Читать книгу Vorsprung für alle! - Catherine Walter-Laager - Страница 6

3
Skepsis und Kritik

Оглавление

Kann nun durch frühpädagogische Angebote Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit überhaupt erreicht werden? Obwohl international vielfach untersucht, gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Frühe Förderung zeigt sowohl bei privilegierten wie nichtprivilegierten Kindern eine gewisse Wirkung, beispielsweise kognitiv oder sprachlich. Ob aber benachteiligte Kinder vergleichsweise größere Fortschritte machen (was in Richtung des Ziels der Chancengleichheit gehen würde), hängt von vielen Bedingungen ab und kann nicht eindeutig beantwortet werden (Betz 2010; Burger 2010; Rabe-Kleberg 2010).

Es gibt verschiedene kritische Einwände. Erstens wies der Soziologe Pierre Bourdieu bereits in den 1960er-Jahren nach, dass der Zugang zu höherer Bildung eng mit der sozialen Herkunft zusammenhängt. Über Erfolg und Misserfolg im Bildungswesen bestimmt demnach maßgeblich das familiäre Milieu, in dem man von klein an aufwächst (Bourdieu & Passeron 1971). Die Schule setzt zweitens gewisse Grundkenntnisse, Techniken und Ausdrucksmöglichkeiten bereits voraus (z.B. in Bezug auf Sprachkenntnisse). Kinder, die diese Grundlagen schon zu Hause erworben haben, sind deshalb in der Schule im Vorteil, oder anders ausgedrückt: Die Schule belohnt die privilegierten Schülerinnen und Schüler aufgrund ihres Vorwissens. Entscheidend sind hier aber nicht nur konkrete kognitive oder sprachliche Fähigkeiten, sondern vor allem auch der «schulische Habitus», so beispielsweise die Fähigkeit, sich in die Klasse einzufügen, Rollen einzunehmen oder über längere Zeit fokussiert bleiben zu können. Dies haben benachteiligte Kinder weniger verinnerlicht (ebd.). Drittens wird argumentiert, dass Lehrpersonen auf ungleiche Lernvoraussetzungen von Kindern häufig mit Ungleichbehandlung reagieren. Jenen mit besseren Ausgangsbedingungen verschaffen sie zusätzliche Vorteile durch bessere Lernmöglichkeiten.3 Aus dieser Perspektive werden bestehende herkunftsspezifische Ungleichheiten durch die Schule nicht abgeschwächt, sondern sogar noch verstärkt (Heid 1988; vgl. Sturm 2013). Angesichts solcher Erkenntnisse bezeichnet Bourdieu Chancengleichheit insgesamt als «Illusion» (Bourdieu & Passeron 1971).

Was bedeutet das nun für die Zeit vor dem Schuleintritt? Die Kinder werden schon früh durch die Verhältnisse und Gepflogenheiten in ihrer Familie sozialisiert. Gemäß den obigen Annahmen wird der vererbte familiäre Habitus dann in der Schule bedeutsam: Die Unterschiede zwischen den Kindern werden größer. Aber bereits in Spielgruppen, Kindertagesstätten und Kindergärten ist es wahrscheinlich, dass die unterschiedlichen Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, unterschiedlich bewertet und anerkannt werden. Es gibt Hinweise darauf, dass Erziehende anders mit privilegierten Kindern umgehen als mit benachteiligten (Betz 2010; Rabe-Kleberg 2010). Dies kann beispielsweise aus der Logik hervorgehen, dass es Erzieherinnen und Erziehern als lohnenswerter erscheint, Kinder zu fördern, welche in ihrer Entwicklung bereits weiter fortgeschritten sind. Als Erklärung dafür können zwei Gründe angeführt werden: Erstens ist denkbar, dass diesen fortgeschrittenen Kindern von den Erzieherinnen und Erziehern mehr Potenzial zugeschrieben wird, welches durch zusätzliche Förderung ausgeschöpft werden soll. Und zweitens: Geht man davon aus, dass weiter entwickelte Kinder bereits zu Hause eine gewisse Förderung erfahren haben, kann von den Eltern dieser Kinder angenommen werden, dass sie die Weiterführung dieser Förderung erwarten. Da es Erzieherinnen und Erzieher – so die Annahme – möglichst vermeiden wollen, diese Erwartungen der Eltern zu enttäuschen, werden sie deren Kinder eher fördern als solche, deren Eltern mit weniger Erwartungen auftreten. Ein solches pädagogisches Handeln kann aber auch auf der Haltung «entwicklungsangepasster Förderung» fußen. Diese postuliert, dass alle Kinder eine anregungsreiche Umgebung brauchen. So erhalten Kinder, die einen hohen Lern- und Entwicklungsstand aufweisen, noch zusätzliche Unterstützung oder Angebote und bauen damit ihren Entwicklungsstand weiter aus. Obwohl nicht beabsichtigt, können sich auch durch diese Haltung die Entwicklungsunterschiede zwischen den Kindern noch verstärken.

Um eine hohe Wahrscheinlichkeit auf einen guten Start in die Schule zu haben, ist neben guten kognitiven und sozialen Voraussetzungen zudem der erwähnte schulische Habitus von großem Vorteil (Isler & Künzli 2010). Auch der Kindergarten stellt gewisse Anforderungen an die Kinder, etwa bezüglich der Spielkultur. Bildungsnahe Familien, so die Annahme, vermitteln ihren Kindern bereits früh die nötigen Fähigkeiten, um sich in Kindergarten und Schule zurechtzufinden. Dies kann mit ein Grund dafür sein, dass benachteiligte Kinder schon im Kindergarten mehr Mühe haben, den Einstieg zu finden, was bis weit in die Schulzeit hinein negative Auswirkungen haben kann.

Neben der Skepsis, ob Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit erfüllt werden kann, gibt es auch grundsätzlichere Kritik daran, diese überhaupt anzustreben. Diese Kritik setzt unter anderem an bei den Vorstellungen davon, was Begabungen und Fähigkeiten sind. Eine Begabung kann nicht einfach als gegeben betrachtet werden, sie wird einem Kind zugeschrieben, etwa von Erziehenden oder Lehrpersonen. Dabei ist die Herkunft des Kindes nicht unwichtig. Kommt es aus einem bildungsnahen Elternhaus, wird es eher als begabt angesehen, seine Fähigkeiten gelten eher als Begabungen. Es hat beispielsweise früh gelernt, sich differenziert auszudrücken, weshalb ihm viel sprachliches Potenzial attestiert wird. Fähigkeiten und Ausdrucksformen von benachteiligten Kindern und die Bildungs- und Förderleistungen ihrer Herkunftsfamilien werden demgegenüber weniger als Begabungen erkannt – und implizit abgewertet. Dies führt dazu, argumentiert Bourdieu, dass geerbte soziale Privilegien im Bildungswesen in «Begabungen» oder individuelle Verdienste umgedeutet und dadurch soziale Ungleichheiten im Bildungswesen verfestigt werden (Bourdieu & Passeron 1971).

Das Leistungsprinzip bildet einen weiteren Ansatzpunkt für Kritik. Gemäß dem Erziehungswissenschaftler Helmut Heid setzt es voraus, dass etwas aufgrund von Kriterien als Leistung bewertet wird. Diese Kriterien werden von denjenigen festgelegt, die vom Leistungsprinzip profitieren und dadurch ihre sozial höhere Position in der Gesellschaft rechtfertigen können. Diese Kritik zielt in eine ähnliche Richtung wie zuvor bei den Begabungen: Es hängt von der sozialen Herkunft des Kindes ab, ob etwas, das es tut, als Leistung erkannt und anerkannt wird (Heid 2012). Ein privilegiertes Kind lernt beispielsweise früh, seine aktuellen Bedürfnisse zugunsten eines entfernten Ziels, etwa einer guten Note, zurückzustellen (Ryffel 2010); seine Schulleistung wird deshalb langfristig vergleichsweise besser bewertet werden. Was benachteiligte Kinder tun, wird demgegenüber weniger mit Leistung in Verbindung gebracht. Diese Zusammenhänge werden aber häufig übersehen, weil das Leistungsprinzip irrtümlicherweise als universal und herkunftsunabhängig gilt (Heid 2012). «Leistung» entscheidet in einer meritokratischen Gesellschaft mehrheitlich darüber, wer Zugang zu weiterführender Ausbildung erhält. Das wiederum hat Konsequenzen für Berufswahlmöglichkeiten, den erreichbaren sozialen Status und generell die späteren Lebensbedingungen. Nur wegen des Leistungsprinzips erscheint es als legitim und gerecht, dass das Bildungswesen Selektion betreibt und damit einen so bedeutenden Einfluss darauf hat, was aus einem Menschen einmal werden kann (Bellenberg 2010). Geht man aber davon aus, dass Leistung herkunftsabhängig verschieden bewertet wird, erscheint diese Legitimität infrage gestellt.

Die Frage, wie man mit sozialer Ungleichheit umgehen soll, ist in pädagogischen Kontexten hoch relevant. Es wird gemeinhin angenommen, dass bei größerer Chancengleichheit im Bildungswesen die soziale Ungleichheit weniger ausgeprägt ist. Heid (1988) hält diese Annahme für falsch. Er argumentiert sogar, dass das Gegenteil der Fall sei: Wer Chancengleichheit fordert, nimmt Ungleichheit in Kauf, ja rechtfertigt sie sogar. Das Bildungswesen hat unter anderem die Funktion, seinen Absolventinnen und Absolventen gesellschaftliche Positionen zuzuteilen. Wenn Chancengleichheit herrscht, bedeutet das nur, dass mehr Personen um die gleiche Anzahl «guter Plätze» (also beispielsweise gute Ausbildungen oder gut bezahlte Arbeitsplätze) buhlen. Die Konkurrenz nach Ende der obligatorischen Schulzeit wird also verstärkt, ohne dass etwas an der Logik der Positionszuteilung verändert worden wäre.4 Dass alle gleiche Chancen haben (sollen), bedeutet auch, dass nur ein Teil von ihnen ihre Chance auch nutzen können. In der Forderung nach Chancengleichheit, sei es beim Schulstart oder am Ende der Schulzeit, steckt also immer auch die Annahme, dass es nicht alle schaffen können und dass viele scheitern (müssen). Der Entscheid über Erfolg und Misserfolg in der Bildung wird individualisiert: Jede und jeder scheint es aus eigenem Antrieb zum Beispiel an die Universität schaffen zu können, da ihr und ihm ja die Chance dazu geboten wurde.5 Weil auch die Gescheiterten eine (gleiche oder gerechte) Chance hatten, wird ihr Scheitern als gerechtfertigt wahrgenommen, und sie müssen sich mit einem wenig einträglichen Beruf und geringeren Lebenschancen begnügen. Chancengleichheit im Bildungswesen bewirkt und rechtfertigt auf diese Weise soziale Ungleichheit, obwohl sie ursprünglich zum Ziel hatte, diese zu verringern (Heid 1988; Ryffel 2010; Böhm 2005; Rolff 1989).

Vorsprung für alle!

Подняться наверх