Читать книгу Amor ist auf den Hund gekommen - Christa Mollay - Страница 4

Auftakt zum Inferno

Оглавление

Beide nahmen an der Bibelrunde teil und auch bei vielen karitativen, gemeinsamen Bastelarbeiten war man einander näher gekommen.

Die Frauen hatten sofort einen guten Draht zueinander verspürt und waren sich immer darüber einig, wer von den anderen Basteltanten zu wenig machte, wer, was auch immer, nicht richtig tat und wer überhaupt hier in der frommen Runde deplatziert war.

Es wäre schön gewesen, hätten im Bibelkreis alle Mitglieder über intellektuelles Niveau verfügt.

Aber da war unter anderen auch eine Supermarktkassiererin oder eine Fabrikarbeiterin.

Entsetzlich! Wie sollte da ein hochgeistiges Gespräch möglich sein?

Margarethe war fasziniert von dem Gedanken aus Walter und Berta ein Paar zu machen.

Sie hätte eine Traumschwiegertochter, was wollte man, oder besser gesagt, sie, mehr.

Mama Klein überredete Walter sie zum demnächst stattfindenden Pfarrheurigen zu begleiten.

Den Erlös sollte einer alleinstehenden Mutter zugute kommen.

Berta und Margarethe hatten sich darüber mokiert, nicht laut, nur untereinander.

Die hätte sich eben einen anständigen Mann aussuchen müssen!

Aber man war ja kein Unmensch.

Margarethe hatte gebacken und Brote geschmiert und er sollte sie hinfahren, da sie ja nicht alles alleine tragen konnte.

Margarethe hatte Glück.

Zunächst zeigte sich Walter bockig.

Eigentlich wollte er sich mit einer Kollegin verabreden, aber die hatte ihm einen Korb verpasst. „Schöne Männer hat man nie alleine“, hatte sie gemeint und noch etwas von kollegialer Freundschaft gefaselt, über die sie nicht hinausgehen wolle.

Eine Wohnung, die er wieder einmal im Visier hatte, schnappte ihm ein anderer vor der Nase weg.

Der Tag war also sowieso schon beschissen.

Wer konnte ahnen, dass es noch schlechter kommen sollte.

Der Pfarrer begrüßte den so vorbildlichen Sohn herzlich und von der Seite pirschte sich im grauen Flanellkostüm, mit weißer, gestärkter Bluse, das brünette Haar zu einer strengen Frisur mit Taft gebändigt, seine Zukünftige heran.

Mit ihren bald dreißig Jahren breitete sich schon eine leichte Torschlusspanik aus.

„Walter!“, rief Mama Klein euphorisch aus, „das ist Berta, von der ich dir schon so viel erzählt habe!“

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, sagte der ahnungslose Walter.

Eine höfliche Floskel.

Walter hatte keine Ahnung, wer die Gute war.

Anscheinend hatte er bei den Erzählungen über Berta wie so oft abgeschaltet und nur wie üblich mit: „aha, oh, sehr interessant“, geantwortet.

Beide Frauen lächelten ihn erwartungsvoll an.

Die von Margarethe Auserwählte zeigte dabei ihre beeindruckend großen Vorderzähne.

Walter fiel bei diesem Anblick das Pferd ein, das er als Bub im Urlaub immer so gerne gefüttert hatte.

Die Stute hieß auch Berta.

Wohlerzogen versuchte er eine Konversation zu beginnen.

Im Unterricht hatten sie erst kurz zuvor Vornamen besprochen.

Daher konnte er mit seinem Wissen zu Berta gewandt, bemerken: „Sie haben einen interessanten Vornamen.

Berta kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet die Glänzende.“

Ein zartes Rot färbte die Wangen der Glänzenden und dann wieherte sie.

Ihr Lachen erinnerte an ein Wiehern.

Walter hoffte, dass sein Zusammenzucken unbemerkt geblieben war.

Berta und Margarethe gingen, Arm in Arm, auf ihren Stand zu, und forderten Walter auf, mitzukommen.

Der hatte aber wenig Lust sich zu Mama und dem weiblichen Fury zu gesellen und gab vor, sich auch noch anderswo umsehen zu wollen. Um den Nachmittag etwas entspannter zu erleben, steuerte er den Tisch mit den Weinen, den Spirituosen und dem Salzgebäck an.

Walter verrichtete großzügig seinen Obolus, immerhin kamen auch alle Einnahmen einer bedürftigen Familie zugute.

„Ein Vierterl Roten“, bestellte Walter.

Der Mundschenk, mit verdächtig roter Nase, grinste ihn hoffnungsvoll an.

Walter verstand.

„Darf ich Ihnen auch ein Gläschen spendieren?“; fragte ihn Walter.

Er durfte.

„Exi Pexi, wie wir Lateiner sagen!“, prostete der Mundschenk Walter zu und mit einem großen Schluck verschwand die rote Flüssigkeit.

Walter trank auch aus.

„Auf einem Bein kann man schlecht stehen, trinken wir noch eines?“, meinte Walter.

„In vino veritas!“, pflichtete ihm der Lateiner bei.

„Exi Pexi?“

„Exi Pexi!“

Zu den beiden Männern gesellte sich eine junge, hübsche Dame.

Walter war gleich besser aufgelegt und in Geberlaune.

Er lud erneut den Sprachbegabten und auch die nette Lady ein.

Die Hübsche mochte keinen Wein und wollte lieber den selbst gebrannten Obstler des Herrn Pfarrer kosten.

Der hatte es in sich.

Und weil man da auch schwer auf einem Bein stehen konnte, goss man auch da sicherheitshalber einen nach.

Der Mundschenk hatte eine Seelenverwandtschaft zu Walter erkannt und wollte sich nicht lumpen lassen.

Er tauschte die Schnapsgläser gegen Achtelgläser aus und schon hieß es: Prost! So jung und so schön kommen wir nicht mehr zusammen!“

„Exi Pexi?“

Exi Pexi!“, tönte auch die weibliche Mittrinkerin.

Die beiden hatten anscheinend denselben Lateinprofessor gehabt.

Eine streng blickende Frau kam hurtigen Schrittes auf den Stand zu und zischte dem rotnäsigen Seelenverwandten ein böses: „Hör auf zu saufen, du widerliche Schnapsdrossel!“ zu.

Der antwortete mit bereits etwas schwerer Zunge: „Das waren Spenden!“

„Spenden!“

Die Frau ging wütend zu Margarethes Stand.

„Du alter Alligator!“, rief ihr Mann, sicherheitshalber leise, seiner Angetrauten nach.

„Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, trällerte Exi Pexi, nach dem seine Gattin aus seinem Blickfeld verschwunden war, und wechselte dann zu dem tiefsinnigen Trinklied: “Einer geht noch, einer geht noch rein!“, während er die Gläser wieder füllte.

Bald war aber der frohe Umtrunk zu Ende.

Margarethe, im Gefolge Berta und Alligator, entfernte Walter aus seinem neuen Freundeskreis.

Walter hörte noch wie der Mann der Riesenechse rief: „Früher hat man mit dem Drachen gekämpft und die Jungfrau geheiratet, heute gibt es keine Jungfrauen mehr und man muss gleich den Drachen heiraten.“

Mit diesem Statement war sein Sozialdienst beim Pfarrfest Geschichte.

Berta blickte säuerlich zu Walter.

Hatte ihr Margarethe verschwiegen, dass ihr Sohn dem Teufel Alkohol zugetan war?

Margarethe schimpfte: „Der Leitner will immer saufen und dann zwingt er die Leute regelrecht dazu und lässt sich auch noch alles bezahlen.

Du hättest gehen müssen, Walter!

Wie kommst du dazu?

Du bist Professor, Akademiker!

Der ist Lagerist!

Ich sag ja immer, eine Gruppe sollte homogen sein. Jetzt siehst du, was da rauskommt!“, meinte sie noch zu Berta gewandt.

Berta nickte zustimmend.

Also war der arme, prinzipiell unschuldige Walter genötigt worden.

Sozusagen eine alkoholische Vergewaltigung.

„Ich möchte jetzt auch gehen, Walter, es strengt mich doch zu sehr an! Bring mich bitte nach Hause!

Ich habe die liebe Berta für morgen zum Essen eingeladen, freust du dich Walter?“

Die nicht unerheblichen Promille hatten in Walter eine gewisse Heiterkeit ausgelöst.

„Selbstverständlich freue ich mich sehr, Sie morgen zu sehen, verehrte gnädige Frau“, grinste Walter und es gelang ihm sogar ein formvollendeter Handkuss.

„Anscheinend ist der Feschak doch nicht so verkehrt“, dachte Berta

„Er braucht halt eine feste Hand“.

Berta zog freudig die Oberlippe hoch. Die beiden riesigen Vorderzähne leuchteten ihm entgegen.

Damals erinnerte sie Walter an Roger Rabbit. Und später an das Wort ‚Raffzahn’.

Berta war die Mutter des Begriffes Raffzahn, davon war er zu hundert Prozent überzeugt.

Zu Margarethe gewandt fragte er: „Was gibt es denn Gutes, liebe Mama? Pferdeleberkäse oder falscher Hase?“

„Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn, natürlich gibt es morgen etwas Besonderes!“, entrüstete sich Margarethe.

Walter wankte mit Mama nach Hause.

Das Auto musste er stehen lassen.

Vor der Haustüre stand Alex.

Sein bester Freund seit der Volksschule und der, den er seinerzeit wegen der Bacardiflaschen nicht verpfiffen hatte.

Alex hatte ihm dafür lebenslange Treue geschworen.

Mama Klein sah diese Freundschaft nicht gerne.

Alex studierte noch immer.

Er wollte Gynäkologe werden.

Margarethe war er, wenn auch nicht nur deswegen, mehr als suspekt.

„Walter, alte Hütte, ich habe dich nicht am Handy erreicht! Gehst du mit um die Ecke auf ein Getränk?“, forderte Alex seinen Freund auf.

Cafe Uschi, das Stammbeisl der beiden, war Margarethe ein Dorn im Auge.

Eine Spelunke, unterstes Niveau!

„Walter hat keine Zeit! Wir bekommen morgen Besuch!

Es ist auch schon spät!“, erklärte Margarethe unterkühlt.

Alex blickte mit gerunzelter Stirn auf die Uhr.

„Es ist 20:30, liebe Frau Professor, ich denke ein Tässchen Tee zur Guten Nacht, sollte noch erlaubt sein“, flötete Alex so charmant wie nur möglich.

Alle Proteste nutzen nichts.

Alex schleppte ihren labilen Sohn mit.

„Der braucht endlich eine anständige Frau! Eine, die ihm die Zügel straff zieht. Ich bin zu schwach dafür, mein Herz!“, dachte Margarethe, während sie den beiden griesgrämig nachblickte.

Und sie blieb wieder mit der ganzen Arbeit alleine!

Alex hatte zwei fesche Girls aufgerissen. So wie es aussah, waren beide auch sehr unkompliziert.

Aber zwei von so einer Sorte waren selbst für den Womanizer Alex zu viel.

Wie gut, dass Walter für solche Einsätze des Öfteren griffbereit war.

Im Cafe Uschi standen die zwei Frauen eng umschlungen an der Theke und sangen.

Alex rief: „Da bin ich wieder und schaut, wen ich mitgebracht habe!

Das ist Herr Professor Doktor Walt Little!“

Die zwei prusteten los.

„Und ich bin Kleopatra und das ist Delilah!“, stellten sie sich vor.

Anscheinend glaubten sie nicht einen angehenden und einen fertigen Akademiker aufge-gabelt zu haben.

„Uschi-Muschi, schenk uns vier Hirnpreller ein“, bat Alex die Wirtin.

Ein Hirnpreller war ein Teufelsgesöff aus Wodka, Gin und Tequila.

Nach dem dritten Hirnpreller fragte Walter eine der Schönen, was sie heute denn noch so vorhatten.

Falls sie das planten, was auch in seinem Sinne war, sollte zumindest er, mit der Sauferei aufhören.

Seine Potenz litt ab zwei Promille.

Er hatte da schon einige ungute Erfahrungen damit gemacht.

Aber die Eine war echt scharf.

Der kleine Walter in der Lendengegend schien noch topfit zu sein und wollte aktiv werden.

Die Auserkorene kniff in seinen Hintern und gemeinsam mit ihrer Freundin stimmten sie ein Liedchen an.

„Baby, lass dich erst mal liften, stell dich bitte nicht so an, du hättest einen geilen Hintern, aber jetzt ist noch zu viel dran!“

Aber gleich tröstete sie ihn auch wieder.

„Professor, Doktor, du brauchst dich nicht liften lassen, du hast einen Knackarsch!“

„Soll ich ihn dir zeigen?“, flötete er Kleopatra ins Ohr.

Aber Delilah und Kleopatra gelüstete es zunächst nach weiterer Hirnnahrung.

Walter hielt sich zurück.

Die ägyptisch Angehauchte kippte auch sein Getränk freundlicherweise weg.

„Und wo gehen wir vier Hübschen jetzt hin?“, drängte Walter.

Kleopatra bot ihr Bettchen an.

Da hatte man zur Not auch zu viert Platz.

Delilah winkte ab.

Sie umarmte ihre Freundin und flüsterte, aber nicht leise genug, in deren Ohr.

Walter verstand: „Hast du noch die Kitzmäuse?“

Kitzmäuse?

Ihm als alten Germanisten war dieses Wort fremd.

Vielleicht meinte sie Kiezmäuse?

Zu Kiez fielen ihm gleich Hamburg und die Reeperbahn ein.

Also war das sicher etwas Anrüchiges!

Da war er nicht abgeneigt.

Er begann zu grübeln und mitten in seinen wissenschaftlichen Überlegungen riss ihn Alex von der ägyptischen Königin weg.

„Komm, Walter wir müssen noch schnell zum Bankomat!“, drängte Alex.

Walter war verwirrt.

„Ich glaube, ich habe noch genug eingesteckt, außerdem können wir bei Uschi-Muschi anschreiben lassen“, beruhigte er seinen Freund.

„Egal, komm wir holen noch Nachschub!“

Alex zerrte den Widerspenstigen nach draußen.

„Wir kommen gleich wieder!“, rief er den Damen zu.

Uschi-Muschi zeigte Alex den Stinkefinger, weil er die Tierfreundinnen bei ihr zurückließ.

„Walter, spann ein und leg einen Schritt dazu! Hast du das nicht mitbekommen?“, schubste Alex seinen Freund vor sich her.

„Die hat Sackratten!

Das ist eine verteufelte Geschichte, da wedel ich mir lieber selber einen von der Palme!“

„Die Ratten wird sie ja wohl in einem Käfig haben“, rebellierte Walter.

„Außerdem hat sie was von Mäusen gesagt!“

„Walter, du Trottel!

Die hat Pthiriasis!“

„Und? Nobody is perfect!“, nahm Walter Kleopatra in Schutz.

„Kiezmäuse!“, beharrte Walter bockig.

„Filzläuse!

Nicht Kiezmäuse! Du hast nicht richtig verstanden“, korrigierte ihn der Mediziner in spe erneut.

„Komm, wir fahren in die City und reißen uns neue Bräute auf!“, meinte der noch am saturday night fever interessierte Alex.

Aber Walter hatte für heute die Schnauze voll.

Er wollte in die Badewanne.

Irgendwie juckte es ihn jetzt überall.

Als er zu Hause angekommen war und nach oben stolperte, sah er, wie die untere Nachbarin wieder einmal die Tür einen Spalt öffnete, um das Geschehen im Haus besser beobachten zu können.

„Guten Abend, liebe Frau Motzbär!“, grüßte er höflich und deutete eine Verbeugung an.

Die Tür fiel hart ins Schloss und dahinter tat Frau Modspeer ihren Unmut kund.

Dieser Hammel sprach immer ihren schönen, aus dem Französischen kommenden Namen so blöd aus.

Und so etwas schimpfte sich Professor!

Zuhause war seine Mutter trotz vorgerückter Stunde noch am Werken.

Das weiße Haar auf Lockenwickler gedreht, das Gesicht mit Feuchtigkeitsmaske zu gekleistert, polierte sie im Esszimmer verbissen das Familiensilber für das bevorstehende Mittagsmahl.

Walter ließ Badewasser einlaufen.

Seinen Magen gelüstete es, nachdem er die letzten Stunden nur Flüssiges bekommen hatte, nach fester Nahrung.

Irgendetwas Fleischiges, Scharfes.

„Mama, kannst du mir was zu essen machen?“, fragte er hoffnungsvoll aus dem Bad.

Er bekam aber nur eine Tirade aus Klagen über den missratenen Sohn zu hören.

Das füllte jetzt nicht wirklich seinen Magen.

„Auch gut! Selbst ist der Mann“, murmelte Walter und inspizierte die Speisekammer.

Wenn er demnächst auszog, würde er sich ohnehin meist selbst verköstigen müssen.

Neben dem Marmeladenglas fanden sich auch einige Dosen.

Walter frohlockte.

Rindergulasch!

Und daneben in einem Körbchen lagen auch Pfefferoni- und Chilischoten.

„Perfekt“, dachte er.

„Gulasch wärmen und dann Chili darüber, Semmeln dazu, herrlich!“

Er stellte gleich zwei, mühsam mit dem schärfsten Messer, da er den Dosenöffner nicht finden konnte, aufgesäbelte Dosen in die Mikrowelle und stieg dann in die Wanne.

Wohlig warm umspülte ihn das Wasser.

„Deinen Dreck räumst du aber selber weg!“, hörte er seine Mutter, die in die Küche gekommen war, um das große Silbertablett zu holen, Richtung Bad rufen.

Walter tauchte unter, um dem durch die Tür dringenden Gemecker ein wenig zu entkommen.

Dann war auf einmal diese Explosion.

Ein ohrenbetäubender Knall.

Walter tauchte verstört auf.

Er konnte den Lärm gar nicht zuordnen.

Dazu der gellende Aufschrei seiner Mutter, schrill, immer und immer wieder: „Hilfe, Hilfe, Hilfe!“

Walter hechtete aus der Badewanne und schlitterte nackt in die Küche.

„Hilfe, Hilfe, Hilfe!“, schrie seine Mutter, zusammengekauert in einer Ecke auf dem Boden, noch immer.

Die Mikrowelle hatte keine Türe mehr, dafür brannte ihr Inneres.

Das Rindergulasch zierte Wände und Küchenkästen.

Walter rannte in den Flur und riss den Feuerlöscher samt der Verankerung von der Wand.

Zum Glück hatte er bei der letzten Brandschutzübung in der Schule noch genauer mitbekommen wie dieses Gerät zu betätigen war.

Seine Mutter krächzte nur mehr: „Hilfe, Hilfe, Hilfe!“

Die Flammen waren rascher gelöscht, als Walter befürchtet hatte.

In Ermangelung anderer, schnell greifbarer Kleidungsstücke, band sich Walter die Schürze seiner Mutter um, die neben dem Kühlschrank hing, bevor er sich ihrer annahm.

‚Komm Herr, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast’, war auf der ehemals blütenweißen Schürze, die ebenfalls etliche Gulaschspritzer abbekommen hatte, zu lesen.

Ein liebevolles, erstes Geschenk an Margarethe von Berta, die penibel den frommen Wunsch gestickt hatte, als sie erfuhr, dass Margarethe einen potentiellen Heiratskandidaten bei sich beherbergte.

Ein wenig erinnerte Walter an den Hauptdarsteller aus dem Horrorfilm ‚Der Schlächter’, der auch immer nackt, nur mit einer weißen Schürze bekleidet, sein Unwesen trieb.

Seine Mutter zitterte am ganzen Körper und konnte: „Hilfe, Hilfe, Hilfe!“, nur mehr wimmern.

Die Feuchtigkeitsmaske war zum Teil abgebröckelt, darunter hatte das Gesicht die gleiche weiße Farbe angenommen.

Weit aufgerissen und schwarz vor Panik, funkelten die Augen darin.

„Mama, reg dicht nicht auf, es ist schon wieder alles in Ordnung“, versuchte Walter, dem der Schreck auch noch in allen Gliedern saß, seine Mutter zu beruhigen.

„Ich habe blöderweise das Gulasch samt der Dose in den Mikroherd gestellt“, erklärte er ihr.

„Das war anscheinend keine gute Idee. Alles ist wieder ok, Mama!“

Er strich ihr über das Haar.

Margarethes Blicke schweiften wirr zu den Trümmern der Mikrowelle und dem Geklecker aus Gulaschsaft und Löschschaum.

Keine Reaktion.

„Möchtest du ein Glas Wasser?“

Mama Klein aber hatte die Sprache verloren.

„Soll ich dir deine Herztropfen holen?“, fragte der ratlose Sohn.

Keine Antwort.

Ihr Blick war fassungslos auf die türlose, geschwärzte Mikrowelle gerichtet.

Frau Motzbär wiederum war keine Nachbarin, die wegschaute oder weghörte wenn sich Übles abspielte.

Gleich nach dem Lärm, der sie binnen einer Sekunde senkrecht im Bett stehen ließ, betätigte sie sofort alle drei Notrufe.

Polizei

Rettung

Feuerwehr

Der gestörte Sohn hatte seine Mutter erschossen, davon war Frau Modspeer hundertprozentig überzeugt.

Dem Krach nach, sicher mit einer Pumpgun.

Jemand der einen französischen Namen derart verunstaltet, dem war alles zuzutrauen, der hatte kein Gefühl, der war ein Barbar!

Die Ersten vor Ort waren die Polizeibeamten.

Zwei Einsatzwägen mit Blaulicht.

Fünf Mann hoch.

Frau Motzbär stand bereits, Sensation heischend, bei der sperrangelweit geöffneten Eingangstür.

Der Anblick der Uniformierten jagte erregende Schauer über ihren Rücken.

Sie eilte mit den Beamten nach oben, wurde aber zurück in ihre Wohnung verwiesen.

Einerseits war sie darüber mächtig sauer, andererseits war sie gerührt, dass man sich so um ihre Sicherheit sorgte.

Also bezog sie wohl oder übel hinter der Tür wieder ihre Stellung.

Vom oberen Stockwerk hörte sie ein barsches: „Polizei machen sie sofort auf!“

Die Polizisten läuteten Sturm, trommelten mit den Fäusten auf die Tür und wiederholten lautstark ihre Aufforderung.

Frau Motzbär hielt es nicht mehr aus.

Sie wagte sich bis zum Stiegenaufgang und riskierte einen Blick nach oben.

Zwei Beamte erspähte sie, die Pistolen auf die Tür gerichtet.

Dieser Anblick erschreckte sogar die sonst so Neugierige zutiefst.

Schnell stob sie in ihre Wohnung und verbarrikadierte sich im Wohnzimmer hinter dem großen Ohrensessel.

Oben nahmen Margarethes Stimmbänder ihre halbwegs wieder genese Funktion auf und sie stimmte ein neuerliches: „Hilfe, Hilfe, Hilfe!“, an.

Walter, mittlerweile stocknüchtern, überlegte blitzschnell, dass es kein guter Entschluss wäre, nicht aufzumachen.

Er eilte zur Tür rief: „Ja, ja, ich komme schon!“

Als Walter öffnete blickte er kurz in die Mündung einer Pistole GLOCK 17.

Nur eine Sekunde später lag er schon, mit auf den Rücken gedrehten Armen, auf dem Boden.

Zusätzlich fixierte ihn ein, gefühlte zweihundert Kilo schwerer, Freund und Helfer.

Walter lag bewegungsunfähig da.

Im Schürzchen, mit blankem Hintern.

Dass er nicht wirklich vertrauenerweckend aussah, leuchtete ihm schon ein.

Während er noch immer im Vorzimmer flach darniederlag, traf der Notarzt ein.

Der schien, nach für Walter gefühlten Ewigkeiten, Licht ins Dunkel zu bringen.

Endlich hieß es zum Rückenknier: „Alles ok, du kannst loslassen!“

Walter sah, dass sich die Polizisten nur mit Ach und Krach das Lachen verbeißen konnten.

Der ebenfalls erheiterte Notarzt und seine Crew nahmen Margarethe sicherheitshalber mit.

Die stand sichtlich unter Schock.

Mama Klein war der Spaßfaktor dieser Aktion verborgen geblieben.

Last but not least kamen dann auch noch die Florianijünger.

Die checkten in der Küche, dass jede weitere Brandgefahr ausgeschlossen werden konnte.

Die Burschen waren humorloser.

Denen entkam nicht das geringste Grinsen.

Dann nahmen Polizei und Feuerwehr die Personalien auf.

Die Feuerwehrmänner warfen Walter noch ein verächtliches: „Den Einsatz bezahlen sie selber!“, zu.

Und beim Abgang hörte Walter noch: „Ferry, ich sag’s dir, es gibt mehr Trotteln als Bürgermeister.

Der Trottolüt zieht sich nackt ein Schürzchen über und jagt dann die Mikro in die Luft! Und so was unterrichtet Kinder!“

Die Aufregung hatte Walter sein anstößiges Outfit vergessen lassen.

Als endlich alle Retter weg waren, hörte er die Hausbesorgerin im Erdgeschoss nach oben röhren: „Ich habe schon vor Jahren! erkannt, dass der Klein eine kriminelle Energie hat!“

Also, dass im Haus nicht alle informiert würden, zumindest darüber brauchte Walter sich keine Sorgen machen.

Sonntagvormittag, nach einer beinahe schlaflosen Nacht, und nachdem Walter versucht hatte, die Küche halbwegs zu reinigen, machte er sich auf den Weg zu seiner Mutter ins Spital.

Er besorgte einen riesigen Blumenstrauß und hoffte, dass es Margarethe besser ging.

Einige Überraschungen warteten auf ihn.

Er fand seine Mutter, händchenhaltend mit Berta, auf dem Bett sitzend vor.

Zur Begrüßung befahl sie ihm: „Walter fahr sofort nach Hause und bring mir mein Gewand.

Da hast du einen Zettel, da steht alles genau drauf, was und wo du alles findest!“

Walter war verstört.

Stand seine Mutter noch immer unter Schock?

Das gab es doch nicht, dass nach dieser Aktion sie auf eigenen Wunsch das Spital verließ.

Sie, die bei anderen Notarztrufen, wieder nach Hause geschickt oder erst gar nicht mit-

genommen wurde, hatte jetzt die Chance zu bleiben und jetzt wollte sie nicht?

Aber: Margarethe hatte Berta ja ein Essen versprochen und für eine Mutter ist kein Opfer zu groß.

Selbst wenn man sich mit einem Bein bereits im Grab befand, das Glück des Sohnes stand über der eigenen Gesundheit.

Walter fragte sich, wenn sie schon Berta angerufen hatte, warum nicht auch ihn?

Dann hätte er sich einen Weg erspart.

Manches musste ein Mysterium bleiben.

Also machte er sich wieder auf den Weg nach Hause, packte alle Sachen, wie ihm befohlen ein, und fuhr wieder zurück.

Seine Mutter hatte in der Zwischenzeit ihren Entlassungsschein unterschrieben und beide Frauen warteten bereits mit leichter Ungeduld auf Walter.

„Wenn man Männern die Küche überlässt“, wieherte Berta und zwinkerte Margarethe zu.

Margarethe hatte Berta bereits alles erzählt.

Nicht erwähnt hatte sie, dass Walter mit Alex zuvor noch saufen war und dass Walter dann, nackt, nur mit Bertas Schürze bekleidet, von der Polizei überwältigt wurde.

Walter fuhr mit den Damen ins Grüne und suchte als kleine Wiedergutmachung ein feudaleres Restaurant mit Gartenbetrieb aus.

Seine Mutter war noch nicht so wirklich bei Appetit, aber Berta fraß wie ein Scheunen-drescher.

Der trotzdem schlanke Körper war diesmal in ein mausgraues Kostümchen gehüllt. Ton in Ton abgestimmt zur gesamten mausgrauen Erscheinung.

Das brünette Haar konnte, dank dem Turbohaarspray, erneut nicht einmal von einem stärkeren Lüftchen zerzaust werden. Die Hände waren perfekt manikürt.

Eine richtige Dame.

Nur das Reinschaufeln irritierte ein wenig.

Die blauen, dezent geschminkten Äuglein schielten flink von Teller zu Teller.

„Wie schön, wenn eine Frau nicht nur am Salat knabbert, sondern richtig zulangt!“, sagte Margarethe.

Walter war dies egal.

Zumindest bis er bezahlte.

„Berta hat eine kleine Überraschung für dich, eigentlich für uns beide“, verkündete Margarethe geheimnisvoll und tätschelte die Hand ihres Sohnes.

„Oh, wie schön“, sagte Walter und versuchte sein Desinteresse zu verbergen.

„Sie lädt uns nächsten Samstag in die Oper ein.“

„Oh, ich fürchte, da habe ich einen Termin mit meinen Schülern“, verkündete Walter geistesgegenwärtig.

„Auch wegen einer Theateraufführung“, setzte er nach.

Mama Klein sagte schroff: „Dann wirst du diesen Termin eben verschieben!“

Auch Berta blickte pikiert.

Oder der Rieseneisbecher, gemeinsam mit den drei Packungen Waffeln war ihr nicht so wirklich bekommen.

„Nachdem, was er in der Nacht zuvor angerichtet hatte, wollte er seine Mutter nicht schon wieder aufregen und so versprach er ihr, den Termin zu verschieben.

Die beiden Damen wollten gerne einen kleinen Verdauungsspaziergang machen.

Und so lustwandelte man noch im nahen Wäldchen auf schattigen Wegen.

„Nach den gestrigen Aufregungen war das jetzt doch noch so ein schöner Tag.

Ich freue mich schon so auf nächsten Samstag“, schwärmte die mit dem Leben wieder versöhnte Mama Klein.

Und zu Walter gewandt: „Wir sehen den Fliegenden Holländer!“

„Oh, wie schön“, presste der hervor.

Er geleitete die Damen zum Auto und hoffte, dass er Berta gleich nach Hause, wenn schon nicht fliegen, was schneller gegangen wäre, aber wenigstens fahren durfte.

Den Kaffee hatte sie ja ohnehin auch schon im Restaurant getrunken und sogar noch ein Stück Kuchen mit doppelter Portion Schlagobers dazu, runter geschlungen.

Er brauchte dringend Schlaf, nach dem gestrigen Inferno.

Beim Auto angekommen, hielt er seiner Mutter galant die Hintertüre auf, wartete bis sie bequem Platz genommen hatte und schlug die Tür zu.

Dann öffnete er mit einer leichten, charmanten Verbeugung die Beifahrertür für Berta.

Berta bleckte geschmeichelt die Zähne.

Vor ihnen parkte soeben ein kleiner, roter Flitzer ziemlich flott ein.

Eine langbeinige, sonnenbebrillte Schönheit entstieg dem Gefährt.

Jeanshotpants und Highheels. Welch erfreulicher Anblick!

Für ihn das erste Highlight des Tages.

Walter vergaß sogar ein wenig seine Müdigkeit.

Leider auch Berta.

Die Augen nur auf die Beauty gerichtet, schmiss er lässig die Türe zu.

Ein nicht definierbares Geräusch lenkte ihn aber ein wenig von dem erregenden Anblick ab.

„Ääärrrg, ääärrrg, uaaau, au, au, au!“

„Walter!“, ertönte aus dem Fond die aufgebrachte Stimme seiner Mutter.

„Ja bitte, Mama?“, fragte er höflich.

„Bist du völlig verblödet!?!

Du hast Berta die Finger eingezwickt!“

Jetzt erst bemerkte Walter das angerichtete Malheur.

Berta klemmte die Finger unter die linke Achsel um mit dem Druck ein wenig den Schmerz zu lindern.

Margarethe konnte sich ihren merkwürdigen Sohn behalten!

Ja, sie hatte oft Torschlusspanik.

Ja, sie wusste, dass das Angebot an guten Männern nicht allzu groß mehr für sie war, aber bevor sie diesen Volltrottel nahm, war es besser noch weiter zu suchen.

Ja, er sah gut aus, aber was hatte sie davon, wenn er sich bei jedem Nuttenarsch wegglotzte.

Walter war die Sache mehr als peinlich.

Auch wenn ihn Berta nicht wirklich interessierte, aber verletzen wollte er nie jemanden.

Weder seelisch, noch körperlich.

Und wieder, es war ja noch nicht lange her, ging es Richtung Spital.

Darauf hatte er überhaupt keinen Bock.

Es würde noch ewig dauern, bis er an der Matratze horchen konnte.

Seine Mutter schluchzte am Rücksitz.

Eine leise Ahnung wuchs in ihr, dass Bertas Interesse an ihrem fragwürdigen Sohn am Verblassen war.

War es ein Wunder?

Berta saß mit zusammengekniffenen Lippen und zornig gerunzelter Stirn, wortlos neben ihm.

Walter zermarterte sich das Hirn, um eine halbwegs plausible Entschuldigung zu erfinden.

Ihm kam in den Sinn, wie gerne seine Mutter über andere herzog.

Auch Berta schien aus ähnlichem Holz geschnitzt zu sein.

Er sagte: „Mein Gott, liebe Berta, sie wissen nicht, wie schrecklich leid mir meine Ungeschicklichkeit tut.

Aber die junge Frau sah einer Schülerin aus meiner Maturaklasse so ähnlich.

Ich bin sogar überzeugt, dass sie es war.

Erstens bin ich mir sicher, dass das Fräulein noch keinen Führerschein hat und zweitens war ich so entsetzt über ihre Aufmachung.

Wie kann man als junges Mädchen, als Gymnasiastin, so herumlaufen!

Ich bin erschüttert, sie können sich nicht vorstellen, wie die Mädchen sich oft kleiden.

Eine Kollegin meinte einmal, die richten sich her wie für den Praterstrich!

Ich verstehe auch die Eltern nicht.

Hätte ich eine Tochter, nie würde ich es erlauben, dass sie so das Haus verlässt!“

Bertas Pochen in den Fingern ließ ein wenig nach und die verhärmten Züge glätteten sich etwas.

„Du musst die Eltern und den Direktor verständigen, Walter, das ist auch deine Pflicht als Lehrer!“, meldete sich Margarethe aus der hinteren Reihe.

„Ja, Mama, das werde ich auch tun, alleine schon wegen Berta“, versprach der anscheinend wieder einmal falsch verdächtigte Sohn.

„Aber ich war so schockiert, da habe ich leider nicht aufgepasst. Ich habe auch genauer hinschauen müssen, weil ich mir wegen der Sonnenbrille nicht so sicher war.“

Berta hatte eine leichte Quetschung.

Nach guten zweieinhalb Stunden Ambulanzaufenthalt durfte er sie endlich nach Hause bringen.

Sein schlechtes Gewissen ließ ihn sagen, wie sehr er sich schon auf den Opernbesuch freue.

Zuhause ging die Jammerei weiter, als Mama Klein ihrer Küche wieder gewahr wurde.

In der kommenden Woche beseitigte ein Maler die Schweinerei und im Nu war es Freitag-abend geworden.

Walter war die ganze Woche zu Hause geblieben.

Seine Mutter hatte ihre Herzprobleme erst so richtig zwei Tage später verspürt.

Am Freitagabend bürstete Margarethe Walters Anzug aus, polierte seine Schuhe, bügelte zum dritten Mal sein Hemd und gerade als sie sich ihrer Garderobe widmen wollte, läutete es an der Tür.

Margarethe öffnete.

Alex stand draußen.

Am liebsten hätte sie die Tür gleich wieder zugeworfen und die Klingel abgestellt.

„Alex, heute ist dein Besuch sehr ungünstig! Wir gehen morgen in die Oper.

Grüß Gott und Auf Wiedersehen!“

„Ich muss Walter dringend sprechen“, ließ sich der aber nicht abwimmeln.

Walter hatte die Stimme seines Freundes gehört und ging zu den Beiden in den Flur.

„Alex, was ist los?“, fragte er seinen sichtlich niedergeschlagenen Freund.

„Mein Vater schickt mich in die Verbannung“, versuchte der zu scherzen.

„Am Sonntag ziehe ich nach Innsbruck und muss dann dort weiter studieren.

Mein alter Herr hat mir jetzt das Messer angesetzt. So nach dem Motto: Entweder oder!

Ich soll bei meinem Onkel wohnen.

Pensionierter General.

Scheiße!“

Margarethes Mundwinkel wanderten immer mehr nach oben.

Die Aussicht, dass Alex, mit seinem schlechten Einfluss, aus Walters Dunstkreis verschwinden würde, stimmte sie so fröhlich, dass sie ihrem Sohn sogar ein kleines Abschiedsgetränk gönnte.

„Aber komm nicht zu spät, du musst morgen fit sein für die Oper!“, ermahnte sie ihren Sohn.

„Oh, Frau Professor, sie besuchen eine Vormittagsvorstellung?“, wollte Alex wissen.

„Was wird gespielt?

Humperdincks Hänsel und Gretel?

Eine Kindervorstellung?“

Trotz des bevorstehenden, schweren Abschieds hatte sich Alex seinen Humor bewahrt, für den sich Margarethe aber nie hatte erwärmen können.

„Wir haben Karten für den Fliegenden Holländer, natürlich am Abend!“ berichtigte ihn Margarethe gereizt.

Alex und Walter marschierten ins Cafe Uschi.

Uschi war zunächst noch sauer, weil die Beiden beim letzten Besuch die Kiezmäuse nicht mitgenommen hatten, sie jedoch sehr wohl mitbekommen hatte, was der Grund dafür war.

Als ihr Alex erzählte, dass man sich jetzt längere Zeit nicht sehen werde, wurde Uschi-Muschi richtig traurig.

War es, weil sie Alex so mochte oder eher, weil Alex hier oft für sehr guten Umsatz gesorgt hatte.

Uschi- Muschi spendierte eine Runde, dann Walter, dann wieder Alex.

Immer mehr Gäste schlossen sich der sehr emotionalen Abschiedsfeier an.

Nichts ist relativer als die Zeit.

Draußen graute der Morgen und Walter graute vor dem Heimgang.

„Auf uns und auf unsere Freundschaft!“, lallte Alex.

Der harte, übergebliebene Kern der Gäste stimmte in den Trinkspruch mit ein.

„Einen haben wir immer noch getrunken!“, rief Alex, bevor er sich, für längere Zeit zum letzten Mal, im Cafe Uschi auf der Damentoilette übergab.

Die Tür zur Herrentoilette hatte er nicht mehr erwischt.

Egal, er wurde sowieso in näherer oder fernerer Zukunft Gynäkologe.

Uschi rief ein Taxi für Alex.

Walter wohnte ohnehin um die Ecke.

Sich gegenseitig stützend, versprach man einander: “ We’ll meet again, don’t know where, don‘t know when.“

Der erste Taxler fuhr gleich weiter, als er die beiden sah.

Uschi-Muschi musste nochmals telefonieren.

Der zweite nahm Alex mit, kassierte aber gleich eine unverschämt hohe Reinigungsgebühr im Voraus.

Es nutzte auch nichts, als ihn Alex beruhigen wollte und ihm verriet, dass er ohnehin schon eine halbe Stunde zuvor alles von sich gegeben hatte.

„Halt die Ohren steif, Alter!“, winkte Walter dem Taxi nach, bis es aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Mit traurigem, tränenumflorten Blick versuchte er, sobald er seine Heimstatt erreicht hatte, einige Male den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken.

Er passte nicht mehr.

Hatte die alte Hausmeisterkrähe das Schloss in seiner Abwesenheit ausgewechselt?

Ein Streifenwagen hielt an.

Walter wurde es mulmig.

Er erinnerte sich nur allzu gut an die Bodenfixierung.

Nicht schon wieder.

Aber diesmal war es wirklich nur ein Freund und Helfer.

Nachdem er sich ausgewiesen hatte, sperrte der Beamte, mit dem wie durch ein Wunder wieder passenden Schlüssel auf.

Walter schwor, dass er jetzt alles alleine schaffen werde.

Frau Motzbär lief, trotz der frühen Morgenstunde gleich nachdem der Polizist wieder in sein Auto gestiegen war, zur Hausmeisterin.

„Den Klein hat gerade die Polizei stockbesoffen nach Hause gebracht!“

Motzbär und die Hausbesorgerhyäne schlichen gemeinsam in den zweiten Stock um vielleicht mitzubekommen, wie die Begrüßung des Sohnes seitens der vornehmen Frau Professor ausfallen werde.

Margarethe griff sich beim Anblick ihres derangierten Sohnes gleich ans Herz.

Aber der hatte eigene schwere physische Probleme.

„Ich habe mir gedacht, dass dieser verfluchte Alex dich wieder…“

Weiter kam sie nicht.

Walter stürzte auf die Toilette und gab Geräusche von sich, die bis zu Motzbär & Co hinaus drangen.

„Beim nächsten Mal filme ich den und schick das dem Schulinspektor!

Das gehört gemeldet!“, flüsterte Motzbär.

Walter war dem Tode nahe.

„Nie, nie mehr wieder trink ich Alkohol!“, schwor er der Klomuschel, vor der er demütig und reuevoll kniete.

Margarethe zweifelte, ob sie den Verdorbenen bis zum Abend wieder halbwegs annehmbar herrichten könne.

Normalerweise saugte sie beharrlich vor Walters Zimmer Staub, wenn dieser länger unterwegs gewesen war.

Das wollte sie diesmal unterlassen.

Der brauchte Schlaf.

Er musste in wenigen Stunden wieder hergestellt sein.

Walter schaffte doch noch den Weg ins Bett.

Der Abschied von Alex war so promillegetränkt gewesen, der hätte auch den letzten Mohikaner aus den Mokassins geschossen.

Er legte sich hin und schloss erschöpft die Augen.

Sofort drehte sich die ganze Welt um ihn.

Er riss die Augen wieder auf. So war es besser.

Seine Mutter stellte ihm, angewidert, vorsorglich einen Kübel neben das Bett.

Irgendwann fiel er, nachdem er dem Eimer zu seiner Bestimmung verholfen hatte, in einen unruhigen, nicht wirklich erholsamen Schlaf.

Um 15:00 hörte er die liebliche Stimme seiner Mutter.

„Steh auf, du Sargnagel! Du bringst mich noch um!“

Er konnte nicht aufstehen.

Das würde wiederum ihn sofort umbringen.

Ein fürchterlicher Durst brandete ihn ihm.

Seine Mundhöhle war mit Samt ausgelegt, der Kopf hämmerte und die Augen öffneten sich nur zu kleinen Schlitzen.

Die Glieder waren schwer wie Blei.

„Wenn du jetzt nicht sofort aufstehst, nehme ich alle meine Herzmedikamente auf einmal, dann habe ich dieses Elend endlich hinter mir!“, drohte seine Mutter mit bereits hysterischer, weinerlicher Stimme.

Walter erhob sich.

„Stell dich unter die Dusche, du stinkst!“, befahl seine Mutter.

Ja, Dusche war gut.

In der Badewanne wäre er sicher ertrunken.

Gierig schlürfte er kaltes Wasser aus dem Duschkopf.

Kalt duschen? Nein, dafür war er zu schwach.

Zittrig entstieg er dem Brausebad.

Er hüllte sich in seinen Bademantel und steuerte Richtung Bett.

Da hatte er die Rechnung ohne die Wirtin gemacht.

Margarethe rief ihn in die Küche.

„Setz dich her, iss die Rindsuppe und dann trink heißen Kaffee, in zwei Stunden musst du fit sein!“

„Mama, es tut mir leid, der Abschied von Alex war gestern ein wenig extrem“, versuchte er seine Mutter zu beschwichtigen.

„Kommt ja jetzt ohnehin nicht mehr vor. Alex ist weg.

Ich kann nichts essen, ich muss wieder ins Bett“, sagte er, sich mühsam vom Tisch erhebend.

„Du gehst sicher nicht ins Bett, du gehst in die Oper!“, berichtigte ihn Mama Klein.

Oper?

Das war sein Todesurteil.

Seine Mutter war eine Kindsmörderin.

Nach der Suppe war ihm nicht wirklich wohler.

Er verzehrte die dargereichte Salzgurke und schlürfte zwei Tassen heißen Kaffee.

Daraufhin besuchte er wieder seine geduldige Freundin, die Klomuschel, und teilte mit ihr Suppe, Salzgurke und Kaffee.

„Bitte Mama, kannst du diese Berta nicht anrufen und mich entschuldigen. Ihr könnt euch ja auch ohne mich einen netten Abend machen?“

Sein Flehen blieb ungehört.

„Wer saufen kann, kann auch in die Oper!“, sagte die herzlose Mutter.

Walter verstand diese Schlussfolgerung nicht.

Im Bad, als er sich im Spiegel erblickte, fiel ihm der dämliche Spruch ein: ‚Ich kenn’ dich nicht, aber ich putz dir trotzdem die Zähne’.

„Du schaust so aus, wie du dich fühlst, blödes Arschloch! Hättest auch weniger kippen können!“, sagte er zu seinem Spiegelbild und erneut tat er den Schwur, dass dies sein letzter Rausch gewesen war.

Er schüttete kaltes Wasser ins Gesicht, aber wirklich schöner wurde er nicht davon.

Seine Mutter brachte Augentropfen.

Vielleicht bekam man damit die roten Augen halbwegs zum Verschwinden.

Walter warf drei Aspirin in ein Wasserglas.

Ein Zombie war ein Beau gegen ihn.

Aber Kleider machen Leute.

Nachdem er das Opernoutfit übergestreift hatte, hegte seine Mutter die Hoffnung, die verräterischen Spuren doch weitgehend beseitigt zu haben.

Zumindest äußerlich.

Innerlich kämpften seine letzten Lebensgeister, damit er diesen Abend überleben konnte.

Er hatte aber das Gefühl, dass die Chancen ziemlich schlecht standen.

Frau Motzbär sah Mutter und Sohn nach, als diese das Haus verließen und in ein Taxi stiegen.

„Die arrogante Gurke kann dem Hirnederl anziehen was sie will. Außen hui, Innen pfui!“, stellte sie zutiefst überzeugt fest.

Berta wartete bereits vor dem Cafe neben der Oper.

„Wie hübsch du aussiehst, liebe Berta!

Entzückend, wirklich entzückend!“, begrüßte Margarethe die in dunkelrote Abendrobe Gehüllte.

„Küss die Hand“, sagte Walter.

Eine tiefere Verbeugung vermied er.

Das Karussell in seinem Kopf fuhr noch immer auf hoher Stufe.

„Sie sehen atemberaubend aus“, gab er in weiterhin aufrechter Haltung von sich.

Berta lächelte geschmeichelt und Mama Klein tätschelte seinen Rücken.

„Blöde Funsen, dir habe ich diesen Scheiß zu verdanken“, dachte er.

„Gehen wir noch ins Cafe?“, schlug Berta vor.

„Gute Idee“, stimmte Margarethe zu.

Ja, wenigstens eine gute Idee.

Er hatte schon wieder mordsmäßigen Durst.

Margarethe bestellte eine Melange und ein Glas Leitungswasser.

Berta orderte einen großen Braunen, einen Schinkenkäsetoast, ein Mineral und noch eine Sachertorte mit Schlagobers.

Walter wurde alleine beim Zuhören noch mehr übel.

„Ich hätte gerne ein großes Mineral“, orderte er.

Er konnte nicht anders und trank das Wasser gierig in einem Zug aus.

Nie zuvor hatte er einen derartigen Brand gehabt.

Jetzt war der Durst zwar vorübergehend gelöscht, aber durch das schnelle Trinken tanzte die Kohlensäure im Magen Lambada.

Er schüttete das Leitungswasser seiner Mutter hinterher.

Zur Dämpfung.

Seine Mutter trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein.

Walter versuchte angestrengt den Drang, laut zu rülpsen, um sich damit eine Erleichterung zu verschaffen, zu unterdrücken.

Die Damen plauderten miteinander.

Walter war noch immer damit beschäftigt, die nach oben drängende Kohlensäure in Schach zu halten und hielt sich sicherheitshalber aus der Konversation heraus.

Aber der wahre Höllentrip wartete noch auf ihn.

In der Oper gab er die Garderobe ab, eilte zur Toilette und trank, da der Durst unbarmherzig nach wie vor in ihm wütete, sicherheitshalber noch einige Handvoll Wasser.

Dann drängte doch die gewaltige, bis jetzt unterdrückte Efflation nach außen.

Seine Mutter hätte in seinen frühen Jahren dies als ganz tolles Bäuerchen bezeichnet.

„Prolet!“, entrüstete sich der Händewäscher neben ihm.

Man nahm die Plätze ein.

Margarethe setzte sich zwischen Berta und dem Abtrünnigen.

Instinktiv.

Wegen möglicher, verräterischer Ausdünstungen.

Das leise Gemurmel der Operngäste umlullte Walter.

Dann wurde es still.

Die Lichter gingen sanft aus, der Vorhang schmiegte sich zur Seite.

Eine Misere nach der anderen

Walters Augen fielen zu.

Als Applaus aufbrandete, riss es Walter hoch.

Ihm entglitt ein Scharchgeräusch, das aber im Geklatsche unterging.

Hoffte er.

Mutter und die Opernkartenspenderin hatten aber seine Rückkehr aus Morpheus zärtlichen Armen sehr wohl mit bekommen.

Es gibt verschiedene Formen der Folter.

Eine, nicht zu unterschätzende, war einen Opernbanausen, schwer übernächtigt, hochgradig verkatert, dehydriert, Stunden in die Dunkelheit zu setzen und gegen die Gesetze der Schwerkraft kämpfen zu lassen.

Walters Kopf senkte sich immer wieder in Zeitlupe Richtung Brustbein.

Was ihn dann erneut hochgerissen hatte, wusste er nicht so genau.

Der laute Gesang des Fliegenden Holländers, der wie er zur Untotheit verdammt war, oder der Absatz ihres Schuhes, den seine Mutter ihm in die kleine Zehe gerammt hatte.

Der Schmerz half ihm eine Zeitlang, die bleierne Müdigkeit zu verdrängen.

Er hatte die Hoffnung beinahe aufgegeben, glaubte in seiner Qual fast nicht mehr daran, dass auf der Bühne der Gesang jemals enden werde.

Amor ist auf den Hund gekommen

Подняться наверх