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1 Entstehung und Entwicklung von »literarischer Bildung« als Ziel des Deutschunterrichts

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Adelbert von Chamissos Ballade Die Weiber von Weinsberg war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Gedicht, das in vielen Lesebüchern abgedruckt war. In aller Regel las man es in 9. Klassen (nach heutiger Zählung) verschiedener Schulformen, also mit etwa 14–15-jährigen. Es schildert eine Anekdote um die Belagerung Weinsbergs 1140 durch den ersten Hohenstaufen, König Konrad, und die angesichts der Hungersnot und der drohenden Niederlage unternommene List der Frauen. Ihre Bitte um freien Abzug quittiert Konrad wie folgt: »Die Weiber mögen abziehn, und jede habe frei / Was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei«. Am Folgetag erscheinen die Frauen vor dem Tor, und »[t]ief beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht / Sie tragen ihre Eh’herrn, das ist ihr liebstes Gut.« Konrad gibt es zu, denn »war es nicht die Meinung, sie haben’s gut gemacht! / Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht / Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht.« Vom heutigen Standpunkt her erscheint die Ballade humoristisch und stark auf die literarisierte Wiedergabe eines historischen Geschehens bezogen, dementsprechend in metaphorischer Hinsicht simpel und wenig lebensweltlich aktualisierbar. In zeitgenössischen Präparationen (Unterrichtsvorbereitungen für Lehrer) findet man häufig sehr realitätsnahe Vorschläge zur unterrichtspraktischen Realisierung, die uns einen Eindruck vom Literaturunterricht des ausgehenden 19. Jahrhunderts geben, so auch zu diesem Text in Lombergs bekannten Präparationen zu deutschen Gedichten (1899), die viele Auflagen erlebten. Hier heißt es zu Chamissos Ballade:


Adelbert von Chamisso, »Die Weiber von Weinsberg« (Anfang), in: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, hrsg. von Norbert Kohts [u. a.], Vierter Teil (Unter-Tertia), Hannover: Helwingsche Verlagsbuchhandlung, 91908. S. 188

[12]Die Begebenheit, die das Gedicht erzählt, ist der deutschen Sage entnommen. Sie verherrlicht einen Charakterzug des deutschen Volkes, nämlich die Treue. Diese Treue wird hier zunächst von den Weibern geübt, die mit klugem Sinne ihre Männer vom sichern Tode erretten. Die wackere That dieser Weiber verdient die wärmste Anerkennung, und wir können dem Dichter, der sie in schönen Worten besungen hat, nur unsern Dank aussprechen […]. Die Treue wird der Sage und dem Gedicht nach aber auch von dem deutschen Kaiser geübt. […] So hat Kaiser Konrad, wie das Gedicht sagt, das Gold der Krone rein und unentweiht gehalten. (Lomberg 1899, 63)

Für eine didaktische Einordnung dieser Zeilen, die in etwa das leitende Unterrichtsziel wiedergeben, sind vor allem auch die Aufgabenstellungen von Belang, die sehr viele Lehrer der Zeit befolgt haben werden:

1. Erkläre folgende Ausdrücke: Winsberg, Staufe, Welf, Kanzler, Degen […]

2. Welcher deutsche Kaiser hat das Gold der Krone nicht rein und unentweiht erhalten? […]

3. Wie rühmt der römische Geschichtsschreiber Tacitus die deutsche Treue? […]

4. In welchen Zeiten hat der Gegensatz zwischen Waiblingen (Hohenstaufen) und Welfen abermals viel Unheil über das deutsche Reich gebracht?

5. Nenne Gedichte, die denselben Strophenbau zeigen wie »Die Weiber von Winsberg«! (Ebd.)

Wenn wir über das Konstrukt »literarische Bildung« sprechen, wird uns häufig ein Literaturunterricht der Vergangenheit als leuchtendes Beispiel vorangestellt, als man angeblich nicht nur [14]mehr, sondern vor allem auch gründlicher und »nachhaltiger« las, also Literatur scheinbar wesentlich stärker mit Person und Charakter zusammenband, so dass mehr »Bedeutsamkeit« für den Einzelnen daraus hervorging. Das obige Beispiel lässt da stutzen. Zum einen natürlich wegen seiner Unterkomplexität für SchülerInnen (gerade in Mädchenschulen las man diesen Text, immerhin sind Frauen die Handelnden, wenn auch nicht individualisiert), zum anderen aber, weil die Aufgabenstellungen ausschließlich die historische Kontextuierung (sogar bei der Begriffsklärung) und dann das Gattungswissen bezüglich des (alexandrinischen) Strophenbaus anzielen. SchülerInnen sollten also a) ein breites historisches Wissen und b) literarische Kenntnisse besitzen. Die eigentliche Interpretation des Textes wurde vermutlich – wenn überhaupt – im kurzen abschließenden Lehrervortrag vorgenommen (ein Interpretationsgespräch im heutigen Sinne gab es damals nicht). Hier geht es dann um folgende, den SchülerInnen zu vermittelnde Schwerpunkte: a) Es gibt eine typisch deutsche Treue, die wir wertschätzen müssen. b) Herausragende deutsche Dichter wie Chamisso verdienen Dank und Anerkennung für ihre schönen Worte. c) Der deutsche Kaiser ist treu und gottesfürchtig. Offensichtlich wird hier das historische Ereignis benutzt, um eine lebensweltliche Anbindung und Aktualisierung durchzuführen – selbstverständlich ganz im Geiste des Kaiserreichs mit einem nationalen, einem christlichen und einem kanonbezogenen Akzent, dabei jedoch stark instruierend und indoktrinierend.

Inwieweit verträgt sich dies mit unseren Vorstellungen über »literarische Bildung«,2 die meist neben (auch historischem und literaturgeschichtlichem) deklarativen Wissensvorräten auch die Formung des Charakters und der Persönlichkeit [15]beinhalten? Zwar wird hier mit Chamissos Ballade Persönlichkeit gebildet, dies geschieht jedoch nicht durch Selbststeuerung oder in der diskursiven Auseinandersetzung mit Meinungen und Personen, sondern durch Zwang und Indoktrination, wobei das Bild des Deutschen in Sage und Historie die Leitlinie für den idealen deutschen Untertan abgibt. In dieser Form arbeiten wir heute nicht mehr mit Literatur in der Schule, dafür aber scheint es häufig, wenn wir aktuelle Aufgabenstellungen in Arbeitsbüchern für SchülerInnen konsultieren, dass sich Unterrichtsmedien in Zeiten der Kompetenzorientierung ganz auf das Messbare konzentrieren, das in unserem Beispiel über das lexikalische, historische und literaturgeschichtliche Wissen in den fünf Aufgabenstellungen abgedeckt wird. Offensichtlich verließ man sich auch im 19. Jahrhundert eher auf diese von der Interpretation kaum berührten Elemente, denn die »Interpretation« überließ man ganz dem Lehrervortrag. Sie war weder diskussionswürdig (oder -fähig) noch in einer neunten Klasse so relevant, dass man sie verschriftlichen müsste (dies änderte sich mit dem deutschen Aufsatz in der Prima, der heutigen Klasse 13, dann maßgeblich). Das literarische Gespräch und das Aushandeln von (zugewiesenen) Bedeutungen ist jedoch – wie auch die ästhetische Würdigung des Textes, der Genuss und das »Gefallen« – wohl ein wesentliches Element von »literarischer Bildung«. Dies fristet auch in der Gegenwart im Rahmen der priorisierten und möglichst weit standardisierten Wissensvermittlung (und der Scheu vor dem Zutagetreten unerwünschter Meinungen, auch vor der Komplexität solcher Unterrichtsgespräche in Zeiten einer kaum noch literarisch sozialisierten Schüler- und Lehrerschaft?) mehr und mehr ein Schattendasein.3

[16]Aber war es jemals anders? Welche Entwürfe gibt es, die »Bildung« als Orientierungsgröße vermessen und bestimmen, die ihr vor allem auch die Literatur und den Umgang mit derselben in der Schule beiordnen? Und inwieweit orientiert sich dann die Schule der Vergangenheit an solchen Vorstellungen – ist sie also ein Musterbeispiel, das uns scheinbar »Literaturfernen« Orientierung geben kann?

Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt es sich, auf die Ursprünge des deutschen Bildungsbegriffs im Zusammenhang des humanistischen Denkens zurückzukommen. Der Bildungsbegriff steht in einer spezifisch deutschen Tradition. Bekanntlich ist der Begriff nicht in andere Sprachen übersetzbar; Termini wie education, knowledge, culture, civilisation oder formation classique haben andere Bedeutungshorizonte als der deutsche Begriff (wenn man in England oder Frankreich von »Bildung« in diesem Sinne spricht, nutzt man in der Regel das deutsche Lehnwort). Die spezifische semantische Dimension des Bildungsbegriffs reicht bis in die Gegenwart mit ihren bildungspolitischen Einflussnahmen auf die Ausrichtung des geisteswissenschaftlichen Fächerkanons. Die Rekonstruktion der Geschichte des deutschen Bildungsbegriffs kann somit dazu beitragen, die Debatten um den Wert der Bildung aufzuhellen und historisch zu fundieren.4

Die Schulrede Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen hielt Johann Gottfried Herder, der damalige Direktor des Weimarer Gymnasiums, 1796 ebenda; sie erlangte Berühmtheit auch, weil Karl Wackernagel sie 1843 als Anhang in einem der ersten Lesebücher für den Gebrauch an Schulen abdruckte. Hier bestimmt Herder die Rede als »Ausdruck der Seele« (Wackernagel 1843, Bd. 4, 104): »Dies ist die Schule, in welcher die Rede der Menschen gebildet und [17]geformt wird« (ebd., 105). Das vermittelnde Medium zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Historie und Gegenwart, zwischen Tradition und kultureller Tätigkeit, zwischen Natur und Kunst ist die Sprache; schon von daher ist die zentrale Stellung der Dichtkunst begründet. In Herders Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) findet sich direkt zu Beginn das Bildungsideal der Alten – nämlich des Patriarchenalters – umrissen; für Herder »die ewige Grundlage für alle Jahrhunderte der Menschenbildung«:

Weisheit statt Wissenschaft, Gottesfurcht statt Weisheit, Eltern-, Gatten-, Kindesliebe statt Artigkeit und Ausschweifung, Ordnung des Lebens, Herrschaft und Gottregentschaft eines Hauses, das Urbild aller bürgerlichen Ordnung und Einrichtung – in diesem allen der einfachste Genuß der Menschheit, aber zugleich der tiefste – wie konnte das alles, ich will nicht fragen, erbildet, nur angebildet, fortgebildet werden, als – durch jene stille ewige Macht des Vorbilds, und einer Reihe Vorbilde mit ihrer Herrschaft um sich her? (Herder 1990, 6 f.)

Hier wird deutlich, wie Herder den Bildungsbegriff in Abgrenzung zum Rationalitätsgedanken modelliert. Wissenschaft und Artigkeit werden zugunsten reiner Liebe und Weisheit abgelehnt, das Theorem der Gottesfurcht wird auch vor allem bei Lessing (in der Erziehung des Menschengeschlechts) zu einer Erziehung zur Vernunftreligion statt einer Offenbarungsreligion umgedeutet. Wissenschaft wird damit wie die Artigkeit zu einer bloßen Äußerlichkeit, einer kalten Rationalität, die das Innerste des Menschen und also seine Persönlichkeit nie erreicht. Die Dekadenz seiner Gegenwart – »unser Denken! Kultur! Philosophie!« (ebd., 55) – bestand für Herder in der Trennung von »Kopf und Herz« (66), denn es »muß folgen, daß ein großer Teil dieser sogenannten neuen Bildung selbst würkliche [18]Mechanik sei […] es ward Maschine« (59), »Raisonnement zu unvorsichtig, zu unnütz verbreitet« (63). An solchen Einlassungen wird deutlich, dass der Herdersche Bildungsbegriff »in die Nähe der kommenden, neuen Leitwörter ›Geist‹ und ›Humanität‹« (Bollenbeck 1996, 123) rückt. Dies bringt auch die Unübersetzbarkeit des Begriffs mit sich, der sich in der deutschen kulturellen Tradition jenseits der Begriffe – oder besser: zwischen den Begriffen – von »Wissen«, »Ratio«, »Emotion« oder »Einfühlung« ansiedelt und mehr und mehr zu einem Spezifikum wird. Bei Herder vorgeprägt, im Goetheschen Bildungsroman zur Ausformung gebracht, ist Bildung das, was die »vorgegebenen Anlagen der Individualität zu einer harmonischen Einheit« (ebd., 124) bringt. Bildung ist damit Menschenbildung und Persönlichkeitsbildung; immer ist es das Individuum, das nun nicht mehr als Rädchen innerhalb einer Maschinerie (des Staates beispielsweise) aufgefasst wird, sondern das sich emanzipatorisch die Medien seiner Selbstbildung wählt und Kultur, Sittlichkeit, Religiösität in einem charakterlichen Unikat vereint. Im Zentrum steht also der Mensch in seiner Ganzheit, dem hat sich das kulturelle Medium anzupassen. Wie später bei Humboldt ist es auch bei Herder die Sprache, die als Vermittlerin auftritt; sie wird zum »privilegierten Medium der ›Bildung‹« (Bollenbeck 1996, 125). In der Abhandlung über den Ursprung der Sprache findet sich die These, dass »die Sprache dem Menschen so wesentlich [ist], als – er ein Mensch ist« (Herder 1986, 52). Die Dichtung wird dann zum Kanal, der Natur, Leidenschaft und Handlung transportiert, und der Dichter ist »Überbringer der Natur in die Seele und in das Herz seiner Brüder« (Herder 1986, 94; Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten).

[19]Natur, Empfindung, ganze Menschenseele floß in die Sprache und drückte sich in sie, ihren Körper, ab, würkt also durch ihn in alles, was Natur ist, in alle gleichgestimmte, mitempfindende Seelen. Wie der Magnet das Eisen ziehet, wie der Ton einer Saite die andre regt, wie jede Bewegung, Leidenschaft, Empfindung sich fortpflanzet und mitteilt, wo sie nicht Widerstand finden, so ist auch die Würkung der Sprache der Sinne allgemein und im höchsten Grade natürlich. Sie macht Abdruck in der Seele, wie sich dies Bild und Siegel in Wachs oder Leim formet. (Ebd.)

Die Ursprünglichkeit des Sprechens, das untrennbar mit dem Menschsein und der Menschenbildung verknüpft ist, wird bei Herder zur geschichtsphilosophischen Legitimation für eine Sprach- und Dichtungstheorie. Programmatisch wird Herder in In der Dichtkunst ist Gedanke und Ausdruck wie Seele und Leib und nie zu trennen. Die im Titel anklingende Einheit von Gedanke und Ausdruck war in »jenen rohen Zeiten« präsent, in denen die Alten noch nicht zum »ästhetischen Gewäsche« neigten, »wo noch die Seele der Dichter, die zu sprechen und nicht zu plappern gewohnt war, nicht schrieb, sondern sprach und auch schreibend lebendige Sprache tönete; in jenen Zeiten, wo die Seele des andern nicht las, sondern hörte und auch selbst im Lesen zu sehen und zu hören wußte« (Herder 1986, 12).

Bildung – so wäre zu resümieren – ist bei Herder Menschenbildung durch Vernunft jenseits von Wissenschaft und Ratio, ist Herausbildung eines Charakters als harmonische Ganzheit mit Hilfe des Mediums Sprache. Sprache wird jedoch nicht als Code zum Transport von Informationen verstanden, sondern Sprache ist lebendiger Bestandteil der Kultur und untrennbar mit dem Menschen verbunden. Sie ist vor allem gesprochene, nicht geschriebene Sprache, denn nur in ersterer ist die Einheit von Gedanke und Ausdruck gewahrt. In eingangs erwähnter [20]Schulrede ruft Herder 1796 folgerichtig dazu auf, »in den Schulen sollte […] jedes Edelste und Beste laut gelesen, auswendig gelernt, von Jünglingen sich zur Regel gemacht, und in Herz und Seele befestigt werden.« (Wackernagel 1843, Bd. 4, 106) Das »Edelste und Beste« ist dabei eindeutig bestimmt: Es sind die führenden deutschsprachigen Dichter der Zeit.

Die Rekonstruktion der Fortführung dieses Philosophems über die Inhalte des Bildungsgedankens in den folgenden Jahren besonders bei Goethe und Schiller kann nur in aller Kürze geschehen.5 Die deutsche Klassik ergänzt und konkretisiert die bei Herder angelegten Gedanken, modifiziert sie aber nicht im Sinne einer Kehrtwende. Wilhelm Meister formuliert in seinem bekannten Brief an Werner im fünften Buch der Lehrjahre das Programm der klassischen Bildung: »Daß ich dirs mit Einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.« (Goethe 1958, Bd. 4, 401) Mit dem Bildungsroman entsteht eine ganze Gattung, die sich dem Transport des Bildungsdiskurses widmet. Bollenbeck betont, dass »die ›Bildungsvorstellungen‹ des Wilhelm Meister mit dem Ideal der Vollkommenheit, der Ausbildung des Inneren am Äußeren, des Maßes, der Harmonie und der praktischen Bewährung dem Bildungsbürgertum zum Vorbild geraten.« (1996, 132) Die Klassik denkt die humanistische Bildung als Entwicklung eines personalen und natürlichen Kerns auf der einen, einer Suchbewegung in Auseinandersetzung mit der Welt auf der anderen Seite. Das Suchen und Ringen mit der Welt formt den individuellen Kern, verformt ihn allerdings nicht gänzlich; so kommt es zur harmonischen Ausbildung aller Anlagen. Stoff und Form, Natur und Vernunft geraten in eine produktive [21]Wechselwirkung, innerhalb derer sich Humanität zur Universalität, Individualität zur Totalität erweitert. Die Schönheit vermittelt in diesem Prozess, sie führt bei Schiller in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen zur Freiheit, bei Goethe eher zur Tat und zur lebendigen Ganzheit des Menschen und seiner Welt im konkreten Bemühen. Das Credo der »Erlösung durch die Tat« formuliert der Oheim im sechsten Buch der Lehrjahre: »Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen: auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt haben.« (Goethe 1958, Bd. 4, 515)

Mit Wilhelm von Humboldt, der sich in seiner Schrift Ueber Göthes Herrmann und Dorothea (1799) intensiv mit Goethes Bildungsgedanken auseinandersetzte, beginnt die Institutionalisierung des bildungsbürgerlichen Gedankenguts unter neuhumanistischen Vorzeichen. Der aufklärerische Bildungsdiskurs, in den sich Philanthropisten wie von Rochow oder vor allem Johann Heinrich Campe mit ihrer Hinwendung zur bürgerlichen Lebenspraxis, zur Ratio und zum Denken der Toleranz einschrieben, hatte dieser an der klassischen Periode deutscher Dichtung und der Antike, dem Ideal der Persönlichkeits- und der Allgemeinbildung orientierten Strömung letztlich zu wenig entgegenzusetzen. Die philanthropistischen Pädagogen waren der Durchsetzungskraft des Deutungsmusters von Kultur und Bildung, das sich besonders bei den Neuhumanisten im Gefolge Herders und Schillers manifestierte, nicht gewachsen, denn das Bildungsbürgertum hatte sich mit seinen Distinktionsstrategien und der Hochschätzung der Bildung bereits zu sehr etabliert.6 Im Werk Humboldts finden [22]sich die dem Herderschen Bildungsdiskurs innewohnenden zentralen Aspekte der Charakterbildung und der dem Prinzip Sprachlichkeit verpflichteten Bildung wieder. In der Theorie der Bildung des Menschen verortet Humboldt den Menschen »im Mittelpunkt« (Humboldt 1959, 24). Der Mensch bemüht sich um seine Erweiterung durch die tätige Auseinandersetzung mit der Welt; angeleitet und gedrängt wird er durch eine »eigene inwohnende Kraft«, einen »innern Drang« (ebd., 25 f.). Eine besondere Rolle fällt dabei der Poesie zu, denn diese »steht zur Bildung des Menschen in einer zwiefachen Beziehung«:

1. in einer der Form: indem sie Wahrheit und Lehre durch Einkleidung und rhythmischen Ausdruck der Einbildungskraft näher zu bringen sucht;

2. in einer des Inhalts: indem sie, überall das Erhabenste und Schönste aufsuchend, im Menschen immer das Höchste und Geistigste seiner Natur anzueignen bemüht ist, und ihm beständig vor Augen hält, daß er den vorübergehenden Genuß der dauernden inneren Genugthuung, das Irrdische dem Unendlichen nachsetzen, und im Widerstreit der Neigungen und Pflichten Alles, durch Selbstbeherrschung und Erhebung über das Niedere und Gemeine, dem Adel und der Reinheit der Gesinnung opfern muß. (Humboldt 1959, 73)

Insofern hat die Poesie Einfluss auf die »moralische Bildung« (ebd.) unter den Voraussetzungen der »Anerkennung sittlicher Pflicht« und des Ansammelns von »Kenntnissen im gehörigen Maße« (ebd., 74). Hier kehren als Begründungsstrategien Schillersche Parameter wieder: Dichtung prägt die Menschenbildung in dem Sinne, dass sie das Wahre, Gute, Schöne im Menschen befördert. Über die Form bringt sie die Wahrheit nahe, über den Inhalt das Hohe, Reine und Schöne; so veredelt sie den [23]Charakter in moralischer Hinsicht. Das Medium der Dichtung, die Sprache, ist so nie bloßes Zeichen für die Dinge, sie ist vielmehr »der Odem, die Seele der Nation selbst« (Humboldt 1990, 6) und hat »mit einem Kunstwerk Ähnlichkeit« (ebd., 10). Die Sprache avanciert zum Bildungsmedium hinsichtlich der Nationenbildung und der Nationalkultur, denn sie trägt »das Gepräge der Eigentümlichkeit der Nation« (ebd., 12) an sich. Die dem Menschen »inwohnende Kraft«, die oben erwähnt wurde, ist ebenfalls der Sprache zu eigen: In der Einleitung zum Kawi-Werk definiert Humboldt die Sprache als Energeia, als »lebendige Wesenheit« (ebd., 37). »Der innere Sprachsinn« und der Laut, »die Form empfangende Materie«, fassen »in untrennbarer Einheit und immer gegenseitiger Wechselwirkung zugleich eine intellektuelle und sinnliche Kraft in sich« – dies ist »das selbstständig schaffende Prinzip in der Sprache« (ebd., 199 f.). Herders Gedanke von der Einheit von Gedanke und Ausdruck in der Sprache kehrt hier wieder. Die Bestimmung dieses inneren Formprinzips des Systems Sprache hat wie auch bei Herder eine Hochschätzung der Dichtung zur Folge, die als privilegiert erscheint, das Innere des Menschen zu bilden:

Dichtung und Philosophie aber berühren in einem noch ganz anderen Sinne den innersten Menschen selbst und wirken daher auch stärker und bildender auf die mit diesem innig verwachsene Sprache. Auch der Vollendung in ihrem Fortgange sind daher die Sprachen am meisten fähig, in welchen poetischer und philosophischer Geist wenigstens in einer Epoche vorgewaltet hat, und doppelt mehr, wenn dies Vorwalten aus eignem Triebe entsprungen, nicht dem Fremden nachgeahmt ist. (Humboldt 1990, 91)

Der Königsberger Schulplan institutionalisiert schließlich diesen Bildungsplan im Zuge der Reform des Schulwesens, [25]indem die »drei Stadien des Unterrichts: Elementarunterricht [,] Schulunterricht [,] Universitätsunterricht« (Humboldt 1959, 101) »philosophisch« (ebd.) gerechtfertigt werden. Dem Bildungsgang wohnt eine Teleologie inne, denn »das Absolute« (ebd., 102) bleibt der Universität vorbehalten. Hegels Nürnberger Schriften (1808–15), die seine Lehrpläne und die Gymnasialreden umfassen, zeugen von dieser raschen Institutionalisierung des neuhumanistischen Bildungsplans und brechen ihn auf die schulische Realität des 19. Jahrhunderts herunter. In diesem Kontext ist Hegels Forderung zu sehen, »daß wir uns die Welt des Altertums erwerben« (Hegel 1970, Bd. 4, 320), besonders aber die »Sprache der Alten« (ebd., 321) durch »das strenge grammatische Studium […] als eines der allgemeinsten und edelsten Bildungsmittel« (ebd., 323). Zwar forderten bereits die Philanthropisten die Reduktion des Lateinunterrichts zugunsten nationalsprachlicher Bildung, dennoch blieb der Lateinunterricht (zumindest was die passive Beherrschung anbetrifft) weiterhin maßgeblich für das humanistische Gymnasium.7 Zunehmend gewann der nationalsprachliche Unterricht – der Deutschunterricht – an Bedeutung und geriet zum Kernfach der bildungsbürgerlich geprägten höheren Bildung. So vermerkt Robert Heinrich Hiecke (1842) als einer der ersten Theoretiker des muttersprachlichen Unterrichts nicht nur, »daß die Schüler erst durch die Bekanntschaft mit der vaterländischen Literatur, welche als der klar herausgearbeitete Ausdruck des nationalen Geistes die wahre ideale Heimath ihres Gemüthes ist, in ein bewußteres geistiges Verhältnis zu ihrer Nation sich hineinleben« (Hiecke 1842, 65); vor allem sind es Bildungsfragen, die Hiecke zur Etablierung eines »deutschen Unterrichts« mit Texten Uhlands [26](»ganz eigentlich unser bürgerlichster Dichter«, ebd., 108), Schillers und Goethes (der »specifische Kern deutschen Wesens«, ebd., 109) aufrufen lassen:

Es wurde aber oben behauptet nicht nur, daß die deutsche Lectüre (und Interpretation) nothwendig sei, sondern auch, daß sie die natürliche Basis abgebe für alle Bildung, welche in den deutschen Lectionen zu erzielen ist. […] Worin wird diese Bildung bestehen müssen? In den praktischen Fertigkeiten des guten Lesens, des Verständnisses guter Schriftsteller, des Auffindens treffender Gedanken […]. (Ebd., 81 f.)


»Kanon auswendig zu lernender Gedichte« von Schiller, Goethe, Uhland und anderen, in: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, hrsg. von Norbert Kohts [u. a.], Vierter Teil (Unter-Tertia), Hannover: Helwingsche Verlagsbuchhandlung, 91908. S. XII

Dichtung und gesprochene Sprache als lebendige Einheit von Gedanke und Ausdruck, so könnte man wiederum mit Herder formulieren, sind der Königsweg der Menschenbildung hin zum absoluten Wissen. Bildung ist Menschenbildung vermittelt durch Sprache und Dichtung, so bestätigt auch Hegel in seinen philosophischen und praktischen Schriften die bei Herder beginnende Argumentationslinie. Darin zeigt sich die Durchsetzungskraft des im Zuge der Nachaufklärung initiierten Bildungsdiskurses insbesondere im Bereich der höheren Schule. In diesen Zeitraum fällt auch Rudolf von Raumers Bestimmung der Aufgaben der Philologie; von Raumer, seit 1852 Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur in Erlangen, konstatiert als Ausgangspunkt seiner Beobachtungen, »daß die deutsche Philologie sich mit einem Gegenstand beschäftigt, welcher durch alle Arten von Schulen hindurchgreift, von der untersten Dorfschule an bis zur höchsten Bildungsanstalt des Landes: der Universität.« Diese seien alle »durch unseren Gegenstand vereinigt« (von Raumer 1861, 18 f.), den er zuvor als »die Sprache und Literatur des deutschen Volkes« (ebd., 5), besonders aber als die »kritische Feststellung und das richtige Verständnis der vorliegenden Texte« (ebd., 7) definiert hat.

[27]Wie passen diese Erkenntnisse zur Entstehung des (literarischen) Bildungsgedankens zum eingangs vorgestellten Beispiel, dem Literaturunterricht mit Chamissos Weibern von Weinsberg? Legen sie nicht die Freiheit im Umgang mit Texten nahe, die Orientierung rein am literarischen und damit menschenbildenden Faktor von künstlerischer Sprachlichkeit, also Literatur? Immerhin forderte Hiecke bereits 1842 die Interpretation als wesentliches Element im Umgang mit Literatur an der höheren Schule – auf der anderen Seite jedoch gestehen Hegel wie Humboldt bei der institutionellen Umsetzung erst der akademischen Ausbildungsstufe solche Freiheiten zu. Humboldt vermerkt im Königsberger Schulplan, »Zweck des Schulunterrichts ist die Übung der Fähigkeiten, und die Erwerbung der Kenntnisse«, das sei »nur Sammeln, Vergleichen, Ordnen, Prüfen usf«. Im Umgang mit Literatur soll der Schüler dahin kommen, »nun mit eigner Anstrengung und mit dem Gebrauche der vorhandenen Hülfsmittel jeden Schriftsteller, insofern er wirklich verständlich ist, mit Sicherheit zu verstehen« (Humboldt 1959, 102). Die oben vorgestellten Präparationen scheinen diesem Ziel zu folgen – ordnen und vergleichen statt interpretieren und kommentieren. Aber wie regelten im Anschluss an die philosophischen Bildungstheorien die Lehrpläne für die höheren Schulen diese Zwecke?

Zunächst muss die Dominanz des höheren Schulwesens erläutert werden. Das Mädchenschulwesen blieb in weiten Teilen sich selbst überlassen und entging den in immer kürzeren Abständen erfolgenden Regulierungen durch neue Erlasse. Erst am Ende des Kaiserreichs erfolgte eine grundsätzliche Neuordnung durch die Zulassung von Frauen zum Abitur (1908) des bis zu diesem Zeitpunkt auch hinsichtlich der Schulformen breit gefächerten Angebots an Töchterschulen. Ähnliches gilt für das niedere Schulwesen, das in Preußen durch den Erlass aus dem Jahr 1872 geregelt wurde. Hier fehlen [28]grundlegende Informationen zu didaktischen Ausrichtungen des Deutschunterrichts, was besonders angesichts der im Verhältnis zu den anderen Schulformen hohen Stundenzahl (12 Wochenstunden Deutsch) zu bedauern ist. Die niedrige Stundenzahl an höheren Schulen (2–3 Wochenstunden) entspricht damit in Praxis kaum der Bedeutung der Didaktiken und teils auch der präzisen Anweisungen und Lektürevorschläge in den Erlassen; auszugehen ist jedoch von einer hohen Wirkungsmacht und Prägungskraft insbesondere der Didaktiken für höhere Schulen auch für andere Schulformen. Das ist an Zeitschriftenartikeln beispielsweise für das weibliche Schulwesen ablesbar, die sich im Falle eines auch theoretischen Anspruchs jenseits reiner Praktikabilität an den Didaktiken des höheren Schulwesens abarbeiten. Im Großen und Ganzen bestimmten das höhere Schulwesen und sein Diskurs also vor allem die Inhalte des Literaturunterrichts und wirkten damit kanonbildend.

Einen Einblick in den Zustand des deutschen Unterrichts bieten die diesbezüglichen Artikel in der Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, die in elf umfangreichen Bänden 1862 erschien. Der Artikel Bildung (Encyklopädie 1862, Bd. 1, 665 ff.) geht fächerspezifisch vor und setzt dem Deutschen Unterricht die Aufgabe der Nationalbildung als »Liebe zu Volk und Vaterland« (ebd., 681), geht dann jedoch direkt in einen langen Exkurs über, der vor einseitiger Vermittlung von Nationalstolz und schließlich vor einem neuen deutschen Kaisertum warnt: »Man muß wohl zusehen, daß die Jugend nicht mit Gedanken genährt werde, die patriotisch klingen« (ebd., 682). Bereits 1872 erschien die Preisschrift Hugo Webers, die sich insbesondere dem Lesebuch und seiner Stellung an niederen und mittleren Schulen widmete. Weber erkennt in der »nationalen Bildung des deutschen Volkes« (Weber 1872, 12), also in der Bildung »zur Idealität, Humanität und [29]Nationalität« (ebd., 91) die zentrale Aufgabe des Deutschunterrichts, die durch das Lesebuch zu erreichen wäre. Es geht ihm um den »gewöhnlichen Mann«, der durch »gute volksthümliche Lectüre« (ebd., 92) zu gewinnen ist. Dabei steht »deutsche Bildung« im Zentrum, die eben nicht partikular, kosmopolitisch oder konfessionell gebunden ist. Auch das völkische Element soll im Lesebuch gestärkt werden, denn »das deutsche Kind hört bis jetzt im Durchschnitte von Indianern, Kalmücken, Hottentotten etc. mehr, als z. B. von den Bayern, Schwaben« (ebd., 107). So würde das Lesebuch »eine weltliche, eine nationale Bibel« zur Belebung »nationaler Gesinnungen« (ebd., 110 f.). Lesestoffe sind außerdem Volkslied, germanische Sage und deutsches Märchen (nicht das orientalische, das nur aus »wüsten Phantastereien« besteht, ebd., 118), besonders aber die »volksthümlich gewordenen deutschen Vaterlandslieder« von Arndt, Schenkendorf, Geibel, Rückert, Körner. »Einzelheiten aus der Geschichte Israels« sind zugunsten der germanischen Sage wegzulassen, damit das Christentum schließlich »als die Verklärung und Veredelung des Deutschthums« erscheint (ebd., 123). Die Heldensage soll die Jugend »mit Hochachtung vor deutscher Vergangenheit« erfüllen. In solchen Ausführungen erkennt man die Stoßrichtung des eingangs vorgestellten Beispiels eher wieder, insbesondere in ihrer Hochschätzung germanisch-deutscher Tradition.

Die Lehrpläne der Mädchenschulen verzeichnen in aller Regel einen liberaleren Umgang mit Literatur, als es in den Knabenschulen der Fall war. 1894 wird den Zielen die »Fähigkeit zum sinnvollen Lesen«, die »Vertrautheit mit einigen Meisterwerken unserer klassischen Literatur« und die »Belebung des vaterländischen Sinnes« vorangestellt (Centralblatt 7/1894, 461).


Schulprogramm des Großherzoglichen Neuen Gymnasiums Darmstadt von 1892. Universitätsbibliothek Gießen

Da nur die höheren Schulen zum Abfassen von Schulprogrammen verpflichtet waren, ist über diese Quellengattung [31]informatives Material gerade auch zum fachlichen Diskurs an der höheren Schule weitergegeben worden. Der Lehrplan von 1882 fordert im allgemeinen Lehrziel die Bekanntschaft mit den »Hauptepochen der Nationallitteratur«, fordert »Lektüre klassischer Werke« und Memorierung (Centralblatt 3/1882, 245 f.). In den Erläuterungen heißt es diesbezüglich: »Besonders Werthvolles aus der klassischen Dichtung des eigenen Volkes als einen unverlierbaren Schatz im Gedächtnisse zu bewahren, ist nationale Pflicht jedes Gebildeten; die Schule sorgt für die Erfüllung derselben« (ebd., 249). Diese Zielbestimmung ändert sich maßgeblich nach der Kaiseransprache 1890. Die neuen Lehrpläne setzen den Trend zur Nationalisierung bereits im allgemeinen Lehrziel um, das nun die »Belebung des vaterländischen Sinnes insbesondere durch Einführung in die germanische Sagenwelt und in die für die Schule bedeutsamsten Meisterwerke unserer Literatur« fordert (Centralblatt 1892, 213).

Nicht nur im Schulwesen, auch in Erziehungsdebatten der Zeit zeigen sich eine gewisse Zerrissenheit und auch Protesthaltungen: »Kenntnisse sind eben nicht Bildung; Bildung macht reif und frei, Kenntnisse nicht«, tadelt beispielsweise Anton Schönbach 1889 in seiner Schrift Über Lesen und Bildung – in der Schule käme im Umgang mit Literatur »die wirkliche Erziehung des geistigen Vermögens der Schüler zu kurz« (Schönbach 1889, 12 f.). Polemisch klagt Jens Christensen 1886 an: Der moderne Bildungsschwindel in Schule und Familie sowie im täglichen Verkehr – so der Titel seiner Bildungskritik.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren Bildungsreformer bemüht, solche Bildungskritik in einem veränderten Schulwesen ernst zu nehmen. Insbesondere im höheren Schulwesen waren Reformen angesichts der fortschreitenden Nationalisierung jedoch kaum möglich. Humanistische und aufklärerische Bildungsideale wurden negiert: Der Deutschunterricht nahm [32]eine klare Zentralstellung ein, Literaturkunde und »Deutsche Bildung« wurden unterrichtet. Dabei sind die grundlegenden Ziele bereits völkischer Natur: Walther Hofstaetter fordert in seinen Leitsätzen zu Wesen und Aufgaben der Deutschkunde »die innere Einigung unseres Volkes« (Hofstaetter 1926, 1), »gesunde deutsche Menschen zu erziehen«, »Verständnis für das heutige Leben unseres Volkes zu erwecken« und »eine bewusste Einordnung in das Ganze und das Gefühl der Verpflichtung« (ebd., 2) als Ziele deutschkundlichen Unterrichtens. Die Deutschkunde war am Kanon der deutschen Klassik orientiert, erweiterte diesen aber um germanische Sagen und die Literatur der deutschen Romantik. Reformorientierte Gegenbewegungen fungierten als liberale Kräfte: Martin Havensteins Die Dichtung in der Schule (1925) wendet sich dem »Erlebnis« und der »Stimmung« der Poesie zu und versteht »Bildung« als »Ausdruck und Gestaltung des eigenen inneren Seins« (ebd., 3). Wenn er auch »deutsche Dichtung als Deutschtum in gedrängtester Form« (ebd., 34) definiert, so will er doch »hinsichtlich der Deutschheit unserer Dichter keine Gradunterschiede machen« (ebd., 35) und fordert Lessings Nathan wie auch »fremdsprachige Dichtung« (ebd.) für die Schule, was dem Programm der Deutschkundler zuwiderlief.

Die nationalsozialistische Bildungspolitik konnte so an vieles Vorbereitete anknüpfen. Humanistische Bildung existierte nicht mehr, denn ihre Ziele im Bereich der Menschenbildung waren spätestens durch die Kriegserfahrung diskreditiert worden. Hitler äußert sich zwar in Mein Kampf zum »Wert der humanistischen Bildung«, versteht darunter jedoch nun »eine idealistisch veranlagte Volksgemeinschaft« »in verzichtfreudiger Opferbereitschaft« (Hitler 1942, 470) – alles andere ist bloßer »Kulturdünger« (ebd., 476). Dabei erwähnt er die Literatur oder das literarische Lesen nicht, vielmehr geht es ihm um das Fach Geschichte, in dem man die »wirklich bedeutsamen [33]Männer unseres Volkes in den Augen der Gegenwart als überragende Heroen erscheinen lassen sollte«, um dadurch »eine geschlossene Stimmung zu erzeugen« (ebd., 471). Im Zentrum steht »Förderung des Nationalstolzes« – »die ganze Kulturgeschichte muß von diesem Gesichtspunkte aus gelehrt werden« (ebd., 473). Das oft zitierte Fazit lautet: »Es soll kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlassen, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt worden zu sein.« (Ebd., 476) Ulrich Peters konkretisierte diese Auffassung von Bildung 1933 mit Bezug auf den Umgang mit Literatur in der Schule; er betont, »daß eine ›Deutsche Bildung‹ sich keineswegs auf das Gebiet der Kenntnis und Erkenntnis beschränken dürfe, sonders daß sie in gleicher Weise die Reiche des Fühlens, Wollens und Schaffens durchdringen und ordnen müsse« (Peters 1933, 337). Von Literatur ist im Aufsatz keine Rede; stattdessen wird das Ziel von Erziehung definiert als »Bildung zum bewußt deutschen Menschen, der sein Volk nicht nur versteht, sondern auch fähig und willens ist, für sein Volk zu kämpfen und zu leiden« (ebd., 338). Neben dem Fach Sport und der allgemeinen Leibeserziehung behauptete der Deutschunterricht seine Kernstellung im Fächerkanon, er hatte nun aber die Aufgabe, zur Hingabe an »Volksseele«, Führerprinzip und »Schicksalskampf« zu leiten. Formen überfeinerter Bildung und Wissenschaft waren ungewollt: »Es ist nicht notwendig, daß ein Schüler etwas über die Psyche des Hans Castorp oder auch des barocken Menschen aufzusagen weiß« (Ibel 1933, 435) – stattdessen interessiert »der Kampf eines MG-Nestes bis zum letzten Mann« (ebd., 437).

Die Wiederaufnahme des Deutschunterrichts in der Nachkriegszeit gestaltete sich als nahezu unmöglicher Versuch, eine deutsch-nationale Bildungstradition, die über Jahrzehnte währte, zu reformieren und zu säubern. Es fehlte nicht nur an Lehrern, sondern auch an Lesebüchern und an Lehrzielen; [34]erste Methodiken wie die von Ulshöfer propagierten das Ideal des »ritterlichen Menschen«, die in der Schule gelesene Gegenwartsdichtung suchte meist ihr Heil im Religiösen oder in den überzeitlichen Werten klassischer Dichtung. Hier schloss man an, legte teils Lesebücher des 19. Jahrhunderts neu auf oder griff auf Altbewährtes, Deutschkundliches zurück. Lesebücher dieser Zeit tragen Titel wie Lebensgut, Silberfracht oder Schauen und Schaffen – sie ziehen sich zurück in eine bäuerliche Welt, die von religiöser und heimatlich-biedermeierlicher Sinngebung durchwaltet wird. Dennoch markieren die 1950er Jahre das allmähliche Ende nationaler Bildungsideale und verfolgen meist pädagogische Ziele im Zeichen der »Lebenshilfedidaktik«. Erst gegen Mitte der 1960er Jahre beginnt mit den Auschwitz-Prozessen und der Wende von der Methodik zur Didaktik eine neue Phase der Reform, eingeleitet durch die Lesebuch-Diskussion, in der die im Lesebuch dargestellte idyllisch-bäuerliche Lebenswelt der Realitätsfremdheit überführt wurde.

Mit Bezug zu Chamissos Weibern von Weinsberg und den begleitenden Präparationen wird damit deutlich: Sie stehen in perfektem Einklang mit den Lehrplänen der Zeit und befördern die Bildung von Nationalstolz und geschichtlichen wie literarischen Kenntnissen, wobei letztere auch wiederum dem nationalen Bildungskanon entstammen. Mit den hohen Zielen der philosophischen Bildungstradition, die bei Herder begann und hier über Goethe, Schiller, Humboldt bis Hegel nachvollzogen wurde, haben sie nur bedingt zu tun. Freilich: Der Gegenstand des Unterrichts ist ästhetisch hoch besetzte muttersprachliche Literatur. Diese wird verstehend gelesen und soll direkt und unmittelbar auf das Individuum (den Schüler) wirken, um die Bildung seiner Persönlichkeit positiv zu beeinflussen. Im Vergleich zum altsprachlichen Unterricht des 18. Jahrhunderts ist dies ein enormer Gewinn, der ohne die vorgestellten Bildungstheorien nie denkbar gewesen wäre. Andererseits: [35]Die Ballade wird funktionalisiert im Sinne einer Wissensvermittlung (vor allem von historischem Wissen) und einer national orientierten Indoktrination. Ein selbstgesteuerter, genießender Umgang mit Dichtung sieht anders aus. Hier beginnt eine doktrinäre Indienstnahme literarischer Bildung, die in der Weimarer Zeit umkämpft, im Nationalsozialismus dann mit der Abschaffung humanistischer Bildung total wurde. Auch darin werden eventuell Gründe für Vorbehalte gegenüber humanistischen Bildungsentwürfen sichtbar: Sie können (pädagogische und fachliche) Hierarchien festigen und verstärken, in der Folge außerdem leicht im Sinne politischer Einflussnahmen missbraucht werden.

Literarische Bildung

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