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Beginn der Träume

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Nach diesem wunderbaren Sonntagabend fuhr ich zwar immer noch müde, aber in bester Laune in meine Wohnung. Ich war nun mal in richtiger Hochstimmung. Endlich hatte ich mal ein Mädchen kennen gelernt mit der ich etwas anfangen konnte. Es war mir ganz recht, dass sie eine gewisse Distanz hielt. Klar, sie hatte nicht viel von sich erzählt, aber sie meinte die Arbeit würde sie ziemlich fordern, so dass sie in ihrer Freizeit nicht ständig darüber reden möchte. Auch ein Argument das man akzeptieren sollte. Es ist ja auch so, dass Strafverteidiger oder Psychiater nicht die Details ihrer Mandanten und Patienten zum Besten geben dürfen. Es war O.K. für mich. Mein Job war ja auch nicht gerade der Brüller. Mit meinen Jobgeschichten würde ich Lucy und andere höchstens zum einschlafen bringen.

Zuhause angekommen, ging ich als erstes ins Bad. Ich sah mich lange im Spiegel an. Toller Bursche, dachte ich mir und nickte mir anerkennend zu.

Ich zog mich aus. Ich fingerte ein wenig an meinem Penis herum. Schon ein tolles Teil. Also ich bin gerne ein Mann.

Nach der Dusche machte ich mir noch ein Bier auf und trank ein paar Schlucke. Lucy war auch toll. Mit ihr könnte ich mir mehr vorstellen. Mit welcher Frau sonst? Gab es irgendwo eine Steigerung von Lucy? Ich glaubte nicht. Denn Lucy passte zu mir als wäre sie nur für mich geschaffen worden.

Ich konnte es immer noch nicht fassen. Dass man im Leben so ein Glück haben kann? Wie viele Menschen sind denn dauernd auf der Suche nach ihrem Traumpartner? Wie oft kommt es vor, dass man sich in das rein Äußerliche verliebt? Xtausendfach. Weil man glaubt, das Aussehen passt zu dem Typ den man so anhimmelt. Und was kommt raus dabei?

Der oder Die entpuppt sich als ein riesengroßes Arschloch.

Urplötzlich musste ich mehrmals gähnen. Woher kam nur diese verdammte Müdigkeit. Ich war halt nichts mehr gewohnt. Das Ausgehen, der Sex…wurde ich vielleicht schon alt? Nein, keine Spur. Ich war müde vor Glück. Das war es. Ich ließ das Bier stehen und verkroch mich rasch in meine Koje.

Bah, war ich jetzt müde. Ich hatte mir noch vorgenommen von Lucy zu träumen bis ich einschlafen konnte, doch ich hatte mich kaum hingelegt und schon war ich bereits im Reich der Träume.

Nur, dass ich mir diesmal entgegen meiner Absicht die Träumerei nicht aussuchen konnte.

Ich wachte auf, es war noch dunkel draußen. Schon wieder! Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Und da war sie da die Erinnerung. Glasklar hatte ich den Traum vor Augen.

Ich lag da und schälte mich aus meinem Körper. Unendlich langsam. Ich schlüpfte aus der Haut wie aus einem Taucheranzug. Die Luft die über meinen gehäuteten bloßen Körper strich, ich kann es gar nicht so beschreiben, wie intensiv ich es erlebte.

Es tat weh, war richtiggehend schmerzhaft. Und doch hatte es einen gewissen Reiz. Ich fühlte mich wie ein geschälter Apfel. Wie ein Tier das man bei lebendigem Leib das Fell abgezogen hat. Ich habe übrigens mal einen Roman gelesen, da ging es um Kreuzfahrer. Ein Erlebnisbericht eines Kreuzfahrers. Da wurde eine Szene beschrieben über die Bestrafung eines Übeltäters. Das war echt ekelig. Der Verräter wurde nämlich zur Abschreckung gehäutet. Die haben ihn kopfüber aufgehängt. Dann haben sie die Haut um seine Fussknöchel rundherum aufgeschnitten und in Streifen heruntergerissen. Das muss man sich mal vor Augen führen. Bei lebendigem Leib! Das war doch an Grausamkeit und Unmenschlichkeit nicht zu überbieten. Ich glaube aber, der Autor hat sich das ausgedacht. Ich kann mir das praktisch gar nicht vorstellen, dass so etwas bei einem Menschen durchführbar ist. Wir haben doch kein Fell.

Na ja, jedenfalls war ich gut Tausend Jahre später, auch ein Mensch der ähnliches durchlebte. Nur wurde ich im Schlaf und ohne jegliche Gewalteinwirkung gehäutet. Denn meine Haut war unversehrt an ihrem Platz.

Aber bei diesem ersten Mal hatte ich auch an einen normalen schlimmen Traum gedacht. Ein stinknormaler Alptraum eben. So wie früher. Ich versuchte den Traum zu ignorieren und weiter zu schlafen. Doch am Morgen, bemerkte ich etwas wirklich Seltsames.

Beim Duschen, genauer beim Einseifen spürte ich an einer kleinen Stelle, hier an der Seite über der rechten Hüfte nichts. Zuerst fiel es mir nicht bewusst auf. Aber es war, wie wenn sich irgendwo ein Pickel bemerkbar macht. Immer und immer wieder fummelt man daran herum. Und beim Einseifen, ich hatte das immer mit den Händen gemacht und nicht wie manche Leute mit einem Waschlappen, fühlte ich an diesem Fleck nichts. Der Fleck war nur so klein wie eine 1 Cent Münze. Aber er war da. Ich zwickte mich an der Stelle. Zwicken spürte ich. Aber wenn ich mit dem Finger entlang fuhr, ein paar Millimeter kein Gefühl. Ich tastete jede nur denkbare Stelle an meinem Körper ab. Alles in Ordnung. Nur der kleine Centfleck gab keine Antwort an das Gehirn. Komisch oder?

Es nützte nichts, ich musste in die Arbeit. Ich glaube, ich habe an diesem Tag bestimmt hundert Mal an diese Stelle gefasst. Immer wieder bin ich aufs Klo um nachzufühlen, ob der Fleck noch ohne Gefühl ist. Das machte mich fuchsteufelswild. Auf nichts anderes konnte ich mich mehr konzentrieren. Ein richtiger Scheißtag. Warum musste ausgerechnet mir immer so was passieren?

Völlig erschlagen machte ich mich nachmittags auf den Heimweg. In meinem Kopf wucherten wüste Fantasien. Was war das nur für ein seltsamer Traum? Ich hab ja schon davon gehört dass es Leute gibt, die haben ein so genanntes Nahtoderlebnis. Das ist, wenn man bei einem Unfall oder einem Herzinfarkt am Abnibbeln ist und gerade noch gerettet wird. Die Geretteten erzählen später davon wie sie bei hellem Licht in einem Tunnel herum gekrabbelt sind. Oder über ihrem lädierten Körper geschwebt sind. Ihren Körper verlassen haben. Das ist es. Genau. Habe ich womöglich einen Herzinfarkt gehabt? Nein, das ist eher unwahrscheinlich.

Ich hätte bei so einem Herzinfarkt bestimmt Schmerzen gehabt. Die würde ich immer noch spüren. Was zermartere ich mir nur meinen Kopf. Das ist bestimmt ganz harmlos. Eine vorübergehende Durchblutungsstörung. Oder so etwas Ähnliches. Ich atmete tief durch.

Zuhause angekommen zog ich mich aus und ging ins Bad. Ein Vollbad sollte mir gut tun. Ich ließ mir das Wasser ein. Vor dem Spiegel betrachtete ich mich ausgiebig. Alles normal, oder?

Ich hatte noch Zeit bis die Wanne volllief. Ein paar Experimente mit meinem gefühllosen Fleck musste ich noch durchführen. Zuerst holt ich mir einen Eiswürfel aus dem Kühlschrank. Aber das war sehr ungenau. Mit beiden Händen quetschte ich soviel Haut und Gewebe wie ich konnte, von meiner Hüfte. Drückte und knetete alles hin und her, bis es wehtat. Ich dehnte die Stelle bis zum geht nicht mehr. Mit einem freien Zeigefinger rubbelte ich darüber. Tatsächlich, an der Oberfläche dieser Partie spürte ich meinen Finger nicht. Gar nichts spürte ich da. Aber die Stelle war weder gerötet oder erhaben oder unterschied sich in irgendeiner Weise von der umgebenden Haut. So etwas Seltsames.

Hundemüde von diesem blöden Tag legte ich mich früh ins Bett. Mit Lucy hatte ich natürlich auch telefoniert. Obwohl es mir mehrmals auf der Zunge lag, hatte ich ihr nichts von meinen Träumen und Empfindungsproblemen erzählt. Wir hatten uns für den nächsten Tag verabredet.

Schon kurz nachdem ich eingeschlafen war, begann der Traum mit einer ähnlichen Prozedur, wie schon die vergangene Nacht. Ich wehrte mich gegen das Träumen. Vergeblich. Ich wurde regelrecht aus meinem Körper gezogen. Als würde man eine Schildkröte lebend aus ihrem Panzer pulen. Grässlich. Ohne schützende Haut war ich den äußeren Einflüssen ausgesetzt. Es war erstaunlicher Weise überhaupt nicht unangenehm schmerzhaft. Wie in Zeitlupentempo bewegte ich mich fort von meinem schützenden Körper. Die Luft strich über meinen ungeschützten Leib. Mir schossen die Tränen in die Augen so intensiv war das Erlebnis. Ich kann nicht sagen ob es zu warm oder zu kalt war. Aber es war hart an der Grenze des Erträglichen. Urplötzlich war alles vorbei. Hatte es nur Sekunden oder Minuten gedauert? Keine Ahnung.

Der Radiowecker riss mich aus meinem Schlaf. Da fiel mir auf, dass ich in der Nacht nicht aufgewacht war. Vielleicht war das ein gutes Zeichen.

Ich fühlte mich erschöpft, aber nicht so schlapp wie nach wenigen Stunden Schlaf und einer ordentlichen Portion Alkohol. Die richtige Beschreibung wäre ausgelaugt. Ausgelaugt und erschöpft wegen einer Überreizung der Nerven.

Und doch drängte es mich aus dem Bett zu hüpfen. Körperlich war ich topfit. Nichts tat mir weh. Aber meine Empfindung der Umwelt gegenüber war ein Zustand der Müdigkeit. Meine Hautoberfläche fühlte sich an, als wäre sie mit einer Gaze überzogen.

Ich verspürte keinerlei Lust auf Berührung. Auch Musik oder der frische anregende Geruch von Kaffee konnte mich aufmuntern. Wie mechanisch duschte ich mich, putzte die Zähne usw. Mein Deo konnte ich riechen, vermisste aber diesen gewohnten beißenden Geruch der bei der Anwendung mein Badezimmer erfüllte. Ja, er war da, aber es juckte mich nicht im Geringsten.

Im Spiegel sah ich genau so aus wie immer. Aber ich wurde die dumpfe Ahnung nicht los, im Schlaf während des Traumes wäre mir etwas abhanden gekommen. Als würde die Gefühlswelt von Melli verdrängt oder aufgesogen. Mir wurde Empfindung gestohlen. Ist denn so etwas möglich?

Ach, und mein Fleck an der Hüfte. Mist, der war immer noch da. Unverändert gefühllos und taub. Verdammt.

Ich befühlte mich, tastete mich von oben bis unten ab. Gott sei Dank, keine weitere gefühllose Stelle zu spüren. Spüren ist gut. Wie kann man etwas spüren das gar nicht da ist? Das war dann doch schon wieder lustig. Aber lachen konnte ich trotzdem nicht. Zu ernst die ganze Angelegenheit. Ich begann schon wieder zu sinnieren.

,Verdammt noch mal, reiss dich doch zusammen, Melli‘ , sagte ich leise zu mir selber.

Okay, ich spulte meinen Arbeitstag ab wie ein Automat. Oder machte ich mir da etwas vor? Immer wenn sich meine Gedanken an die Träume oder den Fleck an der Hüfte näherten, stand ich auf, griff mir den Telefonhörer oder versuchte mich irgendwie abzulenken. Zudem dachte ständig an Lucy.

Das mit dem Treffen am Abend wurde dann doch nichts. Lucy wurde die Woche über schon wieder zum Nachtdienst eingeteilt. Sie hatte erst am Freitag wieder Zeit für mich. Wir telefonierten über eine Stunde lang.

Meine Traumerlebnisse und den ominösen Fleck erwähnte ich mit keinem Wort. So gerne ich sie gesehen hätte, ich war ganz froh darüber. Ich fühlte mich grauenhaft schlecht. Wurde ich vielleicht krank?

Ich badete mich wieder ausgiebig und legte mich so gegen 20 Uhr ins Bett. Konnte es denn sein, dass ich wegen des Mädchens oder wegen eines harmlosen kleinen Fleckes so durcheinander war? Ich war doch kein kleines Kind mehr. Eine halbe Stunde später stand ich wieder auf und schlenderte durch meine Wohnung. Tatsächlich. Ich hatte seit Freitag meine Post nicht mehr geöffnet. Ein ganzer Packen lag achtlos in der Küche. Das gehörte ganz und gar nicht zu meinen Gepflogenheiten.

Ich hockte mich in die Küche und spielte eine Weile mit dem Haufen geschlossener Kuverts herum. So richtig wusste ich nicht, mit welchem Brief ich anfangen sollte. Um mir die Entscheidung zu erleichtern nahm ich mir die Werbeprospekte vor. Der Inhalt interessierte mich zwar herzlich wenig, trotzdem studierte ich sie ausgiebig. Wie bunt und groß die Aufmachung der Reklamepost war. Manche konnte man auseinander falten. Die waren so groß dass meine Arme beinahe zu kurz waren um sie zu halten. Die Firmen ließen sich das schon etwas kosten.

Mein Blick schweifte die Digitaluhr des Küchenradios. 0:30 Uhr. Nein, das konnte nicht sein. Was hatte ich die ganze Zeit über getan? Die Briefe waren immer noch ungeöffnet. Die Prospekte lagen verstreut am Tisch und Boden herum. Ich sammelte alles ein und verfrachtete das Zeug in meine Altpapierkiste, die in einer Ecke der Diele stand. Ab ins Bett, ich war schon wieder so was von müde, ich schlief fast im Stehen ein.

Kaum war ich eingeschlafen, begann ich zu träumen. Die Bildchen aus den Prospekten kehrten im Traum wieder. Ich konnte sie nicht nur sehen, sondern auch spüren.

Sie bedeckten meinen Körper, der überraschender Weise keine Haut mehr besaß. Wo war meine Haut? Stattdessen war ich von oben bis unten mit bunten Bildern und Preisangaben bedeckt. Die Bilder waren elastisch und bewegten sich mit meiner Haut mit. Sie waren nicht nur an der Oberfläche. Sie waren richtiggehend in meinen Körper eingedrungen. Ich betrachtete mich ausgiebig. Alles hatte sich verändert. Anstatt einer Haut zierten mich nun Fernseher, Kaffeepackungen und Weinflaschen. Aber das Zeug bewegte sich und wurde größer. Dreidimensional, reliefartig, plastisch wölbten sich die Reinigungsflaschen, Taschentücherpäckchen, Essiggurkengläser, Kopfsalat und andere Dinge aus meinen Gliedmaßen. Auf meinem Bauch waberte ein Flachbildmonitor und kämpfte gegen meine Körperunebenheiten. Ich schüttelte mich und versuchte das Zeug loszuwerden. Aber es wurde immer mehr.

Schweißgebadet schreckte ich hoch und war schlagartig hellwach. Von meiner Stirn tropfte Schweiß herunter. Mir reichte es jetzt. Um mich endgültig abzulenken beschloss ich zu Joggen. Es war mir in diesem Moment scheißegal wie spät es war. Sport war gut und schärfte die Sinne.

Zehn Minuten darauf stand ich unten auf der menschenleeren Straße und begann loszulaufen. Nach wenigen Minuten hatte ich meinen Rhythmus gefunden. Die körperliche Bewegung tat mir unheimlich gut. Ich fühlte mich großartig. Zuerst lief ich noch ohne großes Ziel durch die Straßen. Aber meine Gedanken kreisten um Lucy und um meine anderen Beziehungen zu Frauen.

Die Gegend in Unterföhrung ist flach und weit. Man hat die Möglichkeit entlang von Feldern zu laufen oder sich den Isarauen zuzuwenden und bis nach Freising zu rennen. Die Wege entlang des Flusses sind grenzenlos.

Was ich aber nicht bedacht hatte, dass es in dieser mondlosen Nacht so dermaßen dunkel war. Nachdem ich die Siedlung in Richtung Isar verlassen hatte und den Weg am Ufer entlang trottete, merkte ich die mich überkommende Anspannung. Ich wurde langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Ich stand da in der Dunkelheit und lauschte den Geräuschen, die mein Keuchen übertönten. Der Fluss plätscherte ruhig dahin. Die Blätter in den Bäumen rings herum raschelten im leichten Wind. Ich konzentrierte mich, ob ich etwas hören konnte, das nicht zu den natürlichen Geräuschen passte. Nichts.

Ich stand da und rührte mich nicht mehr. In meinen Gedärmen rumorte es plötzlich gewaltig. Verdammt, ein Durchfall bahnte sich an.

Meine Beine waren leider wie festbetoniert. Ich war irgendwie unfähig mich zu bewegen. Wenn es mir nicht augenblicklich gelang, mich zu rühren, würde ich das Unglück nicht mehr aufhalten können. In meiner Not begann ich zu zählen.

Eins, zwei, drei, da ich riss mir die Hose herunter und... ich möchte wirklich nicht beschreiben was das für eine Sauerei war. So konnte ich unmöglich heimlaufen. Ich zog mir vorsichtig die Hose und Unterhose ganz aus und auf Knien robbte ich vorwärts um nicht in meine Hinterlassenschaft zu treten. Dann arbeitete ich mich über die Böschung zum Fluss hinunter.

Mann, war das Wasser kalt. Ich stand mit den Füssen im Wasser und ging in die Hocke. Niemals zuvor waren meine edlen Teile und mein Hintern in dermaßen kaltes Wasser getaucht. So schnell es ging wusch ich mir mit den Händen den Hintern.

Leider verlor ich das Gleichgewicht und plumpste vollends in Wasser. Es war grausam kalt. So was von grausam kalt.

Wie kam ich nur in so eine bescheuerte Situation? Gott sei Dank war ich mutterseelenallein. Ich hätte mich sonst zu Tode geschämt. Keinesfalls durfte ich Lucy etwas davon erzählen. Ich rappelte mich wieder auf und stieg aus dem eisigen Wasser. Meine Augen hatten sich inzwischen so an die Dunkelheit gewohnt, dass ich mein Kleiderbündel auf dem Weg gut erkennen konnte. Außerdem stank es an der Stelle fürchterlich.

Ich zitterte am ganzen Körper. Mit meiner Trainingshose trocknete ich mich ab, so gut es eben ging. Als ich die Hose wieder anziehen wollte, fiel es mir erst auf:

Ich Trottel hatte vergessen die Schuhe und Strümpfe auszuziehen.

Wieder oben auf der Strasse versuchte ich mit langsamem Trab heim zu joggen. Ich zitterte jedoch so stark durch die Kälte, dass ich nach einigen Metern zu rennen begann. Die nassen Turnschuhe quietschten wie verrückt.

Bibbernd stand ich kurz darauf vor meinem Haus. Wo war eigentlich mein Hausschlüssel? Ich versuchte mich zu erinnern. Klar, ich war einfach so losgelaufen. Ohne Schlüssel. Was war ich nur für ein Vollidiot. Was tun?

In meinem Haus wohnten acht Parteien. Sollte ich es wagen und einfach mal durch klingeln?

Meine Wohnung im dritten Stock wäre ja theoretisch durchaus über den Balkon zu erreichen, aber bei meinem derzeitigen Pech würde ich mir bestimmt den Hals brechen.

Beherzt klingelte ich bei meiner Etagennachbarin. Frau Blapp war allein stehend und rein vom Aussehen her um die sechzig Jahre alt. Aber sie war noch berufstätig, denn sie verließ oft zur selben Zeit wie ich das Haus.

Insgesamt viermal drückte ich lange auf den Klingelknopf. Dann knackte es in der Sprechanlage und eine verschlafene Stimme erklang. Ich verstand kein Wort und wartete auch gar nicht weiter ab.

„Bbbitte Frau Blla.. app, ich bins ihr Naa..chbar Memmmel. Lassen sie mich bbitt...itte rein. Ich.. ich…“

Der Türöffner rasselte und ich drückte mich in den Hausgang. Frau Blapp hatte die Tür einen Spalt weit geöffnet und die Kette vorgelegt. Als sie mich erblickte, machte sie ihre Wohnungstür ganz auf.

„Um Gottes Willen, Herr Memmel was ist denn mit ihnen passiert. Sind sie überfallen worden? Kommen sie rein.“

In ein großes Handtuch gewickelt saß ich kurz darauf bei ihr auf der Couch. Sie hatte mir Tee gekocht und wollte im Gegenzug genau wissen was mir widerfahren war. Die Wahrheit konnte ich ihr verständlicherweise nicht erzählen. Also phantasierte ich los und präsentierte ihr eine Geschichte von Schlaflosigkeit und einem Ausrutscher in die Isar einschließlich meines verlorenen Schlüssels.

Sie glaubte mir, davon war ich überzeugt. Komisch, aber so im Bademantel und aus der Nähe sah die Frau gar nicht mal so schlecht aus. Ich hatte mich offensichtlich in meiner Einschätzung ihres Alters getäuscht. Sie machte auf mich einen wesentlich jüngeren Eindruck.

Ihr festes dunkelbraunes leicht gewelltes Haar war momentan etwas verwurschtelt. Was ich so durch den Bademantel erkennen konnte, besaß sie auch eine akzeptable Figur. Wenn sie mich in meinen Zustand gefragt hätte, ob sie mich in ihrem Bett aufwärmen sollte... ich hätte damit keine Probleme gehabt.

Sie fragte mich aber nur, ob ich irgendwo einen Ersatzschlüssel deponiert hätte. Hatte ich. In meinem Kellerabteil hinter einer großen Schachtel versteckt. Mit einer Fahrradluftpumpe, die ich wie zufällig in meinem Abteil direkt an der Lattentür deponiert hatte, konnte man den Schlüssel heraus angeln.

Zehn Minuten später war ich wieder in meiner Wohnung und stellte mich unter die heiße Dusche. Verdammt noch mal, ich war doch so glücklich. Wieso das alles?

Nachdem ich mich abgetrocknet hatte riskierte ich einen Blick auf die Uhr. 3Uhr30. Das war viel zu früh zum Aufstehen. Ich beschloss wieder ins Bett zu gehen.

Ich konnte es gar nicht glauben, als mein Wecker klingelte. Traumlos hatte ich geschlafen und war putzmunter. Ich fühlte mich wieder tatkräftig und pudelwohl. Hatte ich den Quatsch mit dem nächtlichen Jogging etwa nur geträumt? Nein, die nassen Turnschuhe und Klamotten überzeugten mich rasch vom Gegenteil. Na egal. Ab in die Arbeit.

Ich schleppte mich die ganze Woche über in die Arbeit. Jeden Abend telefonierte ich mit Lucy, dann badete ich mich und bearbeitete meinen gefühllosen Fleck an der Hüfte. Ohne Ergebnis. Den ganzen Kram in meiner Wohnung ließ ich links liegen. Ich konnte mich nicht aufraffen etwas aufzuräumen oder sauberzumachen. Ich hatte richtig Angst bekommen. Vor mir selber.

Jeden Abend, kaum dass ich eingeschlafen war, begann das Träumen. Nur eines konnte ich feststellen. Am Ende der Woche wurden die Traumerlebnisse es ein wenig schwächer, nicht mehr so intensiv. Ich freute mich schon auf Freitag. Ich freute mich auf Lucy. Lucy meine neue Freundin. Mein Engel.

Das zweite Gefühl

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