schon längst andere Wesen getroffen und wäre vielleicht auch schon entdeckt worden. Bald würde sie bestimmt oben sein und dann hätte sie wahrscheinlich einen guten Blick und könnte die tolle Aussicht genießen. Auf jeden Fall war sie dabei einen nennenswerten Berg zu ersteigen. Luisa ließ ihre Gedanken schweifen. Da der Weg selbst keine Attraktionen bot, konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen. Schon komisch, dass sie jetzt wirklich einen Ort gefunden hatten, an dem sie und ihre Mutter länger wohnen würden. Nach Luisas Gefühl war es bereits schon wieder Zeit für den nächsten Aufbruch, zumindest für eine dementsprechende Ankündigung von Moni. Aber diesmal schien alles anders als sonst zu sein. Moni hätte nie die Eigentumswohnung gekauft, wenn sie eine Ahnung hätte, dass sie bald wieder wegziehen müssten. Luisa war ein wenig unruhig, weil sie es gewohnt war, immer wieder ihre Sachen zu packen und irgendwo neu anzufangen. Andererseits war sie hier sehr zufrieden. In der Schule kam sie ganz gut mit und ein paar Freunde hatte sie auch gefunden. Die Mädchenclique war echt cool. Die Sache mit Jens war wirklich blöd, aber das war auch alles. Katrin war nett. Mit ihrer Hilfe würde sie es in diesem Halbjahr vielleicht zum ersten Mal in ihrer Schullaufbahn auf eine vier in Mathe bringen und sich von der fünf verabschieden. Das beste an Kleinstadt aber war dieser Wald. Alles hätte sie hinter sich lassen können, wenn sie wieder hätten umziehen müssen. Aber dieser Wald würde ihr ernsthaft fehlen. Es war so spannend, hier die Wege zu erforschen, die Tiere zu beobachten und sich auf die Suche nach diesen Wesen zu machen. Der Kontakt zu Sophie war natürlich auch alles andere als langweilig. Die Tatsache, dass sonst kein Bewohner aus Kleinstadt von diesem Wald zu wissen schien, fand Luisa besonders reizvoll. Das hatte so was exquisites, dieser Gedanke, dass sie als einzige Bewohnerin von Kleinstadt diesen Wald kannte. Kennen war eigentlich zu viel gesagt. Sie kannte gar nichts. Sie hatte den Wald entdeckt, den See gefunden und ein Wesen getroffen, aber mehr auch nicht. Bis sie sich hier richtig auskannte, würde wohl noch einige Zeit vergehen. Plötzlich wurde Luisa abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Sie traute ihren Augen kaum. Durch den dichten Wald sah sie schräg über sich bunte Farben schimmern. Die grellen Farben schienen sich zu bewegen und durch den Wald zu tanzen. Was war das? Luisa schlug das Herz den Hals hinauf. Ihr Atem raste noch mehr als er es ohnehin durch das steile Ansteigen tat. Was war das? Sollte sie sicherheitshalber umkehren? Nein, sie war nicht umsonst so lange diesen Berg hinaufgestiegen. Auf keinen Fall. Die nächste Wegkurve war kurz vor ihr. Sie ging um die Kurve und sprang sofort wieder zurück. Dann huschte sie schnell ein Stück den Weg hinunter und in das nächste möglichst dicke Gebüsch. Sie versuchte sich lautlos möglichst weit vom Weg zu entfernen. Endlich hatte sie einen Platz gefunden, der ihr geeignet schien. Das war auch keinen Moment zu früh, denn jetzt bog eine große Gruppe der Wesen um die Kurve, an der sie gerade noch gewesen war. Die Gruppe machte einen seltsamen Eindruck. Keiner sprach ein Wort. Alle gingen schweigend den Weg entlang, nur in der ersten Reihe tuschelten ein rothaariges und ein lilahaariges Wesen. Ein anderes Wesen, das größer als die beiden war, näherte sich ihnen, stoppte die gesamte Gruppe und schaute die beiden Quasselstrippen ärgerlich an. Die Beiden verstummten sofort. Luisa wagte in ihrem Gebüsch kaum zu atmen. Die Gruppe war ungefähr auf ihrer Höhe stehen geblieben. Das große Wesen hatte genau wie die kleinen Wesen knallige Haare. Die von dem großen Wesen waren blau und standen auch in alle Richtungen ab. Irgendwie hatten die alle den gleichen Friseur, dachte Luisa, oder vielleicht gar keinen? Diese Vermutung wäre auch durchaus wahrscheinlich. Alle waren stehen geblieben und machten auf Handzeichen des großen Wesens Atemübungen. Dann redete er zum ersten Mal. „Wie könnt ihr es wagen, während dieser Tour zu reden? Ihr stört die Konzentration der gesamten Gruppe. Ihr solltet euch schämen.“ „Ich habe jemanden gesehen. Auf diesem Weg in der Kurve, durch die wir gerade gegangen sind. Deshalb habe ich etwas gesagt. Mein Nachbar hat es auch gesehen.“ Das Wesen mit den lila Haaren nickte. „Es war ein ganz komisches etwas. Es sah nicht aus, wie einer oder eine von uns.“ „Vielleicht habt ihr ein Tier gesehen?“ fragte der Große. Vielleicht war das große Wesen ein Lehrer und die kleineren seine Schüler. Luisa schluckte. Es war eindeutig, dass die beiden kein Tier, sondern sie gesehen hatten. Sie war froh, dass sie so schnell reagiert hatte. Hoffentlich war es noch rechtzeitig gewesen und hoffentlich war sie hier gut versteckt. Hoffentlich würde man sie nicht entdecken. Sie gehörte doch eigentlich nicht hierher und hatte dementsprechend hier bestimmt nichts zu suchen. Der Lehrer schien ziemlich streng zu sein. Das wäre bestimmt alles andere als ein Zuckerschlecken, wenn man sie hier erwischen würde. Sollte sie weglaufen? Dann musste sie ihre Deckung aufgeben und alle würden sie sehen. Der Lehrer schaute sehr ungläubig. Wahrscheinlich würde er ihnen nicht glauben. Während Luisa nachdachte, verneinten die Beiden eindeutig, dass sie ein Tier gesehen hätten. Sie sagten, es habe fast so ausgesehen wie sie selbst, aber auch nur fast. Es hätte keine bunten Haare gehabt und auch keine bunten Kleider, wie es sich doch für eine Sonntagsbekleidung gehörte. Der Lehrer wandte sich an die anderen Schüler: „Hat sonst noch jemand etwas gesehen?“ Der Rest der Gruppe schüttelte mit dem Kopf. Keiner sonst hatte etwas gesehen. Luisa atmete auf. „Ich denke, ihr habt euch getäuscht.“ „Nein, ganz sicher nicht, wir haben jemanden gesehen. Er oder sie muss noch hier irgendwo sein. Ich werde mal nachschauen.“ Mit den Worten verschwand das lila Wesen im Gebüsch. Das rothaarige Wesen schaute auch ins Gebüsch. „Ich werde auch mal nachsehen.“ „Vielleicht sollten die anderen uns suchen helfen“, meinte jetzt das lila Wesen aus dem Gebüsch, „das ist doch gefährlich, wenn sich hier jemand aufhält, der gar nicht hier sein darf. Ich bin mir sicher, dass das kein Oneira wie wir war. Es war irgendein komisches Wesen. Es war auch kein Tier. Sonst hätten wir wohl kaum geredet und die Meditation unterbrochen.“ Während das Wesen redete, stieg es immer weiter in das Gebüsch. Allerdings war es nicht in Luisas Richtung unterwegs. Luisa stand so langsam der Angstschweiß auf der Stirn. Sie wagte kaum zu atmen. Der Lehrer beäugte die Szene kritisch. Er dachte nach. Dann sagte er: „Wahrscheinlich hat euch eure Wahrnehmung einen Streich gespielt. Es kommt vor, dass man beim Meditieren Dinge sieht. Wenn ich auch noch nicht im Zusammenhang von Gehmeditationen davon gehört habe. Aber möglich ist es schon. Ich denke, ihr hattet eine gedankliche Vorstellung. Kommt zurück auf den Weg, sammelt eure Konzentration wieder und lasst uns weitergehen. Im übrigen, wird diese Gruppe diese Meditation am nächsten Wochenende wiederholen. Durch diese Störung können wir sie wohl kaum als ordentliche Meditation betrachten. Euch würde eine wichtige Erfahrung fehlen, auf die wir nicht verzichten können. Und ihr beiden“, der Lehrer wandte sich an die beiden, die Luisa gesehen hatten, „ihr werdet in der nächsten Woche jeden Tag eine Schweigestunde einlegen, damit ihr lernt, ruhig zu sein und nächsten Sonntag besser vorbereitet seid.“ Die Gruppe seufzte und guckte ärgerlich auf die beiden, die am liebsten im Erdboden versunken wären, was man ihnen deutlich ansah. Es wurde nicht mehr gesprochen. Wieder wurden ein paar Atemübungen durchgeführt und anschließend setzte sich die Gruppe wieder schweigsam in Bewegung. Luisa wagte erst wieder lauter zu atmen, als sie schon um die nächsten zwei Kurven verschwunden waren. Sie blieb sicherheitshalber noch eine ganze Weile in ihrem Versteck, um nicht doch noch durch irgendwelche Geräusche auf sich aufmerksam zu machen. Als sie vorsichtig wieder aufstand, zitterten ihre Beine immer noch. Ganz vorsichtig kehrte sie zum Weg zurück, um bloß nicht auf einen Zweig zu treten. Sie wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn, als sie den Weg wieder erreicht hatte. Sie atmete tief durch und spürte, wie sich ihr Herzschlag so langsam wieder normalisierte. Das war knapp gewesen. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können! Wer weiß, wie der Lehrer reagiert hätte, wenn er sie gesehen hätte. Luisa überlegte, ob noch mehr von den Wesen kommen würden, oder ob sie es wagen könnte, weiter zu gehen. Sie entschloss sich, ihren Weg fortzusetzen. Vielleicht war sie ja bald am Ziel. Irgendwann musste sie doch oben sein. Aufgeben wollte sie nicht so einfach. Die Gruppe hatte doch bestimmt auch ein Ziel gehabt für ihre Meditation. Die waren doch bestimmt nicht einfach nur so durch die Lande gelaufen. Sie musste doch dann mal irgendwo ankommen. Zunächst sah es nicht so aus. Luisa kam jetzt noch etwas langsamer vorwärts, weil sie in jeder Kurve erst vorsichtig prüfend um die Ecke sah, um eine weitere Begegnung zu vermeiden. Wenn man ihr vorher gesagt hätte, dass sie einer so großen Gruppe beinahe in die Arme laufen würde, hätte sie es nie geglaubt. Aber das war natürlich so eine Sache, wenn die alle meditieren und keiner ein Wort sagt. Dann konnte man die einfach nicht bemerken. Ist schon seltsam, die müssen ja endlos lange meditieren oder zumindest schweigen, wenn sie auch nur annähernd den gleichen Weg zurücklegten wie Luisa ihn gegangen war. Die waren jetzt bestimmt auf dem Rückweg. Verflixt! Luisa hätte der Gruppe vorsichtig folgen sollen, dann würde sie bald wissen, wo sich die Schule befindet. Und die Idee kam ihr jetzt erst! Das war wirklich ärgerlich. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, sich zu bewegen, so lange diese Oneira nicht weit genug weg waren. Und weit genug konnte nach Luisas Geschmack kaum weit genug sein. Aber wenn sie wieder diesen Wesen begegnen würde, dann würde sie versuchen, ihnen vorsichtig zu folgen. So eine Gelegenheit wollte sie sich kein zweites Mal entgehen lassen. Da war sich Luisa sicher. Heute wollte sie auf den Berg, da hatte sie sowieso keine Zeit, denen zu folgen. Nächstes Mal wäre die Situation bestimmt günstiger. Natürlich wäre es günstiger, wenn nicht schon jemand auf sie aufmerksam geworden wäre, sondern einfach nur ahnungslos spazieren ging. Auf jeden Fall war das so. Also hatte sie eine gute Entscheidung getroffen, ihren Weg fortzusetzen. Das war gar keine Frage. Genau genommen musste sich das erst noch herausstellen, ob diese Entscheidung wirklich gut war. Vielleicht würde Luisa einfach irgendwann unverrichteter Dinge umkehren müssen. Irgendwann würde sie ja auch wieder zu Hause sein müssen. Irgendwann wurde es auch dunkel. Wann wurde es eigentlich immer dunkel? Wie viel Zeit hatte Luisa überhaupt noch? Sie überlegte. Meist war es nach den Acht-Uhr-Nachrichten noch hell. Aber danach wurde es schnell dunkel. Also musste sie spätestens um halb neun an der Brücke sein. Da hatte sie immer noch viel Zeit. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es nicht mehr früh, aber auch nicht wirklich spät war und bergab würde Luisa bestimmt schneller sein. Also war das alles kein Problem. Alles easy. Wieder reihte sich Kurve an Kurve. Immer noch war der Wald dicht und düster. Immer noch befand sie sich im Tannenwald. Als es Luisa fast schon zu langweilig wurde und sie deshalb umkehren wollte, sah sie als sie um die nächste Kurve lugte, etwas mehr Licht als zuvor durch die Tannen scheinen. Das konnte ein Hinweis sein, dass sie bald oben war. Bestimmt hatte sie es bald geschafft. Sie ging wieder etwas schneller. Sollte sie jetzt endlich irgendwo ankommen? Das wäre ja fantastisch. Keuchend ging sie weiter. Ihre Beine wollten ihr schon fast nicht mehr gehorchen, so geschafft war sie inzwischen. Nach der nächsten Kurve wurde es wieder etwas heller. Die Aussicht, jetzt endlich ein irgendwie geartetes Ziel zu erreichen, spornte sie an. Es folgte noch eine Kurve und eine weitere, nach denen es auch immer heller wurde. Nach der dritten Kurve stand sie plötzlich auf einer kreisrunden Lichtung, die sehr groß war. In der Mitte türmte sich ein Fels. Um den Fels war überall das Gras heruntergetreten. Also hier mussten die komischen Wesen gewesen sein. Luisa war oben angekommen. Der Weg mündete in diesen Platz, auf dem wunderschöne Blumen blühten. Die Sonne schien auf die Felsen. Hier in der Sonne war es richtig warm. Luisa schritt die Lichtung ab und stellte fest, dass es nur einen Weg hierher gab und das war der, auf dem sie gekommen war. Es war wunderschön hier oben. Luisa setzte sich ins Gras und ließ sich von der Sonne bescheinen. Sie war immer noch klatschnass geschwitzt und die Baumwollsachen klebten an ihrem Körper. Da sie hier alleine war, zog sie die nassen Sachen aus und legte sie auf den Felsen zum Trocknen. Erst als sie so entspannt im Gras lag, stellte sie fest, wie hungrig sie war und dass sie wahnsinnigen Durst hatte. An anderen Stellen im Wald gab es überall Wasser aber hier nicht. Trinken wäre eigentlich wichtiger als Essen gewesen. Aber Luisa hatte nur ein trockenes Butterbrot, das sie mehr oder weniger herunterwürgte. Demnächst würde sie also auch etwas zu trinken mitnehmen und ein zweites T-Shirt. Erschöpft blieb sie eine ganze Weile im Gras liegen. Sie schlief dort innerhalb kürzester Zeit ein. Der Weg war weit gewesen und sie war ziemlich geschafft. Sie erwachte, weil ihr kalt war. Eine dicke Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und sie so geweckt. Luisa war froh darüber, denn inzwischen war es schon deutlich später und sie hatte noch einen weiten Rückweg vor sich. Allerdings wollte sie diesen Ort nicht verlassen, ohne sich noch einmal gründlich umgesehen zu haben. Vielleicht hatte sie ja irgendetwas übersehen? Dem war nicht so. Es gab keinen Aussichtspunkt und auch keinen zweiten Weg. Vielleicht könnte man was sehen, wenn sie auf die Felsen kletterte? Sie versuchte es. Sie kam aber nur einen Meter vom Boden weg. Unverrichteter Dinge sprang sie wieder ins Gras. Vielleicht gab es eine andere Stelle, an der man leichter hoch klettern konnte? Eine solche Stelle gab es nicht. Alle anderen Klettermöglichkeiten waren noch schwieriger. Der Berg und der eintönige Weg hatten also keine weitere Bewandtnis. Der erhoffte Überblick über den Wald und eine Einschätzung seiner Größe blieben also aus. Luisa begnügte sich also notgedrungen mit der imposanten Lichtung und dem beachtlichen Felsen. Insgesamt war sie recht zufrieden. Sie hatte einen Weg ausprobiert, den Berg gefunden, die schöne Lichtung angetroffen und den Felsen bestaunt. Außerdem war sie stolz auf sich, dass sie bei dem langen Aufstieg nicht schlapp gemacht hatte. Allerdings taten ihr jetzt die Beine weh. Das war wohl normal, wenn man solche Touren nicht gewohnt war. Interessant war die Begegnung mit den Oneira gewesen. Zumindest im nachhinein war sie das. Als sie im Gebüsch gesessen und um ihre Entdeckung gebangt hatte, hatte sie das noch nicht so richtig schätzen können. Aber jetzt im Nachhinein sah alles nicht so dramatisch aus. Es war eben alles gut gegangen. Die Lichtung übte irgendwie eine große Anziehung auf Luisa aus, so dass sie eigentlich nicht wieder gehen wollte. Hier war es so hell und freundlich, dass man überhaupt keine Lust verspürte wieder in den dunklen Wald zu wandern und die öden endlosen Serpentinen herunter zu laufen. Aber sie war schon viel zu lange hier geblieben. Außerdem hatte sie mörderischen Durst. Es wurde Zeit, dass sie den Rückweg antrat. Sie zog sich also wieder an. Die Sachen waren inzwischen getrocknet, hatten aber einen unangenehmen Geruch. Das war dann wohl der Schweiß. Egal. Sie hatte nichts anderes. Zu Hause würde sie dann duschen. Jetzt musste sie ja nur noch bergab gehen. Da sie wusste, dass oben niemand gewesen war und die Oneira weit vor ihr waren, legte sie keine weitere besondere Vorsicht an den Tag. Sie ging flotten Schrittes den Berg hinunter, was natürlich schneller ging als hinaufzugehen. Trotzdem war auch das nach einer Weile anstrengend. Luisa war so langsam ernsthaft müde. Durstig war sie auch. Der Weg zog sich schier endlos. Serpentine reihte sich an Serpentine. Es schien kein Ende zu geben. Hunger hatte Luisa auch schon wieder. Ein Butterbrot für den ganzen Tag war dann wohl doch zu wenig. Demnächst würde sie mehr mitnehmen. Das war klar. Luisa war zunehmend fix und fertig. Ihr fehlte jeder Anhaltspunkt, wo auf dem Berg sie sich wohl befand. Hatte sie den Baumstamm, auf dem sie im Aufstieg Pause gemacht hatte, wohl schon passiert? Selbst das Gebüsch, in dem sie sich versteckt hatte, als sie auf die Wesen getroffen war, fand sie nicht wieder. Aber an dem Ort musste sie längst vorbei sein. Schließlich war sie schon so lange unterwegs. Hier sah wirklich fast alles gleich aus. Dunkler Tannenwald umgab sie in alle Richtungen, wohin sie auch schaute. Abkürzungen schien es nicht zu geben. Luisa wusste bald nicht mehr so richtig, wie sie noch weiter laufen sollte. Ihre Fußsohlen brannten und ihre Knie taten ihr weh vom langen bergab laufen. Wieder kam sie an einem Baumstamm vorbei. Vielleicht sollte sie eine kleine Pause machen? Danach würde es ihr bestimmt wieder viel besser gehen. Sie setzte sich. Das war eine Wohltat, nicht mehr auf den Beinen zu sein. Sie atmete tief durch. Der Durst war inzwischen fast unerträglich. Sie überlegte fieberhaft, ob sie nicht hier irgendwo einen Bach gesehen hatte. Aber sie konnte sich an nichts erinnern. Es war nur gut, dass sie nicht in der prallen Sonne laufen musste. Aber so langsam machte sich der Wassermangel trotzdem durch Kopfschmerzen überdeutlich bemerkbar. Als Luisa der Meinung war, sich wieder besser zu fühlen, setzte sie ihren Abstieg fort. Allerdings stellte sich der Schmerz in den Beinen und Fußsohlen schon nach kurzer Zeit wieder ein. Die Pause hatte nicht wirklich viel bewirkt. Tapfer setzte sie den Abstieg fort. Irgendwann musste sie ja unten ankommen. Bald hatte sie das Gefühl, dass der Weg nicht mehr ganz so stark abfiel. Sie war wahrscheinlich schon im flacheren Teil angekommen. Das war ein echter Fortschritt. Vergeblich bemühte sie sich zu erinnern, wann sie im Aufstieg festgestellt hatte, dass es steiler wurde. Sie musste auf jeden Fall schon recht weit wieder unten sein. Der flachere Wegverlauf war für die nächste Dreiviertelstunde das einzigste Zeichen, dass es nicht mehr so ganz weit sein konnte. Dann endlich nach einer langgezogenen Kurve ging der Weg nur noch geradeaus weiter. Jetzt war der Weg komplett flach, was auch irgendwie anstrengend zu gehen war. Aber gut zu gehen war jetzt sowieso nichts mehr. Luisa war, seit Moni abgefahren war, Stunden unterwegs. Ihr Körper war solche Touren überhaupt nicht gewohnt. Die bisherigen Spaziergänge hier im Wald waren im Vergleich zu dem, was sie heute gelaufen war, echte Peanuts. Nach einer endlosen Gerade folgte eine Kurve, die dann wieder in einer endlosen Gerade mündete. Luisa war kurz davor aufzugeben, sich einfach hinzulegen und nicht mehr weiterzugehen, als endlich nach der nächsten Kurve am Ende der Gerade die Wegkreuzung zu sein schien. Luisa hatte sich nicht getäuscht. Sie stand eine Viertelstunde später an besagter Kreuzung. Nun war es nicht mehr weit bis zur Brücke. Luisa schöpfte neuen Mut und beschleunigte noch einmal ihren Schritt. Sie wollte nur noch nach Hause. So weit wie heute war ihr der Weg zwischen Kreuzung und Brücke noch nie vorgekommen. Auch als sie die Brücke dann endlich hinter sich gelassen hatte, kam ihr der Stadtpark unendlich groß vor. Bald lag auch der hinter ihr und endlich, endlich stand sie vor der Wohnungstür. Sie kramte erleichtert nach ihrem Schlüssel, öffnete die Tür und ließ sich aufs Sofa fallen. Das war verkehrt. Sie hätte erst was zu trinken holen und sich dann fallen lassen sollen. Nun musste sie schon wieder aufstehen. Der Durst war einfach unerträglich. Mit der Wasserflasche auf dem Sofa war es wirklich gemütlich. Luisa hätte nie gedacht, wie gut Wasser schmecken kann. Es kam ihr vor wie das Lebenselixier schlechthin. Auf gewisse Art ist es das ja auch. Es dauerte lange bis sie sich endlich in der Lage fühlte, duschen zu gehen. Das war eine echte Wohltat, da sie heute so sehr geschwitzt hatte, obwohl es auch recht mühsam war, den müden Körper zu waschen und nachher wieder abzutrocknen. Sie war sehr froh, als sie es geschafft hatte und legte sich dann wieder mit einer neuen Wasserflasche, die andere war leer, auf die Couch. Dort fand sie dann auch ihre Mutter. Luisa war irgendwann tief und fest eingeschlafen, so geschafft war sie gewesen. Ihre Mutter wunderte sich, dass Luisa so müde gewesen war, sagte aber nichts weiteres dazu. Sie erzählte viel von ihrem Tag bei ihrer Freundin, so dass es gar nicht auffiel, dass Luisa so gut wie nichts erzählte. Schließlich verschwand sie noch in der Küche und machte ein Essen warm. Jetzt hatte sie wieder richtig Hunger. Viel trinken konnte sie immer noch gut. Der Körper musste wirklich Unmengen an Flüssigkeit verloren haben, wenn sie nach zwei Litern Wasser immer noch Durst verspürte. Den Abend beendeten sie dann vor dem Fernseher. Als Luisa dann schließlich ins Bett gehen wollte, hatte sie Mühe, sich zu bewegen. Ihr ganzer Körper tat ihr weh. Mühsam stand sie auf und hoffte, dass man ihr nichts anmerkte. Wie sollte sie das auch schon wieder erklären? Aber Moni hatte schon wieder ein interessantes Programm entdeckt und bekam von all dem nichts mit. Luisa war heilfroh, als sie endlich in ihrem Bett lag und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen erwachte sie mit einem fürchterlichen Muskelkater. Ihr tat wie gestern alles weh. Allerdings fühlte sich das alles ein bisschen anders an. Aber eine Besserung war nicht auszumachen. Morgen wird bestimmt alles entspannter sein. Hoffentlich. Für heute schleppte sie sich erst mal zur Schule. Dort schlich der Tag so vor sich hin. Das Wetter hielt einen Vergleich mit dem Sonnenschein von gestern nicht mal ansatzweise stand. Es war einfach nur schlecht und grau. Mal nieselte es, dann regnete es Bindfäden. Luisa wurde richtig müde und träge. Ausgerechnet bei so einem Wetter war sie mit Sophie verabredet. Das konnte ja gemütlich werden. Sie bereute die Verabredung jetzt schon. Am liebsten hätte sie im Warmen auf der Couch ihren Muskelkater gepflegt. Aber sie würde statt dessen im Regen herumlaufen und im Regen sitzen während sie sich mit Sophie traf. Die anderen Mädchen wollten sich gemütlich zum Tee trinken bei Pia treffen. Das hielt Luisa eindeutig für die bessere Alternative. Aber eine Verabredung war eine Verabredung. Gerade mit Sophie ließ sich da überhaupt nichts machen. Außerdem war sie auch sehr gespannt, welche Neuigkeiten der Nachmittag für sie bringen würde. Schließlich klingelte es erlösend zum Ende der fünften Stunde. Endlich Schluss. Luisa packte sofort ihre Sachen und verließ ohne zu zögern die Schule. Katrin wollte noch ein wenig mit ihr quatschen, aber dazu gab es keine Gelegenheit mehr. Nach dem Essen und den Hausaufgaben suchte Luisa ihre Regensachen zusammen und zog einen warmen Pulli darunter. Dann machte sie sich auf den Weg. Der Regen hatte schon überall auf den Wegen Pfützen gebildet. Luisa hätte Gummistiefel anziehen sollen. Aber es ging auch so. Heute erreichte sie wie gestern problemlos die Brücke, obwohl sie fast gehofft hatte, sie heute nicht vorzufinden. Dann hätte sie unverrichteter Dinge wieder nach Hause ins Warme auf die Couch gehen können und es sich mit einem guten Buch gemütlich machen können. Da dem nun nicht so war, trottete sie in Richtung See. Der Wald triefte nur so vor Regen. Als sie an den See kam, war Sophie schon dort. „Hallo“, grüßte Luisa schon von weitem, „da haben wir heute aber Pech mit dem Wetter.“ „Hallo“, sagte Sophie, „das ist nicht so schlimm. Es gibt hier in der Nähe eine kleine Höhle. Da können wir gut im trockenen sitzen. Komm mit.“ Sophie führte sie an dem großen Felsen vorbei, auf dem sie sonst immer gesessen hatten. Wo sollte hier denn eine Höhle sein? Luisa konnte sich keinen Reim darauf machen. Es gab hier am See auch keinen anderen Weg. Das hatte Luisa eigentlich schon erforscht. Gespannt folgte sie Sophie. Die folgte ein Stück dem Seeufer und verschwand dann nach rechts im Gebüsch. Luisa folgte ihr. Im hohen Gras wurden nicht nur ihre Schuhe, sondern auch ihre Hosenbeine nass. Sophie trug eine Regenhose. Das war bei diesem Wetter bestimmt die bessere Wahl. Zum Glück mussten sie nicht weit gehen. Nach ein paar Metern standen sie wirklich am Eingang einer kleinen Höhle. Sie gingen hinein, rückten ein paar Steine zurecht und machten es sich so weit es ging gemütlich. Da saßen sie nun. Keine von beiden wusste etwas zu sagen, so dass sich unangenehmes Schweigen breit machte. Luisa hatte ein wenig Angst etwas falsches zu sagen. Aber so gar nicht zu reden, war eigentlich auch eine schlechte Wahl. So würde sie nie irgendwas erfahren. Also fragte sie: „Wie war denn dein Wochenende?“ „Es war ganz schön.“ Das war ja eine erquickliche Antwort. So kam man ins Gespräch. Nachdem es Sophie bei ihrem letzten Treffen so schlecht gegangen war, fragte Luisa nun, wie sie sich denn nun fühle und ob es ihr besser ginge. „Ja, irgendwie geht es mir schon besser. Allerdings belastet mich diese Situation. Es ist für mich etwas besonderes, dass ich dich hier getroffen habe und ich finde das alles sehr spannend. Aber ich weiß auch, dass du eigentlich nicht hier sein dürftest. Genau genommen darf ich dir auch nichts erzählen. Aber dann machen diese Treffen einfach gar keinen Sinn. Beim letzten Treffen ging es mir so schlecht, dass ich dir einfach erzählt habe, was los ist. Das hätte ich auch nicht tun dürfen.“ „Bereust du es?“ „Nein, es hat mir total gut getan, mit einer Außenstehenden über alles zu reden. Außerdem hast du mir wirklich weitergeholfen. Du hast irgendwie die richtigen Worte gefunden. Deshalb denke ich, dass es schon irgendwie gerechtfertigt ist, wenn ich dir vertraue. Aber ich habe trotzdem Zweifel. Was meine Lehrer dazu sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich jetzt hier mit dir zusammen sitze, kann ich nicht mal erahnen. Vielleicht würden sie es auch gut heißen. Immerhin kommt nicht jeder Mensch hierher. Du musst schon etwas besonderes sein, sonst wärst du schlicht und ergreifend nicht hier. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich eigentlich nachfragen müsste, ob das in Ordnung ist. Dann riskiere ich aber auch, dass ich dich vielleicht nicht mehr sehen darf. Das möchte ich auch nicht. Ich bin also etwas hin und hergerissen zwischen meinen Gefühlen und dem was eigentlich meine Pflicht ist.“ „Es schadet doch niemanden, wenn wir uns hier treffen. Ich habe es niemanden erzählt und wenn ich es erzählen würde, würde mir niemand glauben. Also musst du dir keine Gedanken machen. Niemand wird von diesem Wald etwas erfahren und von dir.“ Sophie nickte. „Du hast wahrscheinlich recht. Ich sollte mir nicht so viele Sorgen machen.“ Beide waren in Gedanken versunken. Dann fragte Sophie: „Sag mal, wie lebst du eigentlich? Ich habe mal ein Buch über Menschen gelesen und in der Schule etwas darüber gehört, aber so richtig verstanden habe ich das nie. Manche Dinge sind bei euch, glaube ich, wie bei uns und andere nicht.“ Daraufhin erzählte Luisa von ihrem Leben. Sie beschrieb, wie sie wohnte, wie ihr neues Zimmer aussah und sie erzählte dass sie mit ihrer Mutter zusammenlebte. Sophie wollte natürlich auch wissen, was mit Luisas Vater ist. Aber dazu wusste Luisa selbst nichts. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie noch sehr klein gewesen war. Moni redete ungerne darüber und so hatte sie irgendwann die Versuche, mehr zu erfahren, aufgegeben. Es war schon immer so gewesen, dass sie zu zweit waren. Ein Leben mit zwei Eltern konnte sich Luisa gar nicht vorstellen. Das war nicht so wichtig für sie. Deshalb hatte sie auch nicht weiter nachgefragt. Sie erzählte von ihren Umzügen und wie ätzend es war, immer wieder irgendwo neu anzufangen und dort fremd zu sein. Dann kamen sie zum Thema Schule. Wie lief denn so ein Schultag ab und welche Fächer gab es überhaupt? Sophie hatte viele Fragen und Luisa beantwortete sie alle. Sie bereitete ihr ganzes Leben vor Sophie aus. Sie erzählte von ihren Freundinnen und von Katrin. Jens ließ sie allerdings lieber aus, da sie für solchen Kleinkrieg von Sophie wenig Verständnis erwartete. So verging der Nachmittag wie im Flug und bald war es Zeit den Heimweg anzutreten. Sophie musste zurück zur Schule und Luisa zurück nach Hause. Sie verabredeten sich wieder für Montag, weil dieser Tag für beide am günstigsten war. Luisa brannte jetzt schon vor Neugierde auf das nächste Treffen. Schade, dass dazwischen wirklich eine ganze Woche lag. Sie war gespannt, was Sophie ihr dann über ihr Leben erzählen würde. Hoffentlich würde sie es sich nicht anders überlegen. Heute war auf jeden Fall ein netter Nachmittag gewesen. Sie gingen noch bis zur Wegkreuzung zusammen. Dann bog Luisa links und Sophie rechts ab. Also war die Schule doch in der Richtung, in der Luisa bei ihrer ersten Erkundungstour unterwegs gewesen war. Gedankenverloren ging Luisa nach Hause. Den Regen registrierte sie gar nicht mehr. Noch nie hatte jemand so viel echtes Interesse an ihr und ihrem Leben gezeigt. Sophie konnte sehr gut zuhören und hatte endlos viele Fragen gestellt. Vieles im Leben eines Menschen schien sich doch sehr von dem eines Oneira zu unterscheiden. Luisa hoffte, beim nächsten Treffen mehr über die Unterschiede zu hören. Als sie nach Hause kam, war sie regelrecht durchgefroren und triefend nass. In der Höhle hatte sie nicht gefroren, aber jetzt war sie nass bis auf die Haut. Die Regenjacke war wohl doch etwas älter. Vielleicht hätte sie ihren Regenschirm trotzdem noch mitnehmen sollen. Dann wäre sie etwas weniger nass geworden. Sie gönnte sich eine heiße Dusche. Dann kochte sie sich einen Tee und machte es sich in ihrem Zimmer gemütlich. So langsam wärmte sie sich wieder auf. Sie war froh, dass sie trotz des schlechten Wetters losgegangen war. Der Nachmittag hatte sich gelohnt. Sie fühlte sich sehr gut, entspannt und geborgen. Sie hätte nie gedacht, dass sie so zufrieden sein könnte, obwohl sie gar nichts neues erfahren hatte. In Gedanken hing sie der Erinnerung an diesen Nachmittag nach bis Moni nach Hause kam und sie dadurch wieder aus dieser Gedankenwelt zurückholte.

Am Dienstag Nachmittag verabredete sich Luisa mit Pia, weil die übrigen Mädels aus der Clique keine Zeit hatten. Pia besuchte Luisa und sie machten sich einen gemütlichen Nachmittag. Seit Pia Luisa über die Hintergründe der Mutprobe aufgeklärt hatte, hatten die beiden ein sehr gutes Verhältnis. Pia war Luisa sehr dankbar, dass sie Wort gehalten und den anderen gegenüber nichts erwähnt hatte. Außerdem war Pia froh, jemanden zum Reden gefunden zu haben, denn mit Luisa ging das irgendwie wunderbar. Irgendwann kamen sie auf das Thema Reiten. Pia ging wirklich auf in ihrem Hobby. Luisa konnte damit wirklich nichts anfangen. Aber Pia schaffte es, ihr zu erklären, worin für sie der Reiz bei der Sache lag und was das besondere dieser Sportart ausmachte. Sie schaffte es, Luisa neugieriger zu machen, als sie es bisher gewesen war. Vielleicht sollte sie doch mal zuschauen? Das Thema Jens wurde natürlich auch besprochen. Pia bewunderte Luisas Mut, sich so direkt mit ihm auseinander zu setzen und ihm Paroli zu bieten. Sie war begeistert, dass Luisa sich einfach nichts von ihm gefallen ließ. Luisa machte Pia Mut, sich ein bisschen mehr zu behaupten und nicht alles mit sich machen zu lassen. Aber damit stieß sie bei Pia auf taube Ohren. Dazu hatte Pia wirklich gar keine Traute. Der Nachmittag verging wie im Flug. Als sich Pia verabschiedete, fragte sich Luisa allen Ernstes, wo denn bloß die ganze Zeit geblieben war.

Den Mittwoch Nachmittag verbrachte sie bei Katrin. Heute gab es nicht so viel zu büffeln, so dass auch noch jede Menge Zeit zum Quatschen blieb. Katrin war sehr froh darüber und hätte nichts dagegen gehabt, wenn Luisa noch länger geblieben wäre.

Luisa machte sich schließlich zufrieden auf den Nachhauseweg. Sie fühlte sich langsam wirklich wohl hier in Kleinstadt und war froh, über die vielen Kontakte, die sie inzwischen hatte. Vor allem mit Pia schien sich eine echte Freundschaft zu entwickeln. In der Bekanntschaft mit Katrin sah sie mehr eine Zweckgemeinschaft, mit der sie aber auch sehr zufrieden war, da sie sich in Mathe deutlich verbessert hatte. Da musste man schon mal noch ein bisschen Zeit zum Quatschen investieren. Auf jeden Fall war von einer Mathenachhilfe keine Rede mehr gewesen, worüber Luisa sehr froh war. Frau Sommer machte meist einen recht zufriedenen Eindruck. Das war auch gut so, denn mit der war ganz sicher nicht zu spaßen.

Donnerstag Nachmittag waren die Mädchen aus der Clique mit Reiten beschäftigt. Obwohl Pia Luisas Interesse durchaus geweckt hatte, hatte sie keine Lust verspürt, den anderen zuzuschauen. Sie hatte ganz andere Projekte im Kopf. Sie wollte in den Wald. Sie wollte die Eichenschule finden und hoffentlich weitere interessante Beobachtungen machen. So zufrieden Luisa mit ihren Freundschaften und Kontakten war, mit dieser eigenen Welt im Wald konnten sie nicht so recht konkurrieren. Der Wald übte einfach eine ungeheuere Faszination auf Luisa aus. Die Atmosphäre dort war etwas ganz besonderes und sie genoss diese mit jedem Atemzug während sie dort war. Außerdem war es für Luisa ein tolles Gefühl, einen Ort aufzusuchen, an dem wahrscheinlich noch kein anderer Mensch vorher gewesen war. Sie war eine Forscherin in einer ganz eigenen Welt, zu der nur sie ganz exquisit Zugang hatte. Das war wirklich cool. Also machte sich Luisa am Donnerstag Nachmittag wieder in alten Klamotten auf den Weg. Das Wetter war bedeckt, aber trocken, so dass sie auf ihre Regensachen gut verzichten konnte. Sie war etwas in Sorge, dass die Brücke heute nicht da sein könnte, aber diese Sorge erwies sich als unbegründet. Nach dem kurzen Weg durch den Stadtpark stand sie im Wald. An der Wegkreuzung ging sie heute wieder geradeaus und schlug damit die Richtung ein, in der sie Sophie hatte verschwinden sehen. Bald darauf kam sie an die nächste Kreuzung. Hier war sie zuletzt geradeaus gegangen, als sie zum ersten Mal andere Wesen außer Sophie beobachtete hatte. Diesmal entschloss sie sich rechts abzubiegen. Nach einer Weile wurde sie wieder sehr vorsichtig, da sie nicht von den Oneira entdeckt werden wollte. Sie ging immer direkt am Wegesrand, um möglichst schnell im Gebüsch verschwinden zu können. Außerdem lugte sie immer erst vorsichtig um jede Wegbiegung, um nicht unvermittelt auf eines dieser Wesen zu treffen. Bald erschien ihr das auch nicht mehr ausreichend. Da das Unterholz nicht zu dicht war, verließ sie den Weg und ging gleich im Wald. Das erschien ihr sicherer. Hier ließ es sich ganz gut gehen, so dass sie gut voran kam. Allerdings war hier niemand unterwegs und Häuser hatte sie auch noch keine gesehen. Vielleicht hätte sie doch noch einmal geradeaus gehen und dem Weg weiter folgen. Ein Haus hatte sie ja schon entdeckt. Vielleicht kamen noch mehr? Dort hatte sie zumindest einige von den Wesen getroffen. Hier schien ja komplett tote Hose zu sein. Bald erreichte sie wieder eine Kreuzung. In welche Richtung sollte sie jetzt gehen? Sie bog links ab, weil sie hoffte so wieder in die Nähe dieses Hauses zu kommen, das sie schon einmal gesehen hatte. Der Gedanke schien sich zu bewähren, denn bald hörte sie Stimmen. Schnell suchte Luisa ein passendes Versteck, was relativ einfach war, da sie sowieso schon im Unterholz steckte. Kurz darauf kamen zwei Oneira um die Ecke. Sie redeten relativ leise, so dass Luisa nur registrieren konnte, dass sie reden, aber nicht verstehen konnte, was der Inhalt des Gesprächs war. Aus Sicherheitsgründen hatte sie sich relativ weit in den Wald zurückgezogen, was sich jetzt als Nachteil erwies. Bald waren die beiden verschwunden und Luisa kroch aus ihrem Versteck hervor. Sie näherte sich ein bisschen dem Weg, blieb aber immer noch ein gutes Stück davon entfernt. Sie würde ja wahrscheinlich ohnehin am Montag mehr erfahren. Der Schreck, dass man sie beim letzten Mal fast entdeckt hatte, steckte ihr immer noch ein wenig in den Knochen. So war sie jetzt doch sehr vorsichtig. Bald kam ihr schon wieder eine Gruppe Oneira entgegen. Diese redeten alle durcheinander, so dass Luisa wieder nichts vom Gesprächsinhalt mitbekam. Die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, schien also durchaus richtig zu sein. Sonst hätte sie nicht schon so viele dieser Wesen gesehen. Wirklich alle hatten bunte Haare, die recht lang waren und sehr dünn und leicht aussahen und ihre Köpfe wie Federn umschwebten. Dabei standen sie mehr oder weniger in alle Richtungen. Jeder hatte nur eine knallige Haarfarbe. Der Körperbau schien dem menschlichen ähnlich zu sein, wenn sie insgesamt auch etwas kleiner zu sein schienen. Nach einer ganzen Weile erreichte Luisa wieder eine Wegkreuzung, von der links ein Weg abzweigte, der nach einigen Metern deutlich breiter wurde, als alle anderen drei Wege. Luisa entschied sich für diesen Weg. Sie war froh, dass sie sich abseits des Weges aufhielt, denn hier war noch mehr Betrieb als auf dem vorherigen Weg. Luisa kam kaum noch vorwärts, so oft musste sie sich im Gebüsch verstecken, um Entdeckungen zu vermeiden. Das war auf jeden Fall ein gutes Zeichen. Vielleicht war sie endlich in Nähe der Schule. Wahrscheinlich waren deshalb hier so viele Wesen unterwegs. Sie war äußerst gespannt, was sie erwartete. Während sie mal wieder im Gebüsch hockte, um unbeweglich eine größere Gruppe Oneira passieren zu lassen, fiel ihr Blick auf ihre Armbanduhr. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie war wirklich nun schon sehr lange unterwegs. Sie hatte das gar nicht registriert. Sie hatte den Weg gar nicht als so lang empfunden. Sie musste also schon langsam an den Heimweg denken. Ihre Mutter würde schon recht bald nach Hause kommen und erwarten, dass Luisa dann auch da wäre. Natürlich hatte sie wieder keine Nachricht hinterlassen. Sie hatte überhaupt nicht erwartet, so lange unterwegs zu sein. Aber umkehren wollte sie jetzt auch nicht. Sie musste einfach wissen, ob dort vor ihr irgendwo die Schule war. So folgte sie weiter dem Weg oder genauer gesagt, sie ging parallel zum Weg im Wald, was aufgrund der vielen Begegnungen äußerst langsam vor sich ging. Schließlich veränderte sich der Weg. Am Rand des breiten Wegs standen hohe Eichenbäume, so dass er wie eine Allee aussah. Der Wald wich langsam zurück und große Grünflächen kamen zum Vorschein, die Luisa nur aus der Ferne aus ihrem Gebüsch heraus beobachtete. Die Grünflächen sahen aus, als wären sie übersät von Ostereiern. Überall saßen Oneira im Gras, deren bunte Haare in der Sonne leuchteten. Zwischen den Grünflächen gab es ein paar Beete, die schön angelegt waren. Fast überall blühte irgendwas. Für Luisa wurde es immer schwieriger sich weiter in der eingeschlagenen Richtung im Wald zu bewegen, weil dieser immer mehr zurückwich und weitläufigen Grünanlagen Platz machte, in denen sich viele Oneira aufhielten. Es gab einige Büsche, die angepflanzt waren. Diese boten aber zu wenig Schutz. Luisa wollte schon aufgeben, die eingeschlagene Richtung weiter zu verfolgen, als sie dann doch endlich aus dem Wald heraus ein großes Gebäude wahrnahm. Um das Gebäude herum standen riesige uralte Eichen. Das musste die Schule sein, auch wenn kein Schild diese Vermutung bestätigte. Das Gebäude war flach, maximal dreistöckig gebaut. Deshalb hatte Luisa es von weitem auch nicht erkennen können. Es schmiegte sich regelrecht zwischen die es umgebenden Eichen. Es war aus Holz gebaut, das nicht farbig gestrichen war, sondern relativ naturbelassen aussah. Ein imposanter Eindruck. Es war nicht sehr hoch, aber dafür sehr lang und sehr breit. Ein riesiger Komplex, der sich in Farbe, Höhe und Gestaltung perfekt in die umgebende Grünlandschaft und den Wald einpasste. Luisa staunte. Das machte einen sehr wohnlichen Eindruck. Sie fühlte sich auf Anhieb wie zu Hause. Kein Vergleich zu allen anderen Schulen, auf denen sie bisher gewesen war. Kein alter Backsteinbau, kein Beton. Hier war alles warm, weich und harmonisch. Obwohl es eigentlich schon Zeit für den Rückweg war, ließ sie sich in sicherer Entfernung im Gebüsch nieder und ließ diesen imposanten Eindruck auf sich wirken. Sie wäre gerne noch länger geblieben, aber sie war jetzt schon zu spät dran. Moni würde, bis sie zu Hause ankam, längst da sein und sich wahrscheinlich schon Sorgen machen. Das würde bestimmt ein wenig Ärger geben. Sie nahm sich vor, einen Teil des Rückwegs zu laufen. Damit würde sie bestimmt einige Zeit aufholen. Jetzt schlich sie erst mal vorsichtig weit in den Wald hinein und bog im Wald schräg links ab. Wenn sie diese Richtung beibehielt, lief sie zwar mitten durch den Wald, musste aber irgendwann auf den Weg treffen, auf dem sie gekommen war, bevor sie auf den breiteren Weg, der zur Schule führte eingebogen war. Hier war es zwar etwas beschwerlich durch das Unterholz zu gehen, aber immer noch besser, als zu nah am Weg zu sein und dauernd ein Versteck zu suchen und stehen zu bleiben. Sie hoffte inständig, dass die Vermutung stimmte, dass sie so wieder auf den anderen Weg kommen würde. Ansonsten befand sie sich bald ohne Weg mitten im Wald. Das wäre sehr problematisch zumal es schon recht spät war und dann irgendwann dunkel werden würde. Aber sie hatte richtig überlegt und atmete auf als sie nach einer Weile bunte Haare durch das Grün im Wald flattern sah. Die Oneira, die zu den leuchtenden Haaren gehörten, mussten sich auf dem Weg befinden, auf den Luisa treffen wollte. Da dort immer noch einige Wesen unterwegs waren, blieb Luisa so tief im Wald, dass sie nicht immer anhalten und sich verstecken musste, wenn sie die Wesen an ihren leuchtenden Haaren auf dem Weg erkannte, sondern einfach nur besonders vorsichtig ihren Weg weiter verfolgte. Nach einer Weile, als sie schon lange niemanden mehr begegnet war, hatte sie gerade ihre Richtung zum Weg hin geändert, als sie laute Stimmen hörte. Schnell schmiss sie sich auf den Boden. Kurz danach folgte auch schon die große Gruppe dieser Wesen, die sie auf dem Hinweg auch schon gesehen hatte. Sie waren immer noch sehr laut und redeten alle durcheinander, so dass Luisa nicht wirklich etwas verstehen konnte. Endlich waren sie vorbei und Luisa konnte ihren Weg fortsetzen. Nach einer Weile traf sie auf die nächste Wegkreuzung. Hier musste sie rechts abbiegen. Jetzt war sie schon recht weit von der Eichenschule entfernt und hatte so lange niemanden mehr getroffen, dass Luisa es wagte, auf den Weg zurückzugehen. Dort kam sie deutlich schneller voran. Es war aber auch jetzt schon sieben Uhr. Zeit zum Abendbrot essen und Luisa steckte immer noch hier. Sie fing an zu rennen. Schließlich musste sie schnell nach Hause. Hoffentlich würde Moni nicht zu ärgerlich sein. Wenn sie wieder in den Wald gehen würde, würde sie Moni einen Zettel hinlegen, damit die sich nicht sorgte. Außerdem würde sie eine Taschenlampe mitnehmen. So langsam dämmerte es schon und wenn sie nicht bald den Stadtpark erreichte, der mit Laternen ausgestattet war, würde sie in kürze im Dunkel stehen. Woran man alles denken musste, nur weil man rausgehen wollte. Sie ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Wenn sie genau überlegte, war es logisch, dass die Schule weit vom See und von der Brücke entfernt war. Sonst hätte sie sich nicht so oft und so lange dort aufhalten können und wäre schon viel früher entdeckt worden. Vielleicht hätte sie auch jemand anders entdeckt, der anders reagiert hätte als Sophie. Nicht auszudenken. Auf jeden Fall war es absolut sonnenklar, dass die Schule weit weg sein musste. Was hatte sie sich dabei gedacht? Jetzt bekam sie sicher Ärger mit ihrer Mutter, weil sie spätestens zum Abendessen um sieben immer zu Hause sein sollte. Inzwischen war es schon viertel vor acht. Sie rannte weiter so schnell sie konnte. Das wurde auch zunehmend ein Wettlauf gegen die Dunkelheit. Es wurde heute schon wieder früher dunkel als bei ihrer letzten Wanderung auf den Berg. Bald wurden ihre Beine müde und sie musste das Tempo deutlich drosseln. Wenn sie so weiterlief würde sie nirgendwo ankommen. Sie ging erst mal einige Meter, um wieder zu Atem zu kommen. Wieder taten ihre Beine und Füße weh, weil sie nun schon wieder so lange unterwegs war. Morgen würde sie wieder Muskelkater haben. Da war sie sich jetzt schon sicher. Endlich erreichte sie die Wegkreuzung. Sie bog links ab und musste nun nur noch die eine Wegkreuzung passieren, von der aus sie den See erreichen konnte und den Berg bestiegen hatte. Danach würde sie in kürze die Brücke erreichen. Sie war richtig erleichtert, als sie endlich um zehn nach acht diese letzte Kreuzung passierte. Zügig ging sie weiter in Richtung Stadtpark. Bisher war sie nur mit Laufen beschäftigt gewesen. Jetzt fing sie an zu grübeln, was sie Moni erzählen sollte, warum sie so spät war. Sie konnte doch unmöglich vom Wald berichten. Aber was sollte sie dann als Erklärung abgeben? Es müsste eine gute Erklärung sein, um Monis Ärger zu besänftigen. Sie konnte sagen, dass sie sich verlaufen hätte, aber wo? Dann musste sie irgendeinen Ausgangspunkt angeben, an dem sie gewesen war. Wie sollte sie das machen? Sie kannte sich in Kleinstadt überhaupt nicht aus. Wie sollte sie da nähere Angaben machen können? Eben sie kannte sich nicht aus. Und das würde sie Moni auch so erzählen. Sie sei spazieren gewesen und habe sich verlaufen. Das stimmte sogar fast. Immerhin war sie spazieren gewesen. Verlaufen hatte sie sich zum Glück nicht. Sie hatte einfach die Zeit vergessen. Das konnte sie natürlich auch sagen. Sie war spazieren, hatte die Zeit vergessen und hatte sich dann noch verlaufen. Genau. Das würde bestimmt wenigstens auf etwas Verständnis stoßen. Bald darauf kam sie zu Hause an. „Schön, dass du auch noch nach Hause kommst Luisa! Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Wo warst du denn bloß?“ Luisa hatte erst einen Fuß über die Schwelle gesetzt, da ergoss sich schon dieser Wortschwall über sie. Sie konnte erst mal überhaupt nichts sagen, so sehr war sie außer Atem. Gut dass sie so viel gerannt war auf dem Rückweg, sonst wäre sie immer noch nicht hier. „Warum bist du so völlig außer Atem? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Erst nachdem Luisa ein paar mal tief durchgeatmet hatte und die schmutzigen Schuhe ausgezogen hatte, konnte sie wieder etwas sagen. „Es tut mir so leid, dass es so spät geworden ist. Ich bin gerannt so schnell ich konnte, weil ich wusste, dass du auf mich wartest.“ Das machte schon mal Eindruck. „Wurdest du verfolgt?“ „Nein, mir geht es gut.“ Moni atmete auf. „Ich bin froh, dass du wieder da bist. Wo bist du denn gewesen? Du weißt doch genau, dass du anrufen sollst, oder mir einen Zettel schreiben sollst, wenn du nicht um sieben Uhr zu Hause bist.“ Jetzt mischte sich wieder Ärger in die Erleichterung über Luisas Rückkehr. „Ich habe schon überlegt, ob ich die Polizei rufen muss.“ „Ich war spazieren und habe dabei die Zeit vergessen. Nach den Hausaufgaben wollte ich einfach raus an die frische Luft. Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen. Da bin ich einfach irgendwo herumgelaufen. Als ich gemerkt habe, wie spät es ist, hatte ich keine Ahnung, wo ich mich befand und musste erst den Rückweg suchen.“ Moni sah sie verständnislos an. „Du bist total dreckig. Wo warst du denn?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe komplett die Orientierung verloren.“ „In welche Richtung bist du denn weggegangen?“ „Richtung Innenstadt.“ „Dort wird man aber nicht so dreckig. Und dort kennst du dich auch aus. Wie willst du dich da verlaufen? Das ist doch wieder mal eine wilde Geschichte, die du mir da aufbindest. Wahrscheinlich hast du dich heimlich mit einem Jungen getroffen. Aber von dem Typen aus hättest du mich wenigstens anrufen können. Aber das hast du wohl über der Turtelei vergessen.“ „Ich habe mich nicht mit einem Jungen getroffen. Ich bin einfach durch die Gegend gelaufen und habe mich verlaufen.“ „Ich glaube dir kein Wort. Du bist noch nie einfach so spazieren gegangen. Du fandest das immer öde.“ „Jetzt finde ich es nicht mehr öde. Ein Mensch kann sich doch auch ändern.“ „Und du willst mir weiß machen, du hättest dich geändert? Dann können wir ja nächstes Wochenende wandern gehen und du kannst mir zeigen, wo du gewesen bist.“ „Das kann ich eben nicht, weil ich mich verlaufen hatte. Jetzt in der Dämmerung sah alles anders aus, als sonst bei Tageslicht. Ich werde das nicht wiederfinden. Aber wandern gehen können wir von mir aus, wenn du Lust hast. Ich finde das schön.“ „Das werden wir. Darauf kannst du Gift nehmen. Bin mal gespannt, ob dir das nach ein paar Stunden immer noch gefällt, oder ob du dann freiwillig zugibst, dass du mich angelogen hast. Dieses Wochenende habe ich aber keine Zeit. Wir werden nächstes Wochenende wandern gehen. Wir werden extra früh aufstehen und Picknick mitnehmen und den ganzen Tag unterwegs sein. Das wird dir bestimmt gefallen, jetzt wo du deine Leidenschaft fürs Wandern entdeckt hast.“ Luisa schluckte. Moni sagte das alles mit einem Unterton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie Luisa nicht ein Wort glaubte. Dabei war sie wirklich gerne im Wald unterwegs und sie hatte die Zeit vergessen. Sie konnte doch gar nicht erzählen, wo sie wirklich gewesen war. Sie hatte es Sophie versprochen. Sophie, die so viel auf die Wahrheit hielt, hätte bestimmt auch nicht gewusst, wie sich Luisa in dieser Situation hätte verhalten sollen. Vielleicht sollte sie Sophie Montag mal um Rat fragen. Aber dabei würde sie zugeben, dass sie schon wieder gelogen hatte und das würde Sophie gar nicht gerne hören. Mit so etwas war sie sehr empfindlich. Überempfindlich nach Luisas Geschmack. Moni war sauer und enttäuscht. Die erste Erleichterung, als Luisa heile und gesund zu Hause erschienen war, war längst verpufft. „Ich finde es unmöglich, dass du, nachdem du so spät nach Hause kommst, auch noch eindeutig die Unwahrheit sagst. Ich mache mir Sorgen um dich, wenn du so spät nach Hause kommst. Wir hatten eine Abmachung, dass du mich anrufst oder mir eine Nachricht schreibst. Ich bin sehr enttäuscht von dir Luisa. Für heute solltest du wohl besser jetzt duschen“ , stellte sie mit einem Blick auf Luisas heruntergekommenen Aufzug fest, „danach kannst du dir in der Küche etwas zu essen holen. Dann solltest du auf dein Zimmer gehen, weil ich dich heute nicht mehr sehen möchte. Es sei denn, du entschließt dich, mir die Wahrheit zu sagen, was wirklich los war. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir diese hanebüchene Story abnehme? Keine Chance. Ansonsten hast du ab heute eine Woche Hausverbot.“ „Eine Woche?“ „Ich finde, dass das nicht besonders viel ist.“ „Aber ich muss doch mit Katrin Mathe lernen.“ „Nicht in der nächsten Woche. Du wirst Zeit genug haben, alleine zu lernen. Du wirst direkt nach der Schule herkommen und nirgendwo mehr hingehen.“ Mit den Worten verschwand sie im Wohnzimmer und ließ Luisa wie einen begossenen Pudel im Flur zurück. Luisa wusste, dass es keinen Sinn hatte, einen weiteren Versuch zu starten und ihr alles irgendwie zu erklären. Also ging sie duschen, holte sich was zu essen und zog sich in ihr Zimmer zurück. Hausarrest. Ausgerechnet jetzt. Die Mädchenclique hatte schon so viele Pläne für das Wochenende. Alles fiel ins Wasser. Aber am schlimmsten war, dass sie Sophie nicht sehen konnte. Aber vielleicht könnte sie sich wenigstens kurz am Montag davonschleichen? Moni würde es gar nicht merken, wenn sie nicht zu Hause war. Schließlich musste sie arbeiten. Sophie nicht zu treffen, war die größte Katastrophe. Mit allem anderen konnte sie leben. Immerhin war sie erfolgreich gewesen und hatte die Schule gefunden. Das war schon ein Opfer wert. Aber Sophie verpassen? Das erschien ihr unmöglich. Sophie würde ihr nicht glauben und alles für eine Ausrede halten. Sie durfte Sophie nicht versetzen. Sie musste wenigstens kurz vorbeigehen und absagen. Anders würde das nicht gehen. Das Risiko musste sie eingehen. Moni würde es bestimmt nicht merken, wenn sie mal kurz weg wäre am Montag. Sie war schließlich auf der Arbeit. Aber sie konnte von dort aus anrufen. Wenn Luisa dann nicht zu Hause wäre, würde sie erst richtig in der Tinte sitzen. Das war wirklich eine blöde Situation. Sie konnte also entweder Moni oder Sophie verärgern. Moni würde es vielleicht nicht merken. Sophie würde es sicher merken. Das war ein echtes Dilemma. Da kam Luisa eine gute Idee. Sie würde einfach nach der Schule einen kleinen Abstecher in den Wald machen und für Sophie einen Zettel an den Baum heften, der in der Nähe des Felsens stand. Dann konnte sie ihr mitteilen, dass sie Hausarrest hatte und zu Hause sein müsste und das Treffen auf nächste Woche Montag verschieben. Wenn Moni dann direkt nach der Schule anrufen würde, könnte sie immer noch sagen, dass sie ein bisschen mit Katrin geredet hätte und deshalb später dran war. Dann wäre alles nicht ganz so dramatisch. Moni würde das bestimmt auch nicht gut finden, aber wahrscheinlich noch akzeptieren.

Am Freitag in der Schule sagte Luisa schweren Herzens alle Verabredungen für das Wochenende ab. Ausgerechnet dieses Wochenende lief ein Film im Kino an, den sie alle gerne sehen wollten. Der Plan gemütlich Pommes essen und dann ins Kino stand schon seit ein paar Tagen. Natürlich hatten sich alle darauf gefreut. Die anderen waren enttäuscht, dass Luisa nicht mitkam, aber gegen Hausarrest hatte man keine Chance. Da waren sich alle Mädchen einig. Da gab es wohl nichts zu retten. Pia zeigte am meisten Verständnis und Mitleid und tröstete Luisa so wenigstens etwas. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass sie dann niemanden hätte, mit dem sie den Film anschauen könnte. Auch Katrin sagte sie für die nächste Woche ab. Die war natürlich wieder total enttäuscht, nachdem sie sich bei ihrem letzten Treffen so gut unterhalten hatte, hatte sie gehofft, dass das erst mal so weitergehen würde. Aber das hatte sich nun wieder alles in Luft aufgelöst. Nach der Schule ging sie ziemlich bedrückt nach Hause. Alle hatten sich ein schönes Wochenende gewünscht. Hausaufgaben gab es fast keine und die letzte Stunde war ausgefallen. Außerdem war auch noch schönes Wetter. Luisa rührte lustlos in ihrem Essen, machte dann ihre Hausaufgaben und wusste dann erst mal gar nichts mit sich anzufangen. Was sollte sie tun? Sie blätterte durch die Fernsehzeitung. Dort fand sie nichts, was sie auch nur ansatzweise interessierte. Sie suchte in ihren Büchern, aber sie fand keines, das sie noch nicht gelesen hatte, außer dem Buch über Bäume, Pflanzen und heimische Tiere, das sie sich gekauft hatte, um besser zu verstehen, was sie da alles sah im Wald. Aber dieses Buch las sie lieber vor Ort im Wald als hier zu Hause auf der Couch. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und vertiefte sich dann in das Buch, weil es das Einzigste Buch war, das sie noch nicht gelesen hatte. Mamas Bücher fand sie in der Regel eher langweilig. Sie versuchte es noch nicht einmal mit einem von denen. Irgendwann klingelte das Telefon. Moni wollte kontrollieren, ob sie auch wirklich zu Hause war. Schade, sie hatte gehofft, dass Pia vielleicht anrufen würde oder wenigstens Katrin. Aber die waren wohl alle unterwegs. Immerhin war das „Waldbuch“, wie sie es nannte, ganz interessant. Sie fand einiges an Vögeln wieder, die sie am See beobachtet hatte und erfuhr so manches über deren Lebensgewohnheiten. So verging der Nachmittag wie im Flug. Sie bemerkte gar nicht, dass Moni viel später als gewohnt nach Hause kam. Sie war noch einkaufen gewesen. Wie immer gab es um sieben Uhr Abendbrot. Es wurde nicht viel geredet. Moni war wohl immer noch ziemlich sauer. Als sie dann gemeinsam Fernsehen schauten, wurde auch nicht viel geredet. Am Ende des Films verschwand Luisa im Bett. Sie wollte sich nicht länger mit Moni anschweigen. Beim Frühstück am nächsten Morgen war es nicht besser. „Bist du immer noch sauer?“ fragte Luisa. „Ich würde gerne wissen, wo du dich wirklich herumgetrieben hast.“ „Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich verlaufen habe.“ „Das glaubst du doch selber nicht. Wenn du nichts anderes als Lügengeschichten zu erzählen hast, haben wir uns wohl nichts weiter zu sagen.“ „Es sind keine Lügengeschichten. Ich war spazieren und habe die Zeit vergessen und den Rückweg nicht gefunden.“ Moni schaute sie nur kurz kritisch an und sagte nichts mehr. Es war klar, dass sie das Gespräch nicht weiter führen wollte, weil es ihrer Meinung nach zu nichts führte. Luisa war froh, als das Frühstück beendet war. Sie verkrümelte sich in ihr Zimmer und räumte dort ein wenig auf. Dann verfasste sie schon mal eine Nachricht für Sophie. Danach studierte sie weiter ihr Buch. Das wurde aber schließlich auch langweilig, weil sie die Texte, über die Tiere, die sie schon gesehen hatte, schon gelesen hatte und alle anderen Texte nur halb so interessant waren. Gelangweilt schaute sie aus dem Fenster. Schon wieder Sonnenschein. Sie war regelrecht froh, als Moni raus ging, um spazieren zu gehen. Diese schlechte Stimmung ging ihr echt auf die Nerven. Jetzt hatte sie die Wohnung wenigstens für sich und war nicht immer komischen Blicken ausgesetzt, wenn sie ihr Zimmer verließ. Sie hing vor dem Fernseher ab bis Moni zurückkam. „Fällt dir nichts besseres ein, als fernzusehen?“ „Nein.“ „Warum liest du nicht etwas?“ „Ich habe nichts mehr.“ „Du könntest eins von meinen Büchern ausprobieren.“ „Ich mag deine Bücher nicht.“ „Aber dies hier ist ziemlich gut. Das würde dir bestimmt auch gefallen.“ „Das glaube ich nicht.“ Luisa war heilfroh, dass Moni am Sonntag mit einer neuen Arbeitskollegin verabredet war. Regelrecht erleichtert war sie, als es endlich Montag Morgen war und sie wieder zur Schule gehen konnte. Da kam sie endlich wieder unter Leute. Die Nachricht für Sophie hatte sie sorgfältig verstaut und eingesteckt. Luisa genoss jede Unterhaltung in den Pausen, obwohl die anderen ihr von dem tollen Film vorschwärmten. Sie war froh, dass sie mal nicht alleine war. Ihr graute schon vor dem Nachmittag. Nach Schulschluss war sie allerdings schnell verschwunden. Heute hatte sie keine Zeit für weitere Gespräche. Sie ging in den Stadtpark und stellte erleichtert fest, dass die Brücke heute da war. Sie legte den Gefrierbeutel mit der Nachricht für Sophie auf den Stein, auf dem sie schon zusammen gesessen hatten und beschwerte ihn mit ein paar Steinen, damit er nicht weggeweht wurde. Hoffentlich würde Sophie die Nachricht finden und hoffentlich wäre sie nicht sauer. Hoffentlich hatte sie nächsten Montag Zeit, so dass sie sich dann endlich wieder treffen würden. Luisa rannte schließlich auf dem Nachhauseweg. Als sie die Tür aufschloss, klingelte das Telefon. Hastig ließ sie die Schultasche fallen und schnappte sich den Hörer. Es war Moni, die wissen wollte, ob sie schon zu Hause war. „Ich bin gerade herein gekommen.“ „Du bist spät dran.“ „Ich habe nach dem Unterricht noch ein paar Worte mit Katrin gewechselt.“ „Ich hatte dir doch gesagt, dass du sofort nach der Schule nach Hause kommen sollst.“ „Ich dachte, dass ein kurzes Gespräch nichts ausmacht.“ „Morgen bist du pünktlicher zu Hause!“ „Ja.“ „Bis nachher.“ „Bis nachher.“ Damit legte Moni auf. Das war knapp gewesen. Sie war gerade eben rechtzeitig zu Hause gewesen. An den folgenden Tagen war Luisa immer direkt zu Hause. Moni erreichte sie immer sofort, egal wann sie anrief. Gegen Ende der Woche ließen die Kontrollanrufe nach und so nach und nach wurde auch wieder ein Wort gesprochen. Die Situation normalisierte sich endlich wieder. Am Wochenende zog Luisa wieder mit ihren Freundinnen los. Das war eine Wohltat nach der langen Woche. Am meisten freute sie sich auf Montag. Hoffentlich hatte Sophie Zeit und was Sophie ihr wohl alles erzählen würde? Sie würde bestimmt einiges erfahren. Hoffentlich war Sophie nicht sauer.

Luisa konnte den Schulschluss am Montag kaum erwarten. Endlich war Schulschluss. Erleichtert packte Luisa ihre Sachen zusammen. Für Gespräche hatte sie heute wenig Zeit. Sie ging zügig nach Hause und machte schon während des Mittagessens ihre Hausaufgaben. Moni wäre bestimmt begeistert über so viel Arbeitseifer. So war sie schon um zwei Uhr mit allem fertig, obwohl sie sich erst um drei mit Sophie verabredet hatte. Aber das war egal. Sie machte sich einfach schon mal auf den Weg. Vielleicht war Sophie heute auch früher da? Auf jeden Fall war schönes Wetter und sie konnte es sich so oder so am See gemütlich machen. Sie packte ihr Buch ein und ging los. Tief atmete sie die frische Luft ein und genoss die Freiheit, endlich wieder raus zu dürfen. Die Woche Stubenarrest hatte ihr doch ganz schön zugesetzt. Was sollte man auch den ganzen Tag zu Hause machen? Immerhin hatte sie auch ein wenig Mathe geübt. Allerdings war das von etwas zweifelhaftem Wert, da sie manche Dinge ohne zusätzliche Erklärungen einfach nicht verstand. Im Stadtpark war wenig los heute. Luisa erreichte bald die Brücke und dann den Wald. Es war erstaunlich, dass sie die Atmosphäre hier in nur einer Woche so vermisst hatte. Endlich war sie wieder hier. Es war wunderbar. Die Bäume nahmen so langsam Herbstfärbung an und leuchteten in der Sonne um die Wette. Es roch schon ein wenig nach Laub. Wie es wohl sein würde, im Winter im Schnee hier spazieren zu gehen? Sie würde es herausfinden. Bald hatte sie den kurzen Weg zum See zurückgelegt. Sie hatte sehr gehofft, dass Sophie vielleicht schon da wäre, aber da hatte sie sich getäuscht. Sie setzte sich wieder auf den großen Stein in die Sonne, auf dem sie letzte Woche ihre Nachricht hinterlassen hatte. Sie schaute auf ihre Uhr. Es war halb drei. Würde Sophie kommen? Jetzt war es noch zu früh. Luisa beobachtete die Vögel und sah wie sich die Bäume im See spiegelten. Aber alles das konnte ihr heute nicht so richtig gefallen. Sie war in Gedanken ganz woanders. Sie war so gespannt auf das, was Sophie ihr erzählen würde. Hoffentlich würde sie heute mehr erfahren über die Oneira. Wie mochte das wohl alles ablaufen in der Eichenschule? Luisa war mehr als gespannt. Endlos langsam schlich der kleine Zeiger auf Luisas Armbanduhr auf die drei zu. Die Zeit schien sich wie Kaugummi hinzuziehen. Endlich war es drei Uhr. Allerdings änderte sich nichts. Von Sophie war überhaupt nichts zu sehen. Hoffentlich hatte sie sich durch ihre Abwesenheit letzte Woche nicht alles verscherzt. Vielleicht war Sophie sauer, weil sie nicht hier gewesen war. Doch dann endlich um kurz nach drei sah Luisa, dass sich etwas buntes auf dem Weg bewegte. Das konnte nur Sophie sein. Schon von weitem leuchteten ihre knallroten Haare durch den Wald, die wie immer lustig in alle Richtungen standen. Etwas außer Atem ließ sich Sophie auf dem Stein nieder. „Hallo“, sagte sie. „Hallo“, sagte Luisa. “Ich bin etwas spät dran heute, aber ich musste erst noch Küchendienst machen heute. Jeder von uns ist mal dran, beim Abräumen und Spülen oder vorher beim Kochen zu helfen. Ich haben heute beim Geschirr Spülen geholfen. Ich hoffe, du hast nicht so lange warten müssen?“ „Ich bin schon seit halb drei hier, aber das ist kein Problem. Ich war heute früh fertig zu Hause und wollte einfach raus. Da bin ich schon mal hierher gekommen. Hast du meine Nachricht letzte Woche gefunden?“ „Ja, danke, das war nett. Was ist denn eigentlich Hausarrest?“ „Ich durfte die ganze letzte Woche nach der Schule nicht mehr rausgehen und musste zu Hause bleiben.“ „Wie konntest du denn dann die Nachricht hier hinterlassen?“ „Ich bin schnell nach der Schule hier vorbeigerannt. Ich wollte nicht, dass du nicht weißt, warum ich nicht komme. Meine Mutter hat nichts gemerkt. Sie fand es etwas komisch, dass ich so spät zu Hause war, hat aber nichts weiter gesagt, weil ich an allen anderen Tagen immer pünktlich zu Hause war.“ „Warum hattest du denn Hausarrest?“ Mit der Frage hatte Luisa überhaupt nicht gerechnet. Sollte sie Sophie erzählen, dass sie die Eichenschule gesucht hatte und dabei die Zeit vergessen hatte? Das würde Sophie bestimmt nicht gut finden. Allerdings wollte Luisa ihr auch keine Geschichte erzählen. Sie entschloss sich für einen Teil der Wahrheit. „Ich war am Freitag hier im Wald spazieren. Ich fand das so schön hier, dass ich die Zeit vergessen habe. Ein wenig war es mir auch egal. Ich wusste, dass ich zu spät nach Hause kommen würde. Meine Mutter war deshalb sehr sauer. Sie hat mir nicht geglaubt, dass ich spazieren war. Ich bin früher nie spazieren gewesen. Von dem Wald hier konnte und wollte ich ihr nicht erzählen. Also war sie der Meinung, dass ich mich irgendwo herumgetrieben und sie angelogen habe. Deshalb habe ich Hausarrest bekommen.“ „Wie konntest du hier auch spazieren gehen? Ich habe dir doch gesagt, dass du das nicht machen sollst. Wenn dich mal jemand sieht, weiß ich nicht was dann passiert.“ „Ich weiß. Aber ich wollte so gerne hier sein. Ich habe auch Leute von euch gesehen, aber ich habe mich rechtzeitig versteckt.“ Sophie hielt die Luft an. „Wie kannst du so etwas riskieren? Du darfst nicht hier sein. Nicht mal jetzt. Aber unsere Schule ist weit genug von hier entfernt, deshalb ist es hier einigermaßen sicher. Ich habe keine Ahnung, was du auslösen könntest. Eventuell müssten wir alle wegen dir umziehen.“ „Warum meinst du das?“ „Unsere Welt soll getrennt von eurer sein. Ich habe noch nie davon gehört, dass es Kontakte zwischen Oneira und Menschen gegeben hat.“ „Also seid ihr Oneira?“ „Ja, so nennen wir uns.“ „Aber ihr wisst von uns Menschen, oder?“ „Ja, das wissen wir. Aber wir wollen keinen Kontakt, eigentlich. Wir führen unser eigenes Leben. Einige von uns arbeiten in eurer Welt, aber das sind nur sehr wenige. Die meisten von uns leben in unserer Welt.“ „Benutzen diejenigen, die in unserer Welt arbeiten auch die Brücke?“ „Ich weiß es nicht. Ich kenne keine Wege in eure Welt.“ „Aber ihr seht doch etwas anders aus als wir. Wie könnt ihr euch in unserer Welt aufhalten, ohne erkannt zu werden?“ „Ich glaube die gehen vorher zum Frisör. Aber ich bin mir nicht sicher.“ „Was machen denn Oneira in unserer Welt?“ Luisa war der Gedanke nicht ganz geheuer, dass andere Wesen sich in ihrer Welt herumtrieben. Das war ja fast wie im Fernsehen in irgendwelchen Science-Fiction-Filmen. Luisa war etwas schockiert. Der Gedanke an Aliens, Fremde, die sich in ihrer Welt aufhielten, gefiel ihr gar nicht. Sophies Antwort riss sie aus ihren Gedanken. „Oneira helfen den Menschen.“ „Helfen, wobei?“ „Wir haben hoch entwickelte Fähigkeiten, zumindest, die von uns, die im Außendienst sind. Wir helfen den Menschen mit ihren Problemen fertig zu werden und ihr Leben besser in den Griff zu bekommen. Viele von uns machen das.“ Sophie sah Luisas bestürztes Gesicht und fügte schnell hinzu: „Natürlich darf man erst Außendienst machen, wenn man sehr gut ausgebildet ist und mehrere Prüfungen abgelegt hat.“ „Aber wenn ihr den Menschen helft, warum ist es dann ein Problem, wenn ich mich hier aufhalte? Ihr pflegt doch sowieso Kontakte zu Menschen.“ „Ja, aber nicht in unserer Welt. Die Menschen wissen nichts von unserer Welt und ich weiß auch überhaupt nicht, wie du es geschafft hast, durch eines der Tore zu kommen. Du bist der einzige Mensch, der das je geschafft hat, glaube ich. Ich kann mir das überhaupt nicht erklären.“ „Aber das ist doch unfair. Ihr haltet euch in unserer Welt auf und wisst von uns, während wir nicht zu euch kommen und nichts von euch wissen.“ „Wir haben einfach eine höhere Entwicklungsstufe. Unsere Persönlichkeit ist weiter entwickelt und wir pflegen unsere Fähigkeiten im Gegensatz zu euch. Dadurch sind wir gerechtfertig, uns bei euch aufzuhalten und ihr nicht bei uns.“ Luisa konnte sich nicht vorstellen, was diese Wesen konnten, was ein Mensch nicht konnte. Das hörte sich für sie alles sehr überheblich an. War es wahrscheinlich auch. Aber Überheblichkeit war bestimmt keine besondere Fähigkeit. „Was könnt ihr denn, was wir nicht können?“ „Eigentlich sind wir uns nicht so unähnlich. Aber es gibt schon gewaltige Unterschiede. Wir haben viele Oneira, die meditieren, sich selbst erforschen und sich selbst weiterentwickeln. Das ist auch das Ziel unserer Schule. Wir lernen nur wenig in den Fächern, mit denen ihr eure gesamte Schulzeit verbringt. Statt dessen lernen wir unsere Träume zu verstehen, wir meditieren, wir sind auf Sinnsuche und wir fördern unsere Fähigkeiten. Wir versuchen möglichst viele neue Erfahrungen zu machen, um unseren Horizont zu erweitern. Wir lernen natürlich auch etwas über Menschen. Sonst könnten wir ja nicht bei euch arbeiten.“ Deshalb also hatte sie diese Meditationstruppe auf dem Berg getroffen. Das war nicht eine Ausnahmegruppe, sondern die Regel, wie Oneira das Wochenende verbrachten. Mysteriös. Wie konnte Schule fast ohne Mathe und Englisch und die anderen lästigen Fächer sein? Luisa konnte sich das ganz gut vorstellen. Das war bestimmt angenehmer, als bei ihr in der Schule. „Welche Fächer hast du denn in diesem Schuljahr und wie sieht ein Schultag bei dir aus? Bekommst du auch Hausaufgaben?“ Bei diesem Treffen war es an Sophie zu erzählen und Luisa war gespannt wie ein Flitzebogen. Sie hatte überhaupt keine Vorstellung gehabt, was sie hier heute erfahren könnte. Aber das wenige, was Sophie bisher berichtet hatte, hatte sie doch ziemlich aufgewühlt. „Bist du sicher, dass du das alles wissen willst? Vielleicht ist es besser, wenn du das nicht weißt. Vielleicht bist du nachher mit deinem Leben nicht mehr zufrieden?“ „Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Und bisher hast du mich richtig neugierig gemacht. Ich würde sehr gerne mehr erfahren.“ „Na, gut. Also ich bin noch ziemlich am Anfang der Ausbildung. Deshalb weiß ich zum Beispiel auch noch nichts über Menschen, außer dem, was du mir erzählt hast. Wir fangen erst mal an, indem wir uns viel mit uns selbst beschäftigen. Wir meditieren morgens direkt nach dem Aufstehen und Abends vor dem Schlafen gehen. Morgens wird vor dem Meditieren und abends nach dem Meditieren nicht mehr gesprochen. Die Ruhe der Meditation soll nicht gestört werden. In der Schule mache ich ansonsten einen Kurs über Ethik. Ethik ist wichtig, damit wir unsere Fähigkeiten zum Guten einsetzen. Ich habe Religion als Wahlfach belegt. Ich mache viel Sport, weil es für den Geist auch gut ist, sich körperlich zu betätigen. Ich habe Biologie, wie du auch. Wir wollen schließlich wissen, wie die Welt um uns aufgebaut ist und wie alles funktioniert. Wir lernen viel über gesunde Ernährung. Außerdem machen wir oft Ausflüge an Wochenenden, damit wir andere Orte sehen und neue Erfahrungen machen. Neue Erfahrungen erweitern den Horizont. Es geht darum, uns möglichst weit zu entwickeln. Wir haben morgens nach dem Frühstück Unterricht und bekommen auch Hausaufgaben auf, die wir dann nachmittags erledigen. Manchmal sind einzelne Kurse auch nachmittags. Es gibt Kunst und Musik. Ziel ist, uns möglichst vielseitig zu fördern und ganzheitlich zu entwickeln. So ist das bei uns.“ „Hast du auch Freunde?“ „Klar, soziale Kontakte sind auch sehr wichtig.“ „Hört sich interessant an. Irgendwie besser als bei uns. Du glaubst gar nicht, wie langweilig Mathematik sein kann.“ „Bei uns ist auch nicht immer alles spannend.“ „Es klingt aber interessanter.“ Danach verstummte das Gespräch. Luisa musste die vielen neuen Informationen erst mal verarbeiten. Es gab also eindeutig Wesen, die ganz anders lebten als die Menschen. Diese Oneira lebten in einer anderen Welt und kamen in die Welt der Menschen, um diesen zu helfen. Ziemlich verwirrend. Aber es gab keine Menschen, die mit den Oneira zu tun hatten, zumindest nicht wissentlich. Dieser ganze Kram mit persönlicher Weiterentwicklung schien irgendwie interessanter zu sein als das, was Luisa lernte. Auch hatten die meisten Oneira gute Laune. Luisa hatte Sophie noch nie schlecht gelaunt erlebt. Das Ganze schien denen irgendwie gut zu tun. „Bist du jetzt schockiert?“ „Nein, es macht mich nachdenklich. Schockiert wäre das falsche Wort. Lernst du ein Musikinstrument?“ „Ja, ich spiele Klavier. Ich bin aber erst damit angefangen. Ich bin noch nicht wirklich weit gekommen. Warum fragst du?“ „Ich frage mich, ob ich auch Lust dazu hätte. Ich habe auch nie wirklich Sport gemacht. Aber wenn ich hier im Wald herumlaufe und nachher müde nach Hause komme, bin ich sehr zufrieden und fühle mich gut. Irgendwie scheint an eurer Art zu leben, etwas wahres dran zu sein.“ „Natürlich ist es das. Generationen von Oneira haben so schon glücklich gelebt.“ „Es gibt auch einige Menschen, die wenigstens teilweise so leben wie ihr. Es gibt Menschen, die viel Sport machen, oder Musik machen, oder auch meditieren.“ „Das ist das Problem. Ihr macht das, was wirklich wichtig ist, nur teilweise und das ist eindeutig zu wenig. Das ist der Auslöser dafür, dass bei euch so viel schief läuft.“ „Und bei euch läuft nichts schief?“ „Nichts vielleicht nicht. Aber deutlich weniger.“ „Woher willst du das wissen, wenn du von uns Menschen gar nichts weißt?“ Luisa ging dieses Gerede so langsam auf den Keks. Schließlich war sie als Mensch nicht grundsätzlich minderwertig. Das konnte sie so nicht auf sich sitzen lassen. So toll konnten diese Oneira nun auch wieder nicht sein. „Unsere Lehrer berichten uns davon. Von meinen Eltern habe ich das auch gehört, dass ihr Menschen euch oft selbst im Weg steht.“ „Das meinst du.“ „Ich habe es gehört.“ „Und wo stehe ich mir selbst im Weg?“ „Das kann ich schlecht sagen. Immerhin kenne ich dich noch nicht so lange.“ „Aha. Aber von anderen Menschen, die du noch nicht gesehen hast, weißt du das? Mich hast du immerhin schon ein paar Mal gesehen.“ „Ich habe es gehört. Okay?“ „Nicht okay. Glaubst du immer alles, was du hörst?“ „Eigentlich schon. Bei uns wird nicht so viel gelogen wie bei euch. Wir reden die Wahrheit. Das ist eines unserer wichtigen Lebensprinzipien. Wenn mir jemand etwas erzählt, dann ist es so.“ „Und wenn derjenige sich getäuscht hat? Oder ist das auch eines eurer Prinzipien, dass ihr keine Fehler macht?“ „Wir machen auf jeden Fall nicht so viele Fehler wie ihr.“ „Das kann ja jeder behaupten.“ „Schon, aber bei uns stimmt es.“ Luisa hatte gerade wieder tief Luft geholt, um eine passende Antwort zu geben, da sagte Sophie: „Luisa, lass uns aufhören zu streiten.“ „Ich mag das aber nicht, wenn du Menschen generell als minderwertig abtust. Immerhin bin ich ein Mensch und ich mag nicht hören, wie schlecht ich bin.“ Jetzt schluckte Sophie. „Du hast recht. Ich hätte das nicht so sagen dürfen.“ „Genau. Wenn du dich für etwas besseres hältst, dann machen diese Treffen keinen Sinn. Ich möchte keine Freundschaft mit jemandem, der über allem schwebt und alles besser weiß.“ Jetzt war Sophie verwirrt. Das hatte sie nicht erwartet. Sie war mit dem Gedanken aufgewachsen, dass ein Mensch eben nicht so fähig und weit entwickelt wie ein Oneira war. Ein Mensch hatte viele Möglichkeiten gar nicht. Aber es ließ sich immer gut über andere reden, wenn sie nicht dabei waren. Jetzt hatte sie Luisa kennen gelernt und ihre bisherige Sicht auf die Welt konnte nicht mehr dieselbe wie vorher sein. Es gab wohl auch unter den Oneira einige Vorurteile. Das hatte sie nicht für möglich gehalten. Wenn sie hier mit Luisa sprach, hatte sie nicht das Gefühl, sich mit einer weit unterlegenen Spezies zu unterhalten. Luisa war alles andere als primitiv und wollte auch als Person geschätzt werden. Damit hatte sie wohl recht. Jetzt saß Sophie nachdenklich auf dem Stein und blinzelte in die Sonne. Als die beiden sich schließlich trennten, gingen beide nachdenklich nach Hause. Natürlich hatten sie sich wieder für den nächsten Montag verabredet. Luisa kam es diesmal noch fremder als sonst vor, als sie über die Brücke in den Stadtpark zurückkehrte. Heute war sie wirklich in einer fremden Welt gewesen. Bisher hatte sie immer nur die Oberfläche tuschiert, aber heute war sie tiefer in diese andere Welt eingedrungen als je zuvor. Die eiligen Leute im Stadtpark, die bunte Werbung in den Schaufenstern, alles kam ihr auf einmal sehr oberflächlich vor. Vielleicht hatte Sophie doch recht, dass Menschen irgendwie anders und nicht so weit entwickelt waren. Auf jeden Fall waren sie anders. Anders hieß schließlich nicht schlecht. Luisa war froh, dass sie zu Hause noch etwas Zeit für sich zum Nachdenken hatte, bevor ihre Mutter nach Hause kam. Am liebsten hätte sie jemanden gehabt, mit dem sie das Erlebte besprechen konnte. Aber das war wohl ausgeschlossen. Niemand würde ihr glauben. Moni würde zum nächsten Arzt mit ihr fahren. Und Pia oder Katrin konnte sie mit so haarsträubenden Geschichten auch nicht kommen. Nein, das musste sie schon mit sich selbst abmachen. Oneira waren in unserer Welt als Helfer unterwegs. Fremde andere Wesen und niemand ahnte etwas davon. Hatte sie nicht die Pflicht, das jemandem mitzuteilen? Schließlich wurde die Menschheit von fremden Wesen unterlaufen. Aber wer würde ihr glauben? Außerdem hatten die Oneira keine zerstörerischen Absichten. Sie waren keine Aliens, die die Welt für sich erobern wollten. Sie hatten ja schon eine eigene Welt und benötigten die der Menschen gar nicht. Tagebuch! Das war die Idee. In einem Tagebuch könnte Luisa ihre Gedanken sortieren und ihre Erlebnisse aufschreiben. Das war nicht so gut, wie direkt mit jemanden zu sprechen, aber es war immerhin besser als nichts. Sie würde sich gleich morgen eines kaufen.

Traumland - Reise in eine andere Welt

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